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Raoul Weil – Der Fall Weil | Wie mein Leben in den Fängen der US-Justiz zum Albtraum wurde – WÖRTERSEH

 

Ü b e r   d a s   B u c h

Am 19. Oktober 2013 wurde Raoul Weil, einer der ganz Großen des weltweiten Private Banking, um 1 Uhr 30 in einer filmreifen Szene in seinem Hotelzimmer in Bologna verhaftet und aufs nahe Polizeikommissariat abgeführt. Die Vorgeschichte zu diesem Krimi: 2007 war die Schweizer Bank, für die Raoul Weil arbeitete, von der US-Justiz der Beihilfe zur Steuerhinterziehung bezichtigt worden. Kurze Zeit später wurde einer von Weils 63 000 Mitarbeitern in den USA festgenommen. Dieser ging mit der amerikanischen Justiz einen Deal ein und erhielt dafür Straffreiheit. Ende 2008 wurde Raoul Weil dann von den amerikanischen Behörden wegen Verschwörung zum Zweck des Steuerbetrugs angeklagt und fast fünf Jahre später in Bologna verhaftet. Was folgte, hätte ihn, wären da nicht seine Frau Susanne und seine treuen Freunde gewesen, zerbrechen lassen können: 56 Tage Untersuchungshaft in einem Hochsicherheitsgefängnis in Italien, Auslieferung nach Amerika, erneute Inhaftierung, gefolgt von zehn Monaten striktem Hausarrest mit Fußfessel in New Jersey. Und schließlich ein dreiwöchiger, nervenzerreißender Prozess in Fort Lauderdale. Am 3. November 2014 wurde Raoul Weil von den zwölf Geschworenen in Rekordzeit freigesprochen. Einstimmig. In seinem packenden Buch erzählt Raoul Weil von Enttäuschungen und Ängsten, vor allem aber auch von Hoffnung, und macht klar, dass das Aufwachen aus einem Albtraum nur dann gelingen kann, wenn man im Sturm des Lebens nicht alleingelassen wird.

Dokument, das die Geschworenen nach 45-minütiger Beratung Richter James I. Cohn übergaben, und ein Bild der Fußfessel, die Raoul Weil während fast elf Monaten tragen musste

 

Ü b e r   d e n   A u t o r

Raoul Weil, geb. 1959, studierte an der Universität Basel Volkswirtschaft und begann danach eine steile Bankerkarriere. Während Jahren war er erst in New York, dann in Hong Kong, später in Singapur tätig und leitete schließlich in Zürich das weltweit größte Private Banking. Doch der Steuerstreit, der 2008 zwischen den USA und der Schweiz voll entbrannte, wurde für den passionierten Globetrotter zum brutalen Karriereknick. Die US-Steuerbehörde IRS nahm ihn als Faustpfand und missbrauchte ihn im weltweiten Kampf gegen Steuerhinterziehung als Sündenbock. Im Jahr 2008 wurde Raoul Weil von der US-Justiz der Verschwörung zum Zweck des Steuerbetrugs angeklagt, 2013 in Bologna verhaftet, 2014 im amerikanischen Fort Lauderdale vor Gericht gestellt und – einstimmig freigesprochen. Heute arbeitet er als Berater für Finanzinstitute und ist als Referent unterwegs. Raoul Weil ist verheiratet und lebt in Zürich.

»Andere Schweizer Banker legten in den USA unter Druck Geständnisse ab, handelten Deals aus, schwärzten Kollegen an. Raoul Weil vertraute auf den US-Rechtsstaat und errang mit seinem Freispruch einen Sieg, der weit über seinen Fall hinaus Symbolkraft hat. Er gab einer verunsicherten Branche etwas Selbstbewusstsein zurück.«

Sebastian Bräuer, »NZZ am Sonntag«

 

Alle Rechte vorbehalten, einschließlich derjenigen des auszugsweisen Abdrucks und der elektronischen Wiedergabe.

© 2015 Wörterseh Verlag, Gockhausen

Lektorat: Reto Winteler, Wetzikon, und Andrea Leuthold, Zürich
Juristisches Lektorat: Dr. Georg Gremmelspacher, Rechtsanwalt, Basel
Korrektorat: Andrea Leuthold, Zürich, und Brigitte Matern, Konstanz
Umschlaggestaltung: Thomas Jarzina, Holzkirchen
Foto Cover: Raoul Weil in den Büros von Freshfields Bruckhaus Deringer, Oktober 2014; Daniela Reinsch, New York
Fotos: Dokument, das die Geschworenen nach 45-minütiger Beratung Richter James I. Cohn übergaben, und ein Bild der Fußfessel, die Raoul Weil während fast elf Monaten tragen musste
Layout, Satz und herstellerische Betreuung: Beate Simson, Pfaffenhofen a. d. Roth
Druck und Bindung: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm

Print ISBN 978-3-03763-062-4
E-Book ISBN 978-3-03763-585-8

www.woerterseh.ch

 

Für Susanne, meine Mutter und
meinen im April 2015 verstorbenen Vater.
Und für Brenda und John.

 

»A bend in the road is not the end of the road …
unless you fail to make the turn.«
Eine Kurve in der Straße ist nicht das Ende der Straße …
es sei denn, du kriegst sie nicht.

Helen Keller

 

Dieses Buch ist ein Erlebnisbericht, der sich auf wahre Begebenheiten stützt und in dem die Geschehnisse ausschließlich aus der subjektiven Sicht des Autors dargestellt werden. Angaben zum Gerichtsprozess und rechtlich relevante Inhalte basieren auf öffentlich zugänglichen Quellen. Die Verhöre und Kreuzverhöre während der Verhandlung in Amerika sind nicht wortwörtlich wiedergegeben, Raoul Weil fasste sie sinngemäß nach bestem Wissen und Gewissen zusammen – ohne Falschaussagen von Zeugen gegen ihn zu widerlegen. Die effektiven Dialoge sind im über mehrere tausend Seiten dicken Gerichtsprotokoll dokumentiert und für jedermann einsehbar.

Um die Privatsphäre von natürlichen und juristischen Personen zu schützen sowie dem Bankgeheimnis Rechnung zu tragen, wurde – auch im Sinne des Persönlichkeitsschutzes – ein großer Teil der Namen geändert.

Eine persönliche Abrechnung mit involvierten Personen liegt Raoul Weil fern. Er hat mit der Vergangenheit Frieden geschlossen.

 

I N H A L T

P R O L O G

A L B T R A U M   O H N E   E N D E

Erinnerungen an Bhutan

Eintritt in die Galera

Übertritt in die permanente Abteilung

G E F A N G E N   I M   L A N D   D E R   F R E I H E I T

Über den Wolken 

Hausarrest und Aktenlawine in New Jersey

S H O W D O W N   I N   F L O R I D A

In der Höhle des Löwen

E P I L O G

D A N K

G L O S S A R

 

P R O L O G

Seit je besteht zwischen dem Schweizer Bürger und seinem Staat ein Vertrauensverhältnis. Das schweizerische Verrechnungssteuersystem und das Bankgeheimnis waren während Generationen Ausdruck dieses liberalen Denkens. Für den Großteil der Schweizer und Schweizerinnen ist es eine Selbstverständlichkeit, dass sie ihre Steuererklärungen korrekt ausfüllen, pünktlich einreichen und die Rechnung gewissenhaft bezahlen.

Andere Staaten pflegen ein eher von Misstrauen geprägtes Verhältnis zu ihren Bürgern und erwarten beispielsweise von ihren eigenen Banken, dass sie als verlängerter Arm der Steuerbehörden agieren.

Was in Sachen Schweizer Bankgeheimnis immer wieder gern vergessen geht: Es schützt nicht nur die Privatsphäre jedes Einzelnen, es hat auch während Jahrzehnten politisch verfolgten Menschen wertvolle Dienste geleistet. In den letzten Jahrzehnten wurde es – richtigerweise, wie ich finde –, etwa durch den »Geldwäscherei- und Insiderartikel«, stufenweise eingeschränkt. Die USA mit dem »Qualified Intermediary Agreement«, und später die OECD, zwangen die Schweizer schließlich zu einem politischen Gesinnungswandel, der zur Aufgabe des Bankgeheimnisses – mindestens für Ausländer – führen wird.

Meine persönliche Erkenntnis aus dem Erlebnis dieser Umbruchperiode ist, dass man sich nicht auf Verträge – auch nicht auf Staatsverträge – verlassen sollte. Großmächte haben die unangenehme Eigenheit, klare Abmachungen später einseitig zu ihren Gunsten auszulegen. Sogenannte befreundete Nationen zeigen auf einmal ihre unfreundlichere Seite. Das Recht des Stärkeren kann einen deshalb jederzeit vor unliebsame Sachzwänge stellen.

Ab 2018 wird die Schweiz zu einem automatischen Informationsaustausch in Steuersachen übergehen. Ob dieser den OECD-Staaten ein besseres wirtschaftliches Umfeld mit ausgeglicheneren Staatshaushalten bescheren wird, soll die Zukunft weisen.

Als Bürger erfüllte ich immer meine Pflicht. Und auch als Manager versuchte ich, dies nach bestem Wissen und Gewissen zu tun. Der Job eines Top-Managers lässt sich ganz gut mit jenem eines Bullenreiters beim Rodeo vergleichen. Jeder Cowboy klammert sich krampfhaft am Strick fest und versucht, den Bullen, auf dem er sitzt, so gut wie möglich zu bändigen. Dabei weiß jeder, dass der Abwurf nur eine Frage der Zeit ist. Auch ich habe das – rückblickend betrachtet – eigentlich immer gewusst. Aber ich verdrängte dieses Wissen erfolgreich. Wie sonst hätte ich Tag für Tag mein Bestes geben können? Und ja, mein Fall war tief. Sehr tief. Die harte Landung im Staub presste mir die Luft aus den Lungen, und sämtliche Knochen im Leib schienen zu zersplittern. Die langsam verheilenden Wunden werden mich wohl für den Rest meines Lebens wetterfühlig sein lassen. Aber ich habe gekämpft. Gekämpft gegen ein von ambitionierten und politisch motivierten Staatsanwälten beherrschtes US-Rechtssystem, aber auch gegen ein Umfeld, dem es völlig egal war, dass ich eiskalt in den Boden getrampelt werden sollte. Die Art und Weise, wie mir ehemalige Weggefährten, von denen ich bei einigen dachte, es seien Freunde, den Schwarzen Peter zuschoben, erschütterte mein Vertrauen zu den Menschen in seinen Grundfesten; es half mir aber auch, meine wahren Freunde zu erkennen. Und das ist eine der positiven Seiten, die ich meiner Geschichte abgewinnen kann. Es gibt noch andere.

Die erlebte Zäsur hat mir die eigene Endlichkeit vor Augen geführt, den Moment kostbarer werden lassen und mich dazu gebracht, meine Prioritäten neu zu setzen. So steht meine Beziehung zu meiner Familie und meinen Freunden heute über allem. Und so sind es auch die einfachen Dinge im Leben, die mich heute Glück erleben lassen.

Raoul Weil, im September 2015

 

A L B T R A U M   O H N E   E N D E

 

Toc! Toc! Toc! Nachts um halb zwei klopfte es heftig an unsere Zimmertür im »I Portici Hotel« in Bologna. Toc! Toc! Toc! »Aprite la porta! Per favore.«

So beginnen Kriminalromane. Das hier ist einer. Meiner.

Aber lassen Sie mich, bevor wir auf die Ereignisse eingehen, die in jener Nacht vom 18. auf den 19. Oktober 2013 in Bologna eskalierten, zwei, drei Worte zu meiner Person sagen.

Also, wer bin ich? Ich heiße Raoul Weil und dies seit 1959. Ich bin mit Susanne Lerch verheiratet. Dies seit 1996. Wir haben keine Kinder.

Susanne ist Übersetzerin, arbeitete bei der Fifa und war später Personalchefin der Logistikdivision jener Schweizer Bank, bei der auch ich gearbeitet habe und wo wir uns kennen gelernt haben. Susanne ist mein Fels in der Brandung.

Zu mir spontan noch das Folgende: Ich wuchs als Einzelkind in einer ganz normalen, durchschnittlichen Schweizer Familie in Basel auf. Meine Mutter war Hausfrau, mein Vater Architekt bei der Großmetzgerei Bell. Ich besuchte das Gymnasium und studierte schließlich an der Uni Basel Volks- und Betriebswirtschaft. Was gibt es noch zu sagen? Ich war Fourier bei den Flieger- und Flabtruppen der Schweizer Armee und habe (als ehemaliger Flabkanonier) einen leichten Hörschaden. Susanne meint, dass ich das, was ich hören will, eins a hören würde. Sie behauptet übrigens auch, dass ich ein schlechter Autofahrer sei. Und weil sie recht hat, lasse ich ihr gern den Vortritt.

Bis vor kurzem war ich Banker. 2008 trug ich bei der Old Swiss Bank (OSB) die Verantwortung für 63 000 Mitarbeitende. Bald werde ich in einem Hochsicherheitsgefängnis in Bologna sitzen. In einer Dreierzelle. Unschuldig, wie das Geschworenengericht in Fort Lauderdale, mehr als ein Jahr nach meiner Verhaftung, am 3. November 2014 urteilen wird. Einstimmig.

Ich bin gesellig und liebe angeregte Gespräche in angenehmer Gesellschaft. Ich bereiste rund neunzig Länder und interessiere mich für zeitgenössische chinesische Kunst und für moderne Architektur. Vielleicht hätte ich gescheiter Architekt werden sollen, dann wäre mir wohl einiges erspart geblieben. Ich verschlinge Bücher, in deutscher und englischer Sprache, und spiele regelmäßig Bridge. Allerdings lediglich auf Plauschniveau. Während unserer Zeit in New York besuchten wir Jazzklubs und Broadway-Shows, sahen uns Ballettinszenierungen und Opern an. Dennoch muss ich zu meiner Schande gestehen, dass ich relativ unmusikalisch bin. Klassische Musik höre ich lediglich am Sonntag. Zum Frühstück. Das hat dann so etwas Beruhigendes. Aufgewachsen bin ich mit der Musik von Deep Purple, Supertramp, David Bowie, The Clash und den Stranglers. Rock ’n’ Roll und Punk. Vielleicht kommt mein Hörschaden auch ein bisschen von den Rolling Stones. »You Can’t Always Get What You Want«.

Ich bin ein liberaler Mensch. Sowohl wirtschaftlich als auch gesellschaftlich. Ich schätze unsere direkte Demokratie. Aber politisch aktiv bin ich nicht. Ich esse und trinke gern, bin aber weder ein Weinconnaisseur noch ein Gourmet. Ich bin kein eigentlicher Hobbykoch, stehe jedoch am Wochenende ganz gern am Herd.

Bis zwanzig fuhr ich hobbymäßig Skirennen. Heute gehe ich es auf dem Schnee langsamer an, am liebsten in den Bündner Bergen. Daneben jogge und wandere ich. Wann immer möglich mit Susanne und unserem Hund Madhu, einem Irish Soft Coated Wheaten Terrier. Wie so ein Irish Soft Coated Wheaten Terrier aussieht? Schwierig zu beschreiben. Stellen Sie sich einfach etwas sehr Sympathisches, Mittelgroßes mit hellem, flauschigem Fell und freundlichen Knopfaugen vor. Madhu bedeutet im altindischen Sanskrit »Honig« und bezieht sich auf die Farbe seines Fells.

Als junger Erwachsener spielte ich Handball. In der ersten und zweiten Liga. Und eher bescheiden Tennis. Von außen beurteilt man mich als teamfähig, integer, zuverlässig und fokussiert, als schlagfertig, humorvoll und intelligent, aber auch als etwas gutgläubig. Susanne meint, es fehle mir zuweilen an Sensibilität. Ich bin ein Zahlenmensch.

Früher war ich eher scheu. Und noch heute bin ich keiner, der in großer Gesellschaft aufsteht und ruft: »Hört mal her, ich habe da eine absolut wahnsinnige Story erlebt.« Angesichts der Tatsache, dass ich meine Geschichte nun öffentlich mache, klingt das wie ein Widerspruch, und es drängt sich die Frage nach dem Warum auf.

Es ist ganz einfach: Das Schreiben hielt mich im Knast über Wasser. Mit jeder geschriebenen Seite konnte ich Ballast abwerfen und die Geschehnisse verarbeiten. Im Englischen heißt es: »Turn the page!« Ich habe beim Schreiben viele Seiten gewendet und wurde dabei – im wahrsten Sinn des Wortes – leichter. Zu Beginn schrieb ich einzig und allein für mich. Als Therapie. Irgendwann entstand der Wunsch, meine Aufzeichnungen jenen Menschen zum Lesen zu geben, die sich im Sturm nie von uns ab-, sondern im Gegenteil noch mehr zugewandt haben. Ja, und als das fertige Manuskript dann vor mir lag, motivierte mich mein Studienfreund Tobi, die Geschichte als Buch zu veröffentlichen. Nicht zuletzt auch, um jene Facetten zu schildern, die in der öffentlichen Berichterstattung auf der Strecke blieben. Allora.

Freitag, 18. Oktober 2013   Eigentlich begann alles ganz entspannt. Nach acht unbeschwerten Tagen in Rom kamen Susanne und ich am frühen Nachmittag im Hotel I Portici in Bologna an. Das Viersternehaus befindet sich im Herzen des historischen Zentrums von Bologna, nur fünf Gehminuten vom Hauptbahnhof entfernt. Es bietet einen spannenden Mix aus ganz alt und ganz neu. Manche Zimmer sind auf den Park gerichtet, und von anderen blickt man auf die Via Indipendenza. Indipendenza. Unabhängigkeit. Was für ein großes Versprechen.

Nach dem Einchecken schlenderten Susanne und ich noch ein bisschen durch die Altstadt, besichtigten die gewaltige Basilica San Petronio, die beiden schiefen Türme Asinelli und Garisenda und genossen die letzten Strahlen der Herbstsonne im Kaffeehaus Zanarini bei Cappuccino und Mandelkuchen. Auf Empfehlung einer Bekannten reservierten wir im Ristorante Pappagallo einen Tisch für den Abend. Leo, der Inhaber, empfing uns mit Prosecco und Parmaschinken, und wir genossen die weltweit oft kopierte, aber unerreichte, ursprüngliche Küche der Emilia Romagna. Bei Kerzenschein. Was wir noch nicht wussten: Es sollte unser letztes gemeinsames Essen für eine lange Zeit sein.

Samstag, 19. Oktober, 1 Uhr 30   Toc! Toc! Toc!

Susanne rief schlaftrunken und leicht verärgert: »Hey, hallo, Sie sind an der falschen Tür! Suchen Sie Ihr eigenes Zimmer!«

Abermals klopfte es. »Aufmachen! Polizei!«

Keine Sekunde später wurde die Tür aufgesperrt, und zwei Polizisten standen in unserem Zimmer.

Entsetzt sprangen wir aus dem Bett, umschlangen uns und versuchten uns so gegenseitig zu beschützen. Susanne trug ein kurzes, rosafarbenes Nachthemd, was den einen der Carabinieri ein bisschen zu genieren schien. Den Blick zum Parkettboden gesenkt, fragte er mich nicht unfreundlich, aber bestimmt: »Sind Sie Signor Weil Raoul?«

»Sì.« Ich stand in Boxershorts da.

»Ziehen Sie sich bitte an und kommen Sie mit. Sie müssen uns einige Fragen beantworten.«

Obwohl überrumpelt vom ungebetenen nächtlichen Besuch, wusste ich sofort, warum die Polizisten in unserem Hotelzimmer standen. Fast auf den Tag genau vor fünf Jahren war ich von den USA im Zuge des Steuerstreites zwischen Amerika und der Schweiz angeklagt worden. Jetzt würde das nächste und hoffentlich letzte Kapitel geschrieben werden.

Mechanisch, mit den Gedanken überall und nirgends, schlüpfte ich in meine Hose, streifte mir ein Hemd über, steckte mein Handy und das Portemonnaie ein, küsste Susanne – »Mach dir keine Sorgen, auf bald!« – und verließ wortlos und entschlossenen Schrittes das Zimmer.

Die zwei Carabinieri machten beim Nachtportier kurz halt und bedankten sich für seine Meldung an die Polizei.

»Keine Ursache, das war doch selbstverständlich. Ich habe die Warnung im Reservationssystem gesehen und nur meine Pflicht getan.«

Dann gings los: Zum allerersten Mal in meinem Leben wurde ich in einen Streifenwagen verfrachtet und an einen mir unbekannten Ort gefahren. Es sollte nicht das letzte Mal sein. Nichts gegen eine Ausfahrt in einem hellblauen Alfa Romeo 159 – aber morgens um zwei Uhr und mit zwei Polizisten im Schlepptau gehört so ein Ereignis nicht zu den zehn wichtigsten Dingen, die man als Mann in seinem Leben gemacht haben muss. Vor allem dann nicht, wenn man nicht vorn sitzen darf.

Auf dem Polizeikommissariat, einem trutzigen, düsteren Palazzo, der auch schon bessere Tage gesehen hatte, durchlief ich ein Prozedere, wie ich es bisher nur aus Krimiklassikern kannte: Ein bierbäuchiger Beamter mit Dreitagebart nahm mir erst mein Handy und meine Fingerabdrücke ab und erfasste dann Größe, Augenfarbe und so weiter. Gleichgültig schoss er danach ein unvorteilhaftes Polizeifoto. Ein junger, eleganter und überraschend zuvorkommender Polizist führte mich daraufhin in sein Office. Ich nahm auf einem wackeligen Stuhl Platz und musterte das Büro. Hohe Decken und vergilbte Wände, die seit Jahrzehnten keinen Anstrich mehr gesehen hatten. Verstaubte Möbel und Berge von Akten. Spinnweben in den Ecken. Und in der Luft ein Hauch von Schimmelpilz. Und »Acqua di Giò« von Giorgio Armani. Laut Werbung verfallen »Männer jeden Alters diesem Duft, der an Sommer, Sonne, Strand und Meer erinnert«. Alles in allem war das Büro eine graue Beamtenstube, wie man sie sich für einen Mafiafilm nicht besser wünschen könnte. Und doch war eine gewisse Klasse zu spüren. Nicht nur in Italien machen Kleider Leute. Aber besonders dort. Selbst ein einfacher Carabiniere im Nachtdienst stellt in seiner maßgeschneiderten dunkelblauen Uniform mit weißem Brust- und Ledergurt und der imposanten Mütze mit lackiertem schwarzen Schild mehr dar als ein Schweizer General bei einem Staatsempfang.

Der geschniegelte Beamte redete in melodiösem Italienisch auf mich ein: »Wissen Sie, weshalb Sie hier sind?«

»Nein, nicht wirklich«, antwortete ich vorsichtig auf Englisch.

»Sie werden in den Vereinigten Staaten wegen Verschwörung zum Zweck des Steuerbetrugs* gesucht. Falls Sie der Auslieferung zustimmen wollen, unterschreiben Sie bitte hier.«

Meine Italienischkenntnisse beschränkten sich bisher auf das Bestellen eines Cappuccinos, einer Pizza oder eines Bieres, aber Worte wie »cospirazione«, »evasione fiscale« und »estradizione« passten in etwa zu dem, was ich erwartet hatte.

»Es tut mir sehr leid, aber ich spreche kein Italienisch. Und deshalb unterschreibe ich auch keine Dokumente – und schon gar keine auf Italienisch. Ich möchte zuerst meinen Anwalt sprechen.«

Damit war unsere Konversation vorerst beendet, und der Armani-Carabiniere führte mich in eine große, karge Aufnahmezelle. Unser Zimmer im »I Portici Hotel Bologna« sah anders aus. Durch eine riesige Glasscheibe beobachteten mich die diensthabenden Polizisten wie einen exotischen Fisch im Aquarium. Das Licht der nackten Neonröhren leuchtete grell und hart. Auf einer langen Bank lag ein Stapel abgewetzter Wolldecken, die nach Fußschweiß und erkaltetem Zigarettenrauch stanken. Ich breitete eine aus, legte mich hin und zog mir meine Steppjacke übers Gesicht. Draußen auf dem Korridor grölte ein aufgebrachter Besoffener. Er fluchte wie ein Rohrspatz und trommelte mit den Fäusten gegen eine Wand. Mir hämmerten die Ereignisse der letzten Stunden durch den Kopf. Wie mag es Susanne ergehen? Was wird die Zukunft bringen? Werde ich aus diesem Schlamassel jemals wieder rauskommen? Was wird mit meiner Familie geschehen? Fragen über Fragen. Erst nach Stunden fiel ich erschöpft in einen kurzen, erstaunlicherweise aber tiefen Schlaf.

Nach dem Aufwachen fühlte ich mich durchgewalkt wie nach einer durchzechten Nacht. Gerädert. Orientierungslos. Wo war ich? Mir schoss für einen kurzen Moment durch den Kopf, dass Susanne und ich für den heutigen Abend Karten für eine Opernaufführung im Teatro Comunale di Bologna hatten. Ironischerweise für Verdis »Nabucco«. Jene Oper, welche für ihren großartigen Gefangenenchor berühmt ist. Na bravo!

Irgendwann bekam ich einen Espresso im Plastikbecher. Er vermochte die pochenden Kopfschmerzen zumindest etwas zu lindern. Dann meldete sich die Natur.

»Carabiniere, toiletta! Prego?«, rief ich. Oder hieß das »gabinetto«? Egal.

»Hier entlang, Signore.«

»Grazie.«

»Nein, nicht hier, das ist die Sitztoilette für uns Beamte. Benutzen Sie bitte die Latrine da drüben!«

Anfängerfehler: Ich hatte die schöne Diensttoilette mit der Insassentoilette verwechselt.

Da stand ich nun. Die Toilette war funktional einwandfrei und absolut pflegeleicht, keine Frage. Ein gekachelter Abort mit zwei Podesten für die Füße und einem Loch. Aber was mich störte: Der Polizist überwachte mich beim Pinkeln. Sicherheitshalber. Für ihn Routine. Für mich eine hochnotpeinliche Situation.

Als ich in der Aufnahmezelle zurück war, streckte mir der Armani-Carabiniere mein Handy entgegen. Er wolle, sagte er, meine Frau über meinen Verbleib informieren. Ob aus Mitleid oder von Gesetzes wegen ist mir bis heute nicht ganz klar. Mit meinem vierstelligen Code entsperrte ich das Gerät, tippte Susannes Nummer ein und übergab es ihm wieder. Nachdem er meiner Frau ein paar Kontrollfragen gestellt hatte, um sicherzugehen, dass auch tatsächlich sie am anderen Ende war, schilderte er ihr »die aktuelle Situation«. Der Carabiniere schien ganz offensichtlich ein anständiger Mensch zu sein, denn er überreichte mir das Handy, damit nun auch ich noch ein paar Worte mit meiner Frau wechseln konnte.

Just in dem Moment, als ich auf sein Handzeichen hin das kurze Gespräch beendet hatte, entstand auf dem Korridor draußen ein Tumult. Aufgebrachte Stimmen, Schreie und der Lärm herumfliegender Einrichtungsgegenstände. Es schien sich um eine gröbere Auseinandersetzung zu handeln, weshalb der Kollege draußen den Carabiniere in meiner Zelle zu Hilfe rief. Quasi im Hechtsprung stürzte sich der ins Getümmel und vergaß dabei völlig, mein Handy wieder an sich zu nehmen. Das Telefon unter der Decke versteckt, tippte ich hastig und mit zitternden Fingern eine SMS an Susanne: »Anwalt. Love.«

Die Antwort kam postwendend: »Bin bereits im Anwaltsbüro.«

»Merci! CH-Konsulat! Love!«

»Anwälte arbeiten auf Hochtouren. Konsulat informiert. Love U 2

»Danke. Anwalt. Dringend!«

Dann bemerkte der Carabiniere seinen Fehler, und er unterbrach die Verbindung zu meiner Frau.

Zu meiner großen Erleichterung tauchte bereits sieben Minuten später Luca auf, mein von Susanne eiligst rekrutierter Anwalt aus Bologna. Ich unterschrieb sofort die nötigen Vollmachten, um ihn für meine Vertretung vor Gericht zu mandatieren. Und nachdem er gegangen war, tat ich das, was in nächster Zukunft meine Hauptbeschäftigung werden sollte: Ich wartete.

Um die Mittagszeit kam es zu einer weiteren bemerkenswerten Premiere in meinem Leben: Ein Carabiniere bat mich, die Hände vor meinen Bauch zu halten, und legte mir, ritsch-ratsch-klick, Handschellen an und informierte mich, dass es nun ins Gefängnis an die Via del Gomito 2 gehe. Das Gefühl von kaltem Stahl an den Handgelenken werde ich nie vergessen.

Zwei Polizisten führten mich nach draußen, platzierten mich auf einer Blechbank im Fond eines Streifenwagens und stiegen ein. Zu meiner Überraschung war ich nicht der einzige Fahrgast. Neben mir saß, ebenfalls in Handschellen, ein verlauster Mittdreißiger, der mit seinen schwarz geränderten Restfingernägeln eine abbröckelnde weiße Aufschrift von seiner Lederjacke pulte. Kaum hatten wir uns begrüßt, bretterte der Polizei-Diesel davon und pflügte sich mit Blaulicht und gellender Sirene durch den Mittagsverkehr.

»Ich bin Raoul«, versuchte ich ein Gespräch zu eröffnen.

»Franco.«

»Weswegen haben sie dich verhaftet?«, wollte ich wissen.

»Nur eine Kleinigkeit. Die kennen mich eben und behalten mich im Auge. Ich bin vor kurzem nach dreizehn Jahren Knast entlassen worden.«

Wo zum Teufel bin ich hier bloß gelandet? Dreizehn Jahre! Dreizehn Jahre kriegt man ja nicht fürs Schwarzfahren mit dem Bus der Bologneser Linie 25 aufgebrummt. Auch nicht für Zechprellerei, einen Handtaschendiebstahl oder das Klauen einer Butangasflasche für den Gartengrill.

* Im Folgenden Verschwörung zum Steuerbetrug genannt.

 

E R I N N E R U N G E N   A N   B H U T A N

1999 unternahmen Susanne und ich eine Reise in das damals noch wenig erschlossene Himalaja-Königreich Bhutan, das Land, das dem Bruttosozialglück seiner Bevölkerung auch heute noch mehr Bedeutung zumisst als seinem Bruttosozialprodukt. Wir machten ausgedehnte Wanderungen bis tief hinein in Täler, deren Dörfer weder Elektrizität noch fließend heißes Wasser kannten, erlebten beängstigende Fahrten auf höllisch abfallenden Passstraßen in über 3500 Metern Höhe und begegneten überall Bauern, Mönchen und Heerscharen von breit lachenden Kindern. Sie alle waren materiell zwar wenig gesegnet, mit sich und der Welt aber vollkommen zufrieden. Die Spiritualität und Mystik dieses kleinen Landes zog uns von der ersten Sekunde an in ihren Bann.

Unweit der Hauptstadt Thimphu wollten wir zwei abgelegene Dzongs, buddhistische Klosterburgen, besuchen. Der Aufstieg zum ersten Dzong erwies sich als sehr beschwerlich. Es nieselte. Der Pfad war abschüssig und rutschig. Susanne entschied sich daher, nicht zur zweiten Klosterfestung mitzukommen, und so machte ich mich mit Namgay Wangchuck, unserem lokalen Begleiter, ohne sie auf den Weg. Nach einem erneut sehr anstrengenden Aufstieg erreichten wir auf 2931 Metern über Meer das Kloster Tango, das im 13. Jahrhundert vom Lama Gyalwa Lhanampa gegründet wurde und heute die höchstgelegene Klosterschule Bhutans beherbergt.

Ein Mönch begrüßte uns mit einem freundlichen »Tashi deleg«, was so viel bedeutet wie: »Möge es euch wohlergehen.« Namgay stellte mir den Mann als einen seiner zahlreichen Cousins vor. Ich musste schmunzeln; die in Bhutan praktizierte Vielmännerei bringt es mit sich, dass die Verwandtschaft sehr weit verzweigt ist und man offenbar noch in den entlegensten Winkeln auf Familienmitglieder trifft.

»Ihr habt großes Glück«, sagte der Cousin, »unser religiöser Führer, der Rinpoche ist hier! Ich werde schauen, ob ich euch nach Beendigung seiner Meditation eine Audienz organisieren kann.« Namgay war ganz ergriffen. Rinpoche bedeutet wörtlich übersetzt »außerordentlich Kostbarer« und bezeichnet insbesondere einen reinkarnierten Lama.

Eine halbe Stunde später führte uns der Cousin in einen niedrigen Raum. Durch ein kleines, talseitig in die dicke Mauer eingelassenes Fenster drang ein magerer Strahl gedämpften Lichtes. Ansonsten lag der Raum in mystischem Halbdunkel. Die Luft fühlte sich irgendwie dicht und elektrisch geladen an. Ich spürte die Präsenz einer für mich unbeschreiblichen Kraft. Auf einem kleinen Podest saß ein etwa siebenjähriger Junge im roten Mönchsgewand im Lotossitz und musterte uns aufmerksam durch seine dicken Brillengläser. Sein wacher, intelligenter Blick ging mir durch Mark und Bein.

Neben dem Knaben stand ein älterer Mönch, offensichtlich sein Lehrer, der uns das Kind als den Yangsi Rinpoche, die Reinkarnation des berühmten spirituellen Lehrers Dilgo Khyentse Rinpoche, vorstellte. Vom kleinen Rinpoche ging eine Ausstrahlung aus, die mich nicht einen Moment lang daran zweifeln ließ, vor einem auserwählten Menschen zu stehen. Namgay warf sich mit ausgestreckten Armen in der bekannten, tiefste Ehrerbietung bezeugenden, rituellen Verbeugung vor dem Rinpoche auf den Boden.

Dessen Aura berührte auch mich. Ich ließ mich auf die Knie nieder, senkte meinen Kopf und hörte, wie er etwas zu mir sagte, was sein Lehrer sogleich ins Englische übersetzte: »Woher kommst du?«

»Ich komme aus der Schweiz.«

»Was machst du hier?«

»Meine Frau und ich sind in den Ferien und erkunden das wunderschöne Land Bhutan.«

»Dann will ich euch beiden meinen Segen mit auf den Weg geben. Nimm dieses geweihte Briefchen als mein Geschenk an. Es soll dir und deiner Frau, solltet ihr in eine unüberwindbar scheinende Situation geraten, Kraft verleihen und euch beschützen.«

Nachdem wir uns abermals verneigt hatten, wurden wir von seinem Lehrer mit einer gebieterischen Geste verabschiedet. Und im selben Moment wurde aus dem Rinpoche ein ganz gewöhnlicher kleiner Junge im Hier und Jetzt, der nichts anderes mehr wollte, als nach draußen zu stürmen und Fußball zu spielen.

Das geheimnisvolle gelbe Briefchen, dessen Inhalt wir bis heute nicht kennen, fand in unserem Haushalt in einer bunten Pappmaschee-Dose aus Kaschmir einen sicheren Platz. Es sollte uns in einer schwierigen Phase unseres Lebens den Glauben schenken, dass alles gut kommen wird.