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© für die Originalausgabe: 2002 LangenMüller in der
F.A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München
© für das eBook: 2013 LangenMüller in der
F.A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten
Schutzumschlaggestaltung: Wolfgang Heinzel
Motiv: akg-images, Berlin
Illustrationen: Gerhard Weihrauch, ew print & medien service GmbH
Satz und Herstellung: Dr. Doris Hagen
eBook-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 978-3-7844-8176-0

Inhalt

 

 

 

 

 

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Johannes Stelling ging nachdenklich die knarrende Holztreppe hinauf. Wie jeden Abend hatte er seinen Rundgang durch die Kontorräume beendet. Obwohl er wusste, dass Jens Alberti zuverlässig und korrekt war, fand er keine Ruhe, wenn er nicht selbst noch einmal nach dem Rechten sah. Er hatte das Türschloss und die Fensterriegel überprüft, den Kassenschrank kontrolliert und die beiden Kamine, die die Schreibräume mit Wärme versorgten.

Johannes Stelling war müde. Der lange feuchte Winter steckt mir in den Knochen, dachte er, und die Probleme mit den Schiffen auf der Unterelbe machen mir Angst. Die Piraterie hört einfach nicht auf. Wir müssen uns etwas einfallen lassen, um diese Räuber endlich zur Ruhe zu bringen. Damals, vor vierhundert Jahren, als Klaus Störtebeker starb, war dieses Unwesen ja keinesfalls zu Ende gewesen. Johannes Stelling seufzte. Er spürte seine fünfundfünfzig Jahre. Und dann die ständige Konkurrenz zwischen ihm und dem alten Reeder Brennicke — ein Kampf, der nun in der dritten Generation unterschwellig brodelte.

In der Wohnung über dem Kontor war es still. Annette und die Kinder waren zu Bett gegangen. Die Kerzen waren gelöscht bis auf die eine, die Annette für ihn stehen gelassen hatte. Er nahm den Halter und ging mit dem flackernden Licht durch die Wohnräume. Das kleine Boudoir seiner Frau, in dem noch der Duft ihres Jasminwassers hing, das Speisezimmer mit dem Geruch des köstlichen Abendessens, der Salon, der ein wenig nach seinem türkischen Tabak roch — sein Zuhause. Er rückte die Schutzgitter vor den Kaminen noch einmal zurecht, zog die Standuhr auf, sah nach den Fensterläden und nach dem Hund, der artig auf der Decke lag und seinen Herrn aufmerksam beobachtete. Johannes beugte sich zu dem Setter und kraulte ihn hinter den Ohren. »Benno, du hast auch schon bessere Zeiten gesehen. Erinnerst du dich an die Hetzjagden in Wulfswede? Nun ja, aus dem Alter sind wir beide heraus.«

Die Kerze brannte herunter und er musste sich beeilen, wollte er nicht im Dunklen die Treppe zu den Schlafräumen hinauf steigen. Er sah sich noch einmal um. Alles am rechten Platz, dachte er und sog den leichten Duft von Bienenwachs ein, mit dem die Holzböden und die Treppe poliert wurden, damit das alte Holz nicht zu sehr knarrte. Oben warf er einen Blick auf die Stiege, die zu den Zimmern der Hausangestellten in der Mansarde führte. Da oben müssen sie selbst für Ordnung sorgen, dachte er und schaute kurz zu seinen Kindern. Patrizia und Viktoria schliefen bei leicht geöffneten Fenstern. Er schloss sie und sah in das Zimmer seiner Söhne. Anfang Mai ist es einfach noch zu früh für die feuchte Nachtluft, die von der Elbe und von den Fleeten hereinzieht, überlegte er, und morgens wabert noch immer dichter Nebel durch die Gassen.

Es war fast Mitternacht, als Johannes den ehelichen Schlafraum betrat. Auf dem Nachttisch seiner Frau brannte die Kerze, die sie für ihn stehen gelassen hatte. Auch sie hatte ein Fenster geöffnet, das er nun schloss. Dabei warf er einen Blick auf die schlafende Stadt. Von hier oben konnte er bis zum Hopfenmarkt und zur Nikolaikirche sehen. In den engen Gassen mit den dicht aneinander gebauten schmalen Häusern herrschte tiefe Nacht. Bis auf die Eckleuchten waren auch die Straßenlaternen gelöscht. Beruhigt kleidete er sich aus, legte seine Beinkleider und den Gehrock sorgfältig gefaltet über den Stuhl, band den Bartschoner um und löschte das letzte Licht. Denn er hatte es nicht gern, dass Annette ihn mit dem Bartschutz sah. Müde schlüpfte er in seinem wieder einmal zu hart gestärkten Hemd unter das dicke Federbett und legte sich auf die Seite, darauf bedacht, mit seinen langen Beinen nicht gegen das hölzerne Fußende des Bettes zu stoßen. Seine Frau hatte einen leichten Schlaf und er wollte sie nicht wecken.

Johannes war ein großgewachsener Mann von kräftiger Statur, der immer ein bisschen mit seinem Gewicht kämpfte. Aber, er lächelte in die Dunkelheit hinein, Annette mag mich so wie ich bin und sorgt dafür, dass die Köchin täglich eines meiner Leibgerichte zubereitet.

Mit Annette habe ich wirklich eine gute Frau gefunden, stellte er zufrieden fest. Seit zweiundzwanzig Jahren waren sie jetzt verheiratet und richtigen Streit hatte es nie gegeben, höchstens etwas Ärger, wenn sie zuviel Geld für zuviel Tand ausgab. Sie wollte eben immer etwas Besonderes sein, eine Frau möglichst an der Spitze der Honoratioren, ganz weit oben in der gehobenen Gesellschaft. Johannes lächelte vor sich hin. Dabei war er nur ein Reeder, der eher mit bescheidenen als mit großen Schiffen seinen Handel trieb. Auch sein Speicher in der Steintwiete war einer von der kleineren Sorte, dafür aber wohlgefüllt mit exklusiven Waren. Vor allem seltene Gewürze aus Madagaskar waren es, die sein Geld vermehrten, und natürlich Kaffee, Kakao und chinesischer Tee.

Behaglich drehte sich Johannes auf die andere Seite. Einen großen Wunsch hatte er ja seiner Annette im letzten Jahr erfüllen können. Sie wollte, wie zwei befreundete Familien auch, ein Sommerhaus am großen Alstersee. Das hatte er vom Baumeister Lingen klein, aber fein errichten lassen und Annette freute sich, obwohl sie ein größeres, eleganteres Haus erwartet hatte. Auch er beglückwünschte sich zu seinem Entschluss. Das Leben in der Enge der Stadt mit den verwinkelten, schmalen Gassen, mit der ständig wachsenden Zahl von Menschen, die innerhalb der Wallanlagen und Mauern leben und arbeiten mussten, mit dem stinkenden Unrat auf den Straßen, den keiner beseitigte, und mit den neuen Fabriken und Industrieanlagen, die zwischen den Häusern wuchsen und die Luft verdarben, mit diesen Unannehmlichkeiten ließ es sich wirklich nicht angenehm leben. Da war es schön, an den Sonntagen mit der ganzen Familie hinaus ins Grüne zu fahren und sich inmitten von Feldern und Weiden zu ergehen. Mit den Gedanken an die fröhlichen Gartenfeste, die der Hauseinweihung gefolgt waren, schlief er ein.

Das stürmische Läuten einer Alarmglocke weckte ihn wenig später. Er fuhr hoch. Hatte er geträumt? Nein, da war es wieder. Dieses Läuten, das musste die Glocke von einem Spritzenwagen sein. Herrgott, was war denn los? Jetzt hörte er auch Stimmen auf der Straße, panikartige Schreie, lautes Rufen. Er stürzte zum Fenster. Menschen rannten durch die Gasse. In vollem Tempo preschte der Spritzenwagen einer Löschmannschaft durch die Menge. Die Pferde, zum Galopp gepeitscht, rasten rücksichtslos zwischen den Menschen hindurch. Die Männer, die auf schmalen Holzbänken zu beiden Seiten des Wagens kauerten, klammerten sich an Haltegriffen fest, um nicht herunter geschleudert zu werden. Und dann sah Johannes das Feuer über den Dächern der Häuser in der Deichstraße. Rot wölbte sich das grässliche Licht bis hinauf in die tiefhängenden, vom Südwind getriebenen Wolken. Südwind? Der Wind treibt das Feuer genau hierher!

Johannes schüttelte seine Frau: »Annette, zieh dich an, weck die Kinder und dann nichts wie raus hier. Wir haben ein Großfeuer am Hafen und es treibt direkt auf uns zu. Schnell, nur anziehen und auf die Straße. Ich wecke die Mamsell in der Mansarde, sie soll sich um die anderen kümmern. Beeilt euch um Gottes willen.«

Annette, das lange, leicht ergraute Haar zu einem dicken Zopf geflochten und das Leinenhemd mit dem Spitzenkragen bis unter das Kinn zugeknöpft, starrte ihren Mann an. »Hannes, was sagst du da? Das ist doch nicht möglich, das kann doch gar nicht sein. Was soll ich machen? Was wird aus unseren Sachen? Hannes, die Kleider, die Möbel?«

»Annette, verflixt noch mal, weck die Kinder, zieht euch an und dann raus aus dem Haus. Wir werden abbrennen, Anni, mach schnell, ich muss nach oben.«

Er hatte sein Beinkleid und die Schuhe angezogen, dann schlüpfte er in seinen bereitliegenden Hausmantel, donnerte gegen die Türen seiner Kinder, schrie »aufstehen und raus aus dem Haus« und eilte die Stiege hinauf in die Mansarde. Licht brauchte er nicht, denn durch alle Fenster leuchtete inzwischen das flackernde Feuer. Er hämmerte gegen die Tür der Mamsell und rief: »Aufstehen, ganz schnell raus auf die Straße, gleich brennt das Haus.«

Er selbst kletterte eine kleine Leiter zum Dachfenster hinauf, stieß den Eisenrahmen auf und sah hinaus. Es verschlug ihm den Atem. Die Speicher am Nikolaifleet standen wie lodernde Fackeln im Nachthimmel. Auch sein Speicher in der Steintwiete, dicht an dicht an die anderen Häuser gebaut, brannte lichterloh. Entsetzt schloss Johannes für einen Augenblick die Augen. Da verbrannte in Sekunden sein Lebenswerk und das seiner Vorfahren. Jahrzehnte hatten die Stellings zum Aufbau der Firma gebraucht, immer gegen die Konkurrenz der Brennickes gekämpft und jetzt war alles dahin. Dann besann er sich, kletterte die Leiter herunter, kontrollierte die Mansardenkammern und die Schlafzimmer seiner Familie und hastete nach unten. Verstört standen alle im großen Salon, unfähig, ohne ihn zu entscheiden, wie es weitergehen sollte.

»Raus aus dem Haus, schnell, wartet auf der Straße, ich komme gleich nach. Thomas, du kümmerst dich um Benno, lass ihn nicht von der Leine. Patrizia, pass auf Viktoria auf. Annette, sorge dafür, dass alle zusammenbleiben. Draußen herrscht das Chaos.«

Flüchtig umarmte er seine Frau, die zitternd in Türrahmen stand, und ihren geliebten kleinen Beutel mit der Petit-Point-Stickerei in der Hand hielt, in dem sie die Schlüssel der Häuser verwahrte.

Als er sicher war, dass alle das Haus verlassen hatten, rannte er in sein Kontor, zog den Hausmantel aus und legte ihn auf den Boden. Dann öffnete er den Kassenschrank und packte Familiendokumente, Geschäftsbücher, Urkunden, Stempel, die kleine Schmuckschatulle seiner Frau und das wenige Bargeld, das er in dem Schrank verwahrte auf den Mantel, wickelte ihn zusammen und klemmte ihn unter den Arm. Traurig verließ er sein geliebtes Kontor. Er musste mit den Tränen kämpfen, als er einen letzten Blick auf das Bild seines Vaters warf.

In der Tür stand Michael, sein Ältester, Kleidungsstücke über dem Arm. »Hier, Vater, zieh den Mantel an. Ich trage den Packen.«

Die anderen warteten zitternd vor Aufregung und Angst vor dem Haus. Annette mit Patricia und Viktoria neben sich, gleich dahinter die Mamsell mit der Köchin und dem Zimmermädchen. Alle nur notdürftig bekleidet und schreckensbleich. Michael verteilte die Mäntel, die er vom Garderobenhaken gerissen hatte.

Das Feuer erfasste bereits das Nachbarhaus. Knallend, zischend und stinkend fraßen sich die Flammen in ungeheurer Geschwindigkeit durch die Etagen. Die alten Häuser aus Holz und Fachwerk boten keinen Widerstand.

»Schnell weg hier. Alles läuft zur Binnenalster. Wenn wir uns verlieren, treffen wir uns dort am Ufer beim Bootssteg. Beeilt euch, der Wind ist schneller, als ihr laufen könnt.«

Die Gassen waren verstopft von Menschen, die in Panik flüchteten und von Helfern, die dem Flüchtlingsstrom entgegen liefen, um zu retten, was nicht mehr zu retten war. Menschen mit Handkarren, auf denen sich letzte Habseligkeiten stapelten, weinende Mütter mit Körben voller Küchengerät, schreiende Kinder mit Spielzeug unter den Armen, bellende, verwirrte Hunde und Männer mit Eimern und Feuerklatschen, die helfen wollten, drehten sich in einem ungeheuren, unüberschaubaren Knäuel durch die engen Gassen. Und über ihren Köpfen flogen die Funken von Haus zu Haus und übersprangen mit Knall und Leichtigkeit die schmalen Straßen, gepeitscht vom Südwind.

Auf den Fleeten stauten sich die überladenen Boote fliehender Schiffer und in den Gängevierteln, wo es dunkel war, rotteten sich die ersten Plünderer zusammen. Ordnungshüter auf Pferden, Männer der Bürgergarde, Krankenwagen, deren Gespanne die Menschen eher bedrohten als retteten, und immer neue Spritzenwagen, von überaus nervösen Pferden gezogen, vervollständigten das Chaos.

Johannes Stelling hatte große Mühe, seiner Familie einen Weg durch das Inferno zu bahnen. Seine größte Sorge galt den Booten auf der Alster. Gab es noch Fähren, die hinaus in das Vorland fuhren, die den angestauten Alstersee überquerten? Dort wo der Fluss die Wallanlagen durchbrach, hatte Felix Wümmer seine Boote liegen. Dorthin drängte Johannes die Familie.

Annette Stelling weinte. Patrizia hatte den Arm um ihre Schultern gelegt und versuchte, sie zu trösten. »Alles wird wieder gut, Mama. Gleich sind wir im Sommerhaus, gleich kannst du ruhen.«

»Aber wir haben alles verloren, unser wunderschönes Zuhause, Patrizia. Auch den Speicher mit den Handelsgütern deines Vaters gibt es nicht mehr. Alles verbrannt, mein Kind, wovon sollen wir leben?«

»Papa wird alles wieder in Ordnung bringen. Er weiß alles, er kann alles, du wirst sehen, Papa macht das.«

Während Johannes die kleine Gruppe vorwärts drängte, sah er seine große Tochter an. Ein liebes Mädchen, dachte er, und so vernünftig mit ihren achtzehn Jahren. Eine wirkliche Stütze für die Familie, wie sie ihre Mutter im Arm und die wilde Viktoria an der Hand hielt. Auf seine Große war Verlass, das wusste Johannes. Er sah sich nach Michael um, der als letzter die kleine Gruppe zusammen hielt. Auch ein Prachtjunge mit seinen zwanzig Jahren, nur leider zu sensibel. Ihm fehlte die innere Stärke, die seinen sechzehnjährigen Bruder auszeichnete. Und dann war da noch seine jüngste, die vierzehnjährige Viktoria, ein widerspenstiges Geschöpf, das so gar nicht gehorchen wollte und immer einen eigenen Kopf hatte. Mit ihr gab es die meisten Schwierigkeiten in der Familie. Nur gut, dass wenigstens Patrizia mit ihr fertig wurde.

Endlich erreichten sie den Jungfernstieg. Hier wurden die Straßen etwas breiter und man kam besser voran. Inzwischen wurde es hell. Man musste sich Schnupftücher vor Nase und Mund halten, um atmen zu können. Der beißende, brennende Gestank von Rauch und Unrat zog mit den Flammen zusammen von Süden her über die ganze Stadt. Dann erreichten sie den Anlegesteg. Aber von Felix Wümmer und seinen Booten war nichts zu sehen.

»Weit und breit kein Schiff«, entfuhr es Johannes, »nicht der kleinste Kahn zu sehen. Wir müssen weiter laufen.« Er sah sich um. »Anni, geht es noch?«

»Ja, Johannes, aber wohin sollen wir jetzt?«

»Wir müssen zum Tor am nördlichen Damm. Denn dahinter fangen die Weiden an, über das Moor kann uns das Feuer nicht folgen.«

Aber nicht nur Johannes Stelling hatte diese Idee. Von allen Seiten strömten Menschen jetzt in Richtung Tor. Dort, wo die Wallanlagen die Stadt schützten, wo Wachen Tag und Nacht darauf bedacht waren, keine Fremden in die Stadt zu lassen, drängten nun die Menschen nach draußen in das weite, wenig besiedelte Land vor den Stadttoren. Aber bevor Johannes seine Familie in das Gedränge führte, sah er Felix Wümmer mit einem Boot durch den kleinen Kanal in das Binnengewässer kommen. Er rief seine Familie zusammen und eilte zurück ans Wasser. Der Fährmann war völlig erschöpft. Seit Stunden war er unterwegs, immer mehr Menschen wollten die Stadt über den Wasserweg verlassen und nun kam auch noch Stelling mit seiner ganzen Familie und allen Hausangestellten. Er schüttelte den Kopf. »Ich kann einfach nicht mehr, Herr Stelling. Sie müssen das verstehen, ich bin vollkommen zerschlagen. Ich kann keinen Arm mehr heben, um zu rudern. Seit drei Uhr in der Nacht bin ich unterwegs. Immer hin und her, jetzt geht es nicht mehr.«

Johannes ließ sich von Michael sein Bündel geben und entnahm ihm ein paar Goldstücke. »Wümmer, bitte, nehmen Sie das Geld. Es reicht für ein ganz neues Boot, aber bitte bringen Sie meine Familie nach Harvestehude. Meine Söhne können beim Rudern helfen.«

Der Fährmann sah auf das Gold, dann auf Stelling und der konnte erkennen, wie der Mann mit sich kämpfte, dann Michael und Thomas ansah und schließlich nickte. »Ich werde es versuchen, aber die Jungen müssen helfen. Einer vorn und einer hinten und sie müssen genau das tun, was ich sage.«

Johannes nickte. »Selbstverständlich, es sind folgsame Jungen, kein Problem.«

Michael sah ihn an. »Und du, Vater, kommst du nicht mit?«

»Nein, mein Sohn, ich muss zurück. Es ist meine Pflicht, bei der Rettung der Stadt zu helfen.«

»Aber, Johannes«, unterbrach ihn Annette mit Panik in der Stimme. »Johannes, du kannst doch nicht die ganze Stadt retten, du musst dich doch zuerst um deine Familie kümmern. Du kannst uns doch jetzt nicht allein lassen.«

»Es tut mir Leid, meine Liebe, aber es muss sein.« Er umarmte seine Frau. »Wümmer bringt euch hier heraus und im Sommerhaus seid ihr in Sicherheit. Dorthin wird das Feuer niemals kommen. Zuviel Wasser und das ganze moorige Weideland liegen dazwischen. Also, keine Angst, meine Anni. Und auf mich selbst passe ich schon auf.«

Er half den Frauen beim Einsteigen. »Michael, du bist jetzt der Herr im Hause, pass gut auf alle auf, bis ich wieder da bin.« Er winkte ihnen kurz zu und lief zurück in das Getümmel. Für Wümmer wurde es höchste Zeit abzulegen, immer mehr Menschen drängten in Panik auf den Anlegesteg und er war kaum noch in der Lage, sie vom Entern des kleinen Bootes abzuhalten. »Los, Jungs, packt die Ruder und paddelt, was die Arme hergeben. Eins und zwei und eins und zwei und …«, hörte Johannes ihn rufen, als sich die kleine Fähre entfernte. Noch einmal blickte er zurück, dann sah er nach vorn, dem Inferno entgegen.

 

 

 

 

 

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Die vollbesetzte kleine Fähre kam nicht vorwärts. Sie drehte sich und drehte sich und geriet immer weiter in die Mitte der Binnenalster, statt durch den schmalen Zufluss in das äußere Gewässer zu gelangen.

Schließlich sprang Viktoria auf. Das ganze Boot geriet ins Schwanken und Annette schrie entsetzt: »Setzt dich hin, Kind, du wirfst uns alle um!«

Aber Viktoria kümmerte sich nicht darum. Sie sah, dass der alte Wümmer im Heck eingeschlafen war, kletterte ans Ende des Bootes und nahm den Steuerknüppel selbst in die Hand. Sie rief ihren Brüdern zu: »Ihr müsst gleichmäßig rudern, im Takt, sonst kommen wir nie von der Stelle und landen mit der Strömung in der Elbe.«

Sie hatte Recht. Das angestaute Wasser der Alster drängte mit aller Macht durch den schmalen Kanal unter den Wallanlagen. Der Fluss, der zunächst den aufgestauten äußeren See und dann den Binnensee durchquerte, rauschte mächtig und laut flussabwärts zum Hafen und hatte an dieser schmalen Stelle die heftigste Strömung.

Auch der geschwächte, von Viktorias Rufen geweckte Wümmer griff jetzt zu den Rudern, aber allein schaffte er es nicht, das überfüllte Boot in die Gegenströmung zu führen. So stand Viktoria im Heck und kommandierte.

»Du sitzt hinten, Michael, und hast Thomas vor dir. Du musst dich nach seinem Takt richten, weil er dich nicht sehen kann. Ich gebe jetzt die Kommandos. Thomas, du musst dich unbedingt nach meinen Anweisungen richten.« Und unter ihren Befehlen begann das Boot endlich in die gewünschte Richtung zu schwimmen.

Die nur zweiundfünfzig Kilometer lange Alster, in Hamburg zur Außen- und Binnenalster aufgestaut, hatte durch das Gefälle eine starke Strömung, und um gegen sie mit einem überladenen Boot anzurudern, brauchte man nicht nur Kraft, sondern Geschick. Viktoria erkannte im Gegensatz zu dem erschöpften Fährmann, dass sie mit den ungeübten Ruderern hart umspringen musste, sollte das Boot die schmale Passage gegen den Sog bezwingen.

Es war dieser, eigentlich unbedeutende Augenblick, der, von niemandem bemerkt, Schuld daran war, dass Viktoria die Geschicke der Familie Stelling in die Hände nahm.

Mit kräftiger Stimme und kurzen Kommandos erreichte sie den Rhythmus, der das Boot schließlich vorwärts trieb. Dann hatten sie die Durchfahrt bezwungen und tauchten hinein in das ruhige Wasser des großen Sees, in dem sich die aufgehende Sonne in zarten Pastelltönen spiegelte. Langsam schob sich das Boot in Ufernähe nach Norden. Von weit her kam der Ruf eines Blesshuhns. Ein anderes antwortete. Trauerweiden streiften mit langen Zweigen das Wasser. Schafe, Ziegen und Rinder weideten auf den moorigen Wiesen. Im Schatten der Büsche standen Pferde am Ufer, um ihren Durst zu löschen. Wildenten schwammen, mit dem ersten Nachwuchs des Jahres, in Familienverbänden am Ufer auf und ab. Die Sonne begann, die frierenden, kaum bekleideten Menschen in ihrem Boot zu wärmen.

Viktorias Befehle wurden ruhiger, leiser. Hier musste sie ihre kleine Mannschaft nicht mehr anpeitschen, hier durfte die Fähre gemächlich nach Norden zum Anlegesteg treiben. Alle beruhigten sich und sahen mit Anspannung dem Ende der Fahrt entgegen.

Golden leuchtete die Sonne auf dem roten Fell des Setters, der sich hinter Thomas aufgestellt und seinen schönen schlanken Kopf auf die Schulter des Jungen gelegt hatte. Viktoria beobachtete ihren Bruder. Er war der einzige in der Familie, der sich wenigstens ab und zu die Mühe gab, sie zu verstehen. Seine Haut hatte den gleichen hellen Ton wie sein Haar und er war seiner Mutter sehr ähnlich. Wenn er einatmete, legte sich der sehr feine Stoff seines Hemdes eng um seine Schultern. Sie mochte diese Schultern, sie versprachen Geborgenheit, wenn sie jemanden zum Anlehnen brauchen sollte. Wenigstens einer, der mich versteht und zu mir hält, dachte sie müde.

Sie hatte es nicht leicht, nicht mit sich selbst und nicht mit anderen. Sie war ein Mädchen voller Widersprüche: Sie war zärtlich und sie war heftig, aufbrausend und verträumt, wild und nüchtern, opferbereit und berechnend. Ein Mädchen von vierzehn Jahren und die einzige in der Familie, die dem Vater äußerlich wie aus dem Gesicht geschnitten und innerlich das absolute Gegenteil von ihm war. Noch waren sie nicht aneinander geraten, der Vater und die Tochter, dass aber ein Zusammenprall nur noch eine Frage kürzester Zeit war, wurde täglich deutlicher. Annette Stelling, die Frieden und Eintracht in ihrem Umfeld liebte, sah die Entwicklung mit Schrecken, war aber viel zu vorsichtig, um sich einzumischen, und nicht in der Lage, die Situation zu ändern.

Langsam driftete das Boot am Schilfgürtel entlang. Vom östlichen Ufer war kaum etwas zu sehen. Frühnebel und Rauchschwaden verdeckten den Blick. Gott sei Dank hatten sie den Gestank von brennenden Häusern, Müll, verbranntem Fleisch und Unrat hinter sich und konnten frei atmen.

Seit dem letzten Gartenfest im Oktober sind wir nicht mehr hier gewesen, aber es hat sich überhaupt nichts verändert, dachte Annette. Der Steg, auf dicken Eichenpfählen gebaut, reichte wie immer nur wenige Meter in das flache Wasser und die kleinen Wellen platschten friedlich gegen das Holz.

Sie sah zwei Fischer auf den Brettern, die nackten Beine im Wasser und die langen Leinen zum Fang ausgeworfen. Den Blick auf die brennende Stadt gerichtet kauten sie auf ihren Pfeifen und diskutierten die rauchumwölkte Silhouette im Süden. Annette sah, wie sie die langen Leinen einzogen, als die Fähre näher kam, und aufstanden. Der Fährmann nahm das Steuer wieder selbst in die Hand, um das Schiff vorsichtig zum Steg zu lenken.

Sie beobachtete Michael, der sich die rotgescheuerten Hände rieb und trotz der Schmerzen froh war, dass der Vater ihn nicht aufgefordert hatte, mit ihm zurückzugehen. Sie wusste, körperliche Schwerarbeit und Menschenmassen waren ihm ein Gräuel. Er selbst bezeichnete sich als Feingeist, verkannt von der ganzen Familie, und tat alles, um seinem persönlichen Empfinden entsprechend zu leben. Es ist schlimm genug, dachte sie, dass der Vater von ihm fordert, Kaufmann zu werden, und dass er seine Tage als Lehrling im Kontor zubringen muss. Sobald er aber Zeit und Gelegenheit hat, frönt er dem Nichtstun und seiner Liebhaberei, dem Malen. Und wie es jetzt aussieht, steht ihm eine wunderbare Zeit bevor. Wo soll er, vom Vater angetrieben, lernen, wenn alles verbrannt ist? Sie schüttelte traurig den Kopf. Um die Zukunft der Familie macht er sich wenig Sorgen. Ich bezahle von meinem Nadelgeld seine heimlichen Malstunden und werde es auch weiterhin tun, und wenn sein Lehrer ihm nichts mehr beibringen kann, wird er nach Italien reisen, um dort weiter zu studieren. Er würde sogar arbeiten, um seine Lehrstunden bezahlen zu können, hatte er ihr gesagt, nicht körperlich natürlich. Er wollte sich nicht die Hände verderben, aber als Hauslehrer oder Gesellschafter, als Reisebegleiter oder Übersetzer würde er schon eine Tätigkeit finden, glaubte er. Gedankenversunken sah sie in die Zukunft und erst der leichte Stoß, mit dem das Boot an die Holzpfähle stieß, holte Annette in die Wirklichkeit zurück.

Viktoria war auf den Steg gesprungen und vertäute das Boot mit einem Strick am Pfosten. Dann half sie ihrer Mutter und der Mamsell beim Aussteigen und nahm Benno an die Leine, damit er nicht davon preschte.

Das kleine Fährhaus, zwischen Sträuchern und Erlen und Trauerweiden am Ufer verborgen, strömte Ruhe und Frieden aus. Neben dem kleinen Kräutergarten waren Fischernetze zum Trocknen aufgespannt und der Rauch, der vom Schornstein aufstieg, trug den Geruch von Holzfeuer und gebratenem Fisch über die Alster. Michael verließ als letzter das Boot, das Bündel mit Geld, Papieren und der Schmuckschatulle fest an sich gepresst. Er wusste, er hielt den letzten Besitz der Familie in den Armen, und achtete sorgfältig darauf, nichts zu verlieren.

Viel ist es nicht, was wir gerettet haben, dachte er, aber viel haben wir sowieso nie besessen. Vater hat immer alles in die Firma gesteckt. Ihm war es wichtiger, einen gefüllten Speicher zu besitzen als ein gefülltes Portemonnaie. Nun ja, jetzt haben wir einen leeren Geldbeutel und keinen Speicher mehr. Vater muss sich etwas einfallen lassen, wenn wir nicht am Hungertuch nagen wollen. Mutter wird das überhaupt nicht gefallen, überlegte er und sah seiner Mutter nach, die am Arm von Patrizia die Uferböschung hinauf schritt.

Alle machten sich auf den Weg zum Sommerhaus an der Ecke zur alten Rabenstraße. Nur Viktoria dachte daran, dem alten Fährmann zu danken. Das weißgetünchte ebenerdige Haus mit dem flachen Walmdach leuchtete schon von weitem durch das frische Grün der ersten Maitage. Für einen Augenblick blieben alle stehen, um den Anblick zu genießen. Eine dreiseitige steinerne Treppe mit sechs Stufen führte in der Mitte der Vorderfront an zwei Säulen vorbei zur Haustür. Die herrlichen Sprossenfenster mit Butzenscheiben zierten die Vorderseite des Hauses, das sich zum Garten hin lang und behäbig ausstreckte.

Annette hob abwehrend die Hände: »Das Haus ist viel zu klein, um lange darin zu wohnen. Im Salon kann man keine Gäste standesgemäß empfangen und im Speisezimmer können höchstens zwölf Personen tafeln.« Sie schüttelte traurig den Kopf. »Ich habe im vorigen Sommer schon gesagt, wir brauchen ein großes Haus, aber nein, euer Vater wollte ein neues Schiff kaufen und so mussten wir mit diesem Puppenhaus vorlieb nehmen. Zuerst fand ich es ja auch ganz schön und habe mich gefreut, wenigstens an den Wochenenden aus der engen Stadt herauszukommen. Und dann wollte ich ihm auch nicht die Freude verderben, aber inzwischen habe ich längst bemerkt, dass dies kein Haus auf Dauer ist.«

»Mutter, wir können froh sein, dass wir dieses Haus jetzt besitzen. Wir haben wenigstens ein Dach über dem Kopf, denk doch mal an all die Menschen, die in Notlagern hausen müssen. Ich bin auch traurig, und ich vermisse mein schönes Zimmer, aber Papa wird alles ordnen.«

»Schluss jetzt mit der ganzen Trauer. Davon wird auch nichts besser«, unterbrach Viktoria das Jammern. »Mutter, such bitte den Schlüssel in deinem Beutel, damit wir endlich eintreten können.« Dann nahm sie den Schlüssel, öffnete die Tür und forderte die Familie auf, hinein zu gehen. »Hier riecht es muffig«, Viktoria sah sich um und bat die Mamsell. »Babette, öffnen Sie bitte überall die Fenster. Stinchen soll Holz holen und in allen Zimmern die Kachelöfen einheizen, hier steckt der Winter noch in den Mauern. Und Sie, Simone, sollten loslaufen und sehen, wo wir etwas zu essen kaufen können. Weiter oben am Mittelweg gab es im Sommer einen Krämerladen.«

Und an den Bruder gewandt: »Michael, gib mir etwas Geld aus dem Bündel, wir müssen schließlich essen und trinken.«

Stinchen, das Stubenmädchen, sah hilflos zur Mamsell. »Wo finde ich denn Holz?«

»Richtig, du bist ja zum ersten Mal hier. Hinten im Garten ist ein kleines Haus, da sind die Kammern für das Personal und im angebauten Schuppen findest du Kaminholz und Körbe. Wir haben im Herbst drei Fuder voll eingelagert.« Sie sah sich um, ob von der Herrschaft auch niemand zuhörte und erklärte flüsternd: »Eine Knochenarbeit war das, sei froh, dass du nicht dabei warst.«

Während Stinchen durch den Garten lief, zählte Viktoria Geld ab und fragte die Köchin: »Was brauchen wir am dringendsten?«

»Ich denke: Mehl, Butter, Salz, Eier, Milch und Kartoffeln. Ich versuche auch, ob ich etwas Kaffee für die gnädige Frau bekomme und alles, was ich zum Brotbacken brauche. Außerdem müssen wir Reis, Mais und Graupen haben.«

»Gut«, Viktoria sah zu ihrer Mutter hinüber, »schau mal, ob du Honig findest, dann versüßen wir der Mama den Einzug. Der Krämergehilfe soll dir beim Tragen helfen.«

Die Köchin sah sie unglücklich an. »Ja, ich versuche es, aber, gnädiges Fräulein, ich bin im Nachthemd und dieser Mantel ist mir viel zu groß. Ich habe in meiner Kammer noch Sachen vom letzten Jahr, dürfte ich mich nicht erst einmal umziehen?«

Viktoria sah sie an und musste lachen. »Ja, natürlich, so kannst du wirklich nicht gehen. Zieh dich an und dann nichts wie los. Wir haben Hunger.« Kurz entschlossen und liebevoll drückte sie die Frau an sich.

»Ich gehe sofort und dann backe ich die wunderbarsten Küchlein aus Buchweizenmehl mit Vanille und Anis. Gewürze haben wir noch vom Sommer in den luftdichten Dosen in der Küche.« Und zur Mamsell gewandt: »Stinchen soll den Küchenherd heizen, damit ich ein Frühstück richten kann.«

Viktoria sah die anderen an. Michael stand immer noch mit dem Bündel im Arm am Tisch, das wenige Geld, das sie gerettet hatten, vor sich ausgebreitet.

Annette besah sich die Gold- und Silberstücke. »Was sollen wir davon nur zuerst kaufen? Ich brauche unbedingt etwas zum Anziehen. Meine ganze Garderobe ist verbrannt und ohne Hut kann ich auch nicht ausgehen.« Sie setzte sich auf einen Stuhl und barg das Gesicht in den Händen. »Ich weiß, ich sollte nicht weinen, aber ich kann nicht anders.«

Viktoria stieß ihre Schwester an. »Bring Mama in ihr Zimmer und schau nach, was dort im Schrank noch an Kleidung ist. Und nimm die Schmuckschatulle mit, vielleicht tröstet sie der Anblick ihres Geschmeides.«

Und zu ihrem Bruder gewandt: »Thomas, verriegle die Gartenpforte und lass Benno laufen, bevor hier im Haus ein Unglück geschieht.«

Der Junge, froh, der gedrückten Stimmung zu entkommen, ließ es sich nicht zweimal sagen. Für ihn war das alles ein riesiges Abenteuer. Er wollte unbedingt zurück ans Ufer und das Feuer beobachten. Dass seine Eltern ihr Vermögen und der Vater seine Existenz verloren hatten, berührte ihn nur soweit, wie seine Zukunft in Frage gestellt war. Er wollte Pferde züchten, Jagden reiten und Derbyrennen gewinnen. Und dazu brauchte man viel Geld. Mit seinen sechzehn Jahren wusste er genau, dass gute Pferde ein Vermögen kosteten. Und für ihn kamen natürlich nur die besten in Frage. Blieb das Problem, den Vater von seinen Wünschen zu überzeugen. Der dachte immer noch, dass seine Söhne in die Firma eintreten und die Tradition der Kaufmannsfamilie fortsetzen würden. O nein, so dumm wie Michael war er nicht. Mit ihm konnte man nicht machen, was man wollte. Dass würde er Papa schon erklären, wenn es an der Zeit war.

Michael stand unschlüssig im Zimmer herum und blätterte in den Dokumenten, die verstreut auf dem Tisch lagen.

»Du solltest sie in Vaters Zimmer bringen, da ist ein kleiner Wandtresor, in dem wir sie aufheben können«, forderte Viktoria ihn auf.

»Du hast gar nichts zu bestimmen, Vater hat mir die Verantwortung für die Familie übergeben.«

»Dann kümmere dich auch darum.«

»Was ich mache, geht dich gar nichts an, kleine Schwester, werde du erst einmal erwachsen, bevor du mitredest.«

»Es kommt nicht aufs Reden an, sondern aufs Tun. Schau mal, die kleine Stine schleppt sich mit den schweren Holzkörben krumm und lahm. Wie wäre es, wenn du ihr dabei hilfst, als Kavalier sozusagen.«

»Als Kavalier, du spinnst wohl, ich als Kavalier für ein Stubenmädchen. Und an meine Hände denkst du gar nicht.«

»Denen schadet es nicht, einen Korb zu tragen. Stinchen kann sie füllen und du kannst sie tragen, dann wird es endlich warm hier drinnen.«

Wütend sah er seine Schwester an. »Morgen melde ich dich in einer neuen Schule an. Irgendwo werden sie ja wohl rotznäsigen kleinen Gören Benehmen beibringen.«

»Ja, ja, aber vorher kümmere dich um das Holz, Mutter wird frieren und die Verantwortung hast ja du.«

Missmutig ging er nach draußen. Ob er wirklich half, konnte Viktoria nicht sehen. Sie wusste genau, wie gern er sich vor körperlichen Arbeiten drückte, immer darauf bedacht, seine Künstlerhände zu schonen. Nun ja, Holz holen, diese Art von Handarbeit lag ihm wirklich nicht. Dann hörte sie, wie das Stubenmädchen den Salon betrat.

»Stinchen, mach zuerst Feuer im Kachelofen der gnädigen Frau, dann in den anderen Öfen. Und vergiss den Herd in der Küche nicht.«

»Wo ist denn die Küche, die habe ich noch nicht gesehen.«

»Küche und Wirtschaftsräume sind im Keller, Stinchen.«

»Ja, dann gehe ich auch gleich dort hinunter.«

Viktoria nahm die Dokumente und das restliche Geld und schloss alles im Wandtresor ihres Vaters ein. Dann endlich ging sie in ihr Zimmer. Sie musste sich waschen und anziehen. Zuerst aber musste sie die Pumpe im Garten in Gang setzen. Hoffentlich klappte das, sonst hatten sie kein Wasser. Im vergangenen Jahr hatte die Pumpe immer Schwierigkeiten gemacht, wenn sie ein paar Tage nicht gebraucht worden war.

Patrizia hatte die Mutter in ihr Zimmer gebracht und den großen Kleiderschrank geöffnet, in dem ein Teil der Sommergarderobe des letzten Jahres aufbewahrt wurde.

»Schau nur, Mama, du hast die schönsten Kleider hier, und soviel Wäsche und all die Hüte, du hast ein Glück, Mama, wie wundervoll.«

»Das riecht ja alles muffig, wie scheußlich.« Annette schüttelte resolut den Kopf. »Kind, die Sachen, von dem Geruch ganz abgesehen, kann ich doch nicht mehr tragen, die hatte ich doch alle im vergangenen Jahr an. Was sollen die Leute denken, wenn ich mit den gleichen Kleidern und Hüten herumlaufe. Das geht ganz einfach nicht!«

Verblüfft schwieg Patrizia. Sie wusste, dass ihre Mutter eine sehr eitle Frau war, dass sie aber angesichts der Not, die nun in der Stadt herrschte, so eingebildet war, konnte sie überhaupt nicht verstehen.

»Komm, Mama, setz dich vor deinen Frisiertisch, ich bürste dir dein Haar. Das entspannt dich und ich mache das gern, das weißt du.«

»Danke, mein Kind, das ist sehr lieb von dir.« Sie begann sofort, den langen Zopf zu lösen, und genoss die liebevollen Bürstenstriche, mit denen ihre älteste Tochter sie verwöhnte. Sie schloss die Augen und malte sich eine wundervolle Zukunft aus. Sie würde für Patrizia einen großartigen und vor allem sehr reichen Mann finden und von der Hochzeit würde ganz Hamburg sprechen. Und natürlich hatten sie bis dahin auch das Palais an der Elbe, von dem sie schon so lange träumte. Eigentlich, so hatte sie gehofft, sollte Johannes sie im letzten Jahr damit überraschen, aber als er dann schließlich sein Geheimnis um das neue Haus lüftete, stellte sich heraus, dass es nur ein kleines Sommerhaus inmitten von Feldern und Weiden geworden war. Sobald sie den Garten verließ, musste sie durch Kuhfladen und Rossäpfel stapfen, und wenn ein Reiter oder eine Kutsche auf dem Weg nach Harvestehude vorbeikam, konnte man vor Staub die Hand nicht mehr vor Augen sehen. Nein, mit dem exklusiven Elbufer hatten diese Klosterfelder nichts gemein. Annette hatte lange gebraucht, um ihren Freundinnen die Vorzüge eines Sommerhauses an der Großen Alster zu erklären. Sie selbst dagegen glaubte bis heute nicht an diese so genannten Vorzüge.

 

 

 

 

 

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Johannes Stelling verließ schweren Herzens den Bootssteg an der Binnenalster. Er wollte die Innenstadt mit dem brennenden Inferno umgehen, um die Speicher in Hafennähe zu erreichen. Dass sein Kontorhaus nicht mehr zu retten war, hatte er mit eigenen Augen gesehen, aber ob der Speicher mit all dem kostbaren Lagergut verbrannt war, war noch nicht sicher. Obwohl er wusste, dass in angrenzenden Speichern vor allem Arrak, Schellack und Gummi gelagert wurden, Waren also, die wie Zunder brannten, hegte er noch einen Funken Hoffnung. Der Blick aus dem Dachfenster hatte ihm zwar den Verlust seines Speichers angekündigt, daran glauben konnte er aber erst, wenn er tatsächlich vor den Trümmern stand.

Als er den Jungfernstieg hinter sich hatte und zum Alten Wall hinüber laufen wollte, brannten dort bereits ganze Häuserzeilen. Die Hitze war unbeschreiblich. Obwohl Löschtrupps aus den Vorstädten zu Hilfe geeilt waren und von Schiffen aus gegen die Flammen ankämpften, sah Johannes, dass man das Feuer nicht mehr eindämmen konnte. So versuchte er, über die Marktstraße und an St. Petri vorbei zum Hafen zu kommen. Aber am Fischmarkt war kein Weiterkommen mehr. Krankenpfleger, die ein paar Zelte für Verletzte aufgebaut hatten, riefen ihm zu:

»Sie können nicht weitergehen! Hier werden gleich Häuser gesprengt, um Feuerschneisen zu schaffen. Bleiben Sie stehen, sonst ist Ihr Leben in Gefahr.«

Johannes ging hinüber zu den Männern und blieb bei ihnen, um die Sprengungen abzuwarten. Aber immer noch kamen Krankenwagen aus den brennenden Straßen geprescht und luden ihre stöhnende Last vor den Zelten ab. Die Pferde, von Schweiß bedeckt, bebten am ganzen Körper und waren so nervös, dass der Kutscher sie kaum halten konnte. In den hochrädrigen roten Kastenwagen mit den flachen Dächern waren die Verletzten regelrecht aufgestapelt, um möglichst viele Menschen mit einer Fahrt retten zu können. Viele hatten schwere Brandwunden, andere hatten sich beim Sprung aus Fenstern oder von den Dächern ihrer Häuser Gliedmaßen gebrochen oder innere Verletzungen zugezogen. Johannes, der sah, dass viel zu wenige Helfer da waren, griff ein und half, die Menschen auszuladen und in den Zelten auf Strohmatten zu legen. Es war eine Arbeit, die kein Ende nahm. Kaum war ein Wagen abgefahren, kam der nächste herangeprescht.

Dann hörten sie das Signal, das die Sprengung der Häuser ankündigte. Die Helfer standen vor den Zelten und warteten auf die Zündung. Die Detonationen waren ohrenbetäubend. Steine, Holz und Dachziegel, Möbelstücke, Stofffetzen und Sand flogen bis auf den Fischmarkt. Hunde, Katzen und Ratten rasten aus ihren Verstecken, Hühner und Tauben schwirrten verstört durch die Luft. Aber auch Funken flogen und die Krankenpfleger hatten alle Hände voll zu tun, die Glut von den Zelten zu wischen und erste kleine Feuer auf den Strohlagern zu zertreten.

Johannes erkannte als erster, wie gefährdet der Standort dieser Samariterzelte war, und redete mit einigen Männern.

»Hier können wir nicht bleiben. Die Menschen verbrennen uns unter den Händen, wenn der Wind den nächsten Funkenflug herüberbläst.«

»Aber deshalb werden doch die Häuser gesprengt, damit das Feuer keine Nahrung mehr findet.« Einer der Männer drehte sich um und zeigte auf die qualmende Schneise. »Das ist doch jetzt eine breite Lücke, reicht die denn nicht?«

Johannes schüttelte den Kopf. »Der Sturm ist zu gewaltig und der Funkenflug zu stark. Sie sehen doch, wie die Flammen immer öfter bis hierher fliegen.«

»Aber was sollen wir tun?« Ratlos sahen die Männer sich an.

Johannes blickte in die Runde. »Wer ist hier der Kommandant? Mit wem könnte ich sprechen?«

Aber die Männer zuckten mit den Schultern. »Wir haben keinen, der hier das Kommando hat. Der Arzt, der uns hergebracht und die Zelte besorgt hat, ist längst wieder weg, um an einer anderen Stelle zu helfen.«

»Dann müssen wir selbst etwas unternehmen.«

»Aber was? Wir haben keine Zelte, keine Transportwagen, kein Verbandszeug. Wir haben überhaupt nichts außer unseren Händen.«

»Also, dann gebrauchen wir mal unsere Hände.« Johannes sah sich um. »Die nächsten Krankenwagen werden gleich weitergeschickt. Wir müssen nach Norden, so weit wie möglich an die Wallanlagen heran. Da stehen die Häuser nicht so eng, da findet das Feuer nicht soviel Nahrung.«

Entsetzt sahen die Männer ihn an. »Sie befürchten, dass das Feuer bis an die Wallanlagen reichen könnte?«

»Ich weiß es nicht, ich weiß nur, dass es hier nicht aufzuhalten ist.«

Die heranpreschenden Krankenwagen wurden sogleich weitergeschickt. Mit dem ersten fuhr Johannes mit. Mühsam kletterte er auf den hohen Kutschbock und klemmte sich zwischen den Kutscher und seinen Helfer. Mit aller Macht stemmte er seine Beine gegen das Fußbrett, um sich abzustützen, jeden Augenblick darauf gefasst, von dem hohen Bock herunter geschleudert zu werden. Hinter den Kurzen Mühren ließ er anhalten, denn der Wall machte dort einen Bogen nach Norden und diese Bodenfläche war unbebaut.

»Hier bleiben wir«, erklärte Johannes dem Fahrer. Rutschend kamen die Pferde zum Stehen. Sand und Steine flogen auf und vermischten sich mit dem dicken Qualm des Feuers, der die ganze Gegend überzog.

»Fahren Sie bitte sofort zurück zum Fischmarkt und holen Sie andere Verletzte. Die müssen dort so schnell wie möglich fortgebracht werden«, bat Johannes. Dann hoben sie die Verletzten vorsichtig aus dem Wagen und betteten sie auf den Grünstreifen am Fuße des Walls. Die Pferde, Schaum vor dem Maul und Blut in den Nüstern, standen völlig erschöpft mit bebenden Flanken vor dem Wagen.

Andere Krankenwagen kamen und bald lagen die Verunglückten Seite an Seite nebeneinander. Männer stöhnten, Frauen weinten, Kinder schrien Angst und Schmerzen laut hinaus. Es gab keinen Arzt, kaum Verbandszeug und immer mehr Verletzte.

Johannes kämpfte mit Angst und Verzweiflung. Er hatte plötzlich eine Verantwortung zugeschoben bekommen, der er sich nicht gewachsen fühlte. Musste ein Entschluss gefasst werden, sahen ihn die Menschen erwartungsvoll an, tauchten Fragen auf, kamen sie hilfesuchend zu ihm. Eine Situation, die ihn fest umklammerte und ihm keine Zeit ließ, an eigene Probleme zu denken. Nachmittags fing der Turm der Nikolaikirche Feuer und gegen 16 Uhr brach er brennend zusammen. Kurz darauf stand die Bogenstraße in Flammen. Wie gut, dass wir rechtzeitig den Fischmarkt geräumt haben, dachte Johannes und ging an den Reihen der Verletzten entlang.

Es wurde bereits dunkel, als er seinen Namen hörte. Suchend blickte er sich um, dann sah er einen Menschen winken. Er konnte nicht erkennen, ob es ein Mann oder eine Frau war, die Stimme war heiser und der Kopf beinahe vollkommen bandagiert. Besorgt trat er näher und bückte sich zu dem Verletzten.

»Ich bin es, der Heinz vom Speicher«, flüsterte der Mann.

Johannes kniete sich hin, um ihn besser zu verstehen. »Heinz Kramer, mein Lagerverwalter? Mein Gott, was ist Ihnen passiert?«

»Ich war in meiner Kammer, als das Feuer ausbrach«, erklärte er. Johannes erinnerte sich, dass er dem alten Junggesellen erlaubt hatte, kostenlos eine Kammer im Speicher zu bewohnen, wenn er auch nachts einmal nach dem Rechten schaute.

»Und was ist dann passiert?«

»Also, ich hörte die Sirene und bin gleich raus aus dem Bett. Ich war kaum angezogen, da schlugen schon Leute an die Tür und schrien, ich müsste ganz schnell rauskommen. Aber ich wollte natürlich nach dem Lager sehen und bin die Treppen rauf, da war noch alles in Ordnung. Und ich dachte schon, uns hat das Feuer nicht erwischt, als nebenan beim Kaufmann Brennicke der ganze Speicher in die Luft flog.«

»Kramer, um Himmels willen, wie konnte das denn passieren?«

»Der Herr Brennicke hat doch den ganzen Speicher vom Keller bis zum Giebel voller Fässer mit Arrak und Rum, die sind wie verrückt explodiert. Man konnte richtig hören, in welchem Stockwerk das Feuer gerade war. Ja, und dann sind brennende Balken und Dachschindel zu uns herüber geflogen und im gleichen Augenblick stand unser Speicher auch in Flammen. Ich habe noch versucht zu löschen, aber es war kein Wasser da. Dann hat mich ein Stück vom Treppengeländer am Kopf und am Rücken erwischt. Jedenfalls bin ich brennend aus dem Haus gerannt und draußen haben Leute Decken über mich geworfen und das Feuer an mir gelöscht. Dann haben sie mich verbunden, aber meine Haare sind alle weg.«

Johannes war entsetzt. Der arme Mann. Irgendwann musste er das wieder gutmachen. Ja, nun hatte er also die Gewissheit: Auch sein Speicher war verloren. Und zwar durch die Dummheit und Schuld seines großen Konkurrenten. Es war seit vielen Jahren verboten, leicht entflammbare oder explodierende Waren in den Häusern der Steintwiete zu lagern. Aber kein Reeder kümmerte sich wirklich darum, denn die Lastschiffe konnten von der Elbe aus direkt in die Fleete fahren und dort bequem an den Speichern anlegen. Dann musste man die Güter nicht erst auf Pferdefuhrwerke verladen, um einen Lagerraum am Stadtrand zu erreichen.

Der Reeder beugte sich wieder zu seinem Arbeiter herunter. »Ich muss Sie jetzt allein lassen, Kramer. Ich muss mich um die anderen kümmern, aber ich komme wieder und dann verbringen wir die Nacht gemeinsam hier.«

Aber es gab keine Ruhe in dieser Nacht. Die Flammen breiteten sich immer weiter aus und ein Ende war nicht abzusehen. Gegen 3 Uhr wurde das Rathaus an der Trostbrücke gesprengt, um eine weitere Schneise zu schaffen, aber das Feuer ließ sich nicht mehr aufhalten. Es hatte von allen Seiten die Innenstadt erreicht.

Die Krankentransporte waren für ein paar Stunden eingestellt worden, denn die Pferde waren am Ende ihrer Kraft.

Auch Johannes Stelling war zu Tode erschöpft. Mit letzter Kraft schleppte er sich an die Seite seines Lagerverwalters und ließ sich ins Gras fallen. Kramer schlief. Auch Johannes versuchte zu schlafen. Wenigstens eine oder zwei Stunden abschalten, dachte er und schloss die Augen. Aber seine Gedanken waren zu mächtig und die Verzweiflung lastete auf ihm wie ein ungeheures Gewicht. Er hatte nicht nur seinen Speicher, sein Haus und sein blühendes Geschäft verloren, er hatte mit Sicherheit auch seine Frau, vielleicht seine ganze Familie verloren. Er wusste sehr genau, welche Rolle Geld im Leben der Stellings spielte.

Das war früher nicht so gewesen. Es gab Zeiten, da hatten die alten Familien einen Pioniergeist entwickelt, der seinesgleichen suchte. Keine Aufgabe war ihnen zu groß, keine gegen sie gerichtete Intrige zu infam, um nicht gegen sie anzukämpfen. Und letzten Endes, weil Ehre und Ehrlichkeit immer an erster Stelle standen, hatten sie gesiegt. Seine Vorfahren hatten die Piraterie an der Störmündung und die Verschwörungen der Händler, die Machenschaften der Konkurrenz und die Attacken der Politiker bezwungen und ein Geschäft aufgebaut, zu dem die Kunden Vertrauen hatten.

Und nun war das alles vorbei. Kein Mensch würde nach diesem Inferno nach Ehrlichkeit und Zuverlässigkeit fragen, wenn es um einen neuen Anfang ging. Jetzt hieß es kämpfen, mit allen Mitteln kämpfen, um zu retten, was übriggeblieben war vom guten Ruf der Reederei Stelling, die immer so pünktlich, so zuverlässig und so ehrlich ihren Handel betrieben hatte. Nichts war übriggeblieben außer diesem so genannten guten Ruf. Das war zwar auf der einen Seite viel, auf der anderen Seite aber gar nichts. Und eben auf diese andere Seite kam es jetzt an.