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Peter Steiner
Der Sturz aufs Dach der Welt

Peter Steiner

Der Sturz
aufs Dach der Welt

ROMAN

ISBN 978-3-7013-1185-9
eISBN 978-3-7013-6185-4

© 2011 OTTO MÜLLER VERLAG, SALZBURG-WIEN

Alle Rechte vorbehalten

Satz: Media Design: Rizner.at

Umschlagfoto: Peter Steiner

Druck und Bindung: CPI Moravia Books GmbH. Korneuburg

„Und Gott sprach: Es sammle sich das Wasser unter dem Himmel an besondere Örter, daß man das Trockene sehe. Und es geschah also.“

Genesis

Vergaß Gott dem Gemachten aufzutragen, es solle so bleiben, für alle Zeit? War er zu vertraut mit der Ewigkeit, um darauf zu achten? Wir werden es nie erfahren, denn inzwischen ist, wie man sagt, Gott gestorben. Von Anfang an aber trug und trägt das von ihm Gemachte die Unruhe in sich. Immerzu versinken seither Gebirge und Meere kommen ans Licht. Kein Stein bleibt auf dem anderen.

Das uns geschenkte Haus ist also ein bewegtes. Und ich bin einer, der nicht gern in den Keller geht, viel lieber vom Dach ins Weite schaut. Hätte ich ein Leben in der Kleinstadt gewählt, wo ich geboren wurde, ich wäre Zimmermann oder Dachdecker geworden. Das Dach ist das Schönste an einem Haus, und es benötigt zumindest zwei Wände, die es tragen. Das gilt auch für die Dächer der Welt. Die meisten Gebirge unserer Erde aber sind nur einfache Mauern, von Wind und Regen zerklüftet, zernagt von Flüssen, die ohne zu rasten den Schutt forttragen. Die Flüsse als die großen Saubermacher auf den Baustellen dieser Welt, so kann man es sehen. Diese Mauergebirge, wie ich sie nennen will, durchziehen Kontinente oder bilden deren Ränder, verbeult und verbogen durch die Unruhe, der sie aufsitzen. Aus großer Höhe betrachtet, ähnelt so ein Gebirge einer Schlange am Wegrand, erschlagen von einem vorbeigekommenen Landarbeiter, zertreten vom Huf eines Pferdes. Da ist kein Leben mehr, nur noch ein irgendwie Daliegen, verkrümmt oder entzerrt, Reste einstiger Größe bewahrend, eine Halbheit in Auflösung, zerfallen bis aufs Gerippe.

Die Dächer dieser Welt – es sind nur zwei, das Große Dach der Alten Welt und das Kleine Dach der Neuen Welt, wo die folgende Geschichte sich ereignete – sind flach. Sie hängen auch ein wenig durch. Das Wasser kann nicht abfließen, sammelt sich in Seen. Diese wachsen oder schrumpfen, je nach Jahreszeit und Klimaepoche. Dabei verdunstet viel, und früher oder später ersticken die Seen am eigenen salzigen Schweiß. Die blauen Augen, mit denen ein junges Weltendach ins All schaut, erblinden, werden zu Salzpfannen, die Augen nur noch vortäuschen, wie die weißen Muscheln im Gesicht der Statuen aus dunklem Tuffstein an den Küsten der Osterinsel. Die sollen freilich nichts sehen, sondern an einst Geschautes erinnern. Daher ist es auch nicht verwunderlich, wenn einem aus den Bergen wie mir beim Schmecken eines Salzkristalls das Gefühl widerfährt, er blicke zu den Sternen.

Kein Dach ist eine Sache für ewig. Mit der Zeit bekommt es Löcher und schließlich stürzt es ein. Viermal, nach jeder Eiszeit wieder, ist das Kleine Dach der Welt eingebrochen, in sich zusammengefallen und von jahrtausendelangem Regen ins Meer geschwemmt worden. Viermal nagte sich das Schmelzwasser bis auf den Grund gewaltiger Schluchten. Viermal wurde es wieder kalt, fror der Regen zu Schnee und blieb als Eis liegen. Die Flüsse starben den Erfrierungstod. Doch ohne Flüsse ist selbst die Schwerkraft hilflos. Was immer aus den Gipfeln bricht bleibt auf der Strecke, fern des Meeres. Die Abgründe füllen sich bis oben hin mit Sand und Geröll. Ein neues Dach ist entstanden. Hoch wandern wir hinaus, auf herrlich unsicherem Boden.

Inhalt

EINS

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

ZWEI

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

EINS

1

Alles, was in dieser Geschichte erzählt wird, nahm seinen Anfang mit einem Heiler, einem Curandero, dem ich im Eislicht des Hochlandes begegnete. Ich kam gerade an eine einsam in der Pampa stehende Hütte und sah, wie zwei kurzgewachsene aber stämmige Frauen mit schrillem Geschrei einen tobenden Mann auf den staubigen Boden zwangen. Die eine stand gebückt über seinen Beinen, die andere, das Haar zerzaust, die Bluse zerrissen und aus einem Kratzer auf der Wange blutend, stemmte dem Niedergerungenen ein nacktes Knie auf die Brust. Ihre kurzen wollenen Röcke bedeckten dem Mann das halbe Gesicht. Der Heiler, ein hagerer Mann mit Adlernase, gekleidet in Hemd und Hose aus einmal weißer Wolle, einen kunstvoll gewebten Beutel an einem Schulterband vor dem Bauch, trat hinzu, schob die Röcke zur Seite und träufelte dem Irrsinnigen den schwärzlichen Inhalt eines Fläschchens in den Mund. Der Mann hörte auf, mit den Armen um sich zu schlagen, lag schließlich still da, die weit offenen Augen in den makellos blauen Himmel gerichtet. Während die immer noch erhitzten Frauen ihre im Kampf verlorenen schwarzen Plastikschuhe aufklaubten und sich an die nackten Füße schoben, versuchte ich mehr über den Trank und seine erstaunliche Wirkung zu erfahren. Doch der Heiler verriet mir nichts. Es würde die Geister erzürnen, die ihm die Macht des Heilens gewährten, so las ich sein verschlossenes Gesicht und den in Richtung der Gletscher gerichteten Blick. Seine Handzeichen deutend – die Sprache der spanischen Eroberer war auf dem kahlen Hochland nie heimisch geworden – glaubte ich zu verstehen, es handle sich um den Sud einer Pflanze, die jenseits der Gletscher im Land der Challanas wüchse. Das sollte mich wohl abschrecken, dachte ich, weiter an die Aufdeckung des Geheimnisses zu denken.

Auf dem Heimweg in die Stadt faßte ich dennoch den Entschluß, sobald wie möglich jenen abgelegenen, schwer erreichbaren Landstrich aufzusuchen, wo der Tag mit einem Aufglühen der Gipfel beginnt, während auf dem Hochland noch deren lange blaue Schatten liegen. Seit zwei Jahren arbeitete ich nun schon an der Entschlüsselung von Substanzen in Pflanzen, über die man nichts oder nur wenig wußte. Mit dem Geld, das mir ein Pharmakonzern als Vorschuß auf die erhofften Ergebnisse bezahlt hatte, untersuchte ich in meinem Labor Gewächse, Wurzeln, Rinden, Früchte und Samen, welche indianische Kräuterweiblein – von manchen auch als Hexen bezeichnet – zusammen mit Lamaföten, Knochen, Häuten, Haaren, Klauen aller möglichen Tiere, oft vermischt mit Exkrementen, Erden und Steinen in einer engen steilen Gasse der von den spanischen Eroberern gebauten Stadt zum Verkauf anboten. Es bestand großer Bedarf an diesen für Räucheropfer, Geisterbeschwörungen und Zaubertränke unerläßlichen Dinge in einer Stadt, wo alte Traditionen vermengt mit christlichen Ritualen und simplem Aberglauben so gut wie alle Bereiche des Lebens bestimmten. Selbst die Bauherren der Hochhäuser aus Beton und Stahl, die das Bild der vorwiegend aus Lehm erbauten Stadt täglich veränderten, konnten es sich und ihren Bauarbeitern nicht versagen, ein Opfer an die „Große Mutter Erde“ zu entrichten und die geforderten Zaubermittel in das Fundament des Gebäudes einzumauern. Zu sehr fürchteten alle Beteiligten die Folgen einer solchen Unterlassungssünde. Das widersprach einerseits meinem naturwissenschaftlichen Denken, andererseits brachte ich doch Verständnis dafür auf, allein schon deshalb, weil ich überzeugt bin, daß in der Regel der Furchtsamste als erster vom Gerüst fällt.

Was ich im Hexengäßchen an kuriosen Dingen aufgriff, war freilich nur ein Teil meines Untersuchungsmaterials. In regelmäßigen Abständen unternahm ich kleine Expeditionen in die Einsamkeit am Fuße der eisbewehrten Gipfel, wo die Götter der hier seit je Heimischen wohnten, sammelte alles Organische, von dem ich mir neue Erkenntnisse versprach. In letzter Zeit hatte ich mein Augenmerk besonders Flechten gewidmet, die dem Blockwerk alter Moränen oft wunderlich bunte Färbungen verliehen. Dabei wurde ich von meinem neuen Assistenten begleitet, Paul, einem jungen Botaniker und passionierten Bergsteiger aus der Schweiz. Er hatte sich meine Methoden der Beobachtung und Probennahme so rasch und gründlich zueigen gemacht, daß ich ihn inzwischen mit einer eigenen Expedition in den Süden des Landes hatte betrauen können. Daher würde ich dieses Mal ohne ihn, begleitet nur von einigen einheimischen Trägern und einem ortskundigen Führer, nach Challana aufbrechen.

Nach einigen Tagen der Vorbereitung fuhren wir bis ans Ufer eines smaragdgrünen Sees, aus dem meine Begleiter eine große Anzahl Forellen mit lachsfarbenem Fleisch fischten, ein willkommener zusätzlicher Proviant. Von hier aus ging es zu Fuß über einen Paß zwischen Eiswänden, wo die Männer an einem mächtigen, im Laufe von Jahrhunderten zusammengetragenen Haufen Klaubsteine den Schutz der Götter erbaten und ihnen Cocablätter und etwas von den Fischen opferten. Ihr Führer riß sich zudem eine Wimper aus, legte diese auf den Rücken seiner linken Hand und pustete sie über den apachita genannten Steinhaufen in Richtung des höchsten Eisgipfels. Nach einer kalten Nacht, in der mir das Zelt am Boden anfror – alle anderen schliefen dicht aneinander gedrängt auf dem nackten Boden einer Hirtenhütte aus Lehm –, mußte ich mit dem Aufbruch warten, bis die Sonne aus dem tief unter uns liegenden Wolkenmeer aufstieg und das Eis schmolz. Von einem Felsvorsprung des Geländes aus, den wir nach knapp einstündigem, die Glieder wohltuend erwärmenden Marsch erreichten, sah man in der Tiefe das Dorf. Wie das Nest eines Kondors klebte es an der Kante hoher Felsabstürze. Darunter begann der Wald, der steil nach Osten abfallend in Wolken verschwand. Aber meine Hoffnung, das Dorf und die nahe Waldgrenze noch vor Mittag zu erreichen, zerschlug sich, als uns an einem Engpaß plötzlich drei Männer den Weg versperrten und drohten, mich und meine Begleiter in die Tiefe zu stoßen. Auch das lange Gespräch, das mein Vormann mit dem ältesten der drei in dessen Sprache führte, wobei er, wie er mir später erklärte, die friedliche Absicht und den angestrebten allgemeinen Nutzen unseres Unternehmens hervorhob, half nicht. Unverrichteter Dinge mußten wir umkehren.

Die Challanas gelten seit je als unbeugsames Volk. Niemals, so sagte der Führer, hätten sie sich einer fremden Macht unterworfen, und noch jetzt wiesen sie jede staatliche Herrschaft zurück. Sie sprächen von der „Republik Challana“, und keinem Regierungsvertreter wäre es besser ergangen als mir, dem Fremden von weither, eher schlechter. Doch die Tage der Challanas seien gezählt, sie stürben aus, sagte der Mann, der als einziger unserer Gruppe dieses Gebiet schon einmal betreten hatte. Kein junger Mensch wolle noch die Mühsal des Lebens jenseits der Gletscher auf sich nehmen. Sie liefen fort, stiegen über das Eis, vergäßen ihren Stolz und verdingten sich als Tagelöhner und Dienstmädchen in der Stadt. Vielleicht waren die drei Männer, welche uns den Weg versperrt hatten, die letzten des Dorfes gewesen. Aus der Entfernung jedenfalls hatte ich in der Siedlung am Abgrund kein vollständig überdachtes Haus erkennen können, nur Mauern um dunkle Quadrate, Haufen loser Steine, eine Kirche mit Grasdach, massig und plump und grün von Moos. Sie würde wohl als letzte fallen.

Am besten hätte ich die ganze Sache vergessen, doch die Zurückweisung hatte meinen Ehrgeiz angestachelt. Ich mußte auf einem anderen Weg in die bewaldeten Steilhänge der Challanas gelangen. Seringueiros, Kautschuksammler, so wußte der Führer zu berichten, hätten vor hundert Jahren einen Fußpfad aus dem Tiefland benutzt, einen Steig aus alten Zeiten, der in Guanay, einer Siedlung von Goldgräbern am Fuß des Gebirges, seinen Anfang nahm. Den Steig gäbe es schon lange nicht mehr, Wald habe ihn überwachsen, vom feuchtheißen Vorland bis hinauf in die kalten, oft nebeldüsteren Regionen an der Grenze zum Ödland. Von der Kuppe, wo wir am Morgen erstmals das Dorf erblickt hatten, betrachtete ich noch einmal aus der Vogelschau das steile, in zahllose scharfe Rippen zersägte Relief. Ein menschenleeres Land, durch welches das Wasser der Gletscher in die Tiefe schoß, unsichtbar, denn selbst an den senkrechten Wänden der felsigen Schluchten klammerten sich noch Bäume fest und verbargen die auf dem Grund weiß dahinschäumende Gischt.

Wo, wenn nicht an einem Ort wie diesem, muß der Traum vom Fliegen geboren worden sein? Allein der Anblick der grünen, unerreichbaren Grate weckte in mir den Wunsch, Flügel zu besitzen. Mir war, als spürte ich Aufwind im Kopf, und in Gedanken segelte ich hinaus ins Freie. Es gab kein Zurück mehr, ich mußte diese Gegend erforschen, und das konnte nur aus der Luft geschehen. Wäre ich nur ausdauernd und hartnäckig genug, fände ich den einen oder anderen Ort, an dem ich mit einem Hubschrauber landen und neue, noch nie gesehene Pflanzen finden und sammeln könnte. Mit dem Plan kehrte ich in die Hauptstadt zurück.

2

Ohne Straßenblockaden, mit denen die Landbevölkerung in letzter Zeit wieder häufiger ihren Unmut über die Regierung ausdrückte, erreichte ich die Hauptstadt, diese chaotische Anhäufung von Häusern in einem fast tausend Meter tiefen Loch, das die Wasser der Gletscher aus dem Schotter des Hochlandes herausgespült hatten. Mein Haus lag ganz unten, an der tiefsten Stelle, wo Pflanzen gediehen, denen es höher oben zu kalt war. Noch vor wenigen Jahren bewirtschafteten Bauern hier Felder und Obstgärten. Jetzt befand sich auf dem flach geneigten Talboden das bevorzugte Villenviertel der Stadt. Dort angekommen, bog ich von der asphaltierten Hauptstraße ab und in eine Parallelstraße ohne festen Belag ein, mehr ein trockenes Bachbett, zu dem sie in der Regenzeit, hier Winter genannt, auch wurde. Zur Linken erstreckte sich die fensterlose Rückwand eines Schulgebäudes, zur Rechten eine lange, drei Meter hohe Mauer aus adobe, gestampftem Lehm. Hinter dieser Mauer lag mein Haus, verborgen inmitten ehemaliger Felder. Es gab freilich nur noch einen bewirtschafteten Acker, auf dem ein alter Indio jedes Jahr Mais pflanzte. Der stand gerade mannshoch und raschelte. Die restliche Fläche hatte sich im Laufe der Zeit in ein farbiges Labyrinth blühender Hecken verwandelt, als innerster Kern mein Haus. So manchem mochte dies als eine abstoßende Wildnis erscheinen, für mich war es der Garten Eden. Am Entsetzen einer Dame, die ich über das Grundstück und das darin versteckte Haus sprechen gehört hatte, spürte ich damals sofort, daß dies für mich genau das richtige wäre. Ich war sofort hingegangen und hatte das Haus mit all seinen Gärten gemietet.

Auch die Einfahrt stammte aus längst vergangenen Tagen. Ich mußte zuerst ein großes Vorhängeschloß aufsperren, die Kette aus den schweren hölzernen Torflügeln ziehen und diese aufdrücken, den Wagen durch das Tor fahren, wieder aussteigen, die Kette durch die ausgewetzten Öffnungen schieben, das Schloß einhängen und versperren. Ein von Gras durchsetzter Kiesweg führte von hier durch eine Allee aus Lorbeerbüschen, vorbei an einem runden Teich mit einer vermoosten und an mehreren Stellen beschädigten Sandsteinfigur, die einmal eine schöne junge Frau dargestellt hatte, bis an ein kleines hölzernes Tor inmitten einer hohen Hecke aus Bouguinvillea. Dahinter lag die Herzkammer meines Gartens. Ich stellte den Motor ab und betrat den mit dichtem Polstergras bewachsenen Hof. Es war Abend, und der schattige Rasen warf einen bläulichen Schimmer auf die gekalkten, zum Teil von Blumen überwachsenen Mauern, die den Hof an drei Seiten umgaben. An der vierten Seite stand das Haus, genauer eine Wand aus gemauerten Pfeilern und eingesetzten Holzrahmen, unterteilt in zahllose kleine verglaste Felder. In wärmeren Gegenden hätte man auf Fenster und Türen gänzlich verzichtet, nur die Säulen als Kolonnade vor dem dahinterliegenden Saal errichtet. Hier waren sie unerläßlich, um die Sternenkälte der Nacht draußen zu halten, denn nicht selten überzog Eis den federnden Rasen. Stimmen und der Duft von frisch gerösteten Zwiebeln kamen aus der Küche im hintersten Winkel des Gebäudes. Marlis war zu Besuch bei meiner Tochter. Wir begrüßten und umarmten einander. Ich ging nach oben, um zu duschen und mich umzukleiden, während die jungen Frauen das Essen fertig kochten und ein drittes Gedeck auf den Tisch stellten.

Wir aßen im Speisesaal, an einem langen, schweren Tisch aus dunklem Holz, an dem zwölf Stühle mit hohen, geschnitzten Lehnen und purpurnen Rückenpolstern standen, weshalb wir das Zimmer – die Einrichtung hatte ich vorgefunden – scherzhaft den Kardinalsaal nannten. Die ebenfalls reich mit Schnitzwerk verzierten Anrichten an den schmalen Wänden zu beiden Seiten trugen Spiegelaufsätze, in denen sich der Tisch und die brennenden Kerzen der Silberleuchter ins Endlose wiederholten, und natürlich auch wir, die bei flackerndem Licht aßen, Ljuba, Marlis und ich.

Ljuba nahm meinen neuen Plan mit gemischten Gefühlen auf. Einerseits reizte es sie, einmal mit mir ins Tiefland zu reisen, andererseits wandte sie mit Recht ein, daß ein Unternehmen dieser Art ungeahnte Gefahren in sich berge. Im Hochland kannte ich mich aus, dort war ich sozusagen seit Jahren zuhause. Dagegen wären die waldigen Hänge eines so gewaltigen Gebirges eine Welt mit eigenen Gesetzen. Das wußte ich natürlich und hatte es längst abgewogen, aber die kritische Anteilnahme meiner gerade vierundzwanzig Jahre alt gewordenen Tochter freute mich. Seit einem halben Jahr wohnte sie schon bei mir. Die neue Umgebung sollte ihr helfen, den Schmerz einer gescheiterten Liebe zu überwinden, das in Verzweiflung abgebrochene Studium der Ethnologie wieder aufzunehmen. Das Hochland gäbe ihr neue Anstöße, hatte ich gehofft, als ich vorschlug, sie möge doch für einige Zeit zu mir kommen. Ich schien recht zu behalten. Mit großem Eifer hatte Ljuba begonnen, die bunten Weben der Hochländer zu sammeln, Muster und Motive zu studieren, Herkunft und Zusammensetzung der Farben, deren kultische Bedeutung zu entschlüsseln. Nun hatte sie auch Marlis dafür begeistert. Gemeinsam durchstreiften die beiden jungen Frauen die Märkte der Stadt, fuhren hinaus in Dörfer und zu einsamen Gehöften, die Augen stets offen für gewebte Umhänge und Gürtelbänder, die sie Bäuerinnen und Hirtenmädchen abkauften. Die Sammlung wuchs so rasch, daß ich einen bislang ungenutzten Teil des alten Landhauses renovieren ließ. Dort konnten die neu hinzugekommenen Stücke bearbeitet, konserviert und archiviert werden. Kam ich zur Mittagspause heim, lagen frisch gewaschene Weben auf dem Rasen ausgebreitet in der Sonne, bildeten einen bunten Kreis um die Decke, auf der Marlis und Ljuba sich niedergelassen hatten, die Bikinis begraben unter Büchern, Feldnotizen, Musterskizzen und Photographien. Ich verharrte am Gartentor, bis die Mädchen sich die Badeanzüge wieder umgebunden hatten, erst dann trat ich näher.

Seit Paul in den Süden des Landes gereist war, hielt sich Marlis fast nur noch in meinem Haus auf. In ihr hatte Ljuba eine begeisterungsfähige und lustige Kameradin gefunden. Auch ich mochte die junge Frau, ihre Unvoreingenommenheit, ihre sonore, etwas rauhe Stimme, die sie nicht selten wie ein Laut werdender Gedankenwind mit sich forttrug, immer an der Grenze zu einem schallenden Lachen. Mit Marlis schien die pure Lebenslust zu uns gekommen. Sie bereicherte unser Dasein auf die angenehmste Weise, und dementsprechend groß war meine Freude, unser Haus und den Garten von ihr als liebsten Aufenthaltsort erwählt zu sehen, diese Welt abseits vom Getriebe der Stadt, deren Geräusche nur gedämpft über die Hecken hereindrangen – kein Lärm, nein, eher ein Weltenrauschen.

Was wäre die Idylle ohne das Chaos? Was wäre die Einöde ohne die Großstadt? Manchmal, vor oder in einer der trostlosen Lehmhütten auf dem Dach der Welt mit seinen blau gefrorenen Kindern auf dem Boden und grindigen Weibern, die vor dem Erdfeuer hockten, den feuchten Beinschluß mit Erde verklebt, neben sich auf einem schwindenden Haufen Kartoffeln ein betrunkener Mann, dem piepsende Meerschweinchen zwischen den Beinen krochen, versuchte ich zu verstehen, wie diese Menschen die irdische Schönheit ihrer Umgebung erlebten. Sahen sie, was ich sah, oder etwas gänzlich anderes? Eine Antwort habe ich nicht erhalten. Allein unterwegs, verflüchtigte sich der menschliche Schrecken des Hochlandes, als gäbe es ihn nicht. Erst wenn ich mich einem Dorf näherte, den zwei oder drei Hütten einer aldea in der Nähe eines meist gefrorenen Bächleins, einem alleinstehenden rancho, von weitem nur zu erkennen am dunklen Fleck im Hang, wo der Kot über Nacht dicht aneinander gedrängter Lamas sich häufte, erwachte der Schrecken aufs neue. Da saß er, in sich gekauert, und spann einen Faden zwischen seiner großen rissigen Zehe mit schwarzem Nagel und einer Spindel, die sich zwischen Daumen und Zeigefinger einer Indiofrau drehte, in einer Luft, zu dünn, um daraus Märchen zu weben.

Das gab es nicht in dünner Luft, die sich häufig in Nebel verwandelte, so daß nichts blieb, was man frei atmen konnte. Da stand dann ein Mann als einziger auf der öden Plaza, deren Parkbäume höchstens Armstärke erreicht hatten, bevor sie zu Feuerholz geworden waren, wegen der warmen Suppe einmal am Tag – Maiskörner, Saubohnen und getrocknete Kartoffeln – und rührte sich nicht, stundenlang. Die Atemluft, also das Leben, hatte sich in einen mageren Hund verkrochen, und der lief nun leise hechelnd über die Plaza, beschritt eine Diagonale von Ecke zu Ecke, von esquina zu esquina, hob einmal das Bein gegen eine Parkbank aus Gußeisen, der die Sitzbretter fehlten, brachte aber keinen Urin hervor, denn auch er war im Laufe von fünfhundert Jahren Elend knochentrocken geworden. Die Bewohner des Ortes, los vecinos, die Nachbarn, wie sie einander nannten, lebten bis auf den einen Mann an der Hausmauer seit langer Zeit in der Stadt, im Chaos von Nuestra Señora de La Paz.

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