Vorwort des Herausgebers

›Les Misérables‹ ist eines der berühmtesten und einflussreichsten Werke der französischen Literatur. 1862 erschienen, aber schon 15 Jahre zuvor begonnen, gilt es als das Hauptwerk in der zweiten Lebenshälfte und sozialkritischen Schaffensperiode Victor Hugos (1802–1885).

Der Roman (deutscher Titel: ›Die Elenden‹, früher: ›Die Miserablen‹) schildert das Schicksal des in jungen Jahren wegen Diebstahls eines Stück Brotes zu 20 Jahren Haft und Zwangsarbeit verurteilten Jean Valjean nach seiner Freilassung. Die Handlung ist wie eine Familiensaga weit gesponnen, mit Elementen von Liebes- und Abenteuerroman – eine gelungene »Tarnung« für das im Grunde hochpolitische Werk. Man erlebt Valjean bei seinem Versuch, den Weg zurück in die Gesellschaft zu finden, was zunächst auch gut gelingt. Unterstützt von einem wohltätigen Bischof erwirbt er Bildung und das nötige Rüstzeug, um in Montreuil als Fabrikant zu Ansehen und Wohlstand zu kommen – schließlich wird er sogar Bürgermeister der Stadt. Er trifft Fantine, eine verarmte junge Frau, und kümmert sich nach deren Tod um ihre Tochter Cosette. Als Jeans Vergangenheit ans Licht kommt, muss er fliehen, zusammen mit dem Mädchen. Erneut kann er sich eine Existenz aufbauen, doch er kommt nicht zur Ruhe: Neue Verfolgungen, neue Wirrungen und Umstürze, politisch wie privat, drohen ...

Was an ›Les Misérables‹ auffällt, ist die überaus präzise Konstruktion. Der Autor lässt sich nicht treiben und die Figuren ihr Eigenleben entwickeln, sondern spinnt die Schicksalsfäden »mit der Strenge eines Präzisionsinstruments«[1], und führt sie im richtigen und richtig vorbereiteten Augenblick zusammen. Und die Protagonisten sind nicht nur Individuen, sondern zugleich Vertreter elementarer, ungemischter Leidenschaften und Gefühle[2] – Liebe, Hass, Mitleid und so weiter. All das angesiedelt auf einer präzise recherchierten, historischen Kulisse: Der Roman spielt etwa zwischen den Jahren 1815 und 1833 – also 30 bis 40 Jahre vor der Publikation des Buches. Es ist die Zeit der Restauration, der Julirevolution und des Aufstandes der Jahre 1832–1834. Die gleichzeitig aufkommende industrielle Revolution macht das Leben in den Pariser Elendsvierteln immer unerträglicher – und politische Mittel scheint es keine dagegen zu geben. Nur eine tiefgreifende Neuordnung der Gesellschaft, so vermittelt Hugo, kann die Elenden befreien. Das Buch, obschon das gar nicht beabsichtigt war, wird zu einem frühsozialistischen Klassiker und einem Plädoyer für die sozial Unterdrückten.

Redaktion eClassica, 2014

 

Über den Autor

Victor-Marie Hugo (* 26. Februar 1802 in Besançon; † 22. Mai 1885 in Paris) war ein französischer Schriftsteller. Vielleicht schon mit zehn Jahren begann er zu schreiben, mit 15 erhielt er bei einem Dichterwettbewerb eine »ermutigende Erwähnung«. Mit 16 begann er ein Jurastudium. Eben siebzehnjährig gründete er zusammen mit seinen beiden Brüdern eine literarische Zeitschrift, 1819 bekam er eine Auszeichnung in einem Dichtwettbewerb und knüpfte erste Beziehungen in Pariser Literatenkreise.

Hugos politische Einstellungen wechselten in seinem Leben. Von der (alleinerziehenden) Mutter royalistisch geprägt, war er zunächst konservativ, wurde jedoch im Lauf der Jahre immer kritischer. Etwa ab seinem 30. Lebensjahr nahm er eine republikanische und zunehmend liberale Haltung ein. Nach der Februarrevolution 1848 wurde Hugo als bonapartistischer Abgeordneter in die verfassungsgebende und 1849 in die gesetzgebende Nationalversammlung gewählt.

Als sich jedoch der aus einer Volkswahl hervorgegangene Präsident Napoleon III. am 2. Dezember 1851 mit einem Staatsstreich zum Präsidenten auf Lebenszeit macht, opponiert Hugo heftig und überwirft sich mit den Mächtigen. Er wird kurz inhaftiert und anschließend aus Frankreich verbannt. Hugo lässt sich auf den französischsprachigen, aber zu England gehörenden Kanalinseln nieder, erst auf Jersey und dann auf Guernsey, wo er ›Les Misérables‹ vollendet.

Als das Werk 1862 erscheint, ist Hugo bereits ein etablierter und weitbekannter Schriftsteller. Schon 1831 hatte er mit ›Notre Dame de Paris‹ (›Der Glöckner von Notre-Dame‹) einen großen Erfolg erzielt. Insgesamt umfasst sein literarisches Werk neben zahlreichen Gedichten acht Romane, neun Dramen und unzählige kleinere Schriften und Essays als politischer Publizist.

Victor Hugo gilt vielen Franzosen als ihr größter Autor überhaupt, mit einer Ausstrahlung und Bedeutung, wie sie im deutschen Sprachraum nur Goethe hat. Als Hugo am 22. Mai 1885 stirbt, kommt es in Frankreich zu heftigen Debatten um seine Beisetzung. Die Pariser Kirche der Heiligen Genoveva war zur Revolutionszeit zu einer nationalen Ruhmeshalle, dem Panthéon, umgewidmet worden – danach aber wieder als Kirche geweiht. Hugo zu Ehren widmet man die Kirche erneut um – wieder als Panthéon – und setzt ihn dort in einem Ehrengrab in der Krypta bei.

Redaktion eClassica, 2014

 

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Anmerkungen:

[1] Maurice Allem, zit. nach Hanns Grössel, s.u.

[2] zitiert nach Hanns Grössel, s.u.

 

Verwendete Quellen:

• Victor Hugo: Die Elenden. Hanns Grössel in: Zeit-Bibliothek der 100 Bücher, Suhrkamp, Frankfurt 1980

• Der große Brockhaus Literatur, Wiesbaden 2002


Vorwort

So lange es kraft Gesetz und Sitte eine soziale Verdammnis gibt, die auf künstlichem Wege, inmitten einer hoch entwickelten Zivilisation, Höllen schafft und der göttlichen Vorsehung noch ein menschliches Fatum hinzufügt; so lange die drei Probleme des Jahrhunderts: die Entwürdigung des Mannes durch das Proletariertum, die Demütigung des Weibes durch materielle Not und die Verwahrlosung des Kindes durch die geistige Finsternis, in der es gehalten wird – solange diese drei Probleme nicht gelöst sind, solange in gewissen Regionen der soziale Erstickungstod möglich ist, oder allgemeiner gesprochen, so lange auf der Erde Unwissenheit und Elend herrschen, dürften Bücher wie dieses nicht unnütz und unnötig sein.

Victor Hugo, 1862