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Doro Zachmann – Bin Knüller! Herz an Herz mit Jonas – SCM Hänssler

INHALT

Vorworte:

Bianka Bleier

Cora Halder

Vorneweg von Doro Zachmann

 1. Déjà vu

 2. Reaktionen

 3. Entscheidung

 4. Bereit machen

 5. Loslassen

 6. Ohnmächtiges Erinnern

 7. Freudendank

 8. Gemeinsam

 9. Erste Schritte

10. Nicht allein

11. Leidenschaftlichkeit

12. Nicht wie die anderen

13. Endspurt

14. Zu Hause

15. Enttäuschung

16. Alltag

17. Großer Kerl

18. Rückschlag

19. Summertime

20. Familienurlaub

21. Vollzählig

Abschließend

WIDMUNG

Für Wolfgang,
die größte Liebe meines Lebens –
immer noch und mehr denn je …

In Liebe und Dankbarkeit
für Eliane, Maren und Katharina,
die großartigsten Töchter, die ich mir,
und die besten Schwestern,
die Jonas sich wünschen kann!

Vorwort von Bianka Bleier

»Bin Knüller!« – dieser ebenso männliche wie selbstbewusste Zweiwortsatz entspricht der lebensfrohen Selbsterkenntnis des inzwischen 15-jährigen Jonas.

Jonas ist mit dem Down-Syndrom zur Welt gekommen. Und seine Mutter, die wie alle Mütter dieser Welt ein gesundes Kind erhofft hat, schreibt über ihre Ängste und Schmerzen, über ihren Mut und ihre Hoffnung. Sie schreibt über die Entwicklung ihrer Beziehung zu Jonas und über faszinierende Entdeckungen, dort, wo sie keine erwartet hat.

Doro Zachmann schreibt mir, ebenfalls Mutter eines jugendlichen, behinderten Sohnes, aus der Seele wie kaum jemand. In faszinierenden Kurztexten und authentischen Tagebuchnotizen findet sie Worte für unaussprechliche Gefühle. In jedem Seufzer, in jeder frohen Entdeckung, in jeder neuen Episode ihrer Jonas-Erzählung finde ich mich, fühle ich mich verstanden, getröstet, ermutigt, erheitert.

Sie schlägt den Bogen von dem neugeborenen zu dem heute fünfzehnjährigen Jonas, füllt Erinnerungen mit Leben, prall und bunt. Der Grundton ihrer Zeilen lautet: »Ich schaffe es, und ich schaffe es nicht nur für mich allein, sondern ich schaffe es auch für dich« – Gegenteil von Selbstmitleid und Resignation.

Doro Zachmann ist keine Übermutter. Sie ist eine Frau, die ehrlich Ängste, Überforderungsgefühle und Versagen beim Namen nennt. Aber sie nimmt den Leser mit auf ihren Weg, auf dem sie lernt, sich dem herausfordernden Leben mit Jonas voller Einfühlungsvermögen, Fantasie und Humor zu stellen. Gerade auf den beschwerlichen und steinigen Wegstrecken erlebt sie einen neuen Zugang zu sich selbst. Sie erfährt ihre Grenzen, entdeckt aber auch ihre Stärken. Unterwegs gibt es unzählige wunderschöne Begegnungen, Ausblicke, Wegweiser und Oasen, die unmittelbar mit dem »Anderssein« ihres Kindes zu tun haben. Darauf möchte sie nicht mehr verzichten. Das macht Mut und zeigt gangbare Wege.

Schon der Titel lässt ahnen, wie das Lebensprogramm von Jonas und allen, die um ihn herum leben, lautet: Ich habe Tränen geweint, aber viel mehr Tränen gelacht!

Trotz des nicht ganz schwerelosen Themas ist Bin Knüller ein Buch voll berstender Lebensfreude und Humor, Ermutigung und Ehrlichkeit, Tiefgang und Leichtigkeit.

Dabei spart es keine Fragen aus. Wie erträgt eine Ehe, eine Familie Grenzsituationen und -belastungen? Wie sieht der Alltag mit einem behinderten Kind ganz praktisch aus, wie kann man ihn schaffen?

Doro Zachmann gibt Anteil an ihrem Hadern, Kämpfen, Zweifeln, Annehmen der Behinderung. Wir erleben, dass ihr Liebe zufließt, sie es nicht »machen« muss. Dass die Familie wächst an der Herausforderung.

Es tut gut zu sehen, wie eine Ehe an einem »besonderen Kind« wachsen kann. Es macht Mut zu erleben, dass Geschwister zwar lernen müssen zu verzichten, dass sie aber dennoch gewinnen. Dass Liebe so viel wettmacht. Dass sich eine Mutter in allem Kämpfen und Tapfersein dennoch nicht über ihr behindertes Kind definiert. Ebenso wenig erleben wir Jonas als einen Menschen, der sich durch seine Defizite reduziert. Es ist sehr viel Schönes und »Normales« in all dem Besonderen.

Wir lernen Jonas kennen als einen Menschen voll Leidenschaft, ungeschminkter Emotionen, sprühendem Charme und Witz, großzügigem Umgang mit Zärtlichkeit und der Fähigkeit, bedingungslos zu lieben. Seine Originalität ist wundervoll, köstlich und gottgewollt. Seine Schwäche ist seine Stärke. Das Leben an seiner Seite ist voller Überraschungen, durchwoben von Sternstunden, Herzensschätzen, Lernstationen, Lachfalten, Geduldsproben …

Bin Knüller ist ein überaus wohltuendes Buch für (werdende und seiende) Eltern eines behinderten Kindes. Darüber hinaus ist es empfehlenswert für alle, die das Selbstverständnis von Menschen mit Down- Syndrom kennenlernen möchten und schon immer mal wissen wollten, wie sich das Zusammenleben mit diesen besonderen Menschen gestaltet.

Bianka Bleier

Familienfrau, Bibliothekarin und Autorin

Vorwort von Cora Halder

Manchmal frage ich mich, was wohl aus den Kindern geworden ist, die in vielen »meiner« Down-Syndrom-Bücher beschrieben wurden. Als ich jetzt von Doro Zachmanns neuem Buch erfuhr, freute ich mich. Nun konnte ich nachlesen, wie es Jonas und seiner Familie ergangen ist, seitdem »… mit der Stimme des Herzens« 1999 erschien, in dem Frau Zachmann ihre Gedanken und Empfindungen über die ersten Jahre des Zusammenlebens mit ihrem Sohn Jonas in lyrischen Texten beschrieb. Das Buch stand lange Zeit ganz oben auf der Top-Ten-DS-Bücherliste und bestimmt wird es Bin Knüller genauso ergehen.

Obwohl ich eigentlich sehr ungern längere Texte am Laptop lese, weil mir das zu anstrengend ist, blieb mir dieses Mal nichts anderes übrig, als mich vor meinen »Tiptop« – wie es Jonas, die Hauptperson im Buch, sagen würde – zu setzen und das Manuskript am Bildschirm zu lesen. Erstaunlicherweise fiel es mir nicht mal schwer, denn das neue Buch Bin Knüller hatte mich gleich im Griff.

Doro Zachmann hat es verstanden, die Geschichte ihres jetzt 15-jährigen Sohnes Jonas so fesselnd zu erzählen, dass man einfach dranbleiben muss. Sie beschreibt die aktuellen Ereignisse, blendet frühere Tagebuchnotizen ein und benutzt manche lyrischen Texte aus ihrem ersten Buch.

Ich habe geschmunzelt über Jonas’ Streiche, bin begeistert von seinen kreativen Wortschöpfungen und musste lauthals über seine genialen Problemlösungen lachen. Ich habe Tränen geweint, als seine Mutter verzweifelt um sein Leben bangt, mit ihm gelitten, als er nach der Herz-OP von Schmerzen geplagt wird, und gestaunt, wie schnell er sich wieder erholt.

Jonas’ Versuche, selbstständig zu werden, sind erfreulich, seine unerschütterliche Zuversicht, dass immer alles gut wird, ist beneidenswert. Seine Beharrlichkeit, Dinge genau so und nicht anders durchsetzen zu wollen, kommt mir sehr bekannt vor.

Überhaupt ist mir – als Mutter eines Kindes mit Down-Syndrom – vieles in dieser lebendigen, sprudelnden Erzählung vertraut, als wäre es die eigene Geschichte. Vielleicht liest man das Buch deshalb so gern?

Jonas hält seine Umgebung auf Trab, da kommt keine Langeweile auf. Das, was seine Eltern und Schwestern an Zeit, Anstrengungen, Nerven und Geduld investieren, bekommen sie durch Jonas’ Liebenswürdigkeit, seine Zärtlichkeit, seine Liebe, seinen Humor und seine gute Laune doppelt und dreifach zurück. Wir »Insider« wissen das und möchten diese Botschaft so gern werdenden oder neu betroffenen Eltern eines Kindes mit Down-Syndrom mit auf den Weg geben. Bestimmt werde ich den »Knüller« dazu oft einsetzen.

Und denjenigen, die sich immer noch fragen, ob das Leben eines Menschen mit Down-Syndrom überhaupt lebenswert sei, und sogar sein Lebensrecht infrage stellen, möchte ich dieses Buch zur Pflichtlektüre machen. Spätestens nachdem man Jonas »Knüller« kennengelernt hat, weiß man: Nicht nur sind Menschen mit Down-Syndrom die geborenen Lebensgenießer und Lebenskünstler, sie sind auch auf eine bezaubernde Art und Weise in der Lage, das Leben aller in ihrer Umgebung reicher und lebenswerter zu machen.

Liebe Doro Zachmann, danke für dieses Buch!

Cora Halder

Leiterin des Deutschen Down-Syndrom InfoCenters und Herausgeberin der Zeitschrift »Leben mit Down-Syndrom«

Vorneweg

»Haben Sie es vorher gewusst?«, werde ich sehr häufig im Flüsterton gefragt, wenn ich erzähle, dass ich ein behindertes Kind habe, oder mich jemand auf unseren Jonas anspricht. Inzwischen höre ich aus diesen Worten die eigentlich beabsichtigte, aber meist nicht ausgesprochene Frage heraus: »Hätten Sie dann abgetrieben?«

Ich kann sie nicht beantworten, denn das Leben hat mich nie vor diese Frage gestellt – und dafür bin ich ihm sehr dankbar!

Wir hatten einfach nicht damit gerechnet, ein Kind mit Behinderung zu bekommen – warum auch? Schließlich waren unsere damals eineinhalbjährigen, quirligen Zwillingstöchter Maren und Eliane nach ziemlich komplizierter Risikoschwangerschaft dennoch kerngesund zur Welt gekommen und deren 7-jährige Halbschwester Katharina eine zahnlückengrinsende Musterschülerin. Was also konnte der Bilderbuchschwangerschaft mit einem »Einling« an Überraschungen folgen? Eine ganze Menge: Jonas wurde mit dem Down-Syndrom geboren.

Die Tatsache, ein Kind mit sogenannter geistiger Behinderung bekommen zu haben, versetzte meinen Mann und mich für einige Tage in einen Schockzustand. Kaum hatten wir uns aufgerappelt, erfuhren wir, dass unser Sohn zudem einen schweren Herzfehler hat. Diese Diagnose traf uns noch härter, denn plötzlich ging es um Leben und Tod. Gleichzeitig aber wurden wir uns bewusst, wie tief doch bereits unsere Liebe zu dem kleinen Kerlchen war: Wir hatten größte Angst, es zu verlieren.

Zugegeben, unser Alltag war nicht einfach und ist es auch heute manchmal nicht. Aber wie auch, bei einer so ungewöhnlichen Familienkonstellation? Jonas’ »Anderssein« ist da nur einer von mehreren Gründen. Ich könnte jetzt natürlich hauptsächlich von den Ängsten, Sorgen und Schwierigkeiten erzählen, die sich um die Behinderung drehen. Aber das würde das Bild verzerren, das ich von meinem Sohn habe, würde ihn reduzieren auf all das, was er nicht kann und vielleicht nie können wird.

Und es wäre gleichsam die Unterschlagung dessen, was ich durch ihn lernen durfte: nämlich, dass es im Wesentlichen nicht darauf ankommt, was einer an Leistungen zu bieten hat, sondern auf seine menschlichen Qualitäten. Und da hat Jonas mir jedenfalls heute schon eine Menge voraus: wenn ich nur an seine unbestechliche Leidenschaftlichkeit denke, seinen ungeschminkten Ausdruck sämtlicher Emotionen oder seine Fähigkeit, bedingungslos zu lieben, seinen sprühenden Charme und Witz, seinen großzügigen Umgang mit Zärtlichkeit und all die vielen ideenreichen Überraschungen, die er stets auf Lager hat …

Aber lesen Sie selbst und begleiten Sie mich durch das Jahr 2007, gespickt mit Erinnerungen aus den vergangenen 14 Jahren.

Viel Freude mit dem Knüller!

Doro Zachmann

Déjà vu

Huch – schon so spät! Nach einem Blick auf die Uhr reiße ich mich los von der spannenden Mail, die mir eine Freundin geschrieben hat. Schnell den PC runterfahren, Hund und Katze noch füttern, den Töchtern einen Zettel schreiben und dann nichts wie los. Ich fahre die 20 km zur Schule für geistig Behinderte. Es ist ein kalter Januartag, die Straßen sind jedoch frei von Schnee und Eis, sodass ich gut vorankomme.

Jonas, mein 14-jähriger Sohn, wartet schon ungeduldig auf mich. Abgeholt zu werden, anstatt mit dem Schulbus zu fahren, ist immer wieder eine schöne Abwechslung für ihn.

»Mama, endlich du komms! Spange bei?« – »Nein Jonas, deine Spange habe ich nicht dabei. Die brauchst du nicht, denn wir gehen nicht zum Kieferorthopäden. Heute fahren wir in die Kinderklinik, dein Herz wird wieder untersucht.« Und ich erzähle zum dritten Mal an diesem Tag von EKG, Ultraschall etc., bis Jonas sich wieder erinnert. Einmal im Jahr fahren wir in die Klinik, um sein Herz kontrollieren zu lassen, das nicht ganz in Ordnung ist. Er wurde mit einem schweren Herzfehler geboren und mit acht Monaten operiert. Damals konnte man zwei große Löcher und eine undichte Herzklappe flicken. Eine weitere Klappe jedoch, die Mitralklappe, schließt nach wie vor nicht richtig und muss beobachtet werden. Allerdings ist ihr Zustand in all den Jahren so stabil gewesen, dass wir nur alle 12 Monate zur Kontrolle müssen.

Jonas verabschiedet sich sehr herzlich von seinen Freunden und der Lehrerin, die im Stuhlkreis zusammensitzen und gerade ein Buch besprechen.

»Na, Jonas, wie war’s in der Schule?«, frage ich im Auto.

»Schön!«

»Und was habt ihr gemacht?«

»Nix!«, brummt mein Sohn und grinst mich zufrieden an, schließlich gehört das zu unserem täglichen Frage- und Nichtantwort-Ritual. Den Rest der Fahrt verbringen wir mit lautem Singen und rhythmischem Schnipsen zur Musik im Radio, das Jonas von Ampel zu Ampel lauter dreht. Wenn ich ein anderes Fahrzeug überhole, winkt Jonas dem Fahrer freudig zu. Heute bestehe ich darauf, dass die Scheibe geschlossen bleibt.

Juni 2005

Jonas (12) liebt Autofahrten – und besonders dann, wenn er vorne auf dem Beifahrersitz am Verkehrsgeschehen ganz nah dran ist. Heute beobachtet er aufmerksam, wie ich einem entgegenkommenden Fahrer per Handzeichen und Kopfnicken danke, weil er mir die Vorfahrt überlassen hat. Sofort übernimmt Jonas diese Geste für jedes entgegenkommende Fahrzeug (Vorfahrt hin oder her), steigert dies dann in freudiges Winken, und als ihm das immer noch zu wenig freundlich erscheint, kurbelt er das Fenster herunter, streckt den Oberkörper so weit raus, wie der Gurt es zulässt, und rudert heftigst mit beiden Armen. Jedem Fußgänger, Radfahrer und allen, die ihn sonst noch hören können, ruft er abwechselnd laut »Halloho« und »Dankesöön« zu. Kaum zu glauben, wie viele ernst dreinblickende und angespannte Gesichter mein Kind mit seinem Fuchteln im Fahrtwind zu verzaubern vermag! Überall plötzlich fröhliches Lächeln, amüsierte Blicke, zurückwinkende Menschen. Ich bin so stolz auf meinen Sohn und denke mir: Ja, recht hat er! Es ist doch oftmals ein Leichtes, anderen Menschen ein Lächeln zu entlocken – mit ein bisschen mehr Aufmerksamkeit, ein bisschen mehr Freundlichkeit, ein bisschen mehr Farbe im grauen Alltag.

Vor der Klinik angekommen zwänge ich unseren Kombi in eine äußerst knappe Parklücke und stelle am Parkscheinautomaten fest, dass ich kein Kleingeld bei mir habe. Drei Passanten frage ich erfolglos, ob sie mir vielleicht den 50-Euro-Schein wechseln können.

»Ach egal, Mama. Komm, lass! Dokto waatet mich!« Jonas wird zappelig.

Ich jedoch habe schon beim Aussteigen die Politesse auf der anderen Straßenseite erspäht, die immer näher kommt. Also gehe ich direkt auf sie zu, erkläre meine missliche Lage mit dem großen Schein. Die Frau reagiert sehr freundlich und entlässt mich mit einem »An der Rezeption der Klinik kann man Ihnen bestimmt weiterhelfen!«.

Dort jedoch gibt es keine Kasse, die Cafeteria befindet sich im Nebengebäude, und wechseln kann mir leider auch niemand. Während ich es noch bei drei Patienten und Besuchern im Foyer versuche, hat Jonas bereits Dr. Piever erspäht und wiedererkannt. Laut ruft er durch die Halle: »Dokto, halt! Komme dir! Waate mich!«, und rennt auf den Arzt zu, der ihm freundlich zuwinkt. Ich seufze, zucke mit den Schultern und hake mein Parkplatzproblem ab, um in Richtung Kardiologie den beiden Männern hinterherzulaufen. Sie stecken bereits mitten in einer netten Unterhaltung, schließlich kennen sie sich seit Jahren.

»Na, Jonas, wie geht’s dir?«

»Gut!«

»Mann, du bist ja wieder ordentlich gewachsen im vergangenen

Jahr!«

»Ja, bin ich! Hab Baat, guck hier!« Jonas streckt sein Kinn vor, aus dem tatsächlich ein paar einzelne kleine Härchen sprießen.

»Bist ja fast schon ein Mann. Wie alt bist du denn jetzt?«

»Bin fizzen alt!«, wirft sich Jonas stolz in die Brust.

»Und was macht die Schule?«

»Schön!«

»Was macht ihr denn da so?«

»Nix!«, grinst Jonas breit.

»Nix? Das ist aber nicht viel!«, lacht Dr. Piever. »Na, da wollen wir uns heute mal wieder dein Herz anschauen und gucken, ob alles okay ist!«

»Nau!«, nickt Jonas zustimmend und lüpft sein T-Shirt hoch.

»Nein, nicht sofort. Gleich höre ich dich ab. Zuerst musst du noch zur Schwester Ingeborg zum EKG.«

Dr. Piever begleitet uns noch zur Anmeldung und biegt dann mit einem schmunzelnden »Bis gleich!« in sein Behandlungszimmer ab.

Nachdem alle Formalitäten erledigt sind, nehmen wir im Wartebereich Platz und blättern zusammen in einem Comic.

Als die Schwester Jonas aufruft, springt er freudig auf, dreht sich rasch zu mir um und gebietet mir streng: »Mama, du hier. Ich leine! Bin große Kerl!«

Überrascht, aber auch erfreut über diesen neuen Schritt in Richtung Selbstständigkeit bleibe ich sitzen und schaue meinem Sohn hinterher, wie er mit der Schwester in einem Zimmer verschwindet, nicht ohne mir vorher noch einmal lachend zuzuwinken.

Ich bin in einen Zeitschriftenartikel vertieft, als Jonas wieder zu mir kommt.

»Muss waaten!«

»Und, wie war’s?«

»Hat kitzel. Muss lachen!«

Wir kennen die Prozedur schon. Nachdem Jonas nun gewogen und gemessen und ein EKG geschrieben wurde, warten wir jetzt auf Dr. Piever, der einen Ultraschall und eine gründliche Untersuchung durchführen wird.

Als der Arzt Jonas abholt, »darf« ich wieder nicht mitgehen. Also versinke ich erneut in der Zeitschrift. Zweieinhalb Artikel später steht Jonas wieder vor mir und sagt: »Mama, solls Dokto komm! Jetz du daaf auch!«

Ich folge meinem Sohn in das Besprechungszimmer, in dem Dr. Piever am Schreibtisch sitzt und in Jonas’ Akten vertieft ist. Als er aufschaut, um mir einen Platz anzubieten, sehe ich sofort in seinem Gesicht, dass etwas nicht stimmt, und ahne, dass mir die folgenden Sätze nicht schmecken werden.

Plötzlich ist es, als ob die Zeit zunächst stehen bliebe, um dann binnen Bruchteilen von Sekunden rückwärtszulaufen. Ich sehe mich um 14 Jahre zurückversetzt, als ich demselben Arzt gegenüberstand, mein zweiwöchiges Baby auf dem Arm, der Tränen nicht mehr Herr wurde und versuchte zu fassen, was mir soeben mitgeteilt worden war.

Diagnose Herzfehler

Obwohl meine Arme
dich tragen,
bist es du,
der mich hält
und davor bewahrt,
entweder
aus lähmender Angst zu fallen
oder aus magischer Anziehung
der Verzweiflung zu springen
in den bodenlosen Abgrund,
der sich soeben vor mir auftut.

Ich hole tief Luft und wappne mich innerlich für das, was jetzt kommen wird.

Dr. Piever redet Klartext: »Die Undichtigkeit der Herzklappe hat seit der letzten Untersuchung erheblich zugenommen und ich fürchte, Ihr Sohn muss erneut operiert werden.«

Schock! Noch eine Operation? Damit hatte ich nicht gerechnet. All diese Jahre nach der Herzoperation damals sind wir regelmäßig hierher zur Untersuchung gekommen und immer bekam ich dasselbe zu hören: Auf einer Werteskala von 1 bis 4 war die Klappe jedes Mal konstant bei 2, also in einem recht stabilen Zustand, der Jonas auch alle Belastungen und Aktivitäten erlaubte. Obwohl mir Dr. Piever all die Jahre über immer wieder auch sagte, dass sich der Zustand jederzeit verschlechtern könne, konnte ich dennoch ruhig schlafen und hatte nicht ständig Angst. Im Gegenteil: Ich ging zu den Herz-Kontrollen inzwischen genauso »routiniert« und unbefangen wie zu den häufigen Untersuchungen beim Kieferorthopäden, HNO-, Zahn- oder Kinderarzt. Ich weiß nicht, was mich so ruhig sein ließ. Irgendetwas in mir weigerte sich einfach, dem Thema Herzfehler mehr Raum zu geben. Vielleicht war es ein gut funktionierender Verdrängungsmechanismus, vielleicht aber auch mein Glaube daran, dass mein Kind in Gottes Händen gut aufgehoben ist. Und es gab ja auch keinen triftigen Grund für Sorgen oder Ängste, schließlich bestätigte sich ja von Jahr zu Jahr, dass der Zustand der Klappe konstant blieb. Warum also hätte ich mich verrückt machen sollen?

Nun aber ist plötzlich alles anders. Von einem Moment auf den anderen kippt mein Sicherheitsgefühl, wird mir der Boden unter den Füßen weggerissen. Schreckliche Bilder von der ersten Operation tauchen aus meiner Erinnerung auf, und ich muss sie mit aller Macht wegdrängen, damit sie mich nicht überfluten und wegschwemmen.

Dr. Piever sieht mein Ringen und Kämpfen, lässt mir einen Moment Zeit, den Schock abzufedern, indem er sich mit Jonas unterhält, der zwar emotional, aber vom Verstand her nicht begreift, was hier gerade geschieht. Als ich mich so weit wieder gefangen habe, zwinge ich mich, ruhig zu bleiben und mich auf die Erklärungen zu konzentrieren, die jetzt folgen.

Anhand eines Herz-Modells zeigt mir der Arzt, was die Verschlechterung des Messwertes von 2 auf 3 bedeutet: Es fließt jetzt deutlich mehr Blut als zuvor zurück in den linken Vorhof und die linke Herzkammer. Beide Gefäßteile haben sich deshalb seit der letzten Untersuchung bereits erheblich vergrößert, ja verdoppelt. Und das wiederum bedeutet, dass auch die vier großen Arterien betroffen sind und, wenn es noch schlimmer würde, auch die Lunge angegriffen würde. Ich spüre, wie sehr sich Dr. Piever bemüht, seine Erklärungen völlig sachlich und ohne jede Spur von Besorgnis abzugeben. Immer wieder wirft er Jonas ein künstliches Lachen zu, damit dieser sich nicht ängstigt. Jonas sitzt einfach nur neben mir, ist vollkommen still, beobachtet uns beide. Als er mir seine Hand rüberstreckt, weiß ich nicht, ob es eine Geste des Tröstens oder des Hilfesuchens ist. Aber es fühlt sich gut an, eine Hand halten zu können, zu streicheln und gestreichelt zu werden, zu drücken und gedrückt zu werden. Eine Erinnerung streift mich:

Mein Sohn, der große Tröster in allen Lebenslagen … Als er mich unlängst auf dem Spielplatz gedankenverloren auf einer Schaukel sitzen sah, gab er mir einen heftigen Schubs, lachte sein brummbärtiefes Lachen und sagte: »Mama, schucke dir de Himme hoh, dann nich me tauhich sein!«

Dr. Piever ergänzt: »Ich werde nun in der Klinik in Freiburg anrufen, die die Operation durchführen soll, und mich mit dem Professor beraten, ob er die Situation ebenso einschätzt wie ich. Bitte nehmen Sie so lange noch einmal draußen Platz, ich rufe Sie dann wieder herein, sobald ich Ihnen mehr sagen kann.«

Auf dem Gang frage ich Jonas, was er verstanden hat. Er hebt die Schultern und schaut mich mit seinen großen mandelförmigen Augen fragend an. Ich erkläre ihm, dass er vielleicht noch einmal operiert werden muss.

»Wie Opa?« — »Ja, genau, wie Opa.«

Mein Vater bekam vor ein paar Jahren zwei Bypässe gelegt und Jonas war öfter mit im Krankenhaus zu Besuch. »Opa au großa Naabe hia, gell, Mama?« Jonas hebt wieder sein T-Shirt hoch und streicht über die 20 cm lange, weiße, knubbelige Narbe, die seine Brust längs ziert. »Papa au Opazon?« – »Nein, Papa hatte noch keine Herzoperation.« – »Du?« – »Ich hatte auch noch nie eine.« – »Oma?« – »Nein.«

Auch bei seinen drei Schwestern Maren, Eliane und Katharina verneine ich.

»Oh Manno – imma ich!«, beschwert sich Jonas und schaut betrübt zu Boden. Da kommt mir die zündende Idee und ich sage: »Joni, heute Morgen hattest du doch Schwimmen in der Schule. Überleg doch mal, welches Kind noch so eine große Narbe auf der Brust hat wie du.« (Da ich die meisten Kinder der Sonderschule kenne, weiß ich von einigen Herzkrankheiten.) Auf kurzes Stirnrunzeln und angestrengtes Nachdenken folgt das Aha und große Erleichterung. Jonas zählt fünf Kinder aus seiner Schule auf. Puh! Jetzt strahlt mein Sohn wieder, weil er nicht allein mit dem Problem auf der Welt ist. Damit ist das Thema für ihn erst mal gegessen und er greift zu dem angefangenen Comic-Heft. Ich bin wieder einmal verblüfft, erleichtert und voller Bewunderung, wie sorglos und unverkrampft Jonas den größten Herausforderungen seines Lebens entgegenschauen kann.

August 2003

Jonas (10) verreist das erste Mal allein. Bisher waren seine Schwestern dabei, wenn er auf eine Freizeit fuhr. Eigentlich war er für die Freizeit mit seiner Jungschargruppe angemeldet, die jedoch vorgestern kurzfristig abgesagt wurde. Nun mussten wir ganz schnell »Ersatz« finden, denn auch wir Eltern und die Großeltern waren verplant und wollten unsere Vorhaben ungern aufgeben. Es klappte: Übers Internet fand ich ein integratives Freizeitangebot, das noch ein paar Plätze frei hatte. Der Nachteil jedoch: Jonas würde überhaupt niemanden kennen. Da standen wir dann heute Nachmittag als ganze Familie am Busbahnhof einer fremden Stadt, um Jonas zu verabschieden. Zusammen mit 30 anderen Kindern und 6 Mitarbeitern sollte es für eine Woche ins Allgäu gehen. Ich war schrecklich aufgeregt und auch beunruhigt. Machte mir Vorwürfe, eine elende Rabenmutter zu sein, die ihr Kind allein wegschickt. Hatte ein schlechtes Gewissen, weil mir mein eigener Erholungsurlaub wichtiger war als das Wohl meines Kindes. Ich steigerte mich immer mehr in Angstfantasien hinein: dass die Mitarbeiter mit Jonas’ Besonderheiten nicht klarkommen würden, dass Jonas Heimweh haben könnte, dass er sich allein und ausgeschlossen, gar von uns als Familie abgeschoben fühlen könnte … Es zerriss mir fast das Herz, und ich kämpfte mit dem Gedanken, die ganze Sache abzublasen. Wolfgang, der mich nicht nur sehr gut kennt, sondern auch von meiner Unruhe wusste, legte einfach nur den Arm um mich und sagte in gelassenem Ton: »Warum machst du dir mehr Sorgen als unser Sohn?!« Und tatsächlich: Als ich meinen Blick weg von den inneren Bildern wieder auf Jonas richtete, sah ich, dass er zwar auch aufgeregt, aber voller Vorfreude und ohne jede Angst zu sein schien. Seinen Stoffhund zwischen die Knie geklemmt, klatschte er laut aufjuchzend begeistert in die Hände, als der große Doppeldeckerbus vorfuhr, in den er gleich einsteigen durfte. Als die Koffer und Kisten verstaut waren, ging es ans Abschiednehmen. Ich war überzeugt davon, dass Jonas spätestens jetzt, wenn er registrierte, dass keiner von uns mit einsteigen würde, weinen müsste und eventuell nicht einsteigen wollte. Pustekuchen! Unser Sohn drückte uns allen einen dicken Feuchtkuss ins Gesicht, umarmte alle herzlichst mit einem »Schühüs« und ging dann lachend und strahlend »an Bord«. Er setzte sich weit hinten allein in eine Bank, drückte von innen sein Gesicht an die Scheibe und winkte uns so lange lachend zu, bis der Bus nicht mehr zu sehen war. Von wegen Tränen! Außer mir heulte überhaupt keiner.

Während ich mit meinen widersprüchlichen Gefühlen kämpfe und meinen Gedanken nachhänge, biegt plötzlich ein Mann in gelber Latzhose, buntem Hemd und roter Pappnase um die Ecke und kommt direkt auf uns zu. Jonas legt sein Heft zur Seite und ruft »Hallo Klaun!«, als sei es das Natürlichste der Welt, dass inmitten eines weiten Krankenhausflures plötzlich ein Clown vor einem steht. Der Clown macht mit Jonas Scherze und verblüfft ihn mit Zaubertricks.

Kurz darauf stehen weitere Kinder und Mütter um die lustige Person herum und es gibt viel zu lachen. Ich bin so dankbar für diesen Clown, der aus dem Nichts aufgetaucht ist und mein Kind nun ablenkt, ja fröhlich macht, und der ganzen Situation das Schwere nimmt.

Da geht die Tür des Behandlungszimmers auf und Dr. Piever winkt uns zu sich. Jonas’ Kommentar ist eindeutig: »Mama, geh nur. Ich lieba hia. Bei Klaun bessa fü mich!«

Wie wahr. Ich würde auch lieber dem Clown bei seinen Späßen zusehen, als mich der brutalen Wirklichkeit zu stellen, die im Moment einen weißen Arztkittel trägt und mir unschöne Sachen sagt. Als ich mit Dr. Piever allein im Zimmer bin, ist seine Miene nicht mehr so aufgesetzt fröhlich wie vorhin noch in Jonas’ Beisein. Nun kann er ohne Beschönigung reden und meine vielen Fragen klar und deutlich beantworten. Der Professor der Freiburger Klinik teile seine Einschätzung, dass Jonas’ Herzzustand sich sehr verschlechtert habe und eine Operation unumgänglich sei. Er möchte ihn aber selbst noch einmal untersuchen und hat dafür einen Termin in fünf Wochen vorgeschlagen. Dann soll die Entscheidung getroffen werden, ob und wann Jonas operiert wird.

»Das ist jetzt keine hochakute Sache, Sie brauchen also nicht zu befürchten, dass Ihnen Ihr Sohn von einem Moment zum anderen tot umfällt. Aber es ist eben eine deutliche Verschlechterung nachzuweisen, und die kommt auch nicht von allein zum Stillstand, sondern wird sich weiter ausdehnen. Deshalb muss man in den nächsten Monaten handeln.«

Déjà vu! Ich habe das doch schon einmal erlebt …

Acht Monate sind vergangen
seit der Diagnose deines Herzfehlers.
Eine Zeit voll
geklammerter Hoffnungen,
kaum zu glaubender Verheißungen,
enttäuschender Rückschläge,
bedrohlicher Unsicherheit,
bis hin zur bitteren Wahrheit,
ungeschminkt und schonungslos,
unaufschiebbar akut.
Nun steht fest:
Eine Operation
ist die einzige Chance,
dich am Leben zu halten.

Ich frage auch nach den Erfolgsaussichten dieser zweiten Operation, und Dr. Piever macht mir verständlich, dass ich kein Wunder erwarten dürfe, da Jonas’ Herz von Geburt an ziemlich missgebildet sei. »Sie werden es in Freiburg auch nicht ganz dicht bekommen, aber bestimmt dichter, als es jetzt ist – und das ist doch schon mal was. Mit viel Glück bekommen Sie noch mal zehn ruhige Jahre geschenkt, bevor man dann erneut eingreifen oder gar eine künstliche Klappe einsetzen muss. Das ist wirklich die letzte Möglichkeit, nämlich dann, wenn die eigene Klappe so vernarbt und verunstaltet ist, dass mit Flicken nichts mehr zu retten ist. Eine künstliche Klappe bedeutet auch lebenslange Einnahme von blutverdünnenden Mitteln und ein viel größeres Risiko während und nach der OP.« Mir ist ganz schwindlig, als ich den Raum verlasse.

Mein Sohn, der, wie ich gerade erfahren habe, schwer krank ist, klatscht sich im Moment vor Begeisterung auf die Schenkel und lacht laut über einen Witz des Clowns, der inzwischen eine große Kinderschar angezogen hat. Als Jonas mich kommen sieht, fragt er besorgt: »Fätich, Mama? Oh nöö! Will bleim!«

Also bleiben wir noch und ich stelle mich nach hinten zu den Müttern. Und wieder überkommt mich große Dankbarkeit für diesen Clown, der im richtigen Moment am richtigen Ort aufgetaucht ist und beiden von uns das gibt, was er gerade braucht: Unterhaltung und Ablenkung für Jonas und Sicherheit für mich, dass Gott uns im Blick und die Situation im Griff hat.

Eine Viertelstunde später verabschiedet sich der Clown, und als die Gruppe sich auflöst und in verschiedene Richtungen auseinandergeht, bietet sich der Moment, ihn anzusprechen. Ich frage, ob er jeden Tag hier sei. »Nein, ganz selten, ab und zu mal mittwochs, aber eigentlich nie auf dieser Station.«

Zufall? Nein, für mich steht fest, dass wir einem Engel mit Pappnase begegnet sind!

Am Auto angelangt ruft Jonas: »Mama, Bief fü dich!«, und zerrt ein Stück Papier unterm Scheibenwischer hervor. Völlig entgeistert starre ich auf den Strafzettel in meiner Hand und kann es nicht fassen. Natürlich weiß ich, worin mein Vergehen besteht, schließlich habe ich mich nicht mehr um das Geldwechseln und einen Parkschein bemüht. Das habe ich vollkommen vergessen, als die Wogen über mir zusammenschlugen. Irgendetwas in mir fühlt sich sehr ungerecht behandelt und fragt, wie ein blöder Parkschein so wichtig sein kann? Warum man mir das antut, wo ich doch gerade mit viel größeren Problemen zu kämpfen habe?

Beim Einsteigen schüttele ich diese naiven Gedanken ab und versuche mir klarzumachen, dass die Welt sich einfach weiterdreht, als sei nichts geschehen, auch, wenn ich gerade eine so schreckliche Diagnose erfahren habe.

Reaktionen

Wir fahren in die Stadt zu dem Treffpunkt, den ich mit Jan ausgemacht habe. Jan ist Jonas’ Zivi, der einmal in der Woche für zwei Stunden unseren Sohn »übernimmt« und mir dadurch Freiraum schenkt. Jonas ist nicht minder begeistert von diesem Mittwochnachmittag, der immer eine schöne Abwechslung bietet, und außerdem mag er Jan sehr. Heute wollen die beiden ins Kino gehen und sich »Die wilden Kerle 4« ansehen. Jonas ist schon ganz aufgeregt und ich bin so froh, dass der Besuch im Krankenhaus für ihn schon wieder abgehakt zu sein scheint. Auch bin ich dankbar, Jonas jetzt an Jan »abgeben« zu dürfen und Zeit für mich zu haben, in der ich mich meinen Sorgen, Gedanken, Ängsten stellen kann.

Ich erzähle Jan kurz von der Diagnose. Auch er ist erschrocken. Aber Jonas tut das Ganze mit einer wegwerfenden Handbewegung und den Worten ab: »Ach, nich schlimm, Jan! Komm jetz, geh Kino, wilde Kerle guckn!«

Ja, man muss im Leben einfach Prioritäten setzen können. Fußball zum Beispiel! Und wer ein echter wilder Kerl sein will, muss hart trainieren.

Juli 2002

Jonas (9) findet keinen, der mit ihm unten im Hof kickt. So zieht er mürrisch ab und macht das Beste aus seiner Situation, indem er wie folgt allein Fußball spielt: Er stellt sich zwei Meter vor das Garagentor und kickt den Ball dagegen. Dann schreit er laut »TOOOR!«, wirft die Arme in die Luft, juchzt vor Freude, streckt dem imaginären Torwart schadenfroh die Zunge raus und zählt: »Eins un Null!« Dann tritt er das nächste Tor, brüllt wieder laut, führt sein Freudentänzchen auf etc. und zählt: »Swei un Null!« Als er (bei nicht ganz korrekter Zählweise) »Achsen un Null« ruft, nickt er zufrieden, kickt den Ball – überzeugt von sich und seinem fußballerischen Können – in die Ecke und kommt wieder nach oben.

Auf der Fahrt nach Hause kann ich endlich weinen. Und sofort sind sie wieder da: Bilder der Erinnerung an die erste Operation mit so viel Angst, Schmerz, Blut und Tränen.

Ausgeliefert

Die sechs Stunden deiner Operation
dauerten wie eine Ewigkeit.
So verlor der Begriff Zeit
für mich jede Bedeutung,
das Warten
war ein Zustand der Grausamkeit,
und das Wort Ohnmacht
wurde zur lebendigen Erfahrung.

Mein Schluchzen wird schließlich Gebet: »O Gott, was kommt da auf uns zu? Steht es wirklich so schlimm um Jonas’ Herz, dass wir da noch einmal durchmüssen? Du weißt, was es uns alle damals gekostet hat und wie schwer die Zeit für uns war. Ich habe Angst davor. Aber noch mehr Angst habe ich, mein Kind zu verlieren! So eine Herz-OP ist doch kein Pappenstiel. Oh, ich bin so ohnmächtig. Mir bleibt nichts, als das alles in deine Hände zu legen und zu vertrauen, dass du das Beste daraus machen wirst. Aber ich danke dir auch, dass du uns nun so eine lange Zeit der Ruhe damit geschenkt hast. Mir war letztlich doch gar nicht bewusst, dass Jonas’ Herz immer noch so krank ist. Bitte nimm mir nicht mein Kind! Ich weiß nicht, wie ich das überstehen könnte.«

Es tut so gut, alles aussprechen zu können und einfach nur zu weinen. Es macht mich innerlich ruhig.

Zu Hause angekommen möchte ich am liebsten gleich alles erzählen. Aber da ist niemand. Wolfgang ist noch bis spätabends in der Seelsorge (und dort auch telefonisch nur schwer erreichbar), unsere Zwillingstöchter Maren und Eliane (15) sind bei Freundinnen, Katharina (21, Wolfgangs Tochter aus erster Ehe) noch in der Vorlesung.

Also schnappe ich mir das Telefon und rufe meine Eltern an. Mutti ist tief betroffen, reagiert aber gefasst. Sie tröstet mich: »Jetzt wartet erst mal die Untersuchung in Freiburg ab, vielleicht ist es ja doch nicht so schlimm.«

Ich schreibe eine Rundmail an viele Freunde und erzähle die Situation. Kaum zu glauben, wie viele liebevolle, mitfühlende, Trost spendende, Mut machende und fürbittende Mails daraufhin in den nächsten Tagen zurückkommen. Ich drucke und schneide sie alle aus und klebe sie in mein Tagebuch – so kann ich die schönen Zeilen ständig nachlesen und mit nach Freiburg nehmen, wenn es so weit ist.

Der Hund bellt. Eliane und Maren kommen laut kichernd heim.

Sie sehen mir sofort an, dass etwas nicht stimmt. »Was ist los, Mami?«, werde ich besorgt gefragt. Mit Tränen in den Augen erzähle ich von der Untersuchung, und dass Jonas wahrscheinlich wieder am Herzen operiert werden muss.

»Oh nein! Der Ärmste!« Maren ist tief betroffen.

»Doch nicht mein süßer Knuddelbruder!« Der Schreck steht in Elianes Gesicht.

»Meine arme kleine Mama!« Maren nimmt mich tröstend in die Arme. Elli stellt sich dazu und umarmt uns beide. So stehen wir eine Weile zu dritt mitten in der Küche, schweigend, weinend, betroffen.

»Ach was! Das packt der schon! Ihr werdet sehen!« Maren hat ihre Zuversicht wiedergewonnen. Erleichtert atmen wir auf, lösen uns voneinander, wischen uns Tränen aus dem Gesicht, grinsen uns an, lachen dann laut über die verschmierten Kajalaugen.

Ich bin so froh über meine Mädchen, so dankbar für diesen kostbaren Moment des Einsseins. Als Jonas von Jan eine Stunde später gebracht wird, wundert er sich seltsamerweise gar nicht, warum ihm seine Schwestern den ganzen Abend kaum von der Seite weichen und sich so liebevoll um ihn kümmern. Das war schon immer so:

Die besten Therapeutinnen

Die Logopädin
lehrt dich das Sprechen.

Die Krankengymnastin
bringt dir Bewegungsabläufe bei.

Der Ergotherapeut
zeigt dir, was Feinmotorik ist.

Die Heilpädagogin
sorgt für deine integrative Eingliederung.

Und deinen Schwestern
machst du alles nach.

Später huscht Katharina ins Haus. (Liebevoll heißt sie bei uns oft »Aganina Zamzam«, denn das war jahrelang Jonas’ offizielle Bezeichnung für seine älteste Schwester.) Sie will sich noch etwas zu essen organisieren, bevor sie den Abend mit Lernen verbringt, denn ihre Semesterabschlussprüfungen stehen bald an. Als ich ihr die unangenehme Neuigkeit erzähle, schiebt sie den Teller von sich weg. Der Appetit ist ihr vergangen. »Oh je! Unser Joni!« Pause. »Dann bleibe ich lieber hier!«

»Nein! Nein, das musst du nicht. Du musst deswegen jetzt nicht deine ganzen Zukunftspläne über den Haufen werfen. Außerdem wissen wir ja noch gar nicht, ob und wann er operiert wird.« Es erscheint mir nicht richtig, dass Katharinas lang ersehnter Wunsch vom Auslandspraktikum, für den sie sich so eingesetzt hat, nun scheitern soll. Ein halbes Jahr Ecuador, alles ist geplant und organisiert, der Flug gebucht. »Nein!«, sage ich noch einmal mit Bestimmtheit. »Du kannst trotzdem fliegen!«

In ihr erleichtertes Aufatmen mischt sich dennoch ein Hauch schlechtes Gewissen. Bevor sie in ihr separates Domizil nach nebenan verschwindet, schlüpft sie noch einmal zu ihrem Bruder ins Zimmer …

Die Kinder sind alle im Bett, als Wolfgang endlich um 23 Uhr nach Hause kommt. Er hatte einen anstrengenden Tag und ist sehr müde. Für einen Moment überlege ich noch, ob ich ihn schonen und erst morgen alles erzählen soll, aber als er mich in seinen Arm zieht und mich fragt, wie mein Tag war, da platzt es aus mir heraus.

Wolfgang ist geschockt. Ich spüre, wie es ihm den Boden unter den Füßen wegzieht. Er setzt sich, will alle Einzelheiten hören. Und so gehe ich die ganze Untersuchung und jede Bemerkung des Arztes noch einmal mit ihm durch. Schweigend hängen wir dann eine Weile unseren Gedanken nach, spüren tröstend die Nähe des anderen. Dann steht Wolfgang auf, nimmt mich in den Arm und sagt: »Okay, wenn es so sein soll, dann soll es so sein und dann werden wir das Beste daraus machen! Ich werde für die Zeit, wenn du mit Jonas im Krankenhaus bist, alle Aktivitäten zurückfahren und hier zu Hause den Laden schmeißen. Wir werden alle Kraft brauchen, aber Gott wird uns auch nicht im Stich lassen. Das weißt du!« Ja, das weiß ich und es ist auch meine einzige Hoffnung und das, worauf ich mich stütze. Ich liebe Wolfgang für seine Zuversicht, seine Stärke und seinen Willen, sich niemals unterkriegen zu lassen.

In der Nacht auf den 25. September 1992

Wolfgang liegt neben mir auf dem Bett, streichelt mich und sein viertes Kind. Jonas ist vor drei Stunden geboren worden. Dieses kleine Bündel Mensch schläft friedlich zwischen uns und ahnt überhaupt nicht, wie sehr es von einem Moment auf den anderen unser Leben aus der Bahn geworfen hat. Gemeinsam ringen wir mit dem ausgesprochenen Verdacht, gerade ein geistig behindertes Kind bekommen zu haben, flüstern miteinander, schweigen miteinander, weinen miteinander. Und während sein Vaterblick auf unserem kleinen Sohn und seine große warme Hand auf dem winzigen Köpfchen ruht, spricht Wolfgang den Satz aus, den ich noch heute deutlich höre: »Ob Jonas behindert ist oder nicht: Lieben tu ich ihn schon jetzt.«

Die Nacht ist wunderbar friedlich. Wir flüstern uns gegenseitig in den Schlaf und wundern uns am nächsten Morgen, dass wir so gut geschlafen haben. Obwohl wir doch allen Grund hätten, unruhig zu sein, dürfen wir in den nächsten Tagen und Wochen erleben, wie sich zunehmend Frieden in unseren Elternherzen ausbreitet und uns durch unsere Sorgen trägt.

Für Jonas scheint die OP kein Thema mehr zu sein. Er spricht sie weder uns gegenüber an, noch enthalten seine lauten Selbstgespräche, die er ständig führt, wenn er sich unbeobachtet fühlt, irgendeinen Hinweis darauf, dass er sich mit der OP beschäftigt oder gar Angst davor hat. Was ja absolut verständlich wäre … Es ist aber auch nicht so, dass er das Thema »vergessen« hat oder aufgrund gewisser geistiger Einschränkungen nicht in der Lage wäre, sich damit zu beschäftigen. Er hört uns auch immer wieder davon sprechen, spürt sicherlich auch eine gewisse Unruhe, aber sie überträgt sich nicht auf ihn. Jonas ist und bleibt einfach unbesorgt. Wie immer. Er ruht in sich. Fühlt sich sicher und geborgen, geliebt und angenommen, nichts kann ihm Angst und Schrecken einjagen. Das war schon immer so. Und das bewundere ich an ihm. Das heißt nicht, dass Jonas stets ausgeglichen und friedlich wäre, nein, er kann ordentlich bocken und wütend sein. Er ist einfach immer ganz und gar: entweder total fröhlich, ausgelassen und supercharmant, oder eben tobend, laut schimpfend und überhaupt nicht einverstanden. Da gibt es kaum Zwischentöne. Das macht es oft sehr anstrengend mit ihm, aber diese Leidenschaftlichkeit mag ich auch ganz besonders an meinem besonderen Kind. Ich weiß immer, woran ich bei ihm bin.

Aneinander vorbei

Seltsam,
dass manche Menschen
einen weiten Bogen
um dich machen,
wo du selbst
doch so gradlinig bist.

Jonas ist mir außerdem ein echtes Vorbild darin, mich nicht wegen Dingen zu sorgen, die ich nicht beeinflussen kann. Wie jetzt zum Beispiel. Solange wir nicht einmal die Gewissheit haben, dass die OP ansteht, so lange will ich meine Zeit nicht damit verbringen, mich in ängstliche Gedanken hineinzusteigern, will ich meine Kraft nicht unnötig selbst lähmen.

Und dennoch mache ich mir natürlich Gedanken um die Zukunft. Um dieses Jahr, das noch so frisch vor uns liegt. Im Sommer werde ich vierzig. Das wollte ich eigentlich groß feiern. Und endlich, nach drei Jahren Pause, wollten wir dieses Jahr mal wieder alle zusammen in Urlaub fahren. Ob aus diesen schönen Plänen nichts wird? Jedenfalls kann ich nun nur mit angezogener Handbremse planen …

Meine Freundin Anke ist Ärztin und rät uns, vor dem Termin in Freiburg noch eine zweite Meinung eines anderen Kinderkardiologen einzuholen. Das tun wir. Dr. Schuster ist auch der Meinung, dass wir um eine zweite Operation nicht herumkommen werden. Es stelle sich nur die Frage des richtigen Zeitpunkts. Er empfiehlt uns, diesbezüglich der Erfahrung der Freiburger Ärzte zu vertrauen. Weil zwei Ärzte der Freiburger Klinik so sehr vertrauen, beschließen Wolfgang und ich, uns danach zu richten, was man uns dort raten wird.

Entscheidung

Die Fahrt nach Freiburg ist lustig. Katharina sitzt mit Jonas auf der Rückbank. Es war sein Wunsch, dass sie mitfährt, und da ihre – gut bestandenen