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  BIRGIT HÄMMERLE– FARiD DER TRÄUMER– SCM Hänssler

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ISBN 978-3-7751-7239-4 (E-Book)
ISBN 978-3-7751-5564-9 (lieferbare Buchausgabe)

Datenkonvertierung E-Book:
CPI – Ebner & Spiegel, Ulm

© der deutschen Ausgabe 2014
SCM Hänssler im SCM-Verlag GmbH & Co. KG · 71088 Holzgerlingen.
Internet: www.scm-haenssler.de · E-Mail: info@scm-haenssler.de

Die Bibelverse sind, wenn nicht anders angegeben, folgender Ausgabe entnommen: Neues Leben. Die Bibel, © der deutschen Ausgabe 2002 und 2006 SCM R.Brockhaus im SCM-Verlag GmbH & Co. KG, Witten.
Umschlaggestaltung: Jan Henkel, http://www.janhenkel.com
Titelbild: istockphoto.com
Karte: Kathrin Spiegelberg, Weil im Schönbuch
Satz: Breklumer Print-Service, Breklum

INHALT

FARIDS FLUCHTROUTE

1. DER UNFALL

2. AL-MATREI

3. DER HELD

4. HOHER BESUCH

5. DIE SÄULENHALLE

6. DER TRAUMDEUTER

7. ABIDEMI

8. DER PASS

9. DIE FREUNDE

10. DIE SPRITZTOUR

11. DENHERE

12. DER ABSCHIED

13. AUF DEM MEER

14. IN ZINDER

15. DER GEFÄHRTE

16. DAS GESICHT

17. DER GRABSTEIN

18. DIE EINSAMKEIT

19. GEFÄHRLICHE PAUSE

20. DER KRIEG

21. MITGEGANGEN

22. DIE KÜSTE

23. MÜLL, MOSCHEEN UND MOTOREN

24. ON THE ROAD

25. SIWA

26. DIE SANDMÄNNER

27. FEINDLICHER SAND

28. DER DARB SIWA

29. VOR GERICHT

30. DIE FLUCHT

31. IM GARTEN EDEN

32. DIE WAHRE WÜSTE

33. UNTER GUTEN STERNEN

34. NACH NORDEN – ZUM GLÜCK!

35. GHADDAFIS SCHATTEN

36. DER FREMDE

37. DIE HÖHLE

DANKE!

BEGRIFFSERKLÄRUNGEN

Farids Fluchtroute

ALEXANDRIA

TOBRUK

MARSA MATRUH

SIWA

BAHAREYA

FARAFRA

GILF KIBIR

SABHA

TRIPOLIS

10 MALTA

DER UNFALL

Einmal, einmal im Leben was echt Cooles hinkriegen, dachte Farid. Punktgenau in den regenbogenfarbenen Ölfleck zwischen den beiden Fangbooten pinkeln. Das wär’s! Farid schaute sich über beide Schultern um: nur Männer in Sicht, wie immer hier am späten Morgen. Fischer, die versuchten, im Schatten den Rest des heißen August-Vormittags zu dösen. Manche vertrödelten mit einer weniger schweißtreibenden Arbeit wie Netze flicken die Zeit oder plauderten. Farid konnte ungestört sein kleines Spielchen treiben. Er stellte sich leicht in die Grätsche, rückte ganz nach vorn an den Rand der Kaimauer. Wenn er den Strahl nicht zu steil ansetzte, dann müsste es gelingen. Es spritzte blassgelb über die grüne Jolle rechts, die Abu Hamid gehörte. Fast hatte er’s geschafft – der Ölfleck waberte schon von den Miniwellen, die sein Urin verursachte.

Da mischte sich ein ferner, gellender Schrei in das Glucksen der dümpelnden Boote. So schreit doch kein Esel! Farid war so irritiert, dass er nicht nur Abu Hamids blätternden Kahn, sondern auch die bunte Al-Quds von seinem Boss Wael Sharawi jäh in ein Pissoir verwandelte. Beim Ruck am Reißverschluss stellte ein schneller Blick zum Land klar, dass nicht die Spur eines Esels in der Nähe war. Auch nicht – Allah ist barmherzig! – Wael Sharawi.

Da! Wieder der gequälte Aufschrei! Lauter jetzt. Farid sah sich aufmerksam um, prüfte die Grüppchen von Fischern, denen die Sonne eine Farbe ähnlich der Aubergine in Tomatensoße von gestern Mittag aufs Gesicht gemalt hatte. Niemand wirkte alarmiert. Die Trägheit hüllte sie ein wie der Morgendunst das ausgedehnte Rund des Mina il-sharqeyja, des antiken Osthafens von Alexandria. Es roch nach Fischabfällen, Katzenkot und Motorenöl. Farids Muskeln spannten sich. Er wischte sich mit der schmierig-braunen Kopfbinde, die er meist bei seiner Arbeit im Hafen trug, im Nacken den Schweiß ab. Wenn man schuftete, war die Luftfeuchtigkeit manchmal unerträglich in Alex. Gerade wollte er sich wieder den Paletten mit Ghii-Dosen, Reis und Säcken mit Linsen zuwenden, da hörte er es wieder. Diesmal war der Laut schrill und eindeutig: »Hilf…« – der Rest des Wortes ging im Schwappen und Plätschern der schwankenden Boote unter.

Farid drehte sich jäh herum. Wo, bei Allah, kommt das her? Er hielt schützend die Hand über seine wachen braunen Augen und versuchte trotz der gleißenden Lichtreflexe auf dem Wasser auszumachen, wer da Hilfe brauchte. Vielleicht jemand zwischen den Reihen der vertäuten Jollen, auf die er gerade gepinkelt hatte? Nein, weiter draußen. Nur wo, beim Schaitan? Hinter den Ruderbooten wiegten sich zwei rostige blaue Trawler und weiter draußen eine weiße Jacht – nein, nirgends was zu sehen! Die Ader am Hals schwoll an. Das passierte Farid immer, wenn er voller Adrenalin steckte. Da musste doch jemand sein, W’in-Nabbi – beim Propheten! Jetzt war stattdessen in Fetzen Sharawis ärgerliche Stimme zu hören. Der ungeliebte Chef erinnerte ihn von Weitem mit fuchtelnden Armen, dass er noch lange nicht genug Holzpaletten geschleppt hatte, um die mageren zwanzig Pfund für heute zu verdienen. Immerhin hatte er nicht mitgekriegt, was Farid mit seinem Boot angestellt hatte. Hoffte er.

»Hilfeee!!« Diesmal war der Ruf glasklar – und an der weißen Bordwand der Jacht zeigte sich kurz ein schwarzer Körper, strampelte, stieß einen gurgelnden Ton aus und tauchte wieder in den schmalen Schatten ab, den das elegante Gefährt in der Sonne warf. Farid zögerte. Auf dem Schiff, an dessen Bordwand der klingende Name »Denise« gepinselt stand, war niemand zu sehen, dem er ein Zeichen geben konnte. Warum kommt der nicht mehr hoch? In Farids Ohren pochte es. Während er ungestüm den Reißverschluss der verschlissenen Jeans wieder herunterzippte und Flipflops und Hose abstreifte, versuchte er, sich im Bruchteil einer Sekunde die Strecke zur Jacht einzuprägen. Er musste superschnell sein. Wer auch immer da draußen um sein Leben kämpfte, hielt garantiert nicht mehr lange durch! Bloß wie? In der Luftlinie lagen etliche Boote im Weg, die ihn zwangen, im Zickzack zu schwimmen – nein, zu tauchen! Er rechnete sich genau zwei Stopps zum Luftholen aus, dann sprang er – Schei…! – genau in den bunten, schillernden Ölfleck, in den er eben so fröhlich gezielt hatte.

Egal, jalla – flott jetzt! Farid war ein guter Schwimmer, mittelgroß, breite Schultern. Oft schon war er vor der Küste vom Boot aus ins türkisgrüne Wasser gesprungen, wenn sie auf Fisch warteten und sich ewig nichts rührte. Aber normalerweise schwamm er nicht in versifftem Hafenwasser im Slalom um Fischerboote herum. Die Aktion hier – das war was anderes, ein paar Nummern größer als alles, was er kannte. Er tauchte unter mit glitschigen Algen umschlungenen Seilen durch. Dabei musste er auf ausreichend Abstände zum Luftholen achten, denn die Taue und die tanzenden Hartplastikkanister, an denen die meist grün gestrichenen Boote festgemacht waren, kamen ihm in unregelmäßigen Abständen entgegen. Etwas streifte ihn. Ratten? Dumpf machte er Stimmen am Kai aus, scherte sich nicht darum. Ein signalrotes Ausrufezeichen stand ihm vor Augen: schnellstens hin zu dieser »Denise« – auch, wenn er in der beißenden Öl- und Abfallbrühe nichts sehen konnte. Da, endlich hatte er sich in den freien Bereich um die Jacht vorgekämpft, wo das Wasser von der Sonne einen oder zwei Meter tief erhellt wurde.

Jetzt sah er den anderen. Nah jetzt. Ein schwarzer Körper. Ach so: Neopren! Was ist das denn – ein Taucher, der absäuft? Er zappelte kurz und verzweifelt, dann sank er wieder bleiern ein Stück Richtung Meeresboden. Farid musste nach oben, dringend die Lungen füllen. Dann entdeckte er es: ein dünnmaschiges Netz aus Nylon, wie es die Fischer nutzten, die am Strand auf Beute gingen. Er konnte es kaum sehen. Das Meer hatte das gefährliche Nichts vom Strand gestohlen und in den Fischerhafen gespült.

Wie ein Pelikan schnappte Farid über Wasser nach Luft und tauchte dann in kräftigen Zügen ganz nah an den Typen heran. Jetzt konnte er das Netz spüren! Er hütete sich davor, in seine Nähe zu kommen. Farid brachte sein Gesicht vor der Taucherbrille der verhedderten Gestalt in Position, wollte Blickkontakt aufnehmen. Er schüttelte den Taucher, stieß ihn an. Nichts. Null! Viel konnte er im trüben Wasser nicht erkennen und der Kerl schien ihn nicht zu sehen. Ist der bewusstlos? An der Brille hing ein Schnorchel, das Mundstück schwamm aber im Wasser. Farid packte den Verunglückten fest am Arm und rüttelte ihn verzweifelt. Der reagierte schwach – endlich! – mit einer grotesken Verrenkung des Oberkörpers. Farid stemmte sich von unten gegen ihn, aber das vermaledeite Netz hakte, jedenfalls war Zug drauf. Er schaffte es nicht, den Typen zum Licht zu heben! So also nicht. Farid musste wieder hoch – schnell! –, Luft holen. Zudem spürte er, dass ihn die Strecke zu dem Motorschiff mehr angestrengt hatte, als er dachte. Seine Muskeln waren zu Holz geworden. Wie weiter?

Eine Männerstimme ertönte von oben. Aufgekratzt gestikulierte jemand an Deck mit den Händen. Farid verstand nicht, was er sagen wollte. Er rief stattdessen laut: »Ein Messer! Schnell, Mann!« Eine milde Brise war aufgekommen, die Jacht schaukelte in der Dünung und verpasste Farid einen Mundvoll Salzwasser. Das Salz ätzte. Er musste husten. Der Taucher regte sich nicht mehr und Farid drängte heftig: »Messer! Bringt hier mal wer ein Messer?!« Es schien die Zeit eines Gebets in Würde zu dauern, bis der Kopf oben wieder erschien – endlich! Der Mann warf ein Brotmesser herunter und Farid konnte es fangen, erwischte aber die Klinge und schnitt sich in die Handfläche. Jetzt schnell – wieder runter, das Netz zerschneiden, zerren, den Kerl freikämpfen! Waren es Stunden, bis er das Gewebe endlich von der Unterseite des Schiffes befreit hatte? Als es schließlich durchtrennt war, sank der Taucher, gezogen von den Gewichten in seinem Gürtel, in die Tiefe.

Farid platzten fast die Lungen, aber er wusste, dass der ihm unausweichlich verloren ging, wenn er ihn in diesem Moment sich selbst überließ. Mann, ich schaff das nicht! Der Drang zu atmen: übermächtig! Farid zwang sich trotzdem, diesen verdammten Gürtel wegzuschneiden. Bei Allah, los doch! Wurde ihm gleich schwarz vor den Augen? Allah, Allbarmherziger! In Farids Ohren dröhnte ein Wasserfall, schmerzte – weiter, weiter, der Gürtel musste ab! Endlich gab etwas nach und beide wurden leicht nach oben gehoben, als das Gewicht runter in die Finsternis trudelte. Farid schlug kräftig die Beine zusammen, zerrte verkrampft den leblosen Körper mit nach oben – es musste einfach gelingen, es musste!

Da, endlich spürte er Licht – und Luft, so viel Luft, schöne, satte Luft! Wie ein Airbag sog er sich voll mit Sauerstoff. Farid zog und zerrte weiter an dem Neopren, seine Schnittwunde brannte höllisch, da war das Gesicht! Erst konnte er seine kalten, verkrampften Finger kaum vom Arm lösen, dann riss er an der Gummihalterung der Taucherbrille: Das Teil muss ab, weg damit, fort! Unter der Brille erschien ein Gesicht, leichenblass, die Augen geschlossen. Mann, das ist ja ein Junge! Er war kaum älter als Farid selbst. Stimmen jetzt, weit weg. Neben ihm platschte etwas ins Wasser, er schloss die Augen. Jetzt sterben, ja. Seine Arme wurden ergriffen, er war so matt, der Nebel wurde dichter, er sah … nichts … mehr.

AL-MATREI

Als er die Augen aufschlug, war er im Himmel. Er sah das cappuccinofarbene Gesicht eines etwa Fünfzigjährigen in blütenweißem Hemd, der Befehle in ein Handy bellte. Neben ihm ein Mädchen mit hellerem Teint, das ebenmäßige Gesicht gerahmt von einem kunstvoll doppelt gewickelten Schleier in Weiß und Rosa. An den Ohren blitzten brillantenbesetzte Kreolen. Farid schloss die Augen wieder. Das musste einer seiner vielen Träume sein. Er fühlte sich leicht. Er war wieder das Kind, das von Umm Sukkar, seiner Großmutter, sanft im Schoß gewiegt wurde …

Er wollte sich schon umdrehen, wie ein Kind im Schlaf, das die Beine zum Körper zieht. Er fühlte sich unendlich benommen. Langsam kehrte das Gefühl in seine puppensteifen Glieder zurück. Und Schmerz. Nein, das war nicht Umm Sukkar. Er hörte Stimmen. Eine weiche, besorgte Stimme rief nach Decken, Verbandszeug und Wasser. Eine andere gab Befehle für den Krankenwagen, kommandierte ein Auto vom Jachtclub herüber, ließ das Beiboot klarmachen.

Dieser Traum war anders als die anderen, dachte Farid diffus. Er spürte kühles, nasses Frottee auf seiner Stirn, angenehm! Seine Hand wurde mit einer beißend riechenden Salbe bestrichen und eingewickelt. Ein Schwall Rauch stieg ihm in die Nase – jemand hatte sich direkt neben ihm eine Zigarette angezündet. Farid musste husten, sein Oberkörper verkrampfte sich schmerzhaft, instinktiv würgte er an dem Geschmack von Meersalz und Motorenöl, der die Speiseröhre herauf ätzte. Er versuchte, durch Keuchen und Schlucken die widerliche Empfindung loszuwerden. Brechreiz stieg hoch. Wie in Zeitlupe richtete er sich hustend auf und wankte zur Reling – war da wer, der ihn stützte? Schon schienen unsichtbare Hände innerlich seinen Magen zu malträtieren, sodass sich schubweise mächtige Schwalle über die schneeweiße Bordwand ergossen.

Für Minuten war Farid ganz mit sich beschäftigt. Sie kamen ihm wie ganze Nachmittage vor. Dann erst ließen die Krämpfe in der Magengrube nach. Er fröstelte, obwohl die ägyptische Mittagssonne vom Himmel brannte. Eine kleine Hand mit Goldringen reichte ihm eine Plastikwasserflasche. In hastigen Zügen spülte Farid den Mund. Etwas durchzuckte seine Gedanken. Moment, war da nicht diese schwarze Gestalt gewesen? Noch immer benebelt, spulte er den dramatischen Kampf um den Taucher innerlich ab. Wo war der Junge jetzt? Wie ging es ihm? Hatte er überlebt?

Ihm dämmerte langsam, dass er, der Tagelöhner, hier gerade auf der Jacht eines superreichen Magnaten stand. Und das fast nackt und – unsäglich dreckig. Die junge Frau versuchte lächelnd, ihm mit einem nach Jasmin duftenden Handtuch das Gesicht abzuwischen. Farid wich abrupt zurück: Der Geruch von weich gespültem Leinen war das eine. Aber diese verstörende Schönheit berühren? Haraam! Er schlug die Augen nieder.

Dann sah er sich verstohlen um und bemerkte weitere Personen auf dem Schiff: Männer, die Sonnenbrillen und Bügelfalten in der Hose trugen und augenblicklich alle Befehle des Effendims ausführten. Außerdem – Himmel! – Frauen! Junge und ältere, die sich im Hintergrund hielten und ähnlich verschleiert und nobel gekleidet waren wie der Engel in weißrosa. Die Jungfrauen im Paradies? Er fühlte eine tiefe Röte vom Hals in seine Schläfen kriechen. Seine Kopfhaut prickelte. Er senkte den Kopf und blickte nach unten.

Farid erstarrte vor Scham. Seine nassen Unterhosen waren einst weiß gewesen. Inzwischen hatten sie jedoch eine bräunlich graue Farbe angenommen, denn seine Mutter konnte mit ihrem Minieinkommen nur alle paar Samstage waschen – immer dann, wenn sie eine der kleinen Plastikpackungen Waschpulver ergatterte, die es bei Fathalla manchmal im Sonderangebot gab. Seine Arme versteiften sich, er legte seine Hände vor seiner Unterhose übereinander. Wie ein Fußballer beim Freistoß. Er fühlte sich wie eine Kuh, die man am Id il-Adha mitten auf der Straße anbindet und öffentlich schlachtet.

Dann begann leise Regen niederzuprasseln. Wie? Ach was, konnte ja nicht sein. Er wurde nicht nass. Farid hob verwirrt den Blick. Applaus! Erst klappten vereinzelt Hände zusammen, dann schwoll das Klatschen an und vereinte sich mit begeistertem Johlen, das die Fischer, die am Kai eine Menge bildeten, jetzt ausstießen. Dazu trällerten die Damen an Bord ein freudiges Saghariit. Farid wandte sich mit glühendem Gesicht ab. Nun trat der Muhandis Ehab, der Jachtbesitzer, vor und steckte sein Blackberry in die Innentasche seines Sakkos. Ein Nicken mit hochgezogener Augenbraue setzte einen der Bügelfaltenmänner in Gang. Der führte Farid über das Deck zu einer weißen Tür, über eine Treppe nach unten in ein mondän gekacheltes Bad, in dem er sich waschen und einkleiden durfte. Er bekam eine dunkle Hose – mit Bügelfalte – und ein strahlend weißes Hemd. »Der Baschmuhandis bittet dich zum Tee, ja-bni«, richtete ihm ein Mann aus, der etwa so alt sein mochte wie seine Mutter, offensichtlich einer der Bediensteten. Farid sah ihn unsicher an, vermied es aber, ihm direkt in die Augen zu schauen.

»Verzeihen Sie, ja amm, aber ich möchte schnell wieder an Land. Wenn ich bis heute Abend mein Pensum nicht schaffe, wird mir der Vater der Linsensäcke nicht die vollen zwanzig Pfund zahlen. Und was sollen wir dann morgen essen? Bitte helfen Sie mir, an Land zu kommen!« Farid begann, das neue Hemd wieder auszuziehen.

»Sagen Sie dem Muhandis, dass ich ihm total danke, dass er mir die Klamotten geliehen hat und dass ich mir gern die Hose ausborgen möchte, bis ich meine Jeans wieder anziehen kann. Ich bringe sie zurück, ganz sicher!«

Der Mann sah ihn an, schweigend, staunend, mit nach hinten geschobenem Kopf – als habe man ihm erklärt, dass seine Frau gerade Fünflinge bekommen habe. Dann lachte er schallend. Farid sah ihn verwirrt an. Der Diener hielt seinen Mund an Farids Ohr und flüsterte: »Niemand, Söhnchen, niemand schlägt eine Einladung bei Muhandis Ehab Abd al-Latif al-Matrei aus, glaub mir! Vor allem dann nicht, wenn man gerade seinen Erstgeborenen vor dem Ertrinken gerettet hat!« Omar richtete sich auf und zwinkerte Farid gut gelaunt zu, während er die Arme verschränkte. Sonnenklar: Er würde hier stehen, bis er gehorchte. Farid sah ihn an, senkte den Blick, schluckte und biss sich auf die Lippen.

»Taht’ amrak, ja amm«, gab er sich geschlagen. Matrei? Das kam ihm bekannt vor. Matrei. War das nicht der Clan, von dem im Fernsehen öfter mal Mitglieder in Talkshows auftraten? Farid war es, als ob sich unter ihm eine Falltür öffnete. Er sah ein, dass er aus der Nummer nicht mehr rauskam, also folgte er nervös dem Diener in einen lichtdurchfluteten Raum.

Der Ingenieur al-Matrei saß in einer Ecke auf Polstern und übereinandergebreiteten Seidenteppichen, die tausendmal prächtiger waren als die, die Farid früher einmal in der schönen Abdal-Mursi-Moschee im Hafenviertel gesehen hatte! Farid schluckte. Als der Bedienstete ihm zuzwinkerte, trat er schließlich demütig vor al-Matrei hin, der heftig gestikulierend in sein Handy diktierte. Im Hintergrund der noblen Kajüte, neben der fast lautlosen Klimaanlage, die den Raum angenehm entfeuchtete und kühlte, stand ein jüngerer Mann. Er trug einen tadellosen schwarzen Anzug und eine Sonnenbrille, stand leicht in der Grätsche und hatte die Hände vorn übereinandergelegt. Wenn er den Kopf drehte, konnte man ein farbloses, gedrehtes Kabel entdecken, das vom linken Ohr in den Hemdkragen kroch. In einer Nische deutete ein massiger Mahagonischreibtisch mit riesigen Papierstapeln und einem laufenden Computer auf viel Arbeit hin.

»… gehen wir davon aus, in unserem Werk in Ain Sochna die Zementproduktion jährlich um dreizehn Prozent steigern zu können. – Was? – Ja, dreizehn Prozent!« Offenbar diktierte al-Matrei jemandem etwas. Zerstreut bedeutete er Farid, sich niederzulassen. »Es wird mir eine besondere Freude sein, Sie im Oktober dort begrüßen zu dürfen, um die Fusion vollends abzuklären. Mit freundlichen Grüßen und so weiter und so weiter. Ich will das morgen früh um halb acht übersetzt auf dem Schreibtisch haben!« Die Stimme des Industriellen ließ für die Sekretärin, die Farid am anderen Ende vermutete, keinen Zweifel über die Dringlichkeit der Angelegenheit. Er ließ sich geschmeidig auf die Knie nieder und hockte sich auf seine Füße, wie er es vom Beten früher gewohnt war. Die Schuhe hatte er – wie in der Moschee – vor der Tür abgestreift. Seine Hände legte Farid an die Außenseiten seiner Unterschenkel – wie ein Panther bereit, sofort aufzuspringen. Nach einer kurzen Pause drückte al-Matrei auf den Abschaltknopf seines Handys und wandte sich ihm zu. Sein Gesichtsausdruck war nun weicher.

»So, da ist ja der Retter, den der Allerbarmer uns geschickt hat. Wie heißt du, ja habiibi

Farid errötete und senkte den Blick, wie es sich gehörte. Fieberhaft versuchte er, sich an alles zu erinnern, was die Mutter ihm über Höflichkeit beigebracht hatte.

»Farid al-Kader ist mein Name, inscha’allah, ja Baschmuhandis«, hauchte Farid und rutschte beschämt auf dem Po hin und her.

»Das war ja wirklich spektakulär, wie du Mohammed aus diesem Netz rausgeholt hast, Respekt!« Farid konnte spüren, wie sich rote Flecken an seinem Hals bildeten und es in der Schlagader pochte. Er neigte den Kopf tiefer.

»Ach, das … es war doch klar, dass man da helfen muss.« Er öffnete schon den Mund, um weiterzureden, klappte ihn aber wieder zu. Es stand ihm nicht zu, vor einem Großen zu plappern.

»Wir haben alle noch geschlafen. Mohammed wollte aber unbedingt noch vor der Heimfahrt den neuen Anzug ausprobieren.« Der Geschäftsmann war aufgewühlt. Er nahm die Brille ab und hielt sie gegen das Licht, wie um zu prüfen, ob er richtig sah. »Er hat ihn erst gestern zum Geburtstag bekommen.«

»Ich bin selbst einmal in ein solches Netz verheddert gewesen, ja Baschmuhandis«, sprach Farid leise weiter. »Ich habe es aber, l’hamdulillah, gleich auf der Haut gespürt und mich befreien können. Vielleicht konnte Ihr Sohn es durch den Taucheranzug nicht spüren?«

Der Geschäftsmann nickte bedächtig und es wurde still. Dann richtete sich al-Matrei mit einem Ruck auf und rief: »Ich bin ein schlechter Gastgeber, bei Allah! Sag mir, was darf ich dir anbieten, ja habiibi?« Ein Blick und der Bedienstete kam heran. Abwehrend murmelte Farid, dass das doch nicht nötig sei. Nichtsdestotrotz baute ein kleinwüchsiger Malaysier in tadelloser Livree kurz darauf silbernes Teegeschirr vor den ungleichen Gesprächspartnern auf.

»Oder etwas Kaltes? Pepsi? Seven? Ein Schweppes lieber?«

Ein weiterer Blick ließ den dienstbaren Geist ebenso prompt und lautlos verschwinden, wie er erschienen war. Farid versuchte, die feuchten Handflächen unauffällig an der Hose abzureiben. Wie lange musste er hier noch aushalten? Unsicher suchte er durch die Bullaugen der Kajüte den Kai. Wieder biss er sich auf die Lippen. Sharawi würde ihn zu Hackfleisch machen, wenn er nicht bald kam.

»Mein Sohn, wie kann ich mich erkenntlich zeigen für die große Hilfe, die du uns erwiesen hast? Sag mir, sag es nur, was würde dir Freude machen?« Al-Matrei schien Farids Verlegenheit zunehmend Spaß zu machen und seine Laune wurde über die Maßen gut, nun, da sein Erbe vor dem sicheren Tod bewahrt war. »Mohammed kann dir im Moment nicht selber danken. Wir haben ihn ins Krankenhaus gefahren, er hatte längere Zeit einen Atemstillstand. Was aber kann ich für dich tun?« Er zog wie beiläufig ein Schweizer Taschenmesser aus der Hosentasche, gediegen und rot, mit dem typischen weißen Kreuz auf einer Seite.

»Hier, das dürfte dir gefallen.« Er streckte den Arm aus. Als Farid nicht reagierte, beugte er sich weiter nach vorne. Zögernd nahm Farid das edle Geschenk vorsichtig in die Hand, wie ein antikes Goldstück, das man im Hafenbecken gefunden hat.

»Schukran, alfe schukr, ja Baschmuhandis!«, hauchte er heiser hervor. Wohlige Schauer überfluteten seinen Rücken wie die warmen Wellen im Herbst, wenn das Meer aufgeheizt war. »Das ist zu großzügig! Danke«, wiederholte er unsicher lächelnd, während er das Messer, das bestimmt zehn eingeklappte Funktionen hatte, fast wie eine Puppe herzte. Al-Matrei ließ ein breites Lächeln über sein Gesicht flackern und blickte flüchtig zur Tür, wo der eifrige Kammerdiener mit einer silbernen Platte erschien, auf der ein Festessen arrangiert war: warmer Fuul mit Feta-Käse – geschmackvoll garniert mit Lamunhälften, daneben ein Omelette von mindestens zehn Eiern, wie es schien, Feigen und Kunääfa. Farid schluckte, sein Mund war trocken.

»Nun greif’ zu, sonst wird es kalt!«, forderte al-Matrei seinen ungewöhnlichen Gast auf.

»Schukran gasilan, ja Bääscha, vielen Dank!« Farid riss mit Appetit eines der runden Fladenbrote, die bei keiner Mahlzeit in Ägypten fehlten, in Stücke und machte sich über den Fuul her, denn er war inzwischen wirklich hungrig und der Muhandis echt nett.

»Und was wünschst du dir sonst im Leben?«, bohrte Muhandis Ehab weiter, während er sich von dem Mann im Anzug seine Zigarette anzünden ließ. Wie Blitze zuckte es durch Farids Inneres, das sich dank Omelette langsam aus der Erstarrung löste. Mit halb vollem Mund nuschelte er: »Ich wünschte, ich könnte einen Pass machen lassen, ja Bääscha. Ich möchte gern mal woanders hin.« Instinktiv spürte er, dass es wichtig war, nicht mehr als nötig zu sagen. Er hatte Träume und Ziele. Die meisten lagen hinter dem Fischerhafen, nein – hinter dem Meer: Ingenieur werden in Deutschland, Motoren bauen in Frankreich, so etwas wäre richtig cool! Der Pass war dafür nur der allererste Schritt. Aber immerhin.

»Aha! Da kommen wir der Sache ja schon näher!«, nickte der Wirtschaftskapitän wohlgefällig und ließ das Ende seiner Zigarette hell aufglimmen. »Nun, das dürfte sich machen lassen. Mal was anderes sehen als Ägypten ist eine gute Sache.« Er griff nach dem Handy, tippte darauf herum und wartete. »Hallo? Aadel? Na, wie steht’s? Wie geht es dir?« Er wartete offensichtlich die Floskel am anderen Ende ab. »Ja, Allah sei gepriesen, es geht allen gut. Mohammed ist aber im Krankenhaus. – Ja, im German Hospital. Er ist heute Morgen fast ums Leben gekommen! – Ja, Allah ist barmherzig. Al-hamdulillah. – Ertrunken, fast. – Doch, wenn ich es dir sage! – Ja. – Ja, Allah sei Dank, ja.«

Dass die Aufmerksamkeit einen Moment lang nicht auf ihm lag, nutzte Farid, um das Omelette vollständig zu vertilgen und mit dem süßen Kuchen zu begraben. Es war, als hätte ein guter Dschinn seine Geschmacksknospen berührt: Der Tee war bestimmt mit gefiltertem Wasser zubereitet und das Omelette mit richtiger Butter gebacken. Nicht wie zu Hause mit Öl, das wochenlang in Gebrauch war und dann wie Diesel schmeckte.

»Hör mal, Aadel, ich habe hier den Retter von Mohammed sitzen. –Ja. Ein junger Mann vom Hafen. Er braucht einen Pass. – Ja. Könntest du da was tun? – Danke. Ich schicke dir Abd al-Walid vorbei mit den Einzelheiten. Danke. Bei Allah, ja sicher. Sag mal, hast du am Wochenende Zeit? Ich muss dir unbedingt die Jacht zeigen. – Ja. – Nein, hier gebaut in Alex. Hör mal, wir könnten nach Nelson Island fahren und grillen. Hast du Lust auf Shrimps?« Der Muhandis lehnte sich nach hinten, zog wieder an der Zigarette, inhalierte. Farid nutzte die Chance, sich zu guter Letzt noch mit den Feigen zu beschäftigen. Seine Anspannung hatte nachgelassen. Konnte er glauben, was ihm da widerfuhr? So hatte er es sich immer vorgestellt, wenn die Mutter das Märchen von Al-ad-Din und der Wunderlampe erzählte. Vor ihm saß zwar kein Dschinn, aber einer der mächtigsten Männer des Landes und erfüllte mit einem Fingerschnipsen seine verborgenen Wünsche. Farid begann, die Reichen, wie al-Matrei einer war, mit anderen Augen zu sehen. Wenn er sich an so einen hängen und von ihm lernen könnte, wie man reich und mächtig wird …

»Allah bewahre dich. Ja, bis nächsten Freitag dann, inscha’allah, nach der Moschee. Allah sei Dank. – Danke. Allah jichalliik – Allah schütze dich. – Danke, Aadel. Rabina ma’ak – der Herr sei mit dir. Auf Wiedersehen! Gott schütze dich.« Al-Matrei schaltete das Handy aus. »So. Na, hat es geschmeckt? Was tust du so im Leben, ja habiibi? Hast du Arbeit?« Ehab al-Matrei hob die silberne Tasse zum Mund.

Farid schlug seine braunen Augen nieder und räusperte sich. »Ja, o Bäsha, danke, das Essen war total gut. Ich bin bei Wael al-Sharawi angestellt. Drüben gleich, im Fischerhafen. Ich belade Boote, die auf Fang fahren, mit Vorräten und Trockeneis. Und wenn sie wieder einlaufen, schaffe ich die Paletten mit Fisch zum Markt oder zu den Restaurants in der Gegend, ja Affandim.« Farid riskierte einen scheuen Blick auf den Ingenieur, der mit nach hinten gelegtem Kopf den Rauch langsam zur mahagonigetäfelten Decke blies. Er fing an, diesen Spross einer traditionsreichen Familie von Landbesitzern ein bisschen zu mögen. Der schien seinen Einfluss nicht so heuchlerisch geltend zu machen wie Scheich Issa, sondern offen und deutlich.

»Nun denn.« Al-Matrei schien mit den Gedanken woanders zu sein. Dann wandte er sich, ohne sich umzublicken, an den Bediensteten im Hintergrund: »Ruf im Büro an, Magdy. Ich brauche den Flug nach Dubai am Donnerstagnachmittag. Und sie sollen im Bourj buchen.«

»Haadir, ja bääscha.« Der Angesprochene verneigte sich leicht und ging mit federnden Schritten hinaus, das Handy schon am Ohr. Farid überlegte. Sollte er sein Gegenüber um einen Job bitten, oder hieße das, sein Schicksal herauszufordern? Und um welche Arbeit könnte er überhaupt bitten? Als würde er etwas ahnen, nahm ihn al-Matrei wieder mit wachem Blick ins Visier.

»Bist du zufrieden bei al-Sharawi? Gefällt dir die Arbeit?«

»Allah sei Dank, wir sind zufrieden.« Kaum waren ihm die Worte entschlüpft, hätte Farid sich ohrfeigen können. Ich ghalban, ich Depp!, dachte er. Das wäre die Chance gewesen!

»Nun, das freut mich. Ich hätte da …« Nach einem kurzen Blick auf seine Breitlingarmbanduhr zog er die Augenbrauen hoch und erhob sich. »Du kannst auch bei mir arbeiten, wenn du willst. Komm nach Bourg al-Arab und halte dort meine Autos sauber.« Was? Farid fühlte sich, als habe ihn einer der Kaleschengäule, die vor Qaitbey auf Kundschaft warteten, in die Magengrube getreten. Nobelkarossen polieren? Autowäscher? Nein danke – so sah sein Traum weiterzukommen nicht aus! Außerdem war er Fischer. Durch und durch alexandrinischer Fischer – wie sein Vater und der Vater seines Vaters. Nur, dass er eben im Moment andere Arbeit hatte. Es prickelte heiß unter seinem Haaransatz, diesmal vor verletztem Stolz.

DER HELD

»Wo, beim Propheten, hast du dich herumgetrieben, ja Farid? Die Makaruuna sind kalt, jetzt muss ich wegen dir das Feuer noch mal anzünden!« Farids Mutter rückte sich das schwarze Kopftuch zurecht, das ihr beim Kochen in den Nacken gerutscht war, bis kein Härchen mehr zu sehen war. Sie zündete auf der offenen Feuerstelle im Raum umständlich das Feuer an und rührte dann mit einem groben, handgeschnitzten Holzlöffel in einem schwarz verkrusteten Topf. »Ja Farid?« Ihr Ton klang verärgert.

»Ja, Mutter. Ich habe … ich musste … also …«

»Na, was jetzt? Was druckst du so herum? Du hast doch wieder was ausgefressen!«

»Nein, Mutter. Nein. Es war so, ich war grad dabei, Kisten zum Kahn von Amm Omar zu bringen, als ich was hörte.«

»Was hörte? Im Hafen ist doch immer was los. Was willst du da gehört haben?« Sie begann, eine rötliche Soße auf einen Blechteller zu füllen, in der wie bleiche Maden fahlgelbe Makkaroni schwammen. Es roch süßlich nach angebrannter Tomatensoße. »Mutter! Jetzt unterbrich mich doch nicht dauernd! Wie soll ich erzählen, wenn du immer dazwischenredest«, knurrte Farid. Der Kontrast zwischen ihm, der hochgewachsen und drahtig war, und der untersetzten, rundlichen Mutter war frappierend. Farid stellte mehrere knisternde Tüten in dem Wohnbereich ab, der als Küche galt. »Also, ich hörte wen schreien, jemanden in Not, bei Allah, aber ich konnte ihn erst nicht sehen, weil …«

Seine Mutter hatte begonnen, den Inhalt der Taschen zu inspizieren und schrie erschreckt auf. »Farid! Was denkst du dir! Den teuren Bolti?! Acht Stück! Ist denn ein Dschinn in dich gefahren? Das ist ein Vermögen! Und Zucker, du Sohn einer Kröte! Du hast unser gesamtes Erspartes ausgegeben – was tu ich bloß mit dir!«, rief sie weinerlich und legte die Hände an die Schläfen.

»Aber, Mutter, bitte hör doch zu!« Farids Mund verzog sich zu einem Strich und seine schmalen Nasenflügel in dem klassisch geschnittenen, braun gebrannten Gesicht wurden weiß und breit. Seine Mutter war wieder mal in ihrer eigenen Welt und wollte ihn nicht verstehen. »Also, ich bin da rausgeschwommen zu einer Jacht. Da wollte jemand tauchen, hat sich aber verheddert.«

»Verheddert? Wie denn verheddert?« Seine Mutter wischte einen Blechlöffel an ihrer weiten schwarzen Abeyja ab und steckte ihn zu den Makkaroni in den Teller, während sie Farid zum ersten Mal aufmerksam musterte. Das Essen dampfte in der zugigen Behausung im vierten Stock eines Neubaus im Stadtteil Anfushi. Man hatte ihn im Rohbau gelassen, weil das Geld für weitere Stockwerke fehlte. Die offenen Seiten waren mit roten Klinkersteinen vermauert worden, aber es war nichts verputzt. Der Bawwääb war der Cousin zweiten Grades seiner Mutter und ließ sie hier illegal mit ihren Kindern hausen, solange nicht weitergebaut wurde.

»Hier, mein Sohn, iss!« Sie schob Farid den Teller über den wackligen Küchentisch, dessen weiße Farbe abblätterte.

Farid war noch erfüllt von seinem Erlebnis – und vom Omelette. »Da war so ein Netz, weißt du, von den Strandfischern. Das ist wahrscheinlich ins Meer abgedriftet und dann in den Hafen reingetrieben worden …«

Jetzt wurde die Tür geöffnet und es erschien Rami, Farids Cousin und Freund. An einem Arm hing lässig der rote Sturzhelm seiner Vespa und über dem anderen türmten sich vier große Pizzaschachteln. »Hallo, Team! Wie geht es Ihnen, Umm Farid? Ja raagil, hey Mann, was läuft?« Mit seinem immer breiten Grinsen und den gegelten Haaren stapfte er zum Küchentisch, um seine Pizzaschachteln abzuladen, wobei er fast den Blechteller mit den Nudeln herunterfegte.

Umm Farid konnte ihn gerade noch auffangen und zog die Augenbrauen zusammen. »Was, bei Allah, ist denn jetzt wieder los, Rami? Jetzt bringst du auch noch so teure Sachen! Was ist nur in euch gefahren?« Umm Farid schüttelte den Kopf, sah vom einen zum anderen und stemmte die Hände in die breiten Hüften.

»Allah bewahre Sie, Umm Farid, es ist höchste Zeit für eine Party! Ihr Sohn ist heute Vormittag zum Helden geworden!« Rami grinste noch breiter, klatschte Farid auf Augenhöhe in die Handfläche und beide verhakten danach ihre Fäuste ineinander. Ja, so war Rami: selbstsicher, sprühend vor Energie, ideenreich und immer gut gelaunt. Farid, der selbst vor anderen eher scheu war, bewunderte ihn dafür von ganzem Herzen. Außerdem war Rami schon neunzehn, ein Jahr älter als er.

»Leute, esst Pizza! Pizza, so viel jeder essen kann! Die wird kalt. Und hört die Geschichte des großen Farid, des Vaters aller Rettungsschwimmer!«, rief Rami laut. Innerhalb weniger Sekunden erschienen zwei Köpfe im Türrahmen: einer verhüllt mit khakigrünem Schleier, der andere mit krausen, kurz geschorenen Haaren. Seine Schwester Zeina und sein jüngerer Bruder Hassan hatten sich von ihrer Seifenoper im Nachbarzimmer losgerissen, wo es außer zwei müffelnden Matratzen ohne Bettlaken und einem Fernseher aus der Steinzeit keine Einrichtungsgegenstände gab. Sie wussten nicht, was sie zuerst wollten: eine Erklärung für die Party oder die italienische Köstlichkeit von Rami, der bei Pizza Hut als Fahrer arbeitete. Die beiden stießen Freudenschreie aus.

Umm Farid ließ sich breitbeinig auf eine hochkant stehende Holzkiste nieder und rieb sich die Augen. Sie war müde nach einem langen Tag harter Arbeit als Shaghala, die Füße taten ihr weh und sie sehnte sich danach, ebenfalls vor dem Fernseher auszuruhen. »Also, Umm Farid, Ihr Sohn ist ein Held, denn er hat den Sohn von Matrei gerettet – Sie wissen schon, Matrei, der Multimillionär, dem die Zementfabriken gehören.«

Umm Farid war froh zu sitzen, denn das Zimmer fing an, sich zu drehen.

»Ist das der, den wir immer im Fernsehen sehen, wenn sie was über Wirtschaft bringen?«, mischte sich nun Hassan ein. Er musste Pizzateile in den Backen verschieben wie ein Hamster, damit man ihn verstehen konnte.

»Ja, Farid hat Mohammed, den Sohn, also den Erben, gerettet«, fuhr Rami begeistert fort und rührte dabei heftig mit den Armen in der Luft. Farid sagte nichts, zog aber zufrieden seine Mundwinkel herab. Ja, es war eindeutig besser, wenn das jemand anderes erzählte. Die Mutter nahm ihn nie ernst, außerdem konnte er nicht so flüssig sprechen wie Rami.

»Dann haben ihn Matreis Bodyguards im Beiboot zum Hafen rübergefahren und alle Fischer haben geschrien, richtig gejubelt haben sie für Farid! Sogar dem al-Sharawi stand der Mund offen«, erzählte Rami weiter. »Dann kam ein lackschwarzer Mercedes vom Jachthafen rüber und Farid durfte einsteigen – hinten, wie die feinen Pinkel!« Wie gebannt hörten ihm alle zu. »Wo bist du dann eigentlich mit denen hingefahren, Farid?«, fragte ihn Rami.

»Du bist in einem echten Mercedes gefahren, ehrlich?«, entfuhr es Hassan, der so große Augen machte wie der tote Fisch in Farids Einkaufstüte.

»Ja, das stimmt. Die haben mich gefragt, wo ich hinwill. Was einkaufen und so. Ich kann haben, was ich will, haben sie gesagt, Matrei bezahlt das. Da hab ich gesagt, in die Manschijja«, sagte Farid.

»Was, in die Manschijja nur? Aber wieso? Du hättest dich doch locker nach San Stefano bringen lassen können! Mal so richtig losshoppen!« Rami hatte die Stirn in Falten gelegt und sah fast böse aus. Vor seinem inneren Auge sah er wahrscheinlich die Schickimicki-Boutiquen der mondänen Shopping-Mall in San Stefano mit all den Dingen, die er sich selber wünschte: die coole Armani-Sonnenbrille und Timberland-Boots … Er hätte sich die Gelegenheit bestimmt nicht durch die Lappen gehen lassen. Farid wurde rot und wusste nicht recht, was er entgegnen sollte. Er verschränkte die Arme. »Ja’ni, ich hätte gar nicht gewusst, was ich in San Stefano machen soll. Ich war da noch nie drin. Außerdem wusste ich ja nicht, woran der Effendim gedacht hat. Ich wollte es … na ja, ich wollte es eben nicht übertreiben.«

Farid erinnerte sich, wie unwohl er sich in dem gepflegten Auto gefühlt hatte. Er hatte gespürt, dass das nicht seine Welt war und sich gewünscht, es wäre jemand bei ihm, den er kannte. Auf dem Markt kaufte er dann neue Abeyyen für seine Mutter und Schwester – die teuren, dunklen, mit den ausladenden Strass-Stickereien an Ärmeln und Brust. Für sich eine Kunstlederjacke, innen mit Teddyfutter und hinten mit Harley-Davidson-Emblem. Sein Traum! Denn im Winter fror er immer, wenn er hart gearbeitet und geschwitzt hatte. Jeans noch für sich und Hassan – das war schwer, weil er nicht wusste, was für eine Größe der hatte. Dann hatte er – das erzählte er aber nicht – zweimal Unterwäsche für Zeina gekauft, einmal in Feuerrot und einmal in Türkis. Er war ja nach dem Tod des Vaters für die Familie verantwortlich, auch für geheime Sehnsüchte, dachte er und wusste, dass Zeina sich so was wünschte. Bisher war es aber unerreichbar gewesen.

Farid griff in eine kleinere, edel aufgemachte Tüte aus festem Papier, das beim Anfassen knisterte, und holte zwei Kästchen hervor, die mit blauem Plüsch ausgeschlagen waren. In der Sharia Faransa waren innerhalb des Labyrinths aus engen Gassen mit Waren und Düften und Farben und Kitsch auch die Juweliere gewesen. Farid ließ die Deckel beider Kästchen vor seiner Mutter aufschnappen und ihr »Oh!« ließ alle erstarren. Auch wenn die beiden filigranen Goldreifen im Licht der nackten Glühbirne, die an einem schmutzigweißen Kabel voller Spinnweben herabbaumelte, nicht so zur Geltung kamen wie in der Auslage des Goldhändlers, so funkelten sie doch überirdisch. Mit theatralischer Geste zog Farid einen der Reifen aus seiner Verankerung im Kästchen und trat neben seine überarbeitete Mutter, die mit sechsundvierzig schon fast aussah wie sechzig. Ungelenk schob er den abgewetzten Ärmel zurück und streifte den Reif über ihre Hand. Er trat einen Schritt zurück, wie um ein Kunstwerk zu bewundern. Nun fehlten selbst der Frau des verschollenen Fischers Hassan, die sonst nicht auf den Mund gefallen war, die Worte. Der Blick, den sie Farid zuwarf, war voller Freudentränen.

»Supercool, Mann! B’gadd, echt!«, zollte nun auch Rami, der als Erster seine Sprache wiedergefunden hatte, seinem Vetter Respekt. Darauf wäre er nicht gekommen: etwas so Wertvolles zu kaufen – für jemand anderen!

»Zeina, ta’ääli, komm mal her!«, rief Farid jetzt mit dem Beben der Vorfreude in der Stimme. Seine Schwester hatte die Szene hinter dem Türrahmen beobachtet und kam, fast schwebte sie herein, mit gesenktem Blick und roten Wangen, die Hände auf dem Rücken. Draußen begann der Muezzin, blechern aus einem Lautsprecher an der Hauswand den Gebetsruf zu plärren. »Schau, dein großer Bruder hat dich nicht vergessen!«, verkündete Farid, der den Moment auskostete. Er zog den zweiten, mit drei kleinen Granatsteinen verzierten Reifen aus dem blauen Kästchen. Als er ihn seiner fünfzehnjährigen Schwester überstreifte, fühlte er sich wie ein Scheich aus dem Golf.

Auch Zeina war überwältigt. Nach einer Pause warf sie erst Rami einen scheuen Blick zu, dann schlang sie schnell die Arme um Farids Nacken und drückte ihm einen scheuen Kuss auf die Wange. Wer hätte gedacht, dass er, der arme Tagelöhner, der nicht einmal das Geld für einen Pass oder die Nachhilfe hatte, damit Hassan zur Schule gehen konnte, seine Familie einmal mit solchem Reichtum überschütten würde! Sein Herz war Dynamit, der Sprengung nahe. Und da war noch mehr – und dieses Mehr konnte er in Form eines Bündels Geldscheine in seiner Hosentasche betasten. Daneben spürte er das kühle Metall des Taschenmessers und das war das Größte.

Es war, als fiele heute ein Riesensack von seinen Schultern ab. Denn »seine« Frauen waren jetzt versorgt, das hätte er mit seinem mageren Lohn in Jahrzehnten nicht zustande gebracht.

»Hey Mann, das ist … das ist echt krass! Hätte ich nicht gedacht, Mann, echt, dass du so was machst!«, erklärte Rami bewundernd und löste den dramatischen Moment auf. »Hör mal, wir müssen das unbedingt noch im Café drüben feiern, okay?« Rami war in seinem Element, wollte organisieren, die Party anschieben. Er schnappte sich den Helm und sah Farid erwartungsvoll an. »Du kommst doch mit, Bruder, oder? Erzähl mir nicht, dass du müde bist oder so einen Scheiß, klar? Heute kannst du nicht auf der Bude bleiben, verstanden?« Rami musste immer wieder dagegen ankämpfen, dass Farid so scheu war. Heute würde er ihn auf keinen Fall vom Haken lassen. »Also, kommst du mit?«

Farid wollte Rami nicht enttäuschen. Er hätte sich zwar lieber allein auf eine der speckigen Matratzen zurückgezogen und den Film mit allen Erlebnissen dieses unfassbaren Tages vor seinem inneren Auge abspulen lassen. Aber er wusste, dass er sich das nicht erlauben konnte. Seine Freunde und Bekannten warteten sicher schon im Café »Mo’min«, etwas weiter die Corniche hinunter und dann rechts rein, im Stammlokal. Bestimmt brannten schon alle darauf, die Einzelheiten der Rettung des Matrei-Erben von Farid selber zu hören, um sie später – in ihrer eigenen Fassung – allen Verwandten und Neugierigen weiterzuerzählen. Farid befühlte instinktiv noch mal den Packen, der, mit einem Gummiband gesichert, seine rechte Hosentasche ausbeulte. Ja, er konnte was springen lassen, heute schon.

»Farid, darf ich auch mit? Ach, bitte, nur heute!«, bettelte Hassan.

»Ja Hassan, du bist noch zu klein! Das ist was für die Männer«, sagte Umm Farid streng und Farid hörte deutlich Stolz und Anerkennung heraus.

»Doch, ja Hassan, du darfst mit, wenn du willst. Aber kein Blödsinn, klar?«, widersprach Farid und beanspruchte damit die Rolle des Familienoberhaupts.

Umm Farid öffnete den Mund, schloss ihn aber wortlos wieder und holte stattdessen die Fische aus der Tüte und schlug sie in nasses Zeitungspapier. Hassan strahlte und ging schnell, das gute T-Shirt anziehen. Im Nebenzimmer hörte man Seidenpapier rascheln. Dann – ein Kichern.

HOHER BESUCH

Farid schlich auf Zehenspitzen in die Wohnung. Er hatte heute elend malochen müssen, weil Sharawi ihn auf dem Kieker gehabt hatte. Seine Schulter pochte schmerzhaft an der Stelle, auf der immer die schweren Holzkisten zu liegen kamen. Jetzt war es schon halb fünf nachmittags, aber noch immer heiß und drückend wie in einem Dampfbad. Die anderen wälzten sich auch schweißgebadet auf den Matratzen. In Gedanken überlegte er, was er heute noch erledigen musste. Er sollte mit Hassan wegen einer Tetanusspritze ins Krankenhaus. Er war gestern in eine rostige Blechdose getreten, als er bei den Werften im Müll gespielt hatte. Im Hospital der Muslimbrüder musste man nichts dafür zahlen. Anschließend sollte er Kartoffeln vom anderen Suq holen, denn die Mutter hatte von Umm Soliman, der Nachbarin, gehört, dass sie dort zwanzig Qirsch billiger waren, konnte aber die schweren Tüten nicht schleppen.

Was war denn das? Aroma von Kaffee, von echtem, importiertem und aufgebrühten Bohnenkaffee wehte ihm entgegen! Kaffee, der nur an Festtagen in einem Espressokännchen zubereitet wurde. Er trat neugierig in die Küche und begriff sofort, dass seine Mutter beobachtete, wie Hassan, der kleine Bruder, sich ehrfürchtig mit einem männlichen Gast unterhielt, den er nur von hinten sehen konnte. Dem Besucher war der einzige, einstmals weiße Plastikstuhl angeboten worden. Umm Farid hatte die Holzkiste herangerückt und in Tässchen verschiedener Größe den Kaffee kredenzt, bevor sie sich unsichtbar gemacht hatte. Als er näher kam, sah Farid, dass ein weiterer Mann hinter dem speckigen Stuhl stand, sich aber nicht am Gespräch beteiligte.

Farid erkannte Scheich Issa Ibrahim Abd ar-Rachman sofort wieder. Fetzen von Erlebtem schossen wie Blitze durch seinen Sinn. Der Jüngere war sein Diener und Begleiter, eine Rolle, die er vor nicht langer Zeit gern und mit Hingabe selber eingenommen hätte. Ein kurzer Schwindel befiel ihn, aber er riss sich zusammen. Was kann der Scheich bloß von mir wollen?, überlegte er fieberhaft. Wegen Mutter war er sicher nicht gekommen.

»Ja Farid, ja habiiiiibi!«, grüßte der Gottesmann auch schon dröhnend und wohlwollend zugleich und wandte sich mit leicht geöffneten Armen Farid zu. Seine Augen waren klein und hinter einer vorsintflutlichen Hornbrille mit milchigen Gläsern kaum mehr zu erahnen. Auf dem Kopf trug er einen Turban. Ein blütenweißer Strang Baumwolle war sorgfältig rund um ein Innenteil aus rotem Plüsch gewunden. Auf der Stirn war eine taubeneigroße Stelle dunkel verfärbt, fast wie ein Geschwür: So konnte jeder gleich sehen, wie gottesfürchtig der alte Mann war, denn vom vielen Beten war die Haut abgeschürft und rau geworden. Sein schlohweißer Bart stand zipfelig nach vorn ab.

»As-Salaamu alaikum, mein Sohn«, grüßte der alte Mann nochmals. Farid sah die strahlende, fleckenlos weiße Gallabijja, die die Knöchel großzügig freiließ und einen Blick auf die langen, baumwollenen Unterhosen in der gleichen Farbe gestattete. Ihm fiel wieder ein, dass der Koran ein Obergewand verbot, das die Knöchel bedeckte, und blickte schuldbewusst an sich herunter: Er trug normale Jeans und scherte sich schon lange nicht mehr um die unzähligen Gebote der Muslimbrüder, an denen sie leicht zu erkennen waren. Heute aber hatte der Scheich ihn überrumpelt.

»Wa alaikum As-Salaam, ja Sheikh al Shuyuch«, sagte Farid und küsste die porzellanfarbene faltige Hand des Geistlichen, die auf einem Stock ruhte, dessen gewundenes oberes Ende aussah wie ein gekochter Hühnerhals. In seinem weit geschnittenen, dunkelbraunen Umhang mit den goldbestickten Seiten war er eine imposante Erscheinung.

»Ihr Besuch ehrt uns sehr«, bemühte Farid artig die übliche Willkommensformel und versuchte, die Kiste mit den Kaffeetassen noch komfortabler in Reichweite des Scheichs zu bringen.

Beim Schaitan, was will der von mir?, dachte er. Farid hatte angenommen, man wisse, dass er mit der Phase, in der er glühender Verehrer von Sayyid Qutb, einem Altersgenossen und Cousin des Scheichs war, durch war. Diese Nummer hier kann nur schiefgehen. Allah schütze uns!

»Mein Sohn, wie geht es denn so dieser Tage? Man hört ja höchst aufregende Dinge von dir«, nuschelte sein ehemaliger Koranlehrer ihm freundlich zu. Farid fiel zum ersten Mal auf, dass er die fauligen Zähne des Scheichs riechen konnte. Ohne seine Antwort abzuwarten, fuhr dieser fort: »Möge der Allbarmherzige dir und deiner Familie Gesundheit, langes Leben und Erfolg zumessen! Möge er euch segnen, bewahren und auf dem richtigen Weg leiten!« Farid war nicht mehr wie früher beeindruckt von den vielen ausufernden Segensformeln, die unter den Brüdern gebräuchlich waren.

Ihm fiel unangenehm auf, was ihn schon damals gestört hatte, er aber in seiner Zeit bei den Brüdern nicht hatte benennen können: Der Imam sprach die arabische Hochsprache. Denn Allah hatte den Koran auf Arabisch offenbart. Als normaler, nicht gebildeter Ägypter verstand man die Brüder aber kaum. Besonders, wenn sie über geistliche Dinge sprachen (und das taten sie ständig), verlieh ihnen das einen arroganten Tonfall. Alle Zuhörer waren meist voller Ehrfurcht, auch wenn sie nur die Hälfte kapierten. Aufgeblasener Gockel!, dachte Farid. Mit deinem hochgestochenen Gesäusel kannst du das Volk beeindrucken, aber mich nicht mehr!

Umm Farid hatte sich gleich zurückgezogen, als der Scheich erschien, weil man wusste, dass die Scheichs das Gespräch mit – ja, die Gegenwart von Baaba