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  Susanne Kellner– Du hast mich auf den Kopf gestellt | Überleben mit einem besonderen Kind– SCM Hänssler

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ISBN 978-3-7751-7217-2 (E-Book)
ISBN 978-3-7751-5590-8 (lieferbare Buchausgabe)

Datenkonvertierung E-Book:
CPI – Ebner & Spiegel, Ulm

© der deutschen Ausgabe 2014
SCM Hänssler im SCM-Verlag GmbH & Co. KG ∙ 71088 Holzgerlingen
Internet: www.scm-haenssler.de ∙ E-Mail: info@scm-haenssler.de

Die Bibelverse sind, wenn nicht anders angegeben, folgender Ausgabe entnommen:
Neues Leben. Die Bibel, © der deutschen Ausgabe 2002 und 2006
SCM R.Brockhaus im SCM-Verlag GmbH & Co. KG, Witten.

Umschlaggestaltung: Kathrin Spiegelberg, Weil im Schönbuch
Titelbild: www.fotohaustrefzger.de
Satz: typoscript GmbH, Walddorfhäslach

Meinem Mann, dem größten aller Helden.

INHALT

Einleitung

Schneller Blitz

Ermutigungsbrief

Die Löffelliste

Ein- und ausatmen

Kinderklinik

Believe!

Überraschung

Spielplatz

Liebe dich selbst!

10 Pekingente

11 Villa Kunterbunt

12 Berufung?!

13 Morbus Hodgkin

14 Träume in der Warteschleife

15 Kinderkrebsstation

16 Wendypunkt

17 Himmelsnah

18 Weiterspinnen

19 Kleine große Schwester

20 Die Verherrlichung Gottes

21 Neuer Alltag

22 Lisa

23 Erster Orgelunterricht

24 Am Zenit der Zerbrechlichkeit

25 Solche und solche

26 Flügel

27 Handeln »als ob«

28 Ein Jahr danach

29 Orgelnacht

30 Oase

31 Improvisation(stheater)

32 Sozialstaat

33 Ich bin mein eigener Star

34 Heldin des Alltags

35 Finsternis

36 Gott ist gegenwärtig

37 Innehalten

38 Gestärkt werden

39 Gethsemane

40 »I’m singing in the rain«

41 Ein Trauerfall

42 Gefängnis

43 Selbst ist die Frau

44 Liebe

45 Oh, wie schön ist Deutschland

46 Von »B« nach »A«

47 Vom Dazwischen

48 Kinästhetik-Kurs

49 Psycho? – Logisch!

50 Nackt

51 Fundgrube

52 Ein Carpe diem der besonderen Art

53 Frühstückskonzert

54 Achterbahnfahrt

55 Rhythmus

56 Marathon

Nachwort

Danksagung

Anmerkungen

EINLEITUNG

»Wie geht man mit so etwas um?«, werde ich häufig im Vorbeigehen oder auch bei einer Tasse Kaffee gefragt. Ehrlich gesagt, meistens schreibe ich lieber, als mich unter Menschen zu begeben. Denn ich bin gern allein. In der Einsamkeit versuche ich, meine Gedanken- und Gefühlsstürme zu ordnen. Auf diese Weise ist dieses Buch entstanden. Über einen Zeitraum von sechs Jahren schildere ich die Höhen und Tiefen meines Lebens mit Jonathan, unserem schwerbehinderten Kind mit begrenzter Lebenszeit. Jonathan, der mich mit seinem Sein und seiner Erkrankung unwiderruflich auf den Kopf gestellt hat! Dabei habe ich viele bunte Mosaiksteine gesammelt: was mich ermutigte und tröstete, zum Weinen und zum Lachen brachte, wie Gott immer leise und liebevoll seine Finger im Spiel hatte.

Wenn Sie dieses Buch lesen, lassen Sie sich auf eine emotionale Achterbahnfahrt aus Erschütterungen und Fragen ein: Fragen, die in manchen Zeiten nie enden zu wollen scheinen. Fragen, auf die es keine Antworten gibt. Es wird unschwer zu erkennen sein, dass ich noch immer mittendrin stecke in einem Prozess, dessen Ausgang sich nur vermuten lässt. Mittendrin stecken bedeutet in diesem Zusammenhang auch, die Spannung, sich selbst treu zu bleiben und gleichzeitig verändert zu werden, auszuhalten.

Dennoch oder vielleicht gerade deshalb möchte ich Sie einladen, sich mit mir auf die Reise zu machen. Wer hat sich noch nie über den einen oder anderen »Rat-Schlag« geärgert? Wer hat noch nie über sich selbst gelacht? Wer hat sich noch nie gezwungen gesehen, über sich selbst hinauszuwachsen? Welche Geschichte gleicht einem neuen Hemd, frisch gewaschen und glatt gebügelt? So traurig und schmerzhaft Ereignisse sein mögen, sie ändern nichts an der ihnen zugrunde liegenden Wahrheit: Selbst in seiner Zerbrechlichkeit bleibt das Leben unsagbar schön und wertvoll! Mögen sich eines Tages alle Mosaiksteine zu einem einzigartigen, wunderbaren Bild zusammensetzen!

SCHNELLER BLITZ

»Tor! Tor!« Mein vierjähriger Sohn ist restlos begeistert. Mühevoll zieht er seinen grünen Rollator hinter sich her, um genug Halt zum Stehen zu haben. Seine kranken Beine schlittern mehr, als dass sie laufen.

Dennoch hat er es wieder einmal geschafft. Der Fußball fliegt über das Hofpflaster und landet vor dem hohen Zaun zum Nachbargrundstück. »Tor!«

Jonathan ist Spastiker; körperbehindert oder, wie in den Durchsagen auf den Gleisen der Deutschen Bahn formuliert, ein Mensch mit »Mobilitätseinschränkung«. Wenn ich den Rollstuhl und meine Joggingschuhe zusammendenke, kommt mir Gott irrsinnig ironisch und skurril vor. Nein, natürlich sind Behinderungen nicht witzig. Doch ich frage mich seit Langem und immer wieder: Be-hinderung – worin besteht diese eigentlich? Welcher Mensch auf dieser Welt lebt gänzlich ohne Einschränkung?

Im Alter von drei Jahren war Jonathan der festen Überzeugung, er müsse nur seine Jogginghose anziehen, um mit mir durch den Wald laufen zu können. Weit gefehlt. Doch welche Mutter bringt es übers Herz, ihrem gutgläubigen Jungen diese Hoffnung zu nehmen? Eines Tages kommt Jonathan freudestrahlend vom Kindergarten. Er heiße ab jetzt nicht mehr Jonathan, sondern nur noch »schneller Blitz«. Neugierig frage ich nach, was es damit auf sich habe. Für eine Kunstausstellung beschäftigen sich die Kinder mit Hundertwasser. Der berühmte Künstler hat sich selbst den Namen Friedensreich Regentag Kunterbunt Hundertwasser gegeben. Deshalb durfte jedes Kind einen Künstlernamen für sich suchen.

Ich denke an unser gemeinsames Training im Fitnessstudio. Jonathan marschiert so gut er kann bis zu dreißig Minuten in einem Tempo von 0,8 km/h auf dem Laufband. Ohne Rollator und Rollstuhl käme er außer Haus keine vier Meter. Schneller Blitz. Ist das nicht übertrieben? Wenn nicht ein Wunder geschieht, wird dieser Junge nie ohne Hilfsmittel gehen können und schnell sowieso nicht. Was für eine lebensbejahende und mutige Namensgebung! Ich bin schwer beeindruckt! Seit Wochen sind ihm seine Einschränkungen mehr als bewusst. Sie schmerzen ihn. »Mama, warum habe ich kranke Beine?« – In seinem Selbstverständnis ist und bleibt er dennoch der »schnelle Blitz«.

Die Identitätsfindung meines Kindes berührt mich tief. Im Leben geht es um viel mehr als um eine originelle Namensgebung oder eine realistische Selbsteinschätzung. Ich habe keinen Zweifel: In Gottes Augen ist Jonathan der über alle Maßen geliebte, wunderbar geschaffene schnelle Blitz. Wie oft sehe ich meine menschlichen Defizite, das, was ich tatsächlich bin, im Vergleich mit anderen, mit dem, was ich wünschte zu sein! Wie oft sehne ich mich danach, unerschütterlich, festen Herzens in Gottes Wahrheit zu leben! Wir sind Gottes geliebte Kinder!

Die Namensgebung eines großen Künstlers hat Kinder dazu motiviert, über ihr Selbstverständnis nachzudenken. Annahme und Liebe drücken sich in den faszinierenden Namen aus, die sie für sich finden. Mich dagegen quälen manchmal Fragen, wie andere mich beurteilen oder was ich selbst von mir halten soll. Ich glaube, ich habe meine Behinderung im Kopf! Mein Sohn ist mein Vorbild! Was für ein Geschenk, dass er aller Nüchternheit zum Trotz beschlossen hat, der schnelle Blitz zu sein! Welchen Künstlernamen würde ich wählen?

ERMUTIGUNGSBRIEF

Eigentlich habe ich Deutsch und Französisch auf Gymnasiallehramt studiert und als Lehrerin gearbeitet. Nach der Geburt meines zweiten Kindes blieb dafür kein Freiraum mehr. Jetzt sitze ich mit einem behinderten Kind und einem einjährigen Energiebündel namens Matthea im zweiten Stock eines heruntergekommenen Altbaus.

Mein Mann ist Pfarrer. Wir haben Residenzpflicht in der Pfarrwohnung, die sich im zweiten Stock über den Gemeinderäumen befindet. An Ausgang ohne Begegnung mit diversen Gemeindemitgliedern ist nicht zu denken.

Natürlich haben viele Menschen Ideen, was ich als Pfarrfrau zu tun und zu lassen habe. Aber das reißt mich bei aller Liebe zu Jesus nicht vom Hocker. Ich bin nicht zufrieden und keiner kann etwas dafür. Werde ich die nächsten Jahre meines Lebens damit fristen, meinem Mann den Rücken frei zu halten, die Kinder großzuziehen und Jonathan den bestmöglichen Start in eine wenig integrativ denkende Gesellschaft zu gewährleisten? Viele berufstätige Turbo-Frauen, die augenscheinlich alles – Beruf, Haushalt, Kleinkinder – unter einen Hut bekommen, obwohl der Mann nie da ist, können nicht nachvollziehen, was ein besonderes Kind an Kraft und Aufwand kostet. Mit den eingefleischten Vollblutmüttern – »Ein Lächeln meines Babys nach einer durchwachten Nacht, und alles ist wieder gut« – konnte ich mich noch nie identifizieren. Ich brauche meinen Schlaf zur Gute-Laune-Garantie.

Natürlich habe ich Respekt vor berufstätigen Müttern, und vor Müttern und Hausfrauen aus Überzeugung nicht weniger! Jeder muss seinen eigenen Weg finden. Aber wo ist meiner? Und gibt es hier jemanden, der mich meint und sieht? Gott, du weißt doch, dass ich Kuchen backen und Basteln hasse. Schaust du von oben zu, wie mein Gehirn vor geistiger Unterforderung einrostet?

Eines Tages komme ich nach Hause und habe die üblichen Erledigungen hinter mir. Auf der giftgrünen Treppe im Stil der 70er-Jahre liegt ein DIN-A5-Umschlag, adressiert an »SANNE KELLNER«, umrahmt von orangefarben leuchtenden Streifen. Was für eine gelungene Überraschung! Ich liebe Briefe! Was ich zu lesen bekomme, treibt mir Tränen der Rührung in die Augen.

Sie sind eine ganz und gar bezaubernde Person und Lehrerin. So eine hätte ich selbst immer gern gehabt! Ich werde nie vergessen, wie Sie an jenem ersten Elternabend das Klassenzimmer betraten, um sich vorzustellen! Das war so ungemein herzerfrischend und Energie spendend, ich war ganz hingerissen. Ich habe das Bedürfnis, Ihnen etwas von der wunderbaren Energie und Wärme, die Sie ausstrahlen, zurückzugeben und möchte Sie gerne mit zwei Tickets einladen zu einer meiner Vorstellungen. Mit herzlichsten Grüßen, Mama von A.

Mir wird schwindelig vor Freude und Glück! Inhaltlich, sprachlich, stilistisch höchstes Niveau und zwei Karten für ein Theaterprogramm! Ein Ermutigungsbrief einer echten Künstlerin! Sie erinnert sich zurück an die Zeit, als ich ihre Tochter in Französisch unterrichtet hatte. Himmlisch kommt mir das vor. Wie konnte ich daran zweifeln, dass du mich wahrnimmst, Gott? Ich erlebe, wie gut du meinen Geschmack kennst! Ich lese und staune, wie du meine Vorstellungen bei Weitem übertriffst!

Einige Tage später sitzen mein Mann Dirk und ich gespannt wie die Flitzebögen im Theater in Basel. Auf dem Programmblatt wird mit außerordentlichen Texten und entsprechender Musik geworben. Äußerst außerordentlich, würde ich sagen. Etwas so eigensinnig Geniales und wunderbar Berührendes habe ich selten an einem Abend, von einer einzigen Person ins Publikum gezaubert, gesehen! Hier wird das Leben auf die Bühne gebracht, wie es ist: herausfordernd, humorvoll, tiefgründig, zerbrechlich, geheimnisvoll und unvergleichlich schön! Singend, Klavier und Theater spielend, in Szene setzend, kommt das alles mit einer unerschütterlichen Leichtigkeit daher, dass ich nur sprachlos staunen kann! Kleinkunst, die ihren Namen zu Unrecht trägt, weil sie große Kunst, gigantisch-geniale Lebenskunst ist! Dieser Abend geht mir nachhaltig unter die Haut. Was ist diese Frau für ein begnadetes Genie!

Ich will mich bedanken für die unvergesslichen Sternstunden! Was und wie schreibe ich ihr? Eigentlich sollte es eine Postkarte werden, uneigentlich entsteht ein Brief, der geradezu aus meinem Herzen fließt. Begeisterungsströme. Anerkennungswellen. Chapeau, chapeau! Ich erinnere mich noch zu gut daran, wie mich meine Mitschüler verspotteten, als ich im Deutschunterricht eines meiner Gedichte vorlas. Dennoch werfe ich tollkühn und todesmutig einen Anker aus. Ich schicke dieser Frau den Text meines ersten Liedes, das ich im Alter von siebzehn Jahren verfasst habe. Einige Monate zuvor hatte ich meinen Mann kennengelernt. Das Gefühlschaos war perfekt! No risk, no fun. Ich habe nichts zu verlieren. Die sehe ich wahrscheinlich nie wieder!

Liebeslied

Du hast mich nur geseh’n und
gehört, ich sag ja.

Doch außer diesem Lächeln
waren tausend Dinge da.

Ich hab das Weltall umjubelt
und bin in Euphorie
über Berge gehüpft,
hab mich gefreut wie noch nie.

Den Ozean durchschwommen,
nur um bei dir zu sein.

Auf Knien um die Welt,
Herbstlaub und selbst der kleinste Stein
sollten mit mir danken, wissen,
jetzt kann auch ich fliegen
und mit meiner Gewissheit
die Zweifel besiegen.

Das ist ein Teil von dem,
was in mir geschah,
als deine Liebe für mich
felsenfest war.

Das ist ein Teil von dem,
vertraut und bekannt,
wofür kein Mensch
die passenden Worte erfand.

Ich hab mich fallen lassen,
bin in Moos versunken,
in Blumen gebadet,
vom Sonnenrot getrunken
bis zum Mond, ich vergaß
in alldem jegliche Zeit
und doch niemals genug
von deiner Zärtlichkeit.

Doch nur ein Teil von dem,
was in mir geschah,
als deine Haut für mich
spürbar war.

Doch nur ein Teil von dem,
vertraut und bekannt,
wofür auch ich
die passenden Worte
nie fand.

DIE LÖFFELLISTE

Ich werde den Tag nie vergessen, an dem ich unter Schock meine Löffelliste aus der Schublade kramte. Vor einigen Monaten hatten mein Mann und ich uns einen gemütlichen Filmabend gegönnt und Das Beste kommt zum Schluss angeschaut. Zwei Männer Anfang fünfzig – in den Hauptrollen Jack Nicholson und Morgan Freeman – erfahren, dass sie unheilbar an Krebs erkrankt sind. Ihre Wochen und Monate sind gezählt. Anstatt zu verzweifeln, erstellt sich jeder eine Löffelliste mit all den Dingen, die er noch erleben möchte, bevor er – den Löffel abgibt. Die Szenen dieses Films hatten mich damals sehr berührt. Eine Löffelliste schreiben – was für eine grandiose Idee! Sofort hatte ich den Stift gezückt und nicht lange überlegen müssen. Das Blatt hatte sich wie von selbst gefüllt.

Einen Marathon laufen. Mit meinen O-Beinen bleibt das ein problematisches Unterfangen. Die Ärzte empfehlen mir, eine andere Sportart zu wählen. Leider schmerzen beide Knie bereits nach sechs bis acht Kilometern Joggen! Oder liegt es daran, dass Gott etwas anderes mit mir vorhat?

Paragliding – ein Tandemflug. Ich muss an Reinhard Meys Lied Über den Wolken denken. Leicht und sorglos im blauen Himmel zu schweben stelle ich mir wunderschön vor. Vielleicht im kommenden Sommer, wenn wir Urlaub in den Bergen machen?

Ein Buch schreiben. Tatsächlich – das war schon immer ein Lebenstraum. Wann packt man ein solches Projekt an? Habe ich wirklich keine Zeit oder rede ich mich nur heraus? Hätte ich überhaupt den Mut, aus meinem Leben zu erzählen, oder würde die Angst, mich zu sehr zu entblößen, siegen? Und selbst wenn ich es wagen würde – gäbe es auf dieser Welt Menschen, die das interessiert?

Einem alten, herzallerliebsten Schulfreund einen anonymen Brief schreiben. Schon erledigt!

Andi Weiss persönlich kennenlernen. Zugegeben, von seinen Büchern habe ich bislang nur Ausschnitte gelesen oder in Predigten davon gehört. Seine einzigartige Songpoesie hat es mir angetan. Darin höre und spüre ich einen tieferen Lebenssinn. Aus Erfahrungen werden Worte und Töne, die erzählen! Fantastisch!

Ein Wochenende mit Daniel Brühl, Schauspieler in den Filmen Die fetten Jahre sind vorbei oder Good Bye, Lenin. Okay, das ist ziemlich hoch gegriffen, ich sehe es ein.

Musik machen. Wollte ich als kleines Mädchen nicht Sängerin werden? Das wollten allerdings viele. Das war doch die Alternative zum eigenen Reiterhof. Seit Jahren schreibe ich eigene Songs. In meinen kühnsten Träumen stehe ich auf einer Bühne und gebe meine Lieder zum Besten. In fett gedruckten Buchstaben ist auf dem Programm zu lesen: Das Leben ist (k)ein Ponyhof!

Ab und zu ein bisschen spinnen, sich auf Aladins fliegendem Teppich ins eigene Wunderland tragen lassen, das wird wohl erlaubt sein?! Ob ich meine Löffelliste jemals vollständig durchführen werde, weiß ich nicht. Aber ich werde erleben, wie sich mein liebevoller Gott hinter mich stellt. Immer wieder werde ich mich fragen, wie ich in einem turbulenten Alltag mit zwei extrem unterschiedlichen Kindern und einem Mann, dessen Terminkalender nahezu immer voll ist, überlebe. Und Gott, der kreative Schöpfer, wird Türen öffnen!

EIN- UND AUSATMEN

Jonathan wird jeden Tag schwerer. »Herr, bewahre mich vor dem Bandscheibenvorfall, bitte!«, ist eines meiner häufigsten Gebete. Nichtsdestotrotz will ich etwas unternehmen, prophylaktisch und überhaupt. Mein Mann steht auf sportliche Frauen. Das nahe gelegene Fitnessstudio wirbt mit dem Slogan Zeit für ein neues Lebensgefühl. Dieses Bedürfnis habe ich tatsächlich! Vor allem, wenn ich mit Jonathan von einem unserer zahllos scheinenden Klinikbesuche zurückkomme. Im Fitnessstudio atme ich aus. Dank der Kinderbetreuung am Morgen gewinne ich ein bis zwei Stunden Freiheit. Lange Zeit ist es die einzige Möglichkeit, unabhängig von den Arbeitszeiten meines Mannes etwas für mich zu tun. Das ist mein Cool down nach atemlosen Tagen.

Vor dem ersten Training sitze ich einem jungen, dynamischen Trainer gegenüber. Freundlich heißt er mich willkommen und fragt nach meinen Hobbys und dem Beruf. »Der ist ganz schön neugierig. Vielleicht gehört das aber auch zum Berufsbild und kann als Interesse für die Kundin verstanden werden«, denke ich. »Was ist dein Trainingsziel?« Zu dem Zeitpunkt ist es noch die Steigerung vom Halbmarathon zum Marathon. »Was sind denn deine Problemzonen?«, will er nun wissen. Problemzonen? Ich runzle die Stirn. »An welchen Stellen möchtest du gezielt arbeiten?«, erklärt er nicht ohne Grinsen im Gesicht. Demonstrativ schaue ich an mir herunter und erwidere: »Welche Problemzonen? Problemzonen gibt es meiner Meinung nach nur im Kopf.« Da lacht er. »Ja, so kann man das auch sehen.« Nein, natürlich bin ich nicht Heidi Klum. Unweigerlich meldet sich in diesem Moment meine blühende Fantasie. Mit Vergnügen male ich mir in einem Kurzfilm vor Augen, wie sich dieser perfekt durchtrainierte junge Mann bei vorwiegend jüngeren Damen engagiert und sich in liebevoller Fürsorge persönlich darum kümmert, dass die eine oder andere Problemzone zur erotischen Traumszene wird. Ich lache in mich hinein und grinse frech aus mir heraus. Ich weiß, bei dem hätte eine Frau wie ich nie eine Chance. Denn ich bin 70-60-90, nicht 90-60-90. Mit blonden Haaren und langen Beinen kann ich auch nicht dienen. Aber wen stört das schon? Ich bedaure, dass ich nicht schlagfertig gekontert habe: »Tut mir leid, jeden Abend wird mir nach einem Bier und einer Tüte Chips schlecht.« Beim nächsten Gespräch mit einem anderen Trainer bin ich wesentlich gewiefter. »Knackiger Po, ohne knackigen Po läuft bei uns gar nichts!« Problemzone gelöst.

Im Fitnessstudio atme ich aus. Wenn es schon nichts wird mit meinem Marathon, will ich mich wenigstens exzessiv bewegen. Ein Angebot im Studio ist Fahrradfahren zur Musik, im Fachjargon Spinning. »Das Spinning ist genau der richtige Kurs für dich«, meint mein Trainer. »Du kannst dich entscheiden, ob du das Fahrradfahren zu Musik lieber gemütlich möchtest oder anspruchsvoll. In letzterem Fall kommst du montagabends zu mir.« Grins! Reif für das gelbe Trikot: ein Poster der Tour-de-France schmückt den kleinen, stickigen Raum, in dem etwa fünfundzwanzig Spinning-Räder bereitstehen. Wenn alle Räder auf Vorbestellung belegt werden, gibt es auf dem Boden lustige Schweißpfützen. Klar, die Athleten kommen genau in diesen Kurs. Außen auf der Türe ist ein witziger Aufkleber mit der Aufschrift »Spinner« angebracht. Ich muss an die Rockband Revolverheld mit ihrem Titel Spinner denken. Das geht raus an alle Spinner, wir sind die Gewinner, kennen keine Limits, für heute, für immer.1 Hier fühle ich mich wohl. Jeden Montag spinne ich. Ist es nicht ein wunderbares Lebensgefühl, wenn der Puls langsam, aber sicher nach oben hechtet? Ist es nicht schön, im Schweiße seines Angesichts allen Stress aus der Seele zu treten, um sich danach müde und frei zu fühlen?

Das lustige Treiben in der Umkleide ist wie eine Krönung nach der sportlichen Anstrengung. Da werden alte, schlaffe Körperkonturen in spitzenbesetzte BHs gesteckt, schlüpfrige Tangas über Schwabbelpopos gezogen, farbenfrohe Lippenstifte aufgetragen und die Haare formverliebt frisiert. Ein Applaus an das Leben und die Liebe. In meiner direkten Art kann ich mich manchmal gar nicht zurückhalten: »Entschuldigen Sie, wenn ich das jetzt so sage, aber Sie tragen ausgesprochen geschmackvolle Unterbekleidung! Die steht Ihnen wirklich ausgezeichnet!« Mit einem schüchtern-verlegenen Lachen wird mein Blick quittiert. In meinem Bauch kribbelt es vor Freude – Kompliment angekommen. Ich stelle mir vor, wie diese Frau über sechzig innerlich ein bisschen wächst und sich ihrer zeitlosen Schönheit in diesem Moment bewusst wird. Die anderen grinsen verstohlen und wissen, ah, die Sanne ist wieder da. Denn im Fitnessstudio kennt mich fast jeder. Ich bin die mit dem behinderten Kind.

KINDERKLINIK

Regelmäßig sind wir wegen diverser Untersuchungen und Blutentnahmen in der Endokrinologie, Immunologie und im SPZ, dem Sozialpädiatrischen Zentrum für Bewegungsstörungen. Jonathan leidet unter einem Wachstumshormonmangel, Ekzemen, einem genetisch bedingten chronischen Immundefekt –Hypogammaglobulinämie – und einer spastischen Diparese. Das bedeutet, dass sein Immunsystem nicht ausreichend Antikörper gegen Krankheitserreger bildet. Ohne Rollstuhl kann Jonathan zu diesem Zeitpunkt nur mit Hilfe eines Rollators wenige Meter gehen. Eine eindeutige Diagnose kann von keinem der Spezialisten gestellt werden. Aber alle sind fleißig am Forschen.

Die Kliniktage kosten mich viel Kraft. Ich stehe um sechs Uhr morgens auf, Matthea wird bei einer Freundin abgegeben. Eine Stunde später sitze ich mit Jonathan im Auto. Vor Ort müssen wir uns zuerst an der Pforte anmelden. Hier regeln wir die Verwaltungsformalitäten und erhalten die notwendigen Papiere und Aufkleber für die Sprechstunden. Gegen halb neun checken wir auf Station ein. Mit Glück ergattern wir ein kleines Zimmer, denn Jonathan meckert und will spielen. Eine Dreiviertelstunde warten wir auf das Sedativum, das Beruhigungsmittel, das Jonathan für die Untersuchung ruhig stellt. Das Zeug schmeckt widerlich, er spuckt die Hälfte davon aus. Eine halbe Stunde später kommt die Krankenschwester erneut. Jonathan bekommt das Sedativum nun anal, in der Hoffnung, dass es drin bleibt. Um zehn Uhr beginnen die Untersuchungen. Ein neuer Facharzt der Immunologie stellt sich vor. Wir füllen ein Dutzend Formulare aus, zur Erfassung der letzten Infekte und anderem. Um halb elf schläft Jonathan noch immer nicht, wird aber dennoch zur Radiologie abtransportiert. Zu gern hätte ich mich in den Vorraum gesetzt, um mich schreibend zu ordnen. Aber das Personal bevorzugt es, wenn ich direkt neben dem riesigen Magnetresonanzgerät sitze. Durch einen Spiegel könne Jonathan mich sehen und fühle sich dann nicht allein. Das ist gut. Das Kontrastmittel für die Aufnahmen wurde bereits verabreicht. Ich unterschreibe noch mal zwei Formulare. Nun wird Jonathan in die gigantische Röhre geschoben. Mit Höllenlärm arbeitet die Hightech-Maschine. Gott sei Dank habe ich einen Kopfhörer auf. Für die Bilder muss es stockdunkel um mich sein. Die medizinisch-technischen Assistenten halten sich in einem kleinen Nebenraum vor ihren Computern auf. Wenn sich Jonathan nicht bewegt und alle Aufnahmen gut werden, dürfen wir in dreißig Minuten wieder heraus. Die Atmosphäre empfinde ich immer als beklemmend. Wir werden noch viele MRTs hinter uns bringen. Bestenfalls lässt sich Jonathan auf die Vorstellung ein, dass er als Raumfahrer in seiner Rakete liegt und durch das Weltall braust. Sobald er etwas älter ist, darf er CDs hören, um die Zeit zu vertreiben. Ich freue mich, dass der medizinische Assistent Franzose ist. Sein unwiderstehlicher Akzent erinnert mich an mein Studienjahr in Südfrankreich. Das war eine unvergessliche Zeit damals. Hier und jetzt passen sich meine Gedanken leider zunehmend der klinischen Enge und Sterilität an. Welche Erkrankung hat mein Goldstück wirklich? Wann werden die Ärzte es wissen? Was wird es für ihn und für uns als Familie bedeuten? Jonathan liegt in der medizinischen Röhre und ich wünschte, ich wäre enthoben in einer sorglosen Welt voller Wunder, Gedankenreisen-Luxus ins Savoir-vivre und C’est la vie.

Gegen Mittag kommen wir zurück auf die Station. Mein Sohn ist vom Beruhigungsmittel und dem MRT-Schlaf vollkommen verdreht. Mühevoll füttere ich ihn mit dem Inhalt der servierten Plastikschale: Huhn und Reis. Die Schwester verspricht uns, dass der Arzt bald zur Besprechung kommt. Eine Stunde später ist noch immer kein Weißkittel in Sicht. Ich erkläre mit Nachdruck, dass ich nach Hause muss und nicht länger warten kann. Binnen fünf Minuten erscheint ein Arzt und sagt: »Tschüss. Die Ergebnisse besprechen wir im Oktober.« Warmer Händedruck. Freundliches Lächeln.

Um halb zwei befinde ich mich müde und hungrig auf der Autobahn Richtung Heimat. Wann erspähe ich das nächste Fast-Food-Restaurant, weil ich von meinen diversen Snacks gar nicht satt bin? Endlich! Ein Rasthof – Fish and Chips. Als ich gegen drei Uhr am Nachmittag zu Hause eintrudle, will Dirk gleich weiter ins Büro, Matthea hatte noch nichts von ihrer Mama und Jonathan fühlt sich quicklebendig und ausgeschlafen. Der Tag kann weitergehen.

Nein, das ist nicht wahr. Matthea hat Fieber! Beim Kinderarzt stellt sich heraus, dass sie nicht in den Kindergarten gehen kann und auch noch ein weiteres Mal abgehört werden muss. Nein, der Kinderarzt spricht mich auch noch auf meinen Lippenherpes an! Das sei mit Sicherheit stressbedingt! Jetzt platzt mir der Kragen, weil ich nur noch meine Ruhe will. Es reicht! In Kürze fasse ich ihm die vergangenen Wochen zusammen. Stimmt, da war noch die Operation der hochgradigen Vorhautverengung, die Jonathan wegzustecken hatte. Ehrlichkeit hilft immer. Schweigend kramt er unseren dicken Ordner mit den tausend Arztberichten hervor, stellt alle notwendigen Über- und Einweisungen für die folgenden Untersuchungsmarathons aus und schaut mich an. Er weiß, wie mein Alltag aussieht. Vor Wut und Frust würde ich am liebsten losheulen. »Frau Kellner, ich bewundere Sie«, sagt er ernst. Danke! Das tut richtig gut! Die Sprechstundenhilfe wirft mir einen mitfühlenden Blick zu und lobt mein Outfit. (Heute trage ich meine I’ve got the power-Bekleidung, schwarzer Rock auf knallig pinkfarbener Strumpfhose, geblümte Weste.)

Vornehmlich am Wochenende landen die aktuellen Arztbriefe in unserem Briefkasten. Die Berichte stehen in Fachchinesisch schwarz auf weiß. Die spastische Diparese bei unklarer Leukencephalie wurde um die Spitzfußstellung beiderseits ergänzt. Wir wollen wissen, was Jonathan hat. Wenn wir ins Internet gehen und mögliche Erkrankungen recherchieren, wird uns speiübel oder wir quälen uns unruhig in den Schlaf. Deshalb tun wir uns das schon lange nicht mehr an. Montagmorgens wähle ich sofort die Nummer der Kinderklinik und will den Immunologen sprechen. »Alles wie gehabt. Nichts Neues. Wir forschen weiter.« »Die im Arztbericht auftauchenden Diagnosen? Für keine von ihnen gibt es ausreichende Anhaltspunkte, die Kriterien werden nur ansatzweise erfüllt. Kein Grund zur Sorge.« Für ein paar Wochen fällt mir ein Stein vom Herz. Doch aufgeschoben ist nicht aufgehoben.

Am Ende von Kliniktagen sehne ich mich nach Zweisamkeit mit meinem Liebsten oder stundenlangen einsamen Spaziergängen. Die Seele braucht Zeit zum Verarbeiten der Ereignisse. Es gibt Dinge, die sich bei allen inneren Bemühungen nicht als Routinemaßnahme abhaken lassen. Oder handelt es sich um eine furchtbare Vorahnung aus mütterlicher Intuition? Beim Laufen versuche ich, die beengenden Gefühle abzuschütteln. Vor Müdigkeit bin ich wie erschlagen.

BELIEVE!

Ich achte an keinem einzigen Tag darauf, mit welchem Fuß ich aufstehe. Dafür bleibt gar keine Zeit. Aber dass es seltsame Tage gibt, das will ich nicht bestreiten. An einem besonders merkwürdigen Tag erwache ich und bin gefühlsmäßig in PMS-Stimmung. Launisch, muffelig, kann nichts, aber auch gar nichts gutheißen! Selbst die Dinge nicht, die ich sonst mag! Ich kann mich selbst nicht leiden, und ich kann nicht leiden, dass ich mich nicht leiden kann, obwohl ich mich leiden können will. Doch das Schlimmste daran ist: Bis zur Menstruation sind es noch zwei Wochen!!! Plötzlich, wie aus dem Nichts, ist dieser Zustand da wie in Trickfilmen die graue Regenwolke über dem Kopf. SOS! Hilfe!

Meine gesammelte Intelligenz setze ich ein, um gegenzusteuern. Griesgrämige Gedanken aufspüren und gegen neue, bessere austauschen. Wohlwollend, mitfühlend und freundlich zu mir selbst sein. Irgendwann kommen die Gefühle hinterher. Nichts nützt. Das Alles-ist-blöd-Gefühl hält hartnäckig stand.

Ich beschließe, mich meinem Alltagsgeschehen zu widmen, dem nie endenden Kreislauf aus Waschen, Putzen, Einkaufen, Kochen, Spülen. Unterwegs zum Supermarkt beginnt es tatsächlich zu regnen. In mir schimpft und tobt alles. Gleichzeitig passt das Wetter ironisch gut. Nachdem ich die Einkaufsliste von Regal zu Regal abgearbeitet habe, komme ich links vor der Kasse am Wühltisch vorbei. Hier finden sich Sonderangebote, Artikel zum halben Preis wegen Verfall des Haltbarkeitsdatums, Sachen, die aus dem Sortiment genommen werden. Kurz: eine lustige Sammlung von Schnäppchen. Ich liebe das. Mürrisch werfe ich einen Blick auf den vollen Korb. Ist an diesem Tag etwas für mich zu holen? Ich fische einen kitschigen Dekorationsartikel in Form eines Steins mit der Aufschrift Believe heraus. »Ich wusste gar nicht, dass die auch Billigschrott führen«, motzt eine Stimme in mir. Skeptisch drehe ich den Stein hin und her und frage mich, was die für das hässliche Ding verlangen und wer diesen Plunder kauft. An der Kasse meine ich, Gottes Stimme zu hören: »Der Stein ist für dich. Glaube!« Göttliche Offenbarung am Wühltisch eines Supermarkts? Ich bin verwirrt. Urplötzlich verlasse ich meinen Platz in der Schlange vor der Kasse und steuere zielsicher auf den Angebotskorb zu. Ich nehme den Stein in die Hand und betrachte ihn erneut, aber jetzt aus einer anderen Perspektive. »Ich bin bei dir. Believe!« In mir läuft ein Film ab. Situationen, Ereignisse und Gegebenheiten, die mich in der letzten Zeit enttäuscht, entmutigt oder frustriert haben, ziehen an meinem inneren Auge vorüber. Noch einmal zum Mitlesen: »Believe! Glaube!« Etwas skeptisch bezahle ich einen Euro für den ästhetisch fragwürdigen Artikel. Ich weiß, wohin ich ihn zu Hause lege. Er wird den Ehrenplatz in der Küche auf dem Fensterbrett erhalten. Dringen auf dem Heimweg Sonnenstrahlen durch die Regenwolken, oder waren sie schon vorher da? Nein, meine Laune hat sich nicht schlagartig geändert. Aber auf einmal ist hier Raum für etwas Vertrautes und Wiedergewonnenes: meinen Glauben.

Wie oft versuche ich, Lösungen und Wege zu ersinnen, mit dem Kopf Wände einzurennen und mir die Zähne an Problemen auszubeißen. Der Glaube steht meinen Verkrampfungen gegenüber. Lächelnd. Wartend. Glaube – das ist es. Vielleicht nicht nur, aber vor allem das hat mir gefehlt. Was ist nun also der Glaube? Er ist das Vertrauen darauf, dass das, was wir hoffen, sich erfüllen wird, und die Überzeugung, dass das, was man nicht sieht, existiert.2 Danke, Gott, für deine kreative Art, mich daran zu erinnern.

ÜBERRASCHUNG

Kurz vor Weihnachten sehe und staune ich! Ein Päckchen dieser Kleinkünstlerin flattert ins Haus. Eine gelungene Überraschung! Sie schickt mir das Buch Der Weg des Künstlers von Julia Cameron, ein 12-Wochen-Programm zur Intensivierung der eigenen Kreativität. »In Wirklichkeit sind Sie eine Poetin!«, schreibt sie auf einer Postkarte, die ein ebenso niedliches wie freches Eichhörnchen beim Nüsseknabbern im Schnee zeigt.

Das Buch ist ein einziges Abenteuer und stellt mein Denken komplett auf den Kopf. Sollte ich künstlerisch begabt sein? Sollte ich Talente haben, die bislang im Schatten schlummerten, oder der Vernunft wegen im Verborgenen bleiben mussten? Was sind meine wahren Träume? Wo liegt meine tiefste Sehnsucht?

Ich lese, dass in vielen Menschen ein Künstler steckt. Dieses Wesen ist das innere Kind. Wenn es wahrgenommen und gut gepflegt wird, sprüht es vor Ideen. Einige Jahre später begegnet mir diese steile These wieder: Beim Besuch einer Freundin in ihrem kunterbunt gestalteten Haus fällt mein Blick auf einen großen Kunstdruck von Joseph Beuys. Der Aktionskünstler arbeitete jahrelang als Professor an der Kunstakademie in Düsseldorf und vertrat die Auffassung: Jeder Mensch ist ein Künstler. Zwei einfache Mittel helfen der eigenen Kreativität auf die Sprünge: das Schreiben von Morgenseiten und das Durchführen von Künstlertreffs. Ab jetzt besteht mein Morgenritual darin, bei einer Tasse Kaffee meinen vollkommen freien und unzensierten Gedankenfluss auf drei Seiten weißes Blatt Papier zu bringen. Wahnsinn, wie mir vieles klar wird, was sonst im Dunkeln des Unterbewusstseins dämmern müsste! Angenehmes und Unangenehmes, Lustiges und Beschwerendes. Ich darf authentisch sein, gnadenlos authentisch! Außerdem liebt es das innere Kind, ausgeführt zu werden. Auf was habe ich schon lange Lust und gönne es mir nicht? Allein in meiner Lieblingskneipe eine Zeitschrift lesen, einen ausgiebigen Waldspaziergang im Regen machen, eine Ballettaufführung anschauen? Kinder wollen spielen, zeit- und zwecklos sein, spinnen, sich verlieren, sich finden in der unendlichen Weite ihrer Fantasie. Was für eine einzigartig schöne Vorstellung, neu auf sich zu hören, Erahntes wiederzufinden und Verborgenes zu entdecken!

Am meisten gefällt mir die Übung mit der Zukunftsperspektive: Was will ich erreicht haben, wenn ich mit achtzig Jahren auf mein Leben zurückblicke? Was kann und will ich heute, in fünf, in zehn Jahren dafür tun oder getan haben? Ich bin begeistert und verblüfft. Hier schließt sich ein Kreis. Ich bin wieder bei meiner Löffelliste angelangt. Ist es nicht wunderbar, sich selbst Freiräume zu schenken, um dem Wirklichen auf die Spur zu kommen?

In einem anderen Kapitel steht ein provozierender Satz: Anfangs fühlt sich Normalwerden wie Verrücktwerden an.3 Ich bekomme eine Gänsehaut. Wie lange habe ich fälschlicherweise angenommen, ich sei nicht ganz normal oder von einem anderen Stern? Heute stehe ich mit einer melancholischen Miene vor dem Spiegel und schaue mich bitterböse an: »Was fällt dir ein, aus der Masse fallen zu wollen?« Ich schneide Grimassen, so blöd und ausgiebig, bis ich lachen muss und das Lachen anhält. Ist das normal? Verrückt ist normal. Genauso ist es. Diese Frau Cameron hat einen unglaublichen Sinn für tiefe Wahrheiten!

Oder mein Kleidungsstil, immer etwas Spezielles, sagt man. In Wirklichkeit ist es genau umgekehrt. Jahrelang habe ich Klamotten getragen, die jeder hat, weil sie gerade modern sind. Das ist doch fragwürdig. Irgendwann habe ich nur noch gekauft und angezogen, was mir gefällt, ohne Rücksicht auf Fremdurteile, Modewellen oder Textilindustrie. Und was ist bitte schön verrückt daran, mal ein paar Jährchen auszusteigen aus dem Mühlrad routinierter Zwänge, um einem Herzenswunsch zu folgen? Natürlich habe ich mich oft gefragt: Aufstehen, zur Arbeit gehen, Geld verdienen, Freizeit genießen, schlafen, ab und zu in Urlaub fahren und dann wieder alles von vorn – zu welchem Zweck und mit welchem Sinn? Schön, dass ich das gar nicht beantworten muss. Denn ich habe mich eines Besseren vergewissert: Ich bin normal.