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   Dr. Robert D. Lesslie– Engel der Notaufnahme | Ärzte kämpfen um das Leben– Aus dem Englischen übersetzt von Herta Martinache– SCM Hänssler

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ISBN 978-3-7751-7216-5 (E-Book)
ISBN 978-3-7751-5586-1 (lieferbare Buchausgabe)

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CPI – Ebner & Spiegel, Ulm

© der deutschen Ausgabe 2014
SCM Hänssler im SCM-Verlag GmbH & Co. KG · 71088 Holzgerlingen
Internet: www.scm-haenssler.de · E-Mail: info@scm-haenssler.de

Originally published in English under the title: ANGELS IN THE ER
Copyright © 2008 by Robert D. Lesslie, MD
Published by Harvest House Publishers, Eugene, Oregon 97402
www.harvesthousepublishers.com

Dieses Buch ist nicht dazu gedacht, professionelle medizinische Hilfe zu ersetzen. Bitte wenden Sie sich in diesen Fällen an einen Arzt. Weder der Autor noch der Herausgeber übernehmen die Verantwortung für eventuelle negative Folgen, die dadurch entstehen könnten, dass in diesem Buch enthaltene Informationen umgesetzt werden.

Die Geschichten in diesem Buch haben sich tatsächlich zugetragen. Alle eindeutig identifizierbaren Personen haben dem Autor und dem Herausgeber die Genehmigung erteilt, ihre Namen zu nennen und ihre Geschichten und/oder ihre Lebensumstände – auch in zusammenfassender oder veränderter Darstellung – zu schildern. Bei allen anderen Personen wurden die Namen, Umstände und Details ihrer Lebens- und Krankengeschichte abgeändert, um die Privatsphäre der Betreffenden zu schützen.

Die Bibelverse sind, wenn nicht anders angegeben, folgender Ausgabe entnommen:
Neues Leben. Die Bibel, © der deutschen Ausgabe 2002 und 2006
SCM R.Brockhaus im SCM-Verlag GmbH & Co. KG, Witten.

Übersetzung: Herta Martinache
Umschlaggestaltung: Jens Vogelsang, Aachen
Titelbild: shutterstock.com
Satz: Lieverkus Media, Wuppertal

Für Barbara,
meinen ganz persönlichen Engel

Inhalt

Grundriss der Notaufnahme des Allgemeinen Krankenhauses Rock Hill

Engel in unserer Mitte

Kapitel   1 – Eine ganz normale Nacht

Kapitel   2 – Stammgäste

Kapitel   3 – Eine unerwartete Wende

Kapitel   4 – Wir sind alle gleich

Kapitel   5 – Schmerz und Trauer

Kapitel   6 – Generationsprobleme

Kapitel   7 – Der Dämon Alkohol

Kapitel   8 – Es muss ein Wunder sein

Kapitel   9 – Lasst die Kinder zu mir kommen

Kapitel 10 – Die leise, feine Stimme

Kapitel 11 – Finstere Mächte

Kapitel 12 – Wenn es kein Morgen mehr gibt

Kapitel 13 – Geduldsproben

Kapitel 14 – Wenn das Leben zu Ende geht

Kapitel 15 – Wer ist mein Nächster?

Kapitel 16 – Engel in der Notaufnahme

Anmerkungen

Grundriss der Notaufnahme des Allgemeinen Krankenhauses Rock Hill

Grundriss der Notaufnahme des Allgemeinen Krankenhauses Rock Hill

Engel in unserer Mitte

Ich arbeite seit fünfundzwanzig Jahren in der Notaufnahme, und in dieser Zeit habe ich viel gelernt. Ich weiß mit absoluter Gewissheit, dass unser Leben an einem seidenen Faden hängt. Ich habe begriffen, dass Demut wahrscheinlich unsere größte Tugend ist. Und ich bin davon überzeugt, dass wir uns die Zeit nehmen sollten, unsere tiefsten Gefühle mit den Menschen zu teilen, die uns wirklich wichtig sind.

Ich bin auch zu dem Schluss gekommen, dass Engel in unserer Mitte sind. Sie kommen vielleicht in Gestalt eines Freundes, einer Krankenschwester oder eines völlig Fremden. Und manchmal sind sie unsichtbar, eine fast unmerkliche und doch reale Gegenwart, die uns führt, tröstet und schützt.

Die Notaufnahme ist ein schwieriger Ort, sowohl für Patienten als auch für die, die sich um sie sorgen. Die großen Herausforderungen dieses Ortes bieten gleichzeitig die Gelegenheit, Zeuge der größten Wunder und Geheimnisse zu werden, die dieses Leben zu bieten hat. In einer Haltung tiefer Ehrfurcht und Dankbarkeit habe ich in diesem Buch einige meiner Gedanken und Erfahrungen zu Papier gebracht.

Dr. Robert Lesslie

Kapitel 1

Eine ganz normale Nacht

Auch wenn ich durch das dunkle Tal des Todes gehe, fürchte ich mich nicht, denn du bist an meiner Seite.

PSALM 23,4

Alle schauten zum Haupteingang. Wir hatten das Schreien und Rufen gehört, insbesondere das markerschütternde Klagen einer jungen Frau. Im nächsten Augenblick sprangen die automatischen Türen auf und eine Gruppe von fünfzehn oder zwanzig jungen Leuten drängte in die Notaufnahme. Sie trugen einen jungen Mann. Seine Arme und Beine baumelten unkontrolliert am Körper, und sein Kopf rollte von einer Seite auf die andere. Sein T-Shirt war blutgetränkt.

»Hilfe!«, schrie jemand aus der ersten Reihe der Schar. »Jimmy ist angeschossen worden!«

Wir eilten alle zur Tür. Jeff Ryan, der Pflegedienstleiter in dieser Nacht, erreichte den Verletzten als Erster. »Folgen Sie mir!«, wies er die Leute an, die Jimmy trugen. »Und lassen Sie ihn nicht fallen.«

Er führte die Gruppe zum Trauma-Raum und rief der Sekretärin im Vorbeigehen zu: »Rufen Sie den Sicherheitsdienst!«

An der Türschwelle drehte sich Jeff um, nahm den blutenden jungen Mann auf seine Arme und trug ihn in die Mitte des Raums. Als er ihn vorsichtig auf den Untersuchungstisch legte, traten ein paar Gruppenmitglieder zögernd in den Trauma-Raum.

»Nein!«, sagte Jeff energisch, und sofort blieben sie stehen. »Sie müssen draußen warten!«

Kaum jemand hinterfragte Jeff Ryans Autorität. Er war Anfang dreißig, 1,85 Meter groß und wog gut hundert Kilo. Er arbeitete bereits in der Notaufnahme, als ich in Rock Hill ankam, und bald erkannte ich, dass er einer der besten Krankenpfleger war, mit denen ich je zusammengearbeitet hatte.

Er sah aus wie ein großer Teddybär, aber etwas in seinen Augen machte einem klar, dass er trotz seines freundlichen Äußeren nicht mit sich spaßen ließ und jederzeit explodieren konnte. Ich habe ihn einige Male explodieren sehen … und wehe dem, der ihm dann in die Quere kam. Wir nannten Jeff unseren »Vollstrecker«.

Nach wenigen Minuten lag Jimmy völlig ausgezogen auf dem Rücken. Er hatte eine Infusion mit isotonischer Kochsalzlösung in jedem Arm. Ein Blasenkatheter war gelegt, und er wurde durch eine Nasensonde, die mit einer elastischen Binde an seinem Kopf befestigt war, mit Sauerstoff versorgt.

Ich untersuchte seinen Unterleib ein zweites Mal. Ein einziges Einschussloch, genau über dem Bauchnabel. Offensichtlich war das die Eintrittswunde, aber eine Austrittswunde gab es nicht. Er war bei Bewusstsein und sprach, seit wir ihn auf den Untersuchungstisch gelegt hatten. Seine Vitalfunktionen waren anfangs akzeptabel, der Blutdruck nur leicht erniedrigt. Dies verbesserte sich rasch mit der Infusionsflüssigkeit, und jetzt schien sein Zustand stabil. Die Laboranten kamen herunter und bestimmten die Blutgruppe für eine spätere Transfusion. Diese wollten wir so schnell wie möglich vornehmen. Sam Wright, der Chirurg vom Bereitschaftsdienst, wurde benachrichtigt. Glücklicherweise war er noch im Krankenhaus – er befand sich im Operationssaal und war gerade dabei, einen Eingriff abzuschließen.

Ein paar Minuten später hatte ich ihn am Apparat. »Ich habe einen Neunzehnjährigen hier in der Notaufnahme mit einer einzelnen Schusswunde im Abdomen. Er ist bei Bewusstsein, und seine Vitalfunktionen sind stabil. Es gibt aber keine Austrittswunde. Laut Röntgenbild ist die Kugel irgendwo in der Nähe der rechten Niere. Sie sieht recht klein aus, vielleicht eine 0,22.« Das Kaliber hatte ich geraten, aber das war nicht so wichtig.

»Bereitet ihn für die Operation vor«, antwortete Sam über die Freisprechanlage. »Wir müssen ihn wahrscheinlich aufschneiden und sehen, was los ist. Ich mache den Blinddarm fertig, den du mir vorhin geschickt hast, dann warte ich im OP.«

»Gut. Bis er zu dir kommt, hat er wahrscheinlich schon eine Einheit Blut bekommen.«

»In Ordnung.« Dann war er weg.

Jeff machte ein paar Notizen in der Patientenakte.

»Ist Dr. Wright im OP für ihn bereit?«, fragte er mich.

»Ja, sobald wir alles erledigt haben«, antwortete ich.

Er nahm die Akte, trat neben den Untersuchungstisch und kontrollierte die beiden Infusionen. Dann steuerte er auf die Tür zu.

»Ich hole Hilfe, dann bringen wir ihn rüber«, murmelte er, während er die Tür hinter sich schloss.

Ich schaute Jimmy an und fragte ihn: »Sind Sie sicher, dass wir niemanden anrufen sollen? Familie? Verwandte?«

Diese Frage war ihm bereits mehrmals gestellt worden, und jedes Mal lautete seine Antwort, dass niemand behelligt werden solle. Die »Freunde«, die ihn in die Notaufnahme gebracht hatten, waren auch keine Hilfe.

Sobald Jimmy im Trauma-Raum lag, hatten sie sich aus dem Staub gemacht. Vielleicht hatten sie gehört, dass Jeff den Sicherheitsdienst angefordert hatte, oder sie vermuteten, dass bereits ein paar Polizeiwagen unterwegs waren. Warum auch immer, sie waren verschwunden.

Wir waren allein im Zimmer, und ich wartete auf das Transport-Team.

»Ich werde es nicht schaffen, Herr Doktor«, erklärte er nüchtern.

Diese unverblümte Aussage überraschte mich. Ich schaute ihn an und überprüfte seine Hautfarbe, dann den Herzmonitor, um sicher zu sein, dass mir nichts entging. Sein Zustand schien recht stabil.

»Jimmy, alles wird wieder gut. Ich weiß, das ist kein Vergnügen für Sie, aber es ist eine glatte Wunde, und Dr. Wright bringt das alles wieder in Ordnung. Vielleicht ist der Darm verletzt oder irgendetwas anderes, aber er flickt das wieder zu, und in ein paar Tagen bist du zu Hause.«

Ich brauchte mich nicht anzustrengen, um zuversichtlich zu klingen, denn ich meinte wirklich, was ich sagte. Es würde eine Routine-Operation werden. Leider sahen wir zu viele Fälle wie diesen. Bald würde es ihm wieder gut gehen. Er war jung und gesund.

Er war jetzt ganz ruhig und starrte still zur Zimmerdecke hinauf. Seine Arme lagen seitlich von ihm, ein Laken bedeckte ihn bis zur Hüfte. Er war an viele Schläuche angeschlossen, aber sein Zustand war stabil, und er sah gut aus.

»Nein«, entgegnete er ruhig und schicksalsergeben und starrte immer noch die Zimmerdecke an. »Aus dem Operationssaal komme ich nicht mehr lebendig heraus.«

Sein Ton und seine Worte gingen mir nahe. Ich musste ihm Mut machen.

»Jimmy …«

Bevor ich weitersprechen konnte, ging die Tür auf, und die beiden Männer des Transport-Teams traten ein. Sie trafen die erforderlichen Vorbereitungen und fuhren die Liege zur Tür. Ich trat beiseite.

Als Jimmy schon halb aus der Tür war, drehte er den Kopf und schaute mir in die Augen.

»Ich überlebe das nicht.«

»Alles wird gut, Jimmy«, erklärte ich ihm noch einmal, dann war er weg.

Natürlich würde ich recht behalten. In ein paar Stunden konnte ich es ihm persönlich sagen. Ich schaute auf die Uhr an der Wand. Es war halb eins.

Um ein Uhr humpelte ein neunzehnjähriges Mädchen herein und wurde von der Schwester, die für die Ersteinschätzung (Triage) zuständig war, in Zimmer 2 geführt. Sie war in ein Loch getreten (direkt vor einer der Kneipen in unserer Stadt) und hatte sich den rechten Knöchel verstaucht. Er war ziemlich geschwollen, und wir mussten röntgen, um sicher zu sein, dass er nicht gebrochen war.

Kaum hatten wir sie in einem Rollstuhl zur Röntgenabteilung geschickt, als die Tür des Haupteingangs aufschwang. Der Rettungsdienst brachte eine fünfundzwanzigjährige Frau direkt in den Kardiologie-Raum. Sie litt seit Jahren an einer Nierenkrankheit und hatte extrem hohen Blutdruck. Vergangene Nacht hatte sie wahrscheinlich einen Schlaganfall gehabt.

Sie atmete, reagierte aber nicht auf Schmerzreize oder Ansprache. Wir brauchten daher schnell eine CT-Untersuchung des Kopfes.

Nach wenigen Minuten war die Liege mit ihr unterwegs zur Radiologie.

Ich stand in der Schwesternstation und machte Eintragungen in den Akten dieser beiden Patientinnen. Aus einem arbeitsreichen Abend wurde eine arbeitsreiche Nacht. Plötzlich hörte ich hinter mir eine unbekannte Stimme kreischen. Sie schrie mir beinah ins Ohr.

»Wo ist meine Kleine? Wo ist sie?«

Erschrocken drehte ich mich um und stand einer Frau mittleren Alters gegenüber. Sie trug einen blau-weiß gestreiften Bademantel, der notdürftig von zwei großen Sicherheitsnadeln zusammengehalten wurde. Darunter lugte ein schwarzes, bodenlanges Seidennachthemd hervor. Ihre Füße steckten in knallroten Pantoffeln, die in der Form irgendeines nicht identifizierbaren flauschigen Tieres gestaltet waren.

Doch mein Blick wurde von ihrem Kopf angezogen. Sie hatte riesige rosafarbene Lockenwickler im Haar, die von irgendetwas zusammengehalten wurden, das ich nicht richtig erkennen konnte. Ich schaute etwas näher hin und stellte fest, dass es eine übergroße Damenunterhose war.

»Wo ist Naomi?«, fragte sie in den Raum. »Ihre Freundin hat gesagt, dass sie hier ist!«

Sie schaute sich um und suchte hektisch nach ihrer Tochter. Dann trat sie auf einen der Untersuchungsräume zu, und ich konnte sie gerade noch daran hindern, den Vorhang zur Seite zu ziehen.

»Guten Abend, ich bin Dr. Lesslie. Kommen Sie mit mir, wir helfen Ihnen, Ihre Tochter zu finden.«

Sie hielt inne, schaute mich an und machte Anstalten, etwas zu sagen. Dann drehte sie den Kopf leicht zur Seite, blickte mir über die Schulter. Sie deutete auf den Flur und schrie mit weit aufgerissenen Augen: »Meine Kleine. Was habt ihr mit meiner Kleinen gemacht?«

Mit einer ausladenden Handbewegung schob sie mich beiseite, stieß mich gegen die Theke und rannte den Flur entlang.

»Meine Kleine! Was habt ihr mit ihr gemacht?«, schrie sie noch einmal.

Unsere junge Schlaganfall-Patientin kam vom CT zurück. Sie lag ausgestreckt auf der Krankenliege, noch immer nicht ansprechbar, und wurde den Flur entlang in ihr Zimmer geschoben.

»Schaut sie an! Ihr habt sie umgebracht!« Jetzt schrie die Frau noch lauter. Sie polterte an den Röntgenassistenten vorbei, stieß einen von ihnen zur Seite und packte das Gesicht des Mädchens.

»Sie ist tot! Ihr habt sie umgebracht!«

Einen Augenblick lang herrschte Stille. Sie verdrehte die Augen und schaute nach oben.

Dann ein markerschütternder Schrei: »Jesus! Hilf mir, Herr!«

Jeff ging auf die Frau zu. Normalerweise hätte er versucht, sie zu beruhigen und in einen Nebenraum zu führen. Solche Gefühlsausbrüche waren in der Notaufnahme nichts Außergewöhnliches, und obwohl sie unerfreulich waren, hatten wir uns daran gewöhnt. Doch für unsere anderen Patienten war so etwas neu, und ein paar neugierige Köpfe spähten hinter den Vorhängen hervor und versuchten, einen Blick auf das Geschehen zu erhaschen. Sie wollten der Frau nicht zu nahe kommen. Offensichtlich war sie völlig ausgerastet.

»Wer hat das getan? Wer hat meine Kleine umgebracht?«

Jeff wandte sich ihr zu. »Hören Sie, sie ist nicht tot. Sie ist bei uns in guten Händen.« Sanft tätschelte er ihr die Schulter.

Die Frau blieb jedoch völlig unzugänglich und wandte sich brüsk ab.

»Ich will wissen, wer das getan hat!« Jetzt klang ihre Stimme bedrohlich. Sie richtete ihren Blick auf mich und machte einen Schritt auf mich zu. Drohend zeigte sie mit dem Finger auf mich: »Ich werde Sie verklagen! Das wird Ihnen noch leidtun! Ich werd’s Ihnen zeigen!« Es folgte eine detaillierte Aufzählung all der Dinge, die auf mich warteten, dann wandte sie sich wieder der jungen Frau zu und strich ihr über die Stirn. Noch einmal nahm sie den Kopf des Mädchens liebevoll in die Hände.

»Mein Schatz, was haben sie mit dir gemacht? Was haben sie nur mit dir gemacht? Ich …«

Sie hielt mitten im Satz inne, und blieb reglos stehen. Ihr Kopf neigte sich von einer Seite auf die andere, während sie das Gesicht des vor ihr liegenden Mädchens betrachtete. Entgeistert riss sie die Augen auf. Plötzlich wurde sie von einer Bewegung im Flur abgelenkt und schaute hoch. Es war unsere Patientin mit dem verletzten Knöchel. Sie hielt die Röntgenbilder auf ihrem Schoß und wurde im Rollstuhl in die Notaufnahme zurückgefahren.

Unsere verstörte Mutter richtete sich auf und ließ den Kopf der jungen Frau auf die Liege zurückfallen.

»Da ist ja meine Kleine!« Sie stürmte den Flur entlang, strahlte erleichtert und breitete die Arme weit aus. Die Sicherheitsnadeln, die ihren Bademantel zusammengehalten hatten, gaben schließlich nach, der Bademantel flog auf und flatterte rechts und links neben ihr her. Als sie am Rollstuhl angekommen war, kniete sie nieder und umklammerte ihre Tochter. Sie drückte sie an sich und wiegte sie hin und her.

»Geht es dir gut, mein Herzchen? Ist alles okay mit dir?«

Es gab nichts zu sagen oder zu tun. Wir standen einfach sprachlos da.

Es war halb fünf, und ich wurde allmählich müde. Ich brauchte unbedingt noch eine Tasse Kaffee, damit ich bis zum Sonnenaufgang durchhielt.

Auf dem Weg zum Personalraum sah ich Sam Wright im Flur herankommen. Er trug immer noch die OP-Haube und den OP-Kittel. Sie waren schweißgetränkt, und ich bemerkte Blutspritzer von seinen Knien bis zu den Schuhen.

Er ließ sich auf einen Stuhl in der Schwesternstation fallen, riss sich die OP-Haube vom Kopf und feuerte sie in einen Mülleimer in der Nähe.

»Mann, war das hart«, stieß er hervor und schüttelte den Kopf.

Ich ging zu ihm und setzte mich neben ihn. Er sprach über Jimmy. »Was hast du gefunden, Sam?«, fragte ich.

»Wir haben ihn in den OP gebracht und auf den Operationstisch gelegt. Kaum war er anästhesiert, ist sein Blutdruck gesunken. Zuerst nicht viel, aber dann ging er richtig in den Keller. Ich habe ihn aufgemacht, und da war überall Blut. Ich habe versucht, die Aorta abzuklemmen, damit ich überhaupt sehe, was los ist. Die Blutung kam von einer Stelle, an die ich nicht rankam, und ich habe sie einfach nicht unter Kontrolle gebracht.«

Er machte eine Pause, schaute mich an und schüttelte den Kopf.

Dann fuhr er fort: »Die Kugel hat die Aorta seitlich aufgerissen und ist direkt unter der Niere stecken geblieben. Sonst hat sie nichts getroffen. Erstaunlich. An dem Riss muss sich sofort ein Blutgerinnsel gebildet haben, deshalb hat er nicht viel geblutet. Jedenfalls nicht, bis er im OP war. Das Gerinnsel hat sich gelöst, und dann gab’s kein Halten mehr. Acht Bluteinheiten. Das Blut war schneller auf dem Boden, als wir es in ihn hineingepumpt haben. Wir haben unser Möglichstes getan.« Er schaute auf seine Armbanduhr. »Dreieinhalb Stunden lang haben wir alles versucht.«

Er schwieg, sank erschöpft in sich zusammen und starrte auf den Boden.

»So was ist hart, Robert. Ich weiß nicht, was ich sonst noch hätte tun können.«

Wir saßen schweigend da. Jeff kam mit zwei Tassen schwarzem Kaffee und stellte sie auf die Theke. Keiner von uns rührte sich.

Sam sagte: »Und du hattest recht. Es war eine kleinkalibrige Kugel, ich glaube 0,22.«

Die Notaufnahme und Rock Hill und der Rest der Welt um uns herum gingen weiter. Und ich dachte an Jimmys letzte Worte.

Die Notaufnahme. Hier passiert alles Mögliche. Sie ist der ideale Ort zur Beobachtung und Erforschung des menschlichen Daseins. Wir erleben sämtliche Gefühle, zu denen Menschen fähig sind, und zwar in einem angespannten und aufgeladenen Umfeld. Die Vorschriften darüber, was schicklich und gesellschaftlich akzeptiert ist, sind außer Kraft gesetzt. Man macht sich keine Sorgen mehr um das, was andere über einen denken könnten. Wo sonst würde man einen fünfzigjährigen Bankkaufmann sehen, der in einem Krankenhaushemd im Flur umherspaziert und sich nicht darum schert, dass völlig fremde Leute sein nacktes Hinterteil sehen können?

Aber in der Notaufnahme sind wir alle nackt. Unsere Stärken und Schwächen werden offen und manchmal auf schmerzhafte Weise zur Schau gestellt. Das gilt für Patienten genauso wie für Ärzte. Als Krankenhausmitarbeiter, seien wir Krankenpfleger oder Arzt, Pflegehelfer oder Sekretärin, erkennen wir schnell die Grenzen unserer Bereitschaft und Fähigkeit, mit anderen zu fühlen, Opfer zu bringen und eingefahrene Strukturen zu verlassen. Es ist möglich, Dinge nicht an sich heranzulassen, sich ein dickes Fell zuzulegen … doch das hat seinen Preis.

Schließlich ist die Notaufnahme der Ort, an dem der Glaube eines jeden von uns auf die Probe gestellt wird. Unsere Überzeugungen erweisen sich als hilfreich und tragfähig, oder wir erkennen, dass sie falsch und destruktiv sind, und werfen sie über Bord. Hier können wir lernen, wer wir sind und ob der Grund, auf dem wir bauen, trägt. Und manchmal ist die Notaufnahme auch ein Ort, an dem wir unseren Glauben finden können.

Auf den folgenden Seiten lernen Sie Menschen kennen, die durch dieses dunkle Tal hindurchgegangen sind. Ihre Erlebnisse und Kämpfe können uns dabei helfen, inmitten der Dunkelheit Gnade und Frieden zu finden.

Kapitel 2

Stammgäste

Denn ich war hungrig, und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich war durstig, und ihr gabt mir zu trinken. Ich war ein Fremder, und ihr habt mich in euer Haus eingeladen. Ich war nackt, und ihr habt mich gekleidet. Ich war krank, und ihr habt mich gepflegt. Ich war im Gefängnis, und ihr habt mich besucht.

MATTHÄUS 25,35-36

Die Notaufnahme bedeutet allen möglichen Menschen alles Mögliche, doch zu ihren wichtigsten Aufgaben gehört es, die Menschen aufzufangen, die sonst nirgends hingehen können. Mitunter ist sie der einzige Ort, an dem sich überhaupt jemand um sie kümmert.

Es scheint schwer vorstellbar, dass jemand die Notaufnahme als einen Ort des Trostes und der Gemeinschaft betrachtet, doch gerade das erleben wir jedes Jahr an Weihnachten. Die meisten Menschen wollen diese Tage zu Hause oder mit Angehörigen und Freunden verbringen, und eine Fahrt in die Notaufnahme wäre für sie ein notwendiges Übel, das man nur auf sich nehmen würde, wenn man ernstlich krank oder verletzt wäre. Doch für einen großen und weitgehend unsichtbaren Teil unserer Gesellschaft ist das anders. Jahr für Jahr kommt bis zum späten Vormittag eine stetig steigende Zahl von Menschen zu uns, die eigentlich gar nichts bei uns zu suchen haben.

Sie haben niemanden, mit dem sie Weihnachten verbringen können, nur das Personal, das das Pech hat, an diesem Tag Dienst zu haben. Für diese Menschen gibt es keinen anderen Ort, an dem sie ein Weihnachtsessen bekommen könnten, auch wenn es noch so schlicht und bescheiden ausfällt. Und wenn man genauer hinschaut und sich vorstellt, was für ein Leben dieser Mann oder diese Frau wohl führt, und wenn man sich dann überlegt, was man sagen oder tun soll, dann kommt man ziemlich in Verlegenheit.

Es war zwei Uhr nachmittags an einem kalten, klaren Dienstag im Februar.

»Hallo, Rettungswagen 1, Ende.«

Ich erkannte Dentons Stimme und nahm das Krankenwagentelefon ab. Denton Roberts war einer der leitenden Rettungsassistenten des Notfalldienstes des Krankenhauses. Er war Mitte dreißig, intelligent und dynamisch, und man konnte sich auf seine Einschätzung der Lage verlassen. Er hatte ein paar Jahre lang studiert und sogar daran gedacht, Arzt zu werden. Doch kaum hatte er mit der Arbeit als Rettungsassistent begonnen, wusste er, dass er seinen Platz gefunden hatte.

»Rettungswagen 1, hier ist Dr. Lesslie, was gibt’s?«, antwortete ich.

Es knisterte kurz im Empfänger. »Dr. L., wir bringen einen 65-jährigen Mann mit Unterleibsschmerzen.« Dann eine kurze Pause. »Es ist Slim.«

Mehr brauchte er nicht zu sagen. Ich schaute mich um und prüfte, wo noch ein Bett frei war. »Bringen Sie ihn in Zimmer 2, Denton. Um wie viel Uhr kommen Sie voraussichtlich an?«

»In etwa fünf Minuten«, antwortete er. »Also Zimmer 2.«

Ich legte das Telefon in die Ladestation zurück.

Seit ich im Allgemeinen Krankenhaus Rock Hill arbeitete, war Slim Brantley einer unserer »Stammgäste«. Je nach Jahreszeit sahen wir ihn ein- oder zweimal pro Woche. Bei schönem Wetter verging manchmal ein ganzer Monat, bevor er einen Krankenwagen rief und uns besuchte. Wir befanden uns mitten in einem Kälteeinbruch, und dies war sein dritter Besuch innerhalb der letzten neun Tage.

Lori ging gerade mit einer Patientenakte in der Hand zur Schwesternstation.

»Wir erwarten wieder einen Freund«, informierte ich sie.

»Slim?«, riet sie und ordnete die Akte ein.

»Genau«, lachte ich. »Mal wieder.«

»Nun, es ist schon zwei Tage her. Also wird es wieder Zeit. Unterleibsschmerzen?« Sie kannte die Antwort.

»Bingo!«

Lori Davidson arbeitete seit sieben oder acht Jahren in der Notaufnahme. Sie hatte drei Kinder, einen Jungen und zwei Mädchen. Sie war ruhig und bescheiden und strahlte dabei so viel Zuversicht und Mitgefühl aus, dass die Patienten sofort ihre Nervosität verloren. Ich freute mich immer, wenn sie Dienst hatte.

»Ich mache das Zimmer für Slim fertig«, sagte sie.

Es gehört etwas dazu, den erhabenen Rang eines »Stammgastes in der Notaufnahme« zu erhalten. Nicht jeder erreicht diesen hohen Status. Wahrscheinlich hatten wir immer nur zehn oder zwölf Menschen, die sich zu diesem Personenkreis zählen durften. Einfach nur oft in die Notaufnahme zu kommen, bedeutet nicht, dass man Stammgast ist. Wir haben Medikamentenabhängige, die genau das tun und trotzdem keine Stammgäste für uns sind. Das ist etwas ganz anderes. Unsere Stammgäste kommen immer und immer wieder mit denselben Beschwerden in die Notaufnahme. Es kann sich um Unterleibsschmerzen handeln wie bei Slim oder um Alkoholprobleme oder Rückenschmerzen oder Krampfanfälle. Es kann alles Mögliche sein. Doch jeder unserer Stammgäste hat seinen eigenen einzigartigen Vorwand gefunden.

Zu unseren liebsten und häufigsten Stammgästen gehörte jahrelang eine Frau namens Sarah May. Sie war ein bisschen über 60 und lebte mit ihrer älteren Schwester zusammen. Irgendwann war sie zu der Überzeugung gelangt, dass ein Kräuterarzt, der in Rock Hill praktizierte (ich weiß nicht, ob er als Facharzt für dieses Spezialgebiet zugelassen war), eine Schlange in ihren Körper eingeschleust hatte. Jedenfalls war sie felsenfest davon überzeugt, dass eine Schlange in ihrem Bauch herumkroch. Sie krümmte sich immer auf der Krankentrage, rieb ihren Bauch und bat uns inständig, die Schlange aus ihr herauszuholen. Wie soll man mit so etwas umgehen? Jedes Mal kam sie im Krankenwagen in die Notaufnahme, meistens kurz nach Mitternacht. Die Rettungsassistenten riefen dann immer an: »Wir haben eine Frau ohne offensichtlichen Befund. Wir sind in der Pine Street 100.« Mehr brauchten wir nicht: Es war ihre Anschrift.

»Es ist wieder Sarah May«, dachte jeder. Eine Viertelstunde später wurde sie auf der Trage in die Notaufnahme gefahren.

Im Lauf der Jahre hat sich bei Sarah einiges geändert. Mehrmals hatte ich sie zur Untersuchung in eine psychiatrische Klinik in Columbia überwiesen. Doch nach ein oder zwei Wochen war sie immer wieder zu Hause. Dort gefiel es ihr ganz und gar nicht, und sie mochte es überhaupt nicht, wenn ich sie in eine psychiatrische Anstalt einliefern ließ. Offensichtlich gelang es den Ärzten dort genauso wenig wie uns, die Schlange aus ihrem Körper zu entfernen. Schließlich kam sie auf die Idee, in der Notaufnahme anzurufen, bevor sie den Krankenwagen rief.

»Hat Dr. Lesslie heute Abend Dienst?«, fragte sie die Sekretärin. Wenn diese bejahte, gab es eine kleine Pause, einen schwachen Seufzer, ein »Ach so …«, und dann legte sie auf. An diesem Abend besuchte sie uns nicht. Doch ansonsten kam sie sehr oft in die Notaufnahme, immer wegen dieser Schlange.

Aus irgendeinem Grund hatte Slim Brantley sich Unterleibsschmerzen als Vorwand gewählt. Oder vielleicht hatten die Unterleibsschmerzen auch ihn gewählt. Obwohl er unzählige Male gründlich untersucht worden war, konnte der Grund für die Schmerzen nie gefunden werden. Slim hatte jedoch eine andere wirkliche Krankheit. Zu viel Alkohol und drei Schachteln Zigaretten am Tag forderten ihren Tribut. Seine Lungenkapazität war gering, und er war sehr anfällig für Lungenentzündungen. In letzter Zeit hatte er auch Herzprobleme, die sich in periodisch auftretendem Herzrasen und Schwindelanfällen äußerten. All das war echt, seine Bauchschmerzen jedoch nicht. Sie waren seine Eintrittskarte in die Notaufnahme, wo er ein Bett bekam. Normalerweise erhielt er dann bald auch eine warme Mahlzeit. Nach ein oder zwei Stunden waren die Schmerzen vergangen, er fühlte sich wohler und konnte wieder nach Hause gehen.

Oft habe ich mich gefragt, wo Leute wie Slim wohnen. Eines Abends saßen Denton Roberts und ich in der Schwesternstation. Aus irgendeinem Grund kamen wir auf Slim zu sprechen, und Denton erzählte mir, wie er ihn einmal unter einer Brücke abgeholt hatte. Es war mitten im Sommer, und Slim hatte sich aus Kartons eine Art Unterstand gebaut. Aufgrund des Abfalls im Umfeld dieser improvisierten Behausung war ersichtlich, dass er sich mehrere Tage lang von Bohnen aus der Dose und billigem Fusel ernährt hatte. Ein anderes Mal hatte Denton ihn in einer Garage aufgefunden, wo er auf einem schäbigen Feldbett zwischen zwei kaputten Rasenmähern schlief. Der Hauseigentümer hatte ihm diese Unterkunft gegen ein paar Gelegenheitsarbeiten geboten, die Slim noch erledigen konnte.

Ich hatte keine Ahnung, was er tat, wenn es wirklich kalt war. Anscheinend hatte er ein paar Freunde, die ihn beherbergten, bis er ihnen auf die Nerven ging oder im Keller ein Feuer machte und sie ihn hinauswarfen.

Wir versuchten alles Mögliche mit Slim: Sozialamt, Wohlfahrtsorganisationen und mehrmals eine Entziehungskur. Einmal wiesen wir ihn sogar in eine psychiatrische Klinik ein. Doch alles war erfolglos. Es dauerte nie lange, bis er wieder in der Notaufnahme landete.

Und heute Nacht war er wieder unterwegs zu uns. Wir hatten viel zu tun, aber es würde nicht lange dauern, bis wir Slim untersucht und versorgt hatten. Doch gerade an diesem Punkt musste ich aufpassen. Wenn Medizinstudenten oder Assistenzärzte im ersten Jahr im Rahmen ihrer Ausbildung die Notaufnahme durchliefen, musste ich ihnen ständig einschärfen, dass auch unsere »Stammgäste« krank sein können und dass man bei der Diagnose genauso sorgfältig sein muss wie bei allen anderen Patienten, vielleicht sogar noch sorgfältiger. Auch ich muss mir das immer vergegenwärtigen. Die Versuchung ist natürlich groß, zu denken: Kennen wir schon …, und sich schnell anderen Patienten zuzuwenden, die wirklich Hilfe benötigen. Manchmal kann das verhängnisvoll enden. Das war der Fall bei Faye Givens, einem anderen Stammgast der Notaufnahme.

Faye war eine Frau mittleren Alters, die jahrelang regelmäßig in die Notaufnahme kam. Ihre Beschwerden waren immer die »Nerven«, und am Ende der Untersuchung bat sie jedes Mal um eine »Schlaftablette«. Manchmal ging sie zufrieden mit einer einfachen Paracetamol-Tablette weg. Gelegentlich jedoch bestand sie lautstark und aufbrausend auf einer Spritze. Soweit ich weiß, wurde in unserer Notaufnahme nie eine ernsthafte Krankheit bei ihr festgestellt.

Eines Abends wurde sie mit dem Krankenwagen eingeliefert, und sie klagte wie immer über die »Nerven«. Dieses Mal jedoch sprach sie zusätzlich von starken Kopfschmerzen und zeigte auf ihre Stirn. Dr. Canty, einer meiner jüngeren Kollegen, hatte Dienst. Wie wir alle kannte er Faye sehr gut. Seine flüchtige Untersuchung führte zu keinem besorgniserregenden Befund, und er wollte sie mit einer Paracetamol-Tablette nach Hause schicken.

Er gab Lori, die an jenem Abend Dienst hatte, eine entsprechende Anweisung. Sie ging in Fayes Zimmer, kehrte aber sofort zur Schwesternstation zurück. In ihrem Medikamentenbecher lag immer noch die kleine weiße Pille.

»Heute habe ich irgendwie Bedenken wegen Faye«, sagte sie zu dem Arzt. »Irgendetwas stimmt nicht mit ihr. Vielleicht möchten Sie sie noch einmal anschauen?«

Dr. Canty unterbrach seine Arbeit und sah Lori an. Einerseits nahm er ihre Besorgnis ernst, denn er vertraute ihrer Erfahrung. Er wurde ein bisschen unsicher, ob die klare Entscheidung, die er zuvor getroffen hatte, richtig war, und ihm kamen leichte Zweifel. Aber sie vergingen schnell. Er hatte Faye so oft gesehen, und es war immer das Gleiche gewesen – kein Notfall, kein ernsthaftes medizinisches Problem. Es war immer nur eine Organisationsfrage: Wie wurde man sie mit möglichst wenig Aufwand wieder los?

Trotzdem schätzte er Loris Erfahrung. Teils, um sie zu beruhigen, teils, um seine letzten Zweifel zu zerstreuen, ging er noch einmal zu Faye, die auf dem Rand ihrer Untersuchungsliege saß. Ihr Kopf hing nach unten und wackelte leicht von einer Seite auf die andere. Auch das gehörte zu ihrem üblichen Verhalten.

»Faye, wie sind Ihre Kopfschmerzen?«, fragte er.

»Sie bringen mich um, Herr Doktor. Es ist, als würde etwas in der Mitte von meinem Kopf stecken. Können Sie mir nicht etwas dafür geben?«, bettelte sie.

Er nahm ihren Kopf in seine Hände und überprüfte, ob ihr Hals sich problemlos bewegen ließ. Alles war locker. Dann schaute er ihre Augen an. Erstaunlich! Sie schielte und konnte die Augen in dieser Stellung halten! Das erforderte echte Anstrengung. Sie sah komisch aus, und er konnte nur mit Mühe ein Schmunzeln unterdrücken.

Diese Leistung hätte einen Oscar verdient, dachte er.

»Ich bin gleich wieder da«, versicherte er, verließ das Zimmer und ging zu Lori.

»Sie hat nichts«, sagte er mit Nachdruck. »Geben Sie ihr das Paracetamol, und schicken Sie sie heim.«

Widerwillig befolgte Lori seine Anweisung, und bald befand sich Faye auf dem Heimweg.

Zwei Tage später kam sie in die Notaufnahme zurück. Sie war tot. Die Obduktion ergab, dass sie einen großen Tumor hatte, der auf die Sehnerven im vorderen Gehirnbereich drückte: der Grund für ihr Schielen und ihre Todesursache.

Ich stand gerade hinter dem geschlossenen Vorhang von Zimmer 5, als ich hörte, wie die automatische Eingangstür beim Öffnen summte.

Dann hörte ich Denton, wie er neugierig bei Lori nachfragte: »Zimmer 2?«

»Ja«, bestätigte sie.

»Auuuuuuuuuu!«

Dieses Stöhnen würde ich überall erkennen: Slim.

»Auuuuu! Mein Bauch!«

Ich beendete meine Anweisungen für den Patienten in Zimmer 5, zog den Vorhang zur Seite und trat hinaus. Dann wandte ich mich noch einmal um zu dem Mann mittleren Alters, der auf der Untersuchungsliege lag, und sagte: »Sie können sich wieder anziehen. Gleich kommt eine Schwester zu Ihnen.« Daraufhin zog ich den Vorhang wieder hinter mir zu.

Denton hatte Slim auf das Bett in Zimmer 2 gelegt, und Lori maß seine Temperatur. Ich schaute Slim in die Augen, und er wandte schnell den Blick ab.

»Blutdruck 110 zu 70«, informierte mich Denton. »Puls 90, aber etwas unregelmäßig. Für mich sieht er gut aus«, fügte er hinzu und hielt sein Klemmbrett in der Hand. Ich unterschrieb den Transportschein.

»Okay, Denton, danke.«

Er schob die Transportliege aus der Kabine und ging zur Schwesternstation. Ich trat in Slims Zimmer. Lori hatte die Blutdruck-Manschette an die Wand gehängt und brachte zwei Elektroden an seiner Brust an, um ihn an den Herzmonitor anzuschließen.

»114 zu 72«, informierte sie mich, schaltete den Monitor ein und machte eine Notiz auf dem Papierhandtuch, das eilig auf die Arbeitsplatte gelegt worden war. »Kein Fieber, 36,9.«

»Auuuuuuuuu! Herr Doktor, tun Sie was! Ich halt es nicht mehr aus!«

Der Monitor sprang an, sein regelmäßiges Piepsen lenkte meine Aufmerksamkeit auf den Bildschirm an der Wand über Slims Kopf.

Unwillkürlich musste ich an Rita Flowers denken.

Rita hatte vor Kurzem die Krankenpflegeschule abgeschlossen und durchlief die Notaufnahme als Teil ihrer praktischen Ausbildung im Krankenhaus. Sie war eine intelligente junge Frau, doch der Prüfungsausschuss war sich noch nicht sicher, ob sie das erforderliche Urteilsvermögen für die Arbeit als Intensivkrankenschwester besaß. In dieser Phase ihrer medizinischen Laufbahn hatte sie natürlich noch nicht viel Erfahrung und war zudem ziemlich naiv.

Eines Tages hatte sie das Glück, Slim zu betreuen. Er war im Krankenwagen gekommen und klagte wie üblich über Bauchschmerzen. Sie war sehr besorgt, weil er sich vor Schmerzen krümmte und lautstark klagte. Schnell überprüfte sie seine Vitalfunktionen und schloss ihn an den Monitor an. Ihre offensichtliche Sorge entging ihm nicht.

Hastig eilte sie zur Schwesternstation und schnappte sich den nächstbesten Arzt.

»Herr Doktor, Sie müssen unbedingt diesen Mann anschauen!«, flehte sie. »Sofort!«

Der Notarzt hatte ihr über die Schulter geschaut und ihren Patienten erkannt.

Er wandte sich wieder der Tabelle auf der Theke zu und meinte: »Gut, Rita. Ich komme in ein paar Minuten.«

Sie stand da und wusste nicht, was sie tun sollte. Hilfesuchend sah sie sich um, aber alle waren beschäftigt. Sie eilte in Slims Kabine zurück und schaute auf den Herzmonitor. Er war regelmäßig. Das war gut.

Slim stöhnte weiter, hatte die Augen geschlossen und hielt sich den Bauch. Langsam öffnete er ein Auge halb und wartete auf seine Gelegenheit.

Rita wandte sich der Arbeitsplatte neben der Liege zu und machte ein paar Notizen. Slim schob eine Hand hinauf an seine Brust und griff nach einer der dort befestigten Elektroden des Monitors. Er rüttelte kräftig daran und schrie vor Schmerzen auf.

»Auuuuuuu!«, jammerte er und wälzte sich von einer Seite auf die andere.

Rita sah ihn an und richtete dann instinktiv den Blick auf den Monitor an der Wand. Alle möglichen Wellenlinien liefen quer über den Bildschirm! So etwas hatte sie noch nie zuvor gesehen. Was sollte sie tun? Eine Reanimation anfordern? Dann war sein Herzrhythmus plötzlich wieder herrlich ruhig und regelmäßig. Slim hörte auf, zu stöhnen. Rita atmete erleichtert auf.

»Geben Sie mir etwas für diese Schmerzen«, flehte er.

Rita blickte flüchtig zur Schwesternstation, dann wieder zu Slim.

»Ich schaue, was ich tun kann, Mr. Brantley.«

Sie wandte sich wieder ihren Eintragungen zu. Slim wartete einen Augenblick, dann rüttelte er wieder an der Elektrode.

»Auuuuuuu!« Dieses Mal schrie er lauter.

Rita schaute auf den Monitor und sah wieder jene eigenartigen wellenförmigen Kurven. Sein Herz schlug erneut in einem seltsamen, chaotischen und offensichtlich gefährlichen Rhythmus. Etwas Schreckliches würde geschehen, wenn sie nichts unternahm. Dann wurde er wieder ruhig, und der Monitor piepste regelmäßig.

Es reichte.

»Ich komme gleich wieder«, erklärte sie und eilte aus der Kabine, um Hilfe zu holen.

Sie traf auf Virginia Granger, die Oberschwester der Abteilung.

Virginia hatte von uns allen die längste Erfahrung. Sie hob die Hand und gebot Rita Einhalt. Dann nickte sie ihr zu und forderte sie auf, mit ihr zu Slims Bett zurückzugehen. Sie hatte alles beobachtet.

Virginia war eine beeindruckende Persönlichkeit. Wenige Wochen zuvor hatte sie ihren sechzigsten Geburtstag gefeiert, und zu ihrem Leidwesen war es ihr nicht gelungen, ihr Alter vor den Mitarbeitern der Notaufnahme geheim zu halten. Kerzengerade, wie sie war, immer mit perfekt gestärkter, blendend weißer Bluse und Rock, war es unverkennbar, dass sie früher beim Militär gearbeitet hatte. Zwanzig Jahre lang war sie in verschiedenen Militärkrankenhäusern tätig gewesen und hatte ihr dort erworbenes Verhalten und ihr Organisationstalent mit in die Notaufnahme gebracht. Sie trug immer noch die gleiche spitze, schwarz umrandete Schwesternhaube wie zu Beginn ihrer Berufstätigkeit.

Virginia stellte sich vor Slim, stemmte die Hände in die Hüften, spitzte den Mund und legte die Stirn in Falten. Sie bot einen bedrohlichen Anblick.

»Slim Brantley!« Sie sprach den Namen langsam aus, um achtunggebietender zu klingen.

Langsam öffnete er die Augen, sein Kinn sank ihm auf die Brust. Er sah aus wie ein Schuljunge, der ertappt worden war, als er dem Mädchen, das vor ihm saß, einen Kopfstoß verpasst hatte.

Virginia wartete einen Augenblick, dann nahm sie seine Hand von der Elektrode auf seiner Brust und legte sie an seine Seite.

»Machen Sie so etwas nie wieder, Slim«, ermahnte sie ihn. »Nie wieder.«

Immer noch wie ein kleiner ertappter Junge flüsterte Slim: »Ich mach das nicht mehr. Versprochen.«

Virginia nickte ernst und feierlich, blinzelte Rita zu und trat aus dem Raum.

Rita stand einfach nur da und starrte Slim einen Augenblick lang völlig verdutzt an. Als ihr endlich klar wurde, was geschehen war, drehte sie sich um und wollte wie Virginia zurück zur Schwesternstation gehen.

Da wisperte eine leise Stimme hinter ihr: »Schwester, kann ich etwas zum Essen bekommen?«

Ich hatte mich in den vergangenen fünfzehn Jahren um Slim gekümmert, und erstaunlicherweise schien er sich nicht zu ändern. Er war etwa 1,95 Meter groß. Auch wenn es ihm »gut« ging, war er in sich zusammengesackt, und seine langen Arme baumelten an seiner Seite. Und er war wirklich mager. Seit ich ihn kannte, hatte er wahrscheinlich nie mehr als 75 Kilo gewogen. Sein Gesicht war zerfurcht und runzlig, seine glasigen Augen deuteten auf jahrelangen Alkoholmissbrauch hin. Die wenigen Zähne, die er noch hatte, waren gelbbraun verfärbt und kariös. Seine Hände waren außergewöhnlich. Er hatte auffallend lange Finger und besonders lange, schmutzige, gefurchte Fingernägel. Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand wiesen eine intensive schmutzig gelbe Verfärbung auf, ein unverkennbares Merkmal seiner unverbrüchlichen Beziehung zu seinen Zigaretten.

Heute sah Slim besonders ungepflegt aus. Aufgrund des kalten Wetters trug er mehrere Schichten Kleidung. Er hatte zwei Hosen an, die äußere aus fleckigem, zerrissenem grünem Schottenstoff. Seine schwarzen Stiefel waren abgetragen, passten aber erstaunlicherweise zusammen. Noch erstaunlicher war, dass die Sohlen intakt waren. Socken hatte er keine. Er trug zwei hellblaue Pullover, wobei der äußere mindestens zwei Größen kleiner war als der innere. Darunter hatte er etwas an, das wie ein ehemaliges Schiedsrichter-Trikot aussah.

»Herr Doktor, können Sie mir etwas für diese Schmerzen geben? Sie sind schlimmer als sonst! Auuuuuuu!«

Ich untersuchte Slim, fragte ihn, wo er gewesen war, als die Schmerzen begonnen hatten, und ob er noch weitere Symptome hatte. Die üblichen Dinge, die ich wissen musste. Unterdessen stellte ich routinemäßig fest, dass alles normal war, oder zumindest so normal, wie es für Slim sein konnte.

Als ich überzeugt war, dass nichts Ernsthaftes vorlag, nahm ich die Patientenakte für Zimmer 2 und begann, zu schreiben. »Slim«, erklärte ich. »Ihr Bauch ist in Ordnung. Anscheinend ist da nichts Schlimmes. Denken Sie, dass es Ihnen guttäte, etwas zu essen?« Irgendwie kannte ich die Antwort auf diese Frage.

Slim begann, seinen eingefallenen Bauch zu reiben. »Nun, Herr Doktor, Sie wissen, dass mir das wahrscheinlich sehr guttun würde. Der Schmerz hat ein bisschen nachgelassen. Was glauben Sie, dass es zu essen gibt?« Hoffnungsvoll und zufriedener schaute er mich an.

»Ich weiß es nicht, Slim. Aber ich kümmere mich darum.«

Ich zog den Vorhang seiner Kabine zu und ging zur Schwesternstation.

»Amy, könnten Sie in der Cafeteria anrufen und fragen, ob sie etwas für Slim hochschicken können?«, fragte ich.

»Schon erledigt«, antwortete sie. »Eine doppelte Portion.«

Wie ich hatte sich auch Amy seit Jahren um Slim gekümmert. Sie war zweiunddreißig Jahre alt und eine der besten Sekretärinnen in der Notaufnahme. Und das wollte etwas heißen. Sie brauchte jede Menge gesunden Menschenverstand, Geduld und Tatkraft, um mit dem ständigen Trommelfeuer von Anrufen und hektischen Anordnungen, mit denen sie bombardiert wurde, fertigzuwerden. Abgesehen von diesen wichtigen Eigenschaften, war sie auch eine begeisterte Anhängerin des Motorsportverbandes NASCAR. In ruhigeren Augenblicken erzählte sie uns, dass sie die Hand des Rennfahrers Johnson geschüttelt hatte.

Eine halbe Stunde später verzehrte Slim stillvergnügt sein Essen. Wir bekamen mehr Arbeit. Ein Herzstillstand war unterwegs, und wir hatten zwei Patienten mit einer Kohlenmonoxid-Vergiftung, die das Glück gehabt hatten, rechtzeitig in die Notaufnahme zu kommen. Sie würden sich problemlos erholen.

Als ich aus Zimmer 3 trat, kam ich an Slims Vorhang vorbei. Ein widerwärtiger Gestank machte mich stutzig. Ich schaute mich um und warf dann einen Blick zur Schwesternstation. Amy starrte mich an. Sie schüttelte den Kopf, hielt sich mit einer Hand die Nase zu und zeigte mit der anderen anklagend auf Zimmer 2.

»Nein, nicht schon wieder!«, seufzte ich verärgert.

Sie nickte.

Zu Slims größeren Problemen in den letzten Jahren gehörte eine ungelegen auftretende Stuhlinkontinenz. Mit ungelegen meine ich, dass sie meistens bei uns auftrat, kurz nachdem er gegessen hatte. Man musste ihm zugutehalten, dass er sich immer entschuldigte.

Ich konnte nicht lange über diese unerfreuliche Geschichte nachdenken, denn die Eingangstüren sprangen auf. Zwei Rettungsassistenten eilten mit einer Krankentrage in den Kardiologie-Raum. Es war unser Herzanfall.

Der Patient war ein 92-jähriger Mann mit Krebs im Endstadium und fortgeschrittener Alzheimer-Krankheit. Für diesen alten Herrn konnten wir nichts mehr tun. Ich wies den Rettungsassistenten an, mit der Herzdruckmassage aufzuhören, und betrachtete den Monitor. Nulllinie. Er war tot. Er hatte keine Angehörigen, und auch vom Pflegeheim würde niemand kommen, um nach ihm zu schauen.

Ich dankte den Rettungsassistenten, machte einen Vermerk in die Akte und ging zur Schwesternstation zurück.

Als ich an Zimmer 2 vorbeikam, warf ich zufällig einen Blick hinein, denn der Vorhang war leicht geöffnet. Ich blieb stehen und beobachtete die Szene.

Lori war bei Slim im Zimmer. Sie hatte Handschuhe an und beseitigte die Folgen seines Magen-Darm-Unfalls. Und sie lächelte ihn an.

»Schwester, das tut mir schrecklich leid«, flüsterte er mit gesenktem Blick. Einem Mann fällt es schwer, seine Würde zu bewahren, wenn er mit heruntergelassener Hose an einem öffentlichen Ort sitzt.

»Das ist schon okay, Slim«, antwortete Lori und lächelte immer noch. »So etwas kommt vor. Ich bin froh, dass es Ihnen wieder besser geht.«

Sie fuhr fort, ihn zu reinigen. Der Geruch war immer noch fast unerträglich.