VII

Inhaltsverzeichnis

Es war eine Freiturnübung in Weißensee angesagt, unter dem Kommando des Leutnants Wachtl. Hundert Schritte von den anderen entfernt gingen Klitsche, Theodor und Günther. Gast war Günther, herzlich begrüßt und mit Witzen unterhalten. Man hörte das starke Lachen Klitsches.

Sie blieben stehen, beschlossen zu rasten, es hackte ein Specht unermüdlich, schüchtern pfiff ein Vogel, Hunderte Mücken tänzelten in der ungewöhnlich warmen Aprilsonne, frisch und betäubend roch der Waldboden.

Theodor möchte gern das Ende des Waldes sehen. Ach! Der Wald hat kein Ende, Theodor fiebert, er spürt einen Druck auf der Schädeldecke, als lasteten viele, viele Baumstämme auf seinem Kopfe. Tränen überquellen sein Auge, er kann nicht mehr sehen, er läßt sich neben Günther nieder.

Jetzt wartet er, wartet wie auf seinen eigenen Tod. Es kam zu schnell. Zu schnell. Theodor sah vor sich unzählige Baumstämme, die das Sonnenlicht brachen und dämpften. Aber die Bäume waren körperlos, Schattenbäume, sie standen nicht fest, sie befanden sich in einer fortwährenden, unmerklichen Bewegung, als wäre der ganze Wald eine Kulisse aus dünnem Schleierstoff, von einem ganz sanften Wind bewegt. Deutlicher als die Baumstämme, die sich vor ihm befanden, sah Theodor den Detektiv Klitsche hinter sich; sah, wie er eine Beilpicke erhob, mit beiden Händen, und sich reckte, fühlte, wie Klitsche den Atem anhielt, und dann schloß Theodor die Augen. Als er sie wieder aufschlug, sah er Günther neben sich niederbrechen, sah er den halboffenen Mund des Liegenden, den halben Schrei, den steckengebliebenen, und fühlte eine lastende Stille. So ruhig war es im Walde, als wartete alles auf den Todesschrei, der nicht kam.

Zwischen den Brauen Günthers, an der Nasenwurzel, steckte die Spitze der Beilpicke. Sein Angesicht war weiß, violett schimmernd unter den Augen. Noch atmete er. Der Daumen seiner linken, auf der Brust liegenden Hand bewegte sich wie ein kleiner, fleischiger, sterbender Pendel. Mit einem letzten Röcheln verzog er die Oberlippe, man sah seine Zähne und ein Stück weißlichgrauen Zahnfleisches.

Klitsche warf einen Sack über Günther, die Beilpicke ließ er stecken. Er schleppte ihn weiter über Tannennadeln, über Sandboden, über Zapfen, die leicht knisterten. Da war eine Grube, dahinein fiel Günther, Klitsche zog den Sack fort, um die Beilpicke zu entfernen.

Rot und steil, mit unendlich feinem Prasseln, schoß das lang gehemmte Blut aus Günthers Stirn hinauf in die Baumkronen, eine rote Schnur, und tropfte von den Tannen.

Es waren klebrige, zähe Tropfen, sie erstarrten sofort, im Niederfallen noch. Verkrusteten sich wie roter Siegellack. Unendliches, rauschendes Rot umgab Theodor. Im Felde hatte er dieses Rot gesehen und gehört, es schrie, es brüllte wie aus tausend Kehlen, es flackerte, flammte wie tausend Feuersbrünste, rot waren die Bäume, rot war der gelbe Sand, rot die braunen Nadeln auf dem Boden, rot der scharfgezackte Himmel zwischen den Tannen, in grellgelbem Rot spielte der Sonnenschein zwischen den Stämmen. Purpurne, große Räder kreisten in der Luft, purpurne Kugeln rollten auf und nieder, glühende Funken tänzelten zwischendurch, verbanden sich zu sanft gewellten Funkenschlangen, trennten sich. Aus Theodors Innerm kam das rauschende Rot, es erfüllte ihn, schlug aus ihm, aber es machte ihn leicht, und sein Kopf schien zu schweben, als wäre er mit Luft gefüllt. Es war wie ein leichter, roter Jubel, ein Triumph, der ihn hob, ein beschwingendes Rauschen, Tod der schweren Gedanken, Befreiung der verborgen, begraben gewesenen Seele.

Klitsche glitt aus, fiel nieder, stöhnte einmal. Die Beilpicke stand noch eine Weile in der Luft mit aufwärtsragendem Stiel, als wäre sie lebendig, und wankte seitwärts. Theodor griff sie auf. Er ahmte Klitsche nach, erhob die Beilpicke und ließ sie niedersausen. Klitsches Schädel krachte ein wenig. Weißgrauer und blutiger Brei quoll aus seiner Stirn.

Irgendwo hackte wieder der unermüdliche Specht, zwitscherte der schüchterne Vogel, stieg der schwere Dunst aus dem Waldboden.

Mit leichten Schritten ging Theodor durch den Wald, mürbe Zweige krachten unter seinen Füßen, leicht war er wie eine der hundert tänzelnden Mücken.

XV

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Unter den unzuverlässigen und verdächtigen Spitzeln, die Theodor abgeschafft hatte, befand sich Benjamin Lenz. Er lieferte doppelte Berichte: an Trebitsch und an Theodor. Von beiden erhielt er Geld. Seine Adresse kannte Theodor.

Benjamin Lenz, ein Jude aus Lodz, war im Krieg von einer Kundschafter-und Nachrichtenstelle als Spion verwendet worden. Sein Angesicht verriet ihn: seine starken Backenknochen warfen Schatten gegen die Augenhöhlen, der untere Stirnrand mit den Brauen sprang vor, und so lagen die kleinen schwarzen Augen wie in Talkesseln, ringsum geschützt, und die Richtung der Blicke war schwer zu erkennen, denn sie kamen aus entfernter Tiefe. Kurz und breit war das Kinn und die Nase flach. Aber dieser Schädel, der zu einem gedrungenen Rumpf gepaßt hätte, saß auf dünnem Hals, zwischen abschüssigen, schlanken Schultern. Benjamin Lenz hatte schmale Knöchel, dünne Handgelenke, lange, nervöse Finger.

Mit der heimkehrenden Armee war er nach Deutschland gekommen, durch viele Städte gewandert. Er hatte Empfehlungen von der Armee. Polizisten, mit Bosheit gegen solche aus dem Osten geladen, zwinkerten mit verständnisvollem Auge Benjamin zu. Ihre Gunst genoß er und kassierte unbehelligt im wandernden Panoptikum, drehte den Leierkasten des Karussells, fälschte Berichte für auswärtige Missionen, stahl in Amtsstuben Papiere und Stempel, spionierte in Oberschlesien, ließ sich mit Untersuchungshäftlingen einsperren und horchte sie aus und wartete auf »seinen Tag«.

Seine Idee hieß: Benjamin Lenz. Er haßte Europa, Christentum, Juden, Monarchen, Republiken, Philosophie, Parteien, Ideale, Nationen. Er diente den Gewalten, um ihre Schwäche, ihre Bosheit, ihre Tücke, ihre Verwundbarkeit zu studieren. Er betrog sie mehr, als er ihnen nützte. Er haßte die europäische Dummheit. Seine Klugheit haßte. Er war klüger als Politiker, Journalisten und alles, was Gewalt hatte und Mittel zur Macht. Er probte seine Kraft an ihnen. Er verriet die Organisationen an die politischen Gegner; den französischen Gesandtschaften verriet er Gelogenes, Wahres durcheinander; er freute sich an dem gläubigen Gesicht des Betrogenen, der aus den falschen Tatsachen Kraft zu neuer Grausamkeit schöpfte; über das dumme Erstaunen eingebildeter Diplomaten, kindischer, zahnloser Geheimräte, bestialischer Hakenkreuzler; freute sich, daß sie ihn nicht erkannten. Er irrte sich selten. Er hatte nicht gewußt, daß Klitsche tot war und ein anderer an seiner Stelle saß. So brachte ihn ein lange erfolgreich geübtes Manöver mit den Duplikaten, die Theodor entdeckte, in Verdacht. Er verschmerzte den Fall. Er arbeitete mit falschem Material für Trebitsch. Und sogar diesen übertraf er. Er spielte den dummen kleinen Spitzel. Aufträge ließ er sich einigemal erläutern. Verwickelte Geschäfte lehnte er ab. Er gab die Rolle eines Menschen, dessen Verstand gerade noch zur Erkenntnis seiner eigenen Beschränktheit ausreicht.

Und er wartete.

An »seinem Tag« mußte in ganz Europa der schlummernde Wahnsinn zum Ausbruch gekommen sein. Also vergrößerte er Verwirrung, steigerte Freude am Blut, Lust am Töten, verriet einen an den anderen, beide dem dritten und diesen auch. Er verdiente Geld. Aber er lebte in einem kleinen Zimmer eines schmutzigen Hotels. In geheimnisvollen Kellerlokalen aß er, mit Bettlern und Glühlampendieben. Er sparte für seinen Bruder, seine zwei Schwestern, seinen alten Vater. Der Vater war ein alter Feldscher in Lodz mit einer kleinen jüdischen Barbierstube. Die Schwestern Benjamins mußten eine Mitgift haben. Dem Bruder, der Chemie studierte, gab er den größten Teil seines Verdienstes. Dieser Bruder sollte einmal eine eigene Fabrik gründen können. Niemals kam Benjamin mit ihm zusammen. Niemals schrieb er nach Lodz an seinen Vater. Er hatte keine Zeit, Benjamin Lenz; er arbeitete für seinen Tag.

Theodor hatte ihn nicht nur wegen der Duplikate abgeschafft. Seine Klugheit roch er. Er fühlte das Judentum Benjamins; wie ein Jagdhund überall Wild wittert, so witterte Theodor Juden, wo er einer Überlegenheit begegnete.

Lenz kam eine halbe Stunde später, er ließ Theodor warten, er ließ jeden warten, der ihn brauchte. Aber Theodors Wunsch zu erfüllen, weigerte er sich. Er weigerte sich immer. Theodor Lohse zu den anderen führen? Den Genossen Trattner? Sie kannten ihn, kannten das Porträt Theodors. Klaften hatte ihn noch einigemal gezeichnet: naturgetreu.

Jene Affäre Klaften hatte Theodor begraben. Er fragte, wie sie ausgefallen sei. »Überhaupt nicht«, sagte Lenz. Thimme, der junge Attentäter, war ein Polizeispitzel gewesen. Goldscheider lag im Krankenhaus. Klaften war ein bekannter Maler. Das Porträt Theodors hatte in der Ausstellung einen Preis bekommen. Nach einer Viertelstunde weigerte sich Benjamin Lenz nicht mehr. Las er in den Menschen? Alles könnte man ja vergessen, sagte Lenz, wenn Theodor als Freund käme. Oder scheinbar als Freund.

Sie gingen.

XXX

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Einmal kam Theodor spät am Abend ins Büro und traf Benjamin Lenz vor offenen Schränken.

Lenz photographierte Akten.

Als er Theodor sah, zog er seine Pistole.

»Ruhe!« sagte Benjamin.

Theodor setzte sich auf den Tisch, er taumelte.

»Ruhe!« sagte Benjamin.

»Spitzel!« schrie Theodor.

»Spitzel?« fragte Benjamin. »Sie waren mit mir bei den Gegnern. Sie haben Aufmarschpläne verraten. Ich habe Zeugen. Wer hat Klitsche ermordet?«

»Gehen wir!« sagte Benjamin Lenz.

Und Theodor ging mit Benjamin aus dem Hause.

»Fahren Sie zu Ihrer Frau!« sagte Lenz und begleitete Theodor zu einem Auto.

»Und schlafen Sie gut!« rief Benjamin, während der Chauffeur kurbelte.

Und Theodor fuhr heim.

Seine Frau spielte noch vor dem Schlafengehen. Die Fenster waren offen, und eine milde Märzluft blähte die Vorhänge.

»Du wirst jetzt große Aufgaben haben!« sagte Elsa.

»Ja, mein Kind!«

»Wir müssen bereit sein!«

»Ich bin bereit!« sagte Theodor und dachte an eine Ermordung Benjamins.

Benjamin Lenz ging in der Nacht zu seinem Bruder. Die Brüder hatten einander lange nicht gesehen.

»Hier hast du Geld und einen Paß«, sagte Benjamin, »fahre heute noch weg!«

Und Lazar, sein Bruder, verschwand.

Sie kannten einander gar nicht, Lazar wußte nicht, was Benjamin trieb, woher er Geld nahm und Paß, aber er verschwand.

Alles wußte er, man schwieg oder sprach ein kleines, gleichgültiges Wort, und eine Welt war in dem kleinen, lächerlichen Wort.

Man konnte jedem beliebigen Juden aus Lodz ein einziges kleines Wort sagen, und er wußte.

Man braucht einem Juden aus dem Osten keine Erklärungen zu geben.

Sanfte braune Augen hatte Lazar, der Bruder. Sein Haar lichtete sich. Er studierte so viel. Er machte Erfindungen.

»Kannst du deine Studien unterbrechen?«

»Ich muß«, sagte Lazar und war auch schon fertig. Er hatte nur einen Koffer. Und der Koffer war gepackt. So, als hätte er diese Abreise jeden Augenblick erwartet.

»Bist du schon Doktor?« fragte Benjamin.

»Seit einem Jahr!«

»Woran arbeitest du?«

»An einem Gas.«

»Sprengstoff?«

»Ja!« sagte Lazar.

»Für Europa«, sagte Benjamin.

Und Lazar lachte. Alles verstand Lazar. Was war Benjamin dagegen? Ein kleiner Intrigant.

Aber dieser junge Bruder mit den sanften, golden schimmernden Augen ließ den ganzen Weltteil in die Luft fliegen.

Um halb eins ging der Zug nach Paris.

Auf dem Bahnsteig stand Benjamin.

»Vielleicht komme ich nach«, sagte Benjamin.

Dann winkte Benjamin. Zum erstenmal winkte er. Und der Zug glitt aus der Halle. Leer war der Bahnsteig, und ein Mann sprengte Wasser aus einer grünen Kanne.

Viele Lokomotiven pfiffen irgendwo auf Geleisen.

IV

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Es geschah in der Pestalozzistraße, an einem heißen Donnerstag und im Hof des Hauses Nummer 37 (der Kirche aus gelben Ziegelsteinen gegenüber, die, rings um sich, mitten in der Straße einen grünen Rasen geschaffen hatte, als hätte sie ihre Besonderheit vor allen anderen Häusern hervorheben wollen), daß Andreas Pum das Verlangen überwältigte, einen Marsch zu spielen, vielleicht, weil die wachsende Mattigkeit des Tages und Andreas’ eigene eine aufrüttelnde Unterbrechung notwendig machten.

Andreas stellte den Wirbel an der linken Seitenwand des Leierkastens auf »Nationalhymne« und drehte die Kurbel so hurtig, daß die feierlichen Klänge ihre langsame Pracht verloren und hastig zu hüpfen begannen, die Pausen vergaßen und wirklich eine entfernte Ähnlichkeit mit der Melodie eines Marsches erreichten.

Fünf Kinder standen im Hof, und zwei Dienstmädchen lehnten ergriffen über die Fensterbrüstungen. Eine schwarzgekleidete Frau trat aus dem Hausflur, lenkte ihre männlichen, zielbewußten Schritte in die Richtung, in der sich Andreas befand und blieb hinter ihm stehen. Sie legte eine kräftige Hand auf die Schulter Andreas Pums und sagte: »Mein guter Gustav ist gestern selig geworden. Spielen Sie was Melancholisches!«

Andreas, obwohl nicht feige von Natur, erschrak dennoch ob der Überraschung, brach ab, so daß die Kurbel mit aufwärts ragendem Griff steckenblieb, und wandte sich um. Dabei tat es ihm leid, daß die starke und warme Hand zögernd, aber notgedrungen von seiner Schulter glitt. Er sah der Witwe in das gerötete Antlitz. Es gefiel ihm. Wenn er auch nicht Zeit genug fand, ihr Alter abzuschätzen, so durchströmte ihn doch plötzlich die Erkenntnis, daß die schwarzgekleidete blonde Frau eine Witwe in jenem Alter war, welches man »das beste« nennt. Aus dieser Einsicht zog Andreas vorläufig noch keine weiteren Schlüsse. Allein, eine dunkle Empfindung breitete sich in ihm aus, daß diese Frau zugleich in den Hof und in sein Leben getreten war. Es war ihm, als beginne es in seiner Seele zu dämmern.

»Mit dem größten Vergnügen«, sagte Andreas und vollzog eine leichte Verbeugung mit dem Kopfe. Als erforderte ein melancholisches Lied ganz besondere Vorbereitungen, schraubte er mit wichtiger Umständlichkeit den Nationalhymne-Wirbel ab, gab der Kurbel einen Schwung, daß ihr Handgriff hinunterglitt und der letzte noch steckengebliebene Ton dem Kasten entfloh, ähnlich einem unterdrückten und abgebrochenen Gähnen. Hierauf drehte Andreas den viertletzten Wirbel. Er hatte eine Sekunde lang zwischen der »Lorelei« und »An der Quelle saß der Knabe« geschwankt. Er entschied sich für die »Lorelei«, weil er annahm, daß dieses Lied der Witwe bekannt sein müsse.

Diese Annahme bestätigte sich. Die Witwe, die sich in ihr Zimmer zurückgezogen hatte, um die melancholische Weise bequemer an ihrem Fenster zu genießen, begann zu singen. Sie bemühte sich, den Klängen des Instruments zuvorzukommen, so, als triebe sie die Ungeduld und der Ehrgeiz, sich und den Zuhörern zu beweisen, daß sie die Melodie auswendig kannte und gleichsam auf den Kasten nicht angewiesen war; während Andreas, im Gegensatz zu der Eile der Frau, eine ganz besondere Langsamkeit nötig befand und gemächliche Drehungen vollführte, um die Melancholie des Liedes deutlicher wirken zu lassen. Auch befand er sich selbst in jener Stimmung, die uns in entscheidenden Augenblicken unseres Lebens befällt und der wir gerne durch eine hervorragende Feierlichkeit nachzugeben gewohnt sind.

Nachdem er die »Lorelei« über eine Viertelstunde gedehnt hatte, kam die Witwe wieder in den Hof, Kuchen, Brot und eine Tüte mit Früchten in der Hand. Andreas dankte. Die Witwe sagte: »Mein Name ist Blumich, geborene Menz. Kommen Sie nach dem Leichenbegängnis wieder.« Andreas fand, daß es angemessen sei, ihr die Hand zu drücken. Er tat es, ihre geschlossene Faust mit seinen Fingern umspannend, und sagte: »Mein Beileid, Frau Blumich.«

An diesem Tage spielte er nicht mehr. Er begab sich zu einer Bank vor der Kirche, verzehrte den Kuchen und das Obst und verwahrte das Brot im Sack. Später als gewöhnlich kam er nach Hause. Willi hatte schon längst das Bedürfnis gefühlt, sich im Bett auszustrecken, und wartete nur noch aus Furcht, daß er einschlafen und später geweckt werden könnte, um aus dem Bett zu steigen und »dem Krüppel« die geschlossene Tür zu öffnen. Als Andreas das Zimmer betrat, erwiderte Willi den Gruß nicht. Das tat Andreas leid. Es war ein Tag, an dem er eine große Güte für Willi empfand. Er holte den Spirituskocher hervor, um seinen Tee zu bereiten. Willi ärgerte die Schweigsamkeit. Er hätte gerne mit Andreas gestritten. Deshalb sagte er: »Wenn du morgen wieder so spät kommst, zerschmettere ich deinen Kasten. Du mußt pünktlich kommen! Ordnung muß sein!« Andreas aber war gerade heute nicht leicht zu erzürnen. Er lächelte Willi an, legte das Brot auf den Tisch und sagte höflich, mit der Galanterie eines Mannes von Welt: »Bedienen Sie sich, Herr Willi.«

»Daß du mir aber pünktlich zu Hause bist!« sagte Willi und setzte sich an den Tisch. Eigentlich ein lustiger Bruder! dachte er und war bereits versöhnt. Er hatte noch eine Wurst vom letzten Spaziergang. Sie hing an einem Nagel über dem Bett. Sachte nahm er sie herab, brach sie in der Mitte entzwei und gab die Hälfte Andreas.

»Ich habe heute eine Frau kennengelernt«, drängte es Andreas zu sagen.

»Gratuliere!« sagte Willi.

»Eine Witwe, namens Blumich.«

»Jung?«

»Ja, jung.«

»Glückskind!«

»Ihr Mann ist gestern gestorben.«

»Und schon – ?«

»Nein!«

»Beeil dich, Freund! Witwen warten nicht lange!«

Dieses Wort merkte sich Andreas. Er war nicht gesonnen, Willi als einen hervorragenden Menschen zu schätzen, aber er gab zu, daß Leute dieses Schlages bessere Frauenkenner waren und eine Menge Erfahrungen gesammelt hatten. Vielleicht wäre es nützlich, ja sogar aus Schicklichkeitsgründen notwendig, am Leichenzug teilzunehmen? Vielleicht aber schickte es sich auch nicht wegen der Nachbarn – und auch der Frau Blumich war es gar nicht recht? Es schmerzte ihn fast, daß er ihren Vornamen nicht kannte. Er mußte sie in innigem Gedenken »Frau Blumich« nennen und fühlte, daß sie ihm längst keine Fremde mehr war. Je länger er an sie dachte, desto vertrauter war sie ihm. Kein Mensch auf Erden stand ihm so nahe wie sie. Niemandem glaubte er so nahe zu sein wie ihr, obwohl er keine Beweise dafür hatte. Denn war es nicht der Schmerz um den eben verlorenen Gatten gewesen, dem er, Andreas, ihre Bekanntschaft und ihre Freundlichkeit zu verdanken hatte? Vergaß eine Frau so leicht? Und – vermochte sie es, war sie noch wertvoll? Wer kannte die Frauen? Wer weiß, wie lange ihr Mann krank gewesen war, ein lebender Leichnam? Wie lange die Arme ihre natürliche Lebensfreude hatte hemmen müssen? Andreas wurde von Mitleid geschüttelt.

Auch heute ließ er eine Augenlidspalte offen, und sein Blick angelte nach der Brust des Mädchens. Aber kein Neid erfaßte ihn, sondern nur der Wunsch zu vergleichen. Jene kurzen Augenblicke im Hof hatten genügt, um ihm eine Vorstellung von der körperlichen Beschaffenheit der Frau Blumich zu vermitteln. Ach, sie war stämmig, und man sah, wie das knappe Kleid ihre widerspenstig strotzenden Brüste gleichsam im Kampf bändigen mußte; wie sich ihre Hüften breit und versprechend, kraftvoll und wollüstig gegen das Mieder stemmten; wie alles gesunde Fülle war und gar nichts überflüssig. Ein Strom von Leben und Lust kam aus ihren warmen Händen, und wie zwei kecke Wünsche waren ihre braunen, ein wenig rotgeweinten Augen.

War ein Mann wie Andreas einer solchen Frau ebenbürtig? Was gab er ihr? Gesund konnte man ihn wohl nennen, obwohl das fehlende Bein manchmal, vor den Regentagen, schmerzte. Das aber hing mit dem schlechten Leben zusammen. Er war stramm, er hatte breite Schultern, eine imponierend schmale und knöcherne Nase, schwellende Muskeln, dichtes braunes Haar und, wenn er nur wollte und sein Angesicht straffte, den kühnen Adlerblick eines Kriegsmannes, besonders, wenn der dunkle, noch lange nicht graue Schnurrbart nach beiden Enden hin flott gezogen war und mit Vaseline gefettet. Auch war er in Dingen der Liebe kein unerfahrener Knabe mehr, und gerade jetzt, nach langer Enthaltsamkeit, von vielversprechender Manneskraft gefüllt. Er war der Mann, eine anspruchsvolle Witwe zufriedenzustellen.

Mit diesen stolzen Gedanken schlief Andreas ein, mit ihnen wachte er auf. Zum erstenmal, nach langer Zeit, blickte er beim Ankleiden ausdauernd und peinlich genau in einen Spiegel, wie vor dem Appell in der Militärzeit. Das metallene Kreuz hauchte er an und rieb es am Ärmel blank, so daß es möglichst strahlend wurde. Dreimal setzte er den Kamm an, ehe er die gerade Linie des Scheitels gefunden hatte. Sein erster Weg führte in die Pestalozzistraße.

Unterwegs fiel ihm ein, daß er sich nicht oft genug rasieren ließ. An zwei Tagen in der Woche, Freitag und Dienstag, pflegte er die Lehrlingsschule der Barbiere aufzusuchen, wo die Lehrlinge schmerzhaft, aber umsonst die Bärte kratzten. Diese Lehrlingsschule sowie die Übung, sich nur zweimal wöchentlich rasieren zu lassen, erschienen Andreas unwürdig eines Mannes, der gesonnen war, dauernden und erfolgreichen Eindruck auf eine schmucke Witwe zu machen. Und jener siegreiche Leichtsinn, dem wir selig unterliegen, wenn wir einer Eroberung sicher sind, ergriff auch Andreas Pum gewaltsam und ward stärker als seine sonst so wachsame Besonnenheit. Andreas begab sich in eine Barbierstube, die sich nicht mit Unrecht Frisiersalon nannte, und begegnete, obwohl sein Leierkasten ein wenig Verwunderung hätte erregen müssen, dennoch derselben herzlichen und warmen Höflichkeit, die allen Eintretenden aus den Friseurläden wie eine milde Frühlingsluft entgegenströmt.

Er sah sich im Spiegel, das Gesicht weißbestäubt von Puder, seinen Scheitel glänzend von Öl, und den vornehmen Duft, der von ihm selbst ausging, atmete er mit stolzem Behagen. Der Entschluß, die Lehrlingsschule überhaupt nicht mehr, dafür aber diverse Friseurläden um so häufiger zu besuchen, wuchs in ihm unerschütterlich. Er straffte die Kopfhaut, die Stirn, rief die zwei kleinen imponierenden Falten an der Nasenwurzel hervor und brachte so den Adlerblick zustande, den er immer in den entscheidenden Augenblicken seiner militärischen Laufbahn angelegt hatte. Dann gelang es ihm, mit einer solch vornehmen Bewegung den Leierkasten umzuhängen, daß er fast einem Rechnungsfeldwebel glich, der seinen Säbel umschnallt.

Bedenken verschiedener Natur und Wichtigkeit überfielen ihn erst auf der Straße, in der Nähe des Hauses Nummer 37, wie eine lästige Fliegenschar. Er kam sich wie ein hartherziger Egoist vor, ein kalter Mensch und ein eitler obendrein, der ohne Rücksicht auf den schmerzvollen Tag der Witwe Blumich, vielleicht den schmerzvollsten ihres jungen Lebens, geckenhafte Toilette gemacht hatte. Was würde sie denken, wenn er so vor ihr erschiene, nachdem sie ihn gestern in seinem gewöhnlichen Zustand gesehen hatte? Würde sie nicht mit Recht beleidigt, getroffen, ja schmerzlich bewegt sein? Es war vielleicht überhaupt nicht günstig, heute die Witwe Blumich zu besuchen. Man müßte sich ein wenig auch vor dem toten Mann schämen, der noch nicht in der Erde lag. Andreas hätte eigentlich sehr viel Grund zu warten, der Witwe Zeit zu lassen, bis sie mit ihrem ersten Mann vollkommen ins reine kommen würde. Außerdem hatte sie ihn ja selbst nicht etwa für heute, sondern erst für morgen bestellt, ja man konnte sagen: gebeten.

An diesem Tage hatte Andreas Pum so viel Glück wie noch nie, seitdem er mit der Drehorgel in die Höfe wanderte. Sei es, weil die ungewöhnlich heiße Stunde alle Leute zwang, ihre Fenster weit offen zu halten, und sie den Klang einer Musik zum erwarteten Anlaß nahmen, Luft zu schöpfen und sich über die Brüstungen zu lehnen, sei es, weil ihnen der frischrasierte, saubere und mit einem glänzenden Kreuz gezierte Andreas ganz besonders sympathisch erschien – wir wissen nicht, wieso es kam, daß es rings um Andreas Geld regnete und daß er Mühe hatte, sich zu bücken, so oft mußte er es tun. Es war kein Zweifel mehr: das Glück war zugleich mit der Witwe Blumich in sein Leben getreten. Und lächelnd, mild und gütig, wie die Strahlen der untergehenden Sonne, die noch auf den Giebeln der Häuser ruhte, kehrte Andreas heim, lange noch vor Anbruch der Dämmerung, einen herzlichen Gruß für Willi auf den Lippen und mit einem gesegneten Appetit, der oft eine angenehme Begleiterscheinung einer gesunden Zufriedenheit zu sein pflegt.

IX

Inhaltsverzeichnis

Das Unglück Andreas Pums hatte noch einem anderen wohlgetan: dem Herrn Arnold nämlich. Sein Zorn war verraucht. Den unangenehmen Luigi Bernotat versuchte er zu vergessen. Morgen wollte er zum Rechtsanwalt gehen. Er küßte seine Frau und seine blühenden Kinder. Er sprach wieder freundlich mit dem Dienstmädchen. Und obwohl ein strenger Ernst über seinem Wesen und seinen Bewegungen und seinen Worten lag, atmete seine Umgebung dennoch auf. Er warf einen freundlichen Schatten auf seine Familie.

Andreas Pum aber ging in den Stall. Da stand Muli und hauchte Wärme aus. Eine Fledermaus hing im Winterschlaf zwischen zwei Pfosten, die im Winkel ein Dreieck bildeten. Das feuchte Stroh stank und war in der Nähe der Tür gefroren. Der Wind blies durch ihre Fugen. Andreas sah ein paar Sterne des nächtlichen Winterhimmels durch eine Ritze. Er spielte mit einem Strohhalm. Er flocht einen Ring aus drei Halmen und schob ihn auf das Ohr Mulis. Das Tier war gut und ließ sich liebkosen. Es hob mit freundlicher Langsamkeit einen Hinterfuß, und das sah aus, als hätte es den ungelenken Versuch gemacht, Andreas zu streicheln. Es war hell genug, daß man seine Augen sehen konnte. Sie waren groß in der Dunkelheit und bernsteingrün. Sie waren feucht, als stünden sie voller Tränen und schämten sich doch zu weinen.

Je weiter die Nacht fortschritt, desto kälter wurde es. Andreas hätte am liebsten gewimmert, wenn er sich nicht vor dem Tier geschämt hätte. Sein fehlendes Bein schmerzte wieder, nach langer Zeit. Er schnallte die Krücke ab und betastete seinen Stumpf. Er hatte die Form eines abgeflachten Kegels. Dünne Rillen und Vertiefungen zogen sich kreuz und quer über das Fleisch hin. Wenn Andreas seine Hand darauf legte, milderte sich der Schmerz. Aber der andere, der in seinem Innern wütete, hörte nicht auf.

Die Nacht war still und hell. Die Hunde bellten. Ferne Türen gingen. Der Schnee knisterte, obwohl ihn niemand betrat, und nur, weil der Wind über ihn hinstrich. Draußen schien sich die Welt zu weiten. Man sah durch die Ritze ein schmales Stückchen Himmel. Aber es gab eine deutliche Vorstellung von seiner Unendlichkeit.

Wohnte Gott hinter den Sternen? Sah er den Jammer eines Menschen und rührte sich nicht? Was ging hinter dem eisigen Blau vor? Thronte ein Tyrann über der Welt, und seine Ungerechtigkeit war unermeßlich wie sein Himmel?

Weshalb straft er uns mit plötzlicher Ungnade? Wir haben nichts verbrochen und nicht einmal in Gedanken gesündigt. Im Gegenteil: wir waren immer fromm und ihm ergeben, den wir gar nicht kannten, und priesen ihn unsere Lippen auch nicht alle Tage, so lebten wir doch zufrieden und ohne frevelhafte Empörung in der Brust als bescheidene Glieder der Weltordnung, die er geschaffen. Gaben wir ihm Anlaß, sich an uns zu rächen? Die ganze Welt so zu verändern, daß alles, was uns gut in ihr erschienen, plötzlich schlecht ward? Vielleicht wußte er von einer verborgenen Sünde in uns, die uns selbst nicht bewußt war?

Und Andreas begann mit der Hast eines Menschen, der in seinen Taschen nach einer vermißten Uhr sucht, nach verborgenen Sünden in seiner armen Seele zu forschen. Aber er fand keine. War es etwa eine Sünde, daß er die Witwe Blumich genommen hatte, und rächte sich jetzt ihr toter Mann? Ach! lebten die Toten? Hatte er sich je an Muli, dem Esel, versündigt? War das etwa ein Unrecht, daß er das Tier, als es einmal unterwegs stehenblieb und etwas Unerklärliches auf dem Boden suchte, mit einem sanften Schlag weitertrieb? Ach, war der Schlag auch sanft gewesen? War es nicht vielmehr ein harter, ein schmerzlicher, ein unbarmherziger? »Muli, mein Esel!« flüsterte Andreas und legte seine Wange an die Stelle, die er geschlagen hatte.

Gegen Morgen schlief Andreas ein. In seinen ersten Schlaf rauschte schon der frühe Lärm der Straßen. Das Tier blieb unbeweglich. Es ließ ein leises Grunzen hören und näßte das Stroh, das sofort gefror. Sein Urin roch schwer und betäubend.

Am nächsten Tag kam Andreas grußlos in die Stube. Er entnahm selbst Brot und Margarine dem Schrank. Die kleine Anna kam aus der Schule. Sie schmiegte sich an ihn, als wollte sie ihn versöhnen. »Spiel ein bißchen!« bat sie. Und Andreas spielte auf seinem Leierkasten die wehmütigsten Lieder, mit denen der Fabrikant das Instrument ausstaffiert hatte. »An der Quelle saß der Knabe« und die »Lorelei«. Und die Melodien erinnerten ihn an jenen glücklichen Sommertag, an dem er zum erstenmal in den Hof dieses Hauses gekommen war.

Oh, wunderbar war der Sommer, eine kostbare Schnur glücklicher Tage, Tage der Sonne und der Freiheit, der alten Lindenbäume in den gastfreundlichen Höfen. Die Fenster in allen Stockwerken flogen auf, rundliche rote Freudengesichter steckten die Mädchen wie festliche Lampions zu den Küchen hinaus, und der Duft guter Speisen sättigte die Nase. Lachende Kinder tanzten um die Musik, das Kreuz blinkte in der Sonne, die Uniform, heute von Stroh und Unrat beschmutzt, wie sauber und ehrfurchterregend war sie damals!

Katharina kam. Mit sachlichen, knappen Bewegungen hantierte sie im Hause. Sie schien ihren Mann gar nicht mehr zu sehn. Sie stellte wortlos und mit einem heftigen Ruck eine irdene Schüssel auf seinen Platz. Er kannte diese kleine Schüssel mit der schadhaften Glasur. Manchmal bekamen ein alter Bettler, eine verirrte Katze, ein zugelaufener Hund aus ihr zu essen. Katharina selbst schlürfte die Suppe aus einem rotgeränderten Porzellanteller. Auch hatte sie den Kohl von den Kartoffeln gesondert vor sich aufgestellt. Aber in der kleinen Schüssel Andreas’ mischte sich alles, und ein großer Knochen ragte zwischen dem Mischmasch wie ein Dachtrümmerstück im Schutt eines zerfallenen Hauses.

Was sollte er tun? Er aß und wurde demütig und richtete von Zeit zu Zeit sein Auge auf Katharina. Sie hatte ein rotes Gesicht und war sehr sorgfältig onduliert, mit vielen kleinen Wellchen, die bis zu den Augen reichten, und in der Mitte trug sie ein paar kurzgeschnittene und in die Stirn gekämmte, am Ende mit einem scharfen Lineal abgeschnittene Härchen, die wie Fransen eines Schals aussahen. Sie duftete wie ein Friseurladen nach allerlei Gerüchen, Patschuli mischte sich mit Haaröl und dieses mit Kölnischem Wasser. Ein anderer hätte sofort erkannt, daß Katharina einen ganzen Vormittag im Damenfrisiersalon zugebracht hatte. Andreas aber merkte nichts.

Ihn beschäftigte nur das Rätsel der plötzlichen Veränderungen, die sich um ihn vollzogen hatten. Es war wie eine Verzauberung. Er versuchte, sich den Vorfall in der Straßenbahn klar ins Gedächtnis zu rufen. Er sah wieder den Herrn, der ihn angegriffen hatte. War es nicht umgekehrt gewesen? Was hatte der Herr nur gesagt? Daß die Invaliden simulierten! Und es stimmte. Wie oft hatte Andreas selbst Simulanten gesehen. Woraus entnahm er eigentlich, daß der Herr ihn persönlich gemeint hatte? Er sprach ganz allgemein. Er ärgerte sich mit Recht über die Versammlung. Waren es doch Tagediebe, Rebellen, Gottlose, sie wollten die Regierung stürzen, und sie verdienten ihr Schicksal.

Es war eben eine Ausnahme, daß Andreas das Pech hatte, mit einem unfreundlichen Schaffner, mit einem verständnislosen Polizisten zusammenzustoßen. Sie sollen ihn nur vor Gericht bringen. Hier wird er kategorische Bestrafung der untergeordneten Organe verlangen. Hier wird er seinen Lebenslauf erzählen, seine Kriegsteilnahme, seine Begeisterung für das Vaterland. Er wird die Lizenz wiederbekommen. Er wird Katharinas Achtung aufs neue erringen. Er wird Herr im Hause sein. Der Mann seiner Frau. Sie stand auf. Ihre breiten, in ein Mieder gepreßten Hüften bewegten sich selbständig, und die strotzende Fülle ihrer Brüste zappelte, wenn sie einen Schritt machte. Andreas erinnerte sich an ihre gemeinsamen Liebesfeste, an den Druck ihrer nachgiebigen und dennoch muskulösen Oberschenkel, und er höhlte die Hand und glaubte wieder die breite, weiche, schwellende Endlosigkeit ihrer Brust zu fühlen.

Ach! laßt uns nur vor Gericht kommen. Dort sitzen keine ungebildeten Polizisten und keine rohen Schaffner. Die Gerechtigkeit leuchtet über den Sälen der Gerichtshöfe. Weise, noble Männer in Talaren sehen mit klugem Blick in das Innere des Menschen und sondern mit bedächtigen Händen die Spreu vom Weizen.

Hätte Andreas eine Ahnung von der Jurisprudenz gehabt, so hätte er gewußt, daß die Gerichte sich bereits mit ihm beschäftigten. Denn sein Fall gehörte zu jenen sogenannten »eiligen Fällen«, die nach einem Erlaß des modernen Justizministers sofort in Behandlung genommen wurden und zur Erledigung kamen. Schon hatten die großen, rollenden Räder des Staates den Bürger Andreas Pum in die Arbeit genommen, und ohne daß er es noch wußte, wurde er langsam und gründlich zermahlen.

XV

Inhaltsverzeichnis

Das kränkte Andreas Pum. Andreas empfand die Beschämung zurückgesetzter Menschen, die sich auf eine Karriere vorbereitet hatten. Daß man gerade ihn eingesperrt hatte, daß man gerade ihn zum Heidentum zwang, war eine Ungerechtigkeit, grausam, unentschuldbar und verbrecherisch. Wie lange war es denn überhaupt her, daß er, fast mit der Würde eines Beamten, jedenfalls aber mit dem gottesfürchtigen Sinn eines Priesters, die Lizenz in der Tasche, an einer belebten Straßenecke die Nationalhymne spielte und die Leute zur Vaterlandsliebe fast ebensosehr anspornte wie zur Wohltätigkeit? Daß ein Schutzmann auf ihn zuschritt und sich, respektvoll grüßend, wieder entfernte, weil er die Berechtigung Andreas Pums, die Nationalhymne zu spielen, anerkennen mußte?

Was war denn eigentlich geschehen? Wie konnte sich die Welt so schnell geändert haben?

Ach! sie hatte sich gar nicht geändert! Immer war sie so gewesen! Nur, wenn wir ganz besonderes Glück haben, werden wir nicht eingesperrt. Aber unser Schicksal ist es, Anstoß zu erregen und im Gestrüpp der willkürlich wuchernden Gesetze zu stolpern. Wie Spinnen sitzen die Behörden, lauernd in den feinmaschigen Geweben der Verordnungen, und es ist nur eine Frage der Zeit, wann wir ihnen anheimfallen. Und es ist nicht genug daran, daß wir einmal ein Bein verloren haben. Wir müssen unser Leben verlieren. Die Regierung, wie wir sie jetzt erkannt haben, ist nicht mehr etwas Fernes, hoch über uns Befindliches. Sie hat alle irdischen Schwächen und keinen Kontakt mit Gott. Wir haben vor allem gesehen, daß sie durchaus nicht eine einheitliche Macht ist. Sie gliedert sich in Polizei und Gericht und wer weiß noch wie viele Ministerien. Der Kriegsminister mag jemandem eine Auszeichnung verleihen, und die Polizei sperrt ihn dennoch ein. Das Gericht mag ihn vorladen, und der Herr Kommissär tut es auch. So wurde mancher gottlos, ein Heide und ein Anarchist.

Manchmal dachte Andreas, daß es notwendig wäre, sich wieder vernehmen zu lassen. Und einmal, als der Direktor der Strafanstalt, wie er es jede Woche seiner Vorschrift gemäß tat, die Zelle inspizierte, erzählte ihm Andreas seine Geschichte. Der Direktor war ein sehr strenger Mann, aber er glaubte, daß der Bestand des Staates von dem Ausmaß der Gerechtigkeit abhänge, die in seinen Grenzen zur Anwendung gebracht werde. Er ließ ein Protokoll mit Andreas Pum aufnehmen und versprach, »die Sache in die Wege zu leiten«.

Von diesem Tage an erfüllte Andreas Pums Brust eine neue kleine Hoffnung. Zwar wußte er nicht, zu wem er zurückkehren sollte. Zwar hatte er das Wichtigste verloren, das ein Mensch in Freiheit nötig hat, um mit frohem Sinn und Erfolg verheißender Kraft ein neues Leben zu beginnen: den Glauben nämlich, die Heimat der Seele. Und auch sein Körper hatte keine Heimat mehr. Von Katharina wollte er sich scheiden lassen. Wahrscheinlich hatte sie selbst schon die Scheidungsklage eingereicht. Sollte er zu Willi zurückkehren? Ein Straßenbettler werden? Würde er auch die Lizenz wiederkriegen? War es nicht überhaupt besser, er blieb in dieser Zelle, freiwillig, ein Leben lang?

Eines Tages erwachte er sehr früh. Er wußte nicht, wie spät es war, es konnte jedenfalls noch nicht sechs sein. Denn um sechs wurden die Sträflinge geweckt. An der Stelle, an der sein Bein abgesägt war, spürte er Schmerzen. Es mußte sich irgendeine bedeutsame Änderung des Wetters zugetragen haben. Plötzlich wurden leise plinkende Tropfen vernehmbar. Es regnete offenbar.

Andreas stand auf. Er schnallte seine Krücke an und stellte sich unter das Fenster. Jetzt hörte er den Regen ganz deutlich. Wäre das Fenster nicht in so tiefer Mauerbuchtung eingefaßt gewesen, so hätte der Regen sogar an die Scheiben getrommelt. So klatschte nur von Zeit zu Zeit ein einzelner Tropfen gegen eine Gitterstange. Jedenfalls aber stand fest: es regnete.

Auf einmal erwuchs aus verschütteten Jahren ein Tag aus Andreas’ Jugend. So war er mitten in der Nacht aufgestanden, von Erwartung und Unruhe getrieben, und hatte festgestellt, daß die Macht des langen Winters gebrochen war. Damals hatte er den Morgen gar nicht erwarten können, und auch jetzt konnte er es kaum. Was erschütterte ihn denn eigentlich so? Jahr um Jahr war er gewohnt, den regelmäßigen Wechsel der Jahreszeiten zu erleben, und seit mehr als dreißig Jahren hatte auf ihn der erste Regen keinen Eindruck gemacht. Er mußte weit zurückgreifen in die verschollene Jugend.

Und er sah die enge Gasse der ganz kleinen Stadt, in der er geboren war, und wie sie den einziehenden Frühling begrüßte, ihm spielende Kinder entgegenschickte und große Wasserbottiche, in denen sich das Regenwasser fangen sollte; wie sie ihre Kanalgitter öffnete, weil sie verstopft waren, und wie der Regen ungehemmt und in rastlos stürzenden, schäumenden, gurgelnden Fluten in die Untergründe der Gasse drang, wie er die schmutzigen winterlichen Schneereste an den Rändern des Bürgersteigs mit vernichtender Wut verschwinden, zerrinnen, Nichts werden ließ.

Ach, es wurde Frühling; und er sah es nicht! Die Welt änderte sich, und er war gefangen.

Jetzt klopfte der Wärter, und Andreas rief »Hier!« so schnell, daß der vorsichtige Beamte die Tür aufschloß und den angekleideten Andreas mit verwundertem Mißtrauen betrachtete. »Schon auf?« fragte der Wärter.

»Mein Knie schmerzt so!« antwortete Andreas.

»Heut ist kein Ausgang!« sagte der Wärter und schloß die Tür.

Oh, warum war heut kein Ausgang?

Die Finsternis lichtete sich, löste sich langsam in das gewohnte Dunkelgrau auf. Es wurde Tag. Der Regen wurde stiller. Auf einmal begann ein Vogel zu zwitschern. Eine ganze Vogelgruppe zwitscherte. Einige Spatzen drängten sich gegen das Gitter. Sie schrien und schlugen mit den Flügeln.

Andreas betrachtete die Vögel und lächelte. Er lächelte mild wie ein Großvater, der seinen spielenden Enkeln zusieht. Niemals hatte er sich um Spatzen sonderlich bekümmert. Jetzt schien es ihm, als hätte er eine alte Schuld an sie abzutragen. Er hätte sie gerne mit Brotkrumen gefüttert.

Er nahm sich vor, den Wärter darum zu bitten.

Als man ihm das Frühstück brachte, bat er den Wärter, einen Augenblick zu bleiben.

»Hören Sie«, sagte er, »bringen Sie eine Leiter! Ich möchte den armen Spatzen ein paar Brotkrumen streuen.«

Wenn Andreas dem Wärter zugemutet hätte, ihm die Schlüssel zu allen Zellen herauszugeben, die Überraschung wäre nicht größer gewesen. Der Beamte versah hier seit sechsundzwanzig Jahren seinen Dienst. Von all den Tausenden Häftlingen, die seiner strengen Obhut anvertraut gewesen, hatte noch keiner einen solch verrückten Wunsch geäußert. Der Wärter dachte, von seinem beruflichen Argwohn gefaßt, der seine zweite Natur geworden war, zuerst an eine List des Häftlings. Er beleuchtete mit seiner Taschenlampe Andreas, um dessen Gesicht zu erforschen.

»Wie kommen Sie darauf?« sagte der Wärter.

»Sie tun mir sehr leid, die armen Vögelchen!« sagte Andreas mit einer solch erschütterten Stimme, daß der Wärter zu glauben anfing, Andreas sei verrückt.

»Lassen Sie sich nicht auslachen!« sagte er. »Der Herr sorgt für die Vögel. Essen Sie lieber das teure Brot allein!«

»Meinen Sie?« sagte Andreas. »Ist es so sicher, daß Gott für die Vögel sorgt?«

»Das ist nicht Ihre Sache!« erwiderte der Beamte. »Und meine auch nicht. Wozu hat man denn die Gesetze? Ich kenne meine Vorschriften. Es ist verboten, Leitern in die Zellen zu bringen. Wenn Sie krank im Gehirn sind, müssen Sie sich beim Herrn Doktor melden! Ich kann Sie ja aufschreiben, dann kommen Sie zur Marodenvisite. Wenn Ihnen der Herr Direktor es erlaubt, dann können Sie ja auch die Vögel füttern. Aber ein Gesuch müssen Sie machen.«

»Ich will ein Gesuch machen!« sagte Andreas.

Der Beamte notierte den Wunsch in sein Dienstbuch. Nach einer Stunde brachte er Papier, Tinte und ein Pult. »Schreiben Sie Ihr Gesuch«, sagte er, »der Herr Direktor hat es erlaubt.«

Andreas bat den Beamten um Hilfe. Dieser entzündete eine Kerze und zog seine Brille an. Dann diktierte er:

»An die hochwohllöbliche Direktion!

Endesgefertigter ersucht um die Bewilligung, einmal täglich den Spatzen sowie Vögeln anderer Art an den Fenstern seiner Zelle Brot und Speisereste auslegen zu dürfen.

Unterschrift: Andreas Pum, derzeit Häftling.«

Dieses Gesuch steckte der Beamte ein.

Am Nachmittag kam der Doktor. Er hegte Zweifel an der geistigen Gesundheit Andreas Pums. Er begann, sich mit dem Häftling zu unterhalten. Andreas ergriff die Gelegenheit, auch dem Arzt seine Geschichte zu erzählen.

Der Doktor tröstete. Der Direktor, sagte er, würde schon die Sache in die Wege leiten. Andreas möge nur Vertrauen haben.

»Aber die Spatzen zu füttern, wird man Ihnen nicht erlauben! Es ist so was einfach zu umständlich. Man kann Ihnen doch nicht eine Leiter in die Zelle bringen!«

»Wozu hab ich dann ein Gesuch geschrieben?«

»Das ist Vorschrift. Wenn Sie einen Wunsch haben, müssen Sie ihn schriftlich äußern. Aber erfüllt wird er Ihnen nicht.« Der Doktor lächelte. Er war ein alter, beleibter Herr mit grauen Stoppeln auf Wangen und Doppelkinn. Er trug eine unmoderne, goldgeränderte Brille. »Überlassen Sie doch dem lieben Gott die Sorge um seine Vögel!«

»Ach, Herr Doktor!« sagte Andreas traurig. »Manche sagen:

Überlassen wir Gott die Sorge um diesen Menschen! Dann sorgt Gott nicht!«

Der Doktor lächelte wieder: »Es ist nicht gesund, ein Philosoph zu sein. Dazu reicht Ihre Kraft nicht. Man muß glauben, lieber Freund!« Der Doktor wußte bereits, daß er es mit einem Narren zu tun hatte; aber auch, daß dieser Narr ungefährlich war. Im übrigen hatte er noch im ganzen drei Wochen abzubüßen. Also beschloß er, Andreas sich selbst und seinen philosophischen Gedanken zu überlassen. Außerdem erwartete der Doktor heute seine Nichte. Er mußte zur Bahn und vorher noch einmal nach Hause. Und da er ein Menschenfreund war, reichte er Andreas die Hand.

Spät am Tage, es mochte vor Anbruch der Dämmerung sein, sah Andreas, wie draußen der Himmel sich lichtete. Ein Stückchen strahlenden Blaus war sogar durch die schmutzige kleine Scheibe zu sehen. Und wieder lärmten die Spatzen.

Dann vernahm er den leichten Trab eines Wägelchens, das regelmäßig jeden Tag hörbar wurde.

Obwohl es erst Februar war, nahm er an, daß die Knospen an den Weiden und Kastanien schon ziemlich groß sein müßten. Er dachte an sie mit derselben Zärtlichkeit, die er für die Vögel übrig hatte. Er nahm sich vor, einen weiten Spaziergang zu unternehmen, wenn man ihn freiließe.

In dieser Nacht schlief er spät ein. Er hatte Schmerzen im Knie. Der Wind wütete draußen und in den langen Gängen der Anstalt.

Am nächsten Tage war wieder Inspektion. Der Direktor sagte, die Sache laufe gut. In zwei Wochen könnte sie erledigt sein. Andreas würde also eine Woche früher freikommen. Man würde ein neues Verfahren einleiten. Dann könnte Andreas sich vor Gericht beschweren. Dann würde man ja das Unrecht einsehen und Andreas freisprechen. Er, der Direktor, wolle jedenfalls ein hervorragendes Zeugnis schreiben. So ein Zeugnis hätte er noch niemandem geschrieben. Und was die Fütterung der Spatzen anbelange, so sei dergleichen nicht üblich. Die Anstalt sei schließlich kein Tierschutzverein.

In diesem Augenblick entdeckte der Herr Direktor, daß der Kübel, in dem Andreas seine Bedürfnisse zu verrichten hatte, nicht neben dem Fenster, sondern in der Nähe der Bank stand, und weil der Herr Direktor die Ordnung fast genauso liebte wie die Menschlichkeit, sagte er streng: »Ihre Pflichten aber dürfen Sie nicht vernachlässigen!« Und genauso wie Willi fügte er hinzu: »Ordnung muß sein!«

Er ging, und hinter ihm klirrte der Säbel des Wärters.

XIX

Inhaltsverzeichnis

Von einer Turmuhr schlug die zehnte Vormittagsstunde. Eine zweite Uhr wiederholte die zehn Schläge. Mit langgezogenen, wehklagenden Tönen fiel eine dritte ein. Viele Türme, alle Türme der großen Stadt warfen Glockenschläge hinunter auf die kupfernen Dächer.

Andreas stand vor dem Richter. Die Vorladung hatte er soeben dem Gerichtsdiener übergeben. Der trug sie mit weihevoller Gebärde zum Schreiber, er schritt auf den Zehenspitzen, um die andächtige Stille des Gerichtssaals nicht durch den schweren Tritt seiner offenbar genagelten Stiefel zu unterbrechen, und dennoch war in seinem Gang etwas Gewichtiges, wie in dem Parademarsch eines lautlosen Gespenstes. Der Schreiber war uralt und hatte eine schiefe Schulter. Auch kurzsichtig schien er zu sein. Denn seine Nase berührte fast den Tisch, auf dem er schrieb, und die Spitze seines Federhalters ragte dünn und drohend, wie ein geschliffener Speer, über den Rand seines Kopfes. Noch hatte die Verhandlung nicht begonnen, und dennoch lief die Feder mit schnellen, raschelnden Lauten über das Papier, als gälte es, die Aussagen der Jahrhunderte abzuschreiben.

Der Richter saß in der Mitte zwischen zwei blonden, wohlgenährten Männern mit blanken Glatzen. Andreas hätte gerne gewußt, was die beiden Männer dachten. Sie sahen aus wie Zwillinge und unterschieden sich lediglich dadurch, daß der eine die Enden seines Schnurrbarts emporgezwirbelt, der andere sie nach beiden Seiten, links und rechts, waagrecht ausgezogen hatte. Der Richter war bartlos. Er hatte ein unbewegliches Antlitz voll steinerner Majestät wie ein toter Kaiser. Seine Gesichtsfarbe war grau wie verwitterter Sandstein. Seine großen grauen Augen waren alt wie die Welt und schienen durch die Wände in ferne Jahrtausende zu blicken. Nicht bogenförmig gekrümmt, wie bei anderen Menschen, sondern waagrecht, wie zwei lange, schwarze Kohlenstriche standen die Brauen am unteren Rande der scharfen, kantigen Stirn. Die dünnen Lippen waren fest geschlossen, breit und blutigrot. So hätte dieses Angesicht wohl den Eindruck einer herzlosen Unerbittlichkeit hervorgerufen, wenn in der Mitte des männlichen starken Kinns nicht eine versöhnende, fast kindliche Mulde gewesen wäre. Der Richter trug einen schwarzen Talar mit einem kleinen, noch schwärzeren Samtkragen.

Auf dem erhöhten Tisch, zwischen zwei weißen und dicken, aber nicht gleich großen Kerzen stand ein Kreuz, gelb und wuchtig, wie aus Würfeln aufgebaut. Es schien Andreas, daß dieses Kreuz aus den Seifenwürfeln bestand, die ihm Willi zum Verkauf übergeben hatte. Aber das war nur der Irrtum eines Augenblicks. Andreas sah ein, daß ein Kreuz niemals aus Seife sein könne und daß es sündhaft wäre, so etwas zu denken.

Er war gespannt auf den Gang der Verhandlung. Manchmal ging die Tür auf. Dann sah Andreas auf einer Bank im Korridor seine Frau Katharina, die kleine Anni, den Herrn von der Plattform der Straßenbahn und seltsamerweise auch den rotbackigen Händler, der den Esel gekauft hatte. Das waren die Zeugen. Wo aber blieben der Polizist und der Schaffner?

Der Richter verlas den Namen: Andreas Pum, er murmelte die Daten, die Konfession, den Geburtsort, den Beruf. Dann erhob er seine Stimme, die tief und weich war, und sagte ein paar Worte, die wie in Samt gehüllt waren. Andreas hatte nur den Klang der Stimme gehört und nicht, was der Richter sagte. Dennoch wußte er, daß man ihn aufforderte zu erzählen.

Plötzlich entsann er sich, daß er noch die bunten Orden an seiner Brust trug, die ihm Willi gekauft hatte. Er riß sie schnell herunter und behielt sie in der Faust. Gleichzeitig bemerkte er, daß die Wände des Gerichtssaales aus blaßblauen Kacheln bestanden, nämlich denen der Toilette im Café Halali. Von der Decke, die unendlich hoch sein mußte, zu der er aber nicht emporzublicken wagte, wehte es kühl und duftend, wie im Sommer aus einem verdunkelten Friseurladen.