Koch, Sabine In den Fängen des Waldes

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© 2020 Piper Verlag GmbH, München

Redaktion: Diana Napolitano

Covergestaltung: Giessel Design

Covermotiv: Bilder unter Lizenzierung von Shutterstock.com genutzt

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Widmung

Für alle, die nie aufhören, nach der Wahrheit zu suchen.

Kapitel 1

Mein Wagen rumpelt über den Kiesweg, der tiefer und tiefer hineinführt in das Grauen, das sie verschluckt hat. Als die Steigung zunimmt, fluche ich darüber, kein glücklicher Besitzer eines Allradantriebs zu sein. Mit Ach und Krach schafft es meine Klapperkiste, den Hügel zu überwinden, dann breitet sich Erleichterung in mir aus, als ich die Ebene vor mir ausmache. Vorerst erwartet mich keine weitere Steigung, und ich bete innerlich, dass mir wenigstens der Weg ab hier keine Schwierigkeiten bereitet. Mein GPS hat längst den Geist aufgegeben, Google Maps ist machtlos, auf meinem Handy prangt statt der üblichen Balken ein X, das meinen Mund trocken werden lässt. Nicht dass ich viel Hoffnung hatte, in dieser Gegend Empfang zu haben, aber die Gewissheit, vollkommen auf mich allein gestellt zu sein, wiegt letztendlich doch schwerer, als ich dachte. Auf WLAN kann ich in der Hütte, die ich gemietet habe, kaum hoffen. Der Besitzer hat mich bereits darauf vorbereitet, dass ich von Glück sprechen kann, wenn der Strom funktioniert. Einen Moment bin ich abgelenkt, mein Blick hängt an dem Foto fest, das auf der Beifahrerseite in der Sonnenblende klemmt. Ihr Lächeln, seine funkelnden Augen … mein Herz friert für eine Sekunde ein, und ich kann gerade noch das Lenkrad herumreißen bevor ich gegen einen Baum krache.

»Scheiße«, murmle ich und fahre mir mit der Hand durchs Gesicht.

Ich stoppe das Fahrzeug, lege meinen Kopf auf das Lenkrad und zwinge mich durchzuatmen. Zwar bin ich erst seit eineinhalb Stunden unterwegs, aber meine Augen sind von den letzten zwei Wochen noch zu geschwollen, um lange konzentriert bleiben zu können. Als ich die Tür öffne und aussteige, um mir die Beine zu vertreten, erwarten meine Lungen Ströme frischer Herbstluft, die ihnen die nötige Erfrischung bringen. Doch die Erwartungen meines schmetterlingsförmigen Organs werden nicht erfüllt. Die Luft, die hier zwischen den Bäumen hängt, drückt den Schmetterling zusammen, statt ihn auszudehnen. Schweißperlen sammeln sich auf meiner Stirn, und ich laufe ein Stück, komme aber nicht weit. Ununterbrochen muss ich mich umsehen, habe das Gefühl, als würde hinter jedem Baumstamm ein Paar Augen lauern. Einerseits ist da die Hoffnung, eines davon könnte Lina oder Tom gehören, andererseits weiß irgendetwas in mir, dass die Blicke des Waldes nicht von vertrauten Personen ausgehen.

»Das ist doch bescheuert.« Ich schüttle den Kopf über meine Paranoia, doch als es hinter mir knackt, drehe ich mich so schnell um, dass sich das Knackgeräusch in meinem Nacken fortsetzt. Mein Atem geht stoßweise, und ich sprinte zurück ins Auto, knalle die Tür hinter mir zu und taste mit meinem Finger nach dem Knopf der Zentralverriegelung. Ohne zurückzuschauen starte ich den Motor. Erst nachdem die falsch eingestellte Zeitanzeige unter meinem Tachometer zwanzig Minuten weitergezählt hat, beruhigt sich mein Herzschlag.

»Total bescheuert.« Ich kann es mir nicht erlauben, schon auf der Anreise verrückt zu werden. Weitere zehn Minuten später schlängelt sich der von Laub bedeckte Kiesweg um eine so enge Kurve, dass ich froh bin nicht bei Regen und entsprechend auf nassen Blättern unterwegs zu sein. Von Weitem kann ich jetzt die Hütte ausmachen, vor der der Besitzer bereits auf mich wartet. Sie sieht noch heruntergekommener aus als auf den Fotos im Internet, so, wie man es von der Urlaubsplanung gewohnt ist. Nur dass das hier alles andere als Urlaub ist. Ich parke vor meiner Behausung auf unbestimmte Zeit und kämpfe gegen das beklemmende Gefühl an, das sich bei deren Anblick in mir breitmacht.

Den Besitzer schätze ich auf Mitte 50 und staune nicht schlecht, als er sich mir mit perfekt gestylter Gelfrisur, Anzughose, gebügeltem Hemd und Krawatte vorstellt. Ich erwidere seinen festen Händedruck.

»Frau Höffner, schön, Sie kennenzulernen. Haben Sie gut hergefunden?«

»Danke, ja.« Offenbar bemerkt er meine fragenden Blicke.

»Ich komme direkt von der Arbeit, so laufe ich normalerweise nicht durch den Wald.«

Ich ringe mir ein Lächeln ab. »Verstehe.«

»Wollen wir?« Er zeigt in Richtung der Eingangstür, und wir setzen uns in Bewegung. Das Interieur der Hütte wirkt erstaunlich gemütlich und ist moderner, als ich erwartet hatte. »Wie gesagt fällt der Strom manchmal aus, dagegen ist man hier oben leider machtlos. Im Schrank«, er zeigt auf einen dunkel angestrichenen Schrank im Landhausstil an der Wand uns gegenüber, »finden Sie Kerzen und Feuerzeuge.«

»Perfekt.« Mein Lächeln kommt mir jetzt, da ich sehe, dass ich wenigstens besser untergebracht sein werde, als ich dachte, leichter über die Lippen.

»Wasser sollten Sie durchgehend haben, nur warm wird es leider nicht sein.«

»Ich dusche sowieso kalt.«

»So eine sind Sie also. Das erklärt auch, warum Sie sich ganz allein hier hochtrauen, Sie sind mutig. Meine Frau würde sterben vor Angst.« Nun ist er es, der lächelt. Ich weiß nicht was ich antworten soll, also lasse ich es. »Was führt Sie eigentlich her? Ich muss zugeben, ich hatte noch nie nur einen einzelnen Gast hier, immer Paare.«

»Ich wollte einfach mal meine Ruhe.« Ich spüre, wie die Lüge sich in mir ausbreitet wie ein Virus und ignoriere den stechenden Schmerz in meiner Brust, als sie mein Herz erreicht.

»Na, die werden Sie hier auf jeden Fall haben. Handtücher sind im Bad, das Bett ist frisch überzogen, und Wanderkarten finden Sie in der Kommode da drüben. Brauchen Sie noch was?«

»Nein, danke. Ich denke, ich habe alles.«

Er schüttelt mir erneut die Hand und begibt sich zur Tür. Seine polierten Anzugschuhe lassen die Dielen knarzen beim Gehen. »Dann wünsche ich Ihnen einen angenehmen Aufenthalt. « Ich nicke dankend und begleite ihn zum Ausgang. »Erholen Sie sich gut«, sagt er noch, dann schließe ich die Tür hinter ihm.

Aus dem Fenster sehe ich seinem Mercedes nach, bis er um die enge Kurve verschwunden ist. Dann verschluckt mich die unendliche Stille dieses Ortes und lässt die Schreie in meinem Inneren umso lauter wirken.

Kapitel 2

Ich kann nicht schlafen. Der Wind zerrt an den Fensterscheiben und rüttelt an den Ästen, die durch das Mondlicht wandern und Schatten durch den Raum schicken. Schatten, die nach mir zu greifen scheinen. Selbst wenn ich die Augen schließe, sehe ich sie, während in meinen Ohren das Heulen der Böen dem eines hungrigen Wolfes ähnelt. Unruhig werfe ich mich hin und her, ziehe mir die Decke über den Kopf, stecke mir Kopfhörer in die Ohren und drehe die Musik auf meinem Handy voll auf. Aber auch die sanften Klänge meiner Meditations-Playlist können mich nicht beruhigen. Das kann schon zu lange nichts mehr. Erst als draußen der Regen einsetzt und in wirren Bahnen auf das Dach der Hütte prasselt, wiegt mich der beständige Rhythmus in den Schlaf.

Keine drei Stunden später wecken mich die ersten Sonnenstrahlen, und ich stehe auf, um mir bei einer kalten Dusche den Schweiß vom Körper zu waschen. Die kleine Küchenzeile beherbergt trotz ihrer spärlichen Ausstattung eine Kaffeemaschine, die ihrem Aussehen nach zu urteilen schon den Mauerfall miterlebt hat. Ich staune nicht schlecht, als ich in einer der hintersten Ecken des Küchenschränkchens Kaffeefilter und Pulver finde. Das Gebräu schmeckt scheußlich, aber es erfüllt seinen Zweck.

Nachdem ich mir wahllos irgendwelche Klamotten aus meinem Koffer angezogen und meine noch nassen Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden habe, legt sich ein Gefühl der Ernüchterung über mich. In meiner Verzweiflung habe ich gestern meine Sachen gepackt, die einzige noch verfügbare Unterkunft gebucht und mich ins Auto gesetzt. Voller Tatendrang, entschlossen, meine Tochter und meinen Mann wiederzufinden, wenn schon die Polizei nichts dergleichen zu tun vermag. Erst jetzt fällt mir auf, dass ich überhaupt keinen Plan habe. Was habe ich mir bloß dabei gedacht, einfach zu verschwinden? Ich habe hier nicht einmal Empfang. Was ist, wenn die Polizei mich kontaktieren muss? Oder wenn sie Lina und Tom doch finden und mich nicht erreichen können? Wie soll ich überhaupt vorgehen?

»Beruhig dich«, rede ich mir selbst ein und zwinge mich dazu, einmal tief ein- und auszuatmen.

In der Kommode finde ich die versprochenen Wanderkarten und klappe die erstbeste davon auf. Mit dem Finger fahre ich über das vergilbte Papier, bis meine abgenagte Fingerkuppe auf das Waldstück stößt, in dem einer der Spürhunde Linas Schal gefunden hat. Meine Hand beginnt zu zittern, also ziehe ich sie weg und knete sie unter dem Tisch in meiner anderen, bis sie sich beruhigt.

Die Polizei schließt ein Gewaltverbrechen aus und geht von einem Unfall aus, oder noch schlimmer. Sie denkt, Tom könnte mit Lina davongelaufen sein. Die Suche wird wohl bald eingestellt, obwohl ich es besser weiß. Tom würde mich niemals im Stich lassen, nicht nach allem, was wir durchgemacht haben. Ja, wir hatten in letzter Zeit unsere Probleme, aber die hätte jeder in unserer Situation. Nein, Tom ist nicht abgehauen. Und Tom würde nie mit Lina gefährliche Wege gehen, was soll denn bei ein paar netten Spaziergängen auf befestigten Waldwegen großartig passieren?

Mein Blick schweift über die Karte und bleibt wieder auf dem Waldstück hängen, in dem der Schal lag. Es hat keinen Sinn, diese riesige Waldfläche allein abzusuchen. Außerdem hat das die Polizei längst getan. Unterhalb des Waldes zeigt mir die Karte ein Dorf an, und ich beschließe, mich als Erstes dort umzusehen. Wenn ich die Straße weiterfahre, auf der ich hergekommen bin, sollte ich direkt im Ort herauskommen. Ich brauche sowieso Lebensmittel, obwohl ich seit Wochen keinen Appetit mehr verspüre.

Beim letzten Schluck meiner Kaffeeplörre verziehe ich das Gesicht, halte einen Moment inne, um mir die müden Schläfen zu reiben und packe schließlich die Wanderkarte in meine Handtasche. Ich schnappe mir den Schlüssel von der Kommode, ziehe meine Nikes an, die ihre besten Zeiten lange hinter sich haben, und trete aus der Tür.

 

Der Wald liegt an diesem Morgen so friedlich im Sonnenlicht, dass ich mich beinahe selbst dafür auslache, mich gestern darin gefürchtet zu haben wie ein verschrecktes Zwergkaninchen. Mit einem Blick auf das Foto, das in der rechten Sonnenblende steckt, wächst meine Entschlossenheit, und ich starte den Motor.

Keine zwanzig Minuten später parke ich neben der Dorfkirche von Eschheim, einem Ort, der in den Siebzigerjahren stehen geblieben zu sein scheint. Modernität sucht man hier vergeblich. Bei der Einfahrt in den Ort wundere ich mich über die Existenz eines Bahnhofs, vermisse aber gleichzeitig die dort herumlungernden Teenagerbanden. Entsprechende Graffitis sind immerhin an den von Schmutz gezierten Mauern des winzigen Bahnwärterhäuschens vorhanden.

Etwas ratlos sehe ich mich auf dem öffentlichen Parkplatz um, drehe den Kopf in alle drei Richtungen, in die ich von hier aus laufen könnte und entscheide mich schließlich für die, in der ich in einiger Entfernung Geschäfte ausmachen kann. Der Herbstwind meint es heute besser als gestern Nacht und liebkost meine Wangen mit sanften Brisen. Auf einer kleinen Weide neben mir stehen zwei Pferde maximal voneinander entfernt, was die Einsamkeit Eschheims auf den Punkt bringt. Bisher bin ich keiner Menschenseele begegnet, auch mit dem Auto an keiner vorbeigefahren.

Meine Hoffnung, hier auf Hilfe zu stoßen, schwindet im Minutentakt. Erst als ich bei den Geschäften ankomme, erwacht das Dorf allmählich zum Leben. Alles, was man braucht, ist in den nächsten fünfhundert Metern fein säuberlich aneinandergereiht: ein spärlicher Supermarkt, ein Metzger, ein Bäcker, eine Drogerie, nebenan eine Apotheke und sogar eine kleine Buchhandlung.

Da ich nicht daran gedacht habe, Shampoo und Duschgel einzupacken, begebe ich mich zunächst in die Drogerie, die mir die Auswahl dadurch erleichtert, nur drei verschiedene Marken überhaupt anzubieten. Mehr würden in der Ladenfläche von der Größe einer Besenkammer à la Harry Potter schlichtweg keinen Platz finden. Zwar muss ich hier nicht befürchten, mich zum Bezahlen in einer Schlange anstellen zu müssen, doch wenigstens bin ich nicht die einzige Kundin im Geschäft. Eine ältere Dame schenkt mir ein Lächeln, als ich mich an ihr vorbeidränge Richtung Kasse, und mir wird augenblicklich leichter ums Herz. Irgendetwas an dieser Geste gibt mir ein Fünkchen Hoffnung zurück, dass das hier letztendlich doch ein stinknormaler Ort ist, in dem stinknormale Menschen leben, die sicherlich bereit sein werden, mir zu helfen.

Beim Bäcker nebenan hole ich mir einen zweiten Kaffee, der um Welten besser schmeckt als mein erster. Vielleicht kann er meine Augenringe wenigstens von Level Vogelscheuche auf Level Partyqueen reduzieren. Als ich in der Apotheke nach Schlaftabletten verlange, wirft mir ein Herr im hohen Rentneralter von der Seite einen seltsamen Blick zu. So schnell ich kann, verlasse ich das Geschäft, doch der Alte holt mich mit seinem Rollwagen ein, während ich die Tabletten draußen in meiner Tasche verstaue.

»Sind Sie zu Besuch hier, junge Dame?«, fragt er, und ich sehe sein Augenlid zucken, als könne er meine Antwort vor Neugier kaum erwarten.

»Urlaub«, nuschle ich und will weitergehen, aber er hält mich am Arm zurück.

»Was soll das?« Ich befreie meinen Arm aus seinem unerwartet festen Griff und trete einen Schritt zurück. »Was wollen Sie von mir?«

Der Fremde stützt sich auf seine Gehhilfe und schnalzt mit der Zunge. »Ich hab Sie im Fernsehen gesehen!«

Na super, denke ich, diese Rentner verbringen eindeutig zu viel Zeit vor der Glotze.

»Ich muss weiter …«

»Sie suchen nach ihnen, hab ich recht?«

»Bei allem Respekt, das geht Sie nichts an.«

Er schnalzt erneut mit der Zunge, was mich nervöser macht als es sollte, und schaut mir direkt in die Augen. »Halten Sie sich vom Wald fern.«

Liebend gern würde ich den alten Herrn schlicht als dement und verwirrt abstempeln, aber die Art, wie er spricht, lässt nicht darauf schließen, dass er geistig so nachgelassen hat wie der Haarwuchs auf seinem Kopf.

»Der Wald ist meine einzige Hoffnung. Ich muss jetzt wirklich weiter.« Ich dränge mich auf dem Bürgersteig an ihm vorbei.

»Dann, fürchte ich, sind Sie genauso verloren wie der Rest Ihrer Familie.«

Noch ein letztes Mal höre ich sein Schnalzen. Als ich mich umdrehe, ist er bereits hinter der nächsten Hausecke verschwunden.

Eine Minute bleibe ich stehen und starre in die Richtung, in die der Alte gegangen ist. Meine Gedanken kreisen um seine Worte, die sich jeglichem Sinn entziehen. Wenn er nicht doch schon geistig verwirrt ist, dann muss er ein ziemlicher Spinner sein. Einer dieser Verschwörungstheoretiker, die hinter jedem Baum ein Ungeheuer wittern. Ich schüttle den Kopf und setze meinen Weg fort zum Supermarkt. Hier treffe ich endlich auch auf jüngere Gesichter, generell auf mehr als fünf Leute an einem Fleck und fühle mich augenblicklich wohler als draußen allein mit dem Verrückten.

Der Laden ist im Gegensatz zu unseren Stadt-Supermärkten ein Witz, aber man findet alles, was man braucht. Gang für Gang füllt sich mein Einkaufswagen mit dem Nötigsten, auch Instantkaffee bekommt einen Platz darin. Alles ist besser als ein Getränk aus dieser Maschine, die mich in meinem Domizil erwartet. An der Kasse angekommen, stelle ich mich hinter drei Jugendliche, ein Mädchen und zwei Jungs, in die überschaubare Schlange. Das Mädchen mustert mich von oben bis unten, weshalb ich mich wegdrehe und so tue, als würde ich mir die Zigarettenpackungen anschauen, die ich in Wirklichkeit nie anfassen würde. Sie dreht sich wieder zu ihren Freunden um, und das Grüppchen beginnt zu tuscheln.

Es ist Wochen her, dass ich im Fernsehen zu sehen war. Diese Welt ist zu schnelllebig, um dem Verschwinden einer halben Familie mehr als zwei Wochen ihre Aufmerksamkeit zu schenken. Die Menschheit wird sich erst dann wieder für uns interessieren, wenn wir glücklich vereint sein werden. Oder wenn sie Leichen finden. Dann sogar noch mehr.

Wie so oft in letzter Zeit trifft mich die Erkenntnis, dass mein Mann und meine Tochter tot sein könnten, wie eine Tracht Prügel in die Magengrube. Und wie immer wenn das passiert, schiebe ich diesen Gedanken von mir, was mir nur unter Schweißausbrüchen, mit zitternden Händen und aller Kraft, die ich aufbringen kann, gelingt. Aber es gelingt. Ich räuspere mich, streiche mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht und richte mich auf. Nachdem ich bezahlt und alles verstaut habe, sehe ich durch die gläsernen Eingangstüren des Ladens, dass die Teenager draußen herumlungern, und mir bricht direkt wieder der Schweiß aus, als ich bemerke, dass sie auf mich zu warten scheinen. Ich senke meinen Kopf, fixiere die Pflastersteine auf dem Boden und versuche, mich unsichtbar zu machen, aber das Mädchen spricht mich trotzdem an.

»Hey«, sagt sie und läuft neben mir her wie ein Hund, denn ich halte nicht an, um ihr zuzuhören.

»Wir … ähm …«, sie räuspert sich ein paar Mal, bevor ihre pubertäre Entschlossenheit zurückkehrt, »wir wollten nur sagen, dass wir die Ermittlungen genau verfolgt haben, und, na ja, also wir helfen gern, wenn wir können. Ich bin sogar sicher, dass wir das können. Wir kennen uns hier gut aus und wissen vielleicht mehr als die Polizei.«

Für den Bruchteil einer Sekunde schaue ich sie an, nehme aber so schnell nicht einmal ihre Haarfarbe wahr, bevor ich wieder das Muster der Pflastersteine bewundere. Denken diese halben Portionen ernsthaft, dass ich darauf anspringe? Auf ihre Sensationsgeilheit kann ich wirklich gut verzichten. Doch so schnell lässt das Mädchen nicht locker, während sich ihre männlichen Begleiter im Hintergrund halten und die Frau die Angelegenheit regeln lassen.

»Hier ist meine Nummer, ich bin jederzeit erreichbar. Wir helfen echt gern.«

Dass sie jederzeit erreichbar ist, auch zu Schulzeiten, wage ich zu bezweifeln. Andererseits traue ich ihr durchaus zu, den Unterricht für ein Telefonat mit mir zu verlassen. Ich mache keine Anstalten, ihr den Zettel, den sie mir hinstreckt, aus der Hand zu nehmen. Ich werde sie sowieso nicht anrufen. Als sie mir aber bis zu meinem Auto mit dem Blatt Papier hinterhertrottet, nehme ich ihn ihr kommentarlos aus der Hand und stopfe ihn in meine Jackentasche.

»Ich muss jetzt weiter«, verabschiede ich mich und verstaue meine Einkäufe im Kofferraum.

»Ja klar, bis bald«, sagt das Mädchen, und ich bilde mir ein, auch ein gemurmeltes »Ciao« von einem ihrer Kumpels zu hören. Ich schaue ihnen nach, um mich zu vergewissern, dass sie sich tatsächlich entfernen, und schüttle den Kopf. Erst als meine ungebetenen Möchtegernhelfer um die nächste Ecke verschwunden sind, steige ich ins Auto und lenke es aus der Parklücke.

 

Je näher ich der Hütte komme, desto dichter kommt mir der Wald vor, desto holpriger die Straße. Noch vor wenigen Monaten hätte mich das nicht beunruhigt. Heute, in dem Wissen, dass meine Familie irgendwo in diesem Gebiet verschwunden ist, schnürt es mir die Kehle zu. Ich zwinge mich dazu, dort, wo die Straße nur geradeaus dahingeht, den Blick so oft wie möglich zwischen die Baumreihen zu lenken, um mir selbst zu zeigen, dass dort nichts Böses lauert. Eine Weile gelingt mir das sogar, doch dann taucht zwischen zwei Büschen ein Gesicht auf, und ich mache eine Vollbremsung. Vor Schreck keuche ich auf, drehe den Kopf, der von der Kraft des abrupten Stoppens nach vorn gekippt ist, zurück zu der Stelle, an der die fremden Augen meine gefunden haben. Doch zwischen den Büschen tanzt nur ein einzelnes Blatt im Wind, begleitet von den Stimmen der Vögel, die ein Konzert des Friedens angestimmt haben, das so ironisch auf mich wirkt, dass mir nur ein leises »Scheiße« über die Lippen kommt.

Kapitel 3

Schweißperlen kleben auf meiner Stirn, als ich die Hütte erreiche, obwohl im Auto die Klimaanlage lief. Es gibt genau zwei Erklärungen für das, was gerade geschehen ist: Entweder ich habe einen Jogger oder Spaziergänger gesehen, der einfach schnell weitergegangen ist. Oder meine Augen haben sich mit den Reflektionen der Sonne verbündet und mir einen Streich gespielt.

Ich streiche mir mit meinem Jackenärmel den Schweiß von der Stirn, befreie meinen Kofferraum von meinen Einkäufen und krame den Schlüssel aus meiner Handtasche. Wenn ich schon am ersten Tag meiner Suche Geister im Wald sehe und mich aufführe wie eine Verrückte, habe ich nicht den Hauch einer Chance, meine Familie zurückzubekommen.

Ich schiebe meine vermeintliche Vision auf den Stress der letzten Wochen und den Schlafentzug und verstaue die Lebensmittel in meiner beschaulichen Küche. Da ich weiß, dass der Strom ab und an streikt, habe ich nicht viel Verderbliches für den Kühlschrank besorgt. Noch vor ein paar Wochen hätte ich Mütter, die sich nicht die Mühe machen, frisch zu kochen und stattdessen Fertigfraß kaufen, verurteilt. Jetzt reihen sich auf der Kochfläche neben den zwei Herdplatten die Konservendosen. Ravioli und Fertigeintopf strahlen mir, für den »Serviervorschlag« mithilfe von Food-Stylisten hübsch drapiert, von den Packungen entgegen. Innen wird es aussehen und riechen wie Hundefutter, aber ich bin momentan keine Mutter, ich bin nur eine verzweifelte Frau Mitte dreißig, die in den letzten Wochen mehr Falten und graue Haare bekommen hat als alle Sechzigjährigen dieses seltsamen Dorfes und wahrscheinlich noch aller Nachbardörfer mit eingeschlossen. Kein Kind sitzt zurzeit an meinem Tisch, das wertvolle Nährstoffe bräuchte.

»Selbstmitleid bringt dich nicht weiter«, sage ich zu mir selbst und packe das Schinkenbrötchen aus, das ich mir in der Bäckerei mitgenommen habe. Mein Magen krümmt sich bereits vor Hunger, und ich zwinge mir das Frühstück bis zum letzten Brösel hinunter. Ich weiß, dass ich hier nicht schlapp machen darf. Ich brauche die Energie, die ich sonst als Vollblutmama, Ehefrau und freiberufliche Dolmetscherin stets an den Tag gelegt habe.

Nachdem ich mich etwas frisch gemacht habe, packe ich meinen Laptop in meine Tasche und begebe mich erneut auf den Weg ins Dorf. Ich muss ein Café finden, in dem ich WLAN-Zugang habe, um ein paar Nachrichten zu beantworten. Vor allem aber will ich über diesen Ort hier recherchieren.

Bisher waren der Schock und die Verzweiflung zu groß, und ich habe jegliche Ermittlungsarbeit der Polizei überlassen. Man sollte ja auch meinen, die Polizei wüsste am besten, was sie tut. Aber seitdem man mir mitgeteilt hat, dass die Suche eingestellt werde, bin ich mir da nicht mehr sicher. Ganze drei Ermittler werden sich weiterhin mit dem Fall beschäftigen; drei Ermittler, von denen zwei gerade erst fertig studiert und noch nie einen realen Fall bearbeitet haben. Ermittler, denen noch Pickel neben den ersten Bartstoppeln sprießen und ihr Leiter, der mich von Anfang an nicht ernst genommen, ja sogar mich selbst schon verdächtigt hat.

Ich muss wissen, was es mit diesem Dorf auf sich hat und ob es in diesem verdammten Wald schon einmal Verbrechen gab. Wenn ja, hat sie die Polizei mir gegenüber bisher nicht erwähnt. Der Wald hier erstreckt sich über mehrere Orte, unendliche Kilometer weit, unmöglich für einen einzelnen Menschen wie mich, sie alle zu durchkämmen. Da Linas Schal in dieser bestimmten Region gefunden wurde, haben sich die Ermittlungen von Anfang an auf dieses Waldstück konzentriert und genauso werde ich es tun, auch wenn nicht einmal die Hundertschaft mehr als den Schal meiner Tochter finden konnte. Irgendetwas lauert hier trotzdem, irgendetwas, das noch keiner entdeckt hat. Ich spüre das einfach, ohne es erklären zu können.

Diesmal halte ich die Augen stur geradeaus auf die Forststraße gerichtet, als würde eine Halskrause auf meinen Schultern ruhen und meinen Kopf unbeweglich machen. So komme ich ohne Zwischenfälle wieder im Dorf an, in dem die Pferde mittlerweile ganz verschwunden sind. Ich würde mich nicht wundern, wenn der Wind gleich einen einsamen Steppenläufer über die Straße fegen würde, wie in einem alten Western.

Ich parke nicht auf dem öffentlichen Parkplatz, sondern fahre direkt durch die Ladenstraße und folge einem Wegweiser mit der Aufschrift »Zentrum« nach rechts. Tatsächlich stoße ich dort auf einen belebteren Platz mit einem Springbrunnen und einer Fußgängerzone, die der Größe nach zu urteilen auch der Flur unserer Doppelhaushälfte sein könnte. Immerhin ist hier mehr los, auch junge Menschen tummeln sich auf dem Kopfsteinpflaster, und die Häuser sind schön verziert. Sogar die Blumen in den Blumenkästen um den Springbrunnen herum strahlen Leben aus.

Ich halte am Straßenrand an, lasse mein Fenster herunter und spreche die nächstbeste Frau an.

»Entschuldigung?« Etwas umständlich verrenke ich mich in meinem Sitz, sodass ich den Kopf aus dem Fenster strecken kann. Die Frau beugt sich zu mir herunter und hebt ihre Sonnenbrille an.

»Kann ich Ihnen helfen?«

Ich nicke und setze ein Lächeln auf. »Ich suche ein Café mit Internetzugang. Gibt es hier in Eschheim eins?«

Die Frau lacht, schüttelt ihre kastanienbraunen Haare und macht eine wischende Handbewegung. »Hier in Eschheim wären wir schon froh, wenn wir überhaupt mal ordentliche Internetanbieter bekämen. Schrecklich langsam hier das Netz!«

Mein Lächeln schrumpft wie ein Ballon, aus dem die Luft weicht. »Verstehe.« Das wäre auch fast ein Wunder gewesen.

»Aber versuchen Sie’s doch mal im Nachbarort, da könnten Sie Glück haben. Lahnstatt, keine zwanzig Minuten von hier. Einfach den Schildern folgen. Ist eine Kleinstadt mit vielen Cafés, fragen Sie einfach.«

Der Ballon füllt sich wieder, und meine Mundwinkel schießen nach oben. »Vielen Dank, das mache ich. Schönen Tag noch.«

Bevor die Frau sich fertig verabschieden kann, habe ich das Fenster wieder hochgelassen und den Motor gestartet.

Die Fahrt nach Lahnstatt kommt mir vor wie Urlaub. Hier auf der Landstraße herrscht das ganz normale Verkehrschaos. Motorradfahrer preschen wie Geistesgestörte an mir vorbei, eine Mercedes A-Klasse überholt mich kurz vor einer Kurve, nur um zwei Minuten später von einem Traktor ausgebremst zu werden und wieder direkt vor mir zu sein. Normalerweise rege ich mich über Verkehrsteilnehmer dergleichen immer so auf, dass mein Körper nach Betablockern verlangt. Heute pfeife ich dabei zur Radiomusik. Wieder in der Zivilisation zu sein, unter Menschen, auf normalen Straßen, verleiht meinem Geist ein Gefühl von grenzenloser Freiheit. Der Wald und Eschheim erdrücken mich, ich fühle mich darin als könne ich nicht atmen.

In Lahnstatt ist gegen Eschheim die absolute Hölle los. Ich bekomme kaum einen Parkplatz, und als ich letztendlich doch Glück habe, zahle ich einen Euro pro Stunde dafür. Ein gutes Zeichen, dass hier nicht nur imaginäre Steppenläufer zu Hause sind.

Schon das zweite Café, das ich ansteuere, hat WLAN, und ich setze mich an einen Tisch in der angenehm wärmenden Herbstsonne. Ein Fluss, bei dem es sich wohl um die Lahn handelt, zieht sich einige Meter vor mir durch die Stadt. Pärchen flanieren Händchen haltend an der Promenade entlang, Kinder spielen auf dem Platz, an dem ich sitze und genießen die letzten Eiskugeln, bevor die Saison endet. Es tut weh, diese Familien so zu sehen, versunken im Alltag, vereint, glücklich. Aber es spornt mich auch an, endlich mehr herauszufinden, also klappe ich meinen Laptop auf und logge mich in das Netz des Cafés ein.

Meine erste Suche bleibt erfolglos, doch irgendwann habe ich das richtige Schlagwort getroffen und gelange auf die Archiv-Seite der Lokalzeitung von Lahnstatt, die einen Teil ihrer Ausgabe den »Eschheimer Nachrichten« widmet. Mein Puls beschleunigt sich, als ich den ersten von drei Treffern anklicke. Er ist auf Mai 1997 datiert.

Vermisste Marlene (17) zuletzt in Eschheim gesehen

Der Polizei Marburg liegen neue Hinweise vor im Fall Marlene. Das seit vergangenem Samstag vermisste Mädchen wurde laut einer Zeugenaussage am Sonntag gesehen, wie es den Bahnhof Eschheim in Richtung der Waldwanderwege verließ. Eine Hundertschaft sucht nun das gesamte Gebiet der Eschheimer Waldflächen ab. Bisher gibt es keine Spuren und keine Hinweise auf ein Gewaltverbrechen. Man geht davon aus, dass Marlene von zu Hause weggelaufen ist, die Gründe dafür sind allerdings unklar. Hinweise nimmt die Polizeidirektion Lahnstatt entgegen.

 

Fassungslos betrachte ich das Foto, das neben der Telefonnummer der Polizei prangt. Besagte Marlene lächelt darauf, als hätte sie noch nie etwas anderes getan. Als hätte ihr Herz noch nie Schmerz ertragen müssen. Sie muss ein echter Sonnenschein gewesen sein, mit ihren strahlenden Augen und ihrer wilden Lockenpracht. Ich kann mir genauso wenig vorstellen, dass sie weggelaufen ist und ihre Familie im Stich gelassen hat, wie ich es mir von Tom und Lina vorstellen kann. Auch wenn ich Marlene gar nicht kannte, irgendetwas sagt mir, dass mehr dahintersteckt. In die Suchleiste meines Browsers gebe ich den Namen Marlene, das Jahr und »verschwunden« ein und stoße auf unzählige alte Zeitungsartikel. Keiner davon erwähnt, dass Marlene wiedergefunden wurde. Genauso wie keiner, auch nicht der aktuellste aus dem Jahr 2002, von einer gefundenen Leiche berichtet. Der Schlund des Eschheimer Waldes hat sie einfach verschluckt, genau wie meinen Mann und meine Tochter. Mein Mund ist trocken wie Zunder, und ich nippe an der Apfelschorle, die mir die Kellnerin gebracht haben muss, während ich ins Lesen vertieft war. Mit einem Klick wirft mir mein Browser die nächste Headline vor die Augen. Diesmal aus dem Jahr 2007:

Touristenpaar vermisst

Die Polizeidirektion Lahnstatt sucht nach dem unten abgebildeten Paar, das eine Woche Urlaub in einem Eschheimer Hotel verbringen sollte, aber seit dem zweiten Tag nicht mehr in der Unterkunft aufgetaucht ist. Angehörige haben seitdem ebenfalls keine Nachricht von den Touristen erhalten. Laut Aussagen einer Rezeptionistin, die sich mit dem Paar unterhalten hat, wollten sie die Eschheimer Waldwanderwege erkunden. Bisher hat die Polizei keine Spur, es gebe aber bislang auch keinen Grund zur Annahme eines Gewaltverbrechens. Wer die beiden gesehen hat, soll sich unverzüglich bei den zuständigen Beamten melden.

 

Wieder folgt auf die Telefonnummer das Bild der Vermissten. Wieder steht in ihren Gesichtern ein Lächeln, das die Sorgenfalten, die es abgelöst haben müssen, absolut nicht erahnen lässt. Im Gegensatz zu Marlene finde ich über die Touristen nur einen einzigen anderen Artikel, der nur einige Wochen später bestätigt, dass sie noch nicht gefunden wurden. Mittlerweile umklammere ich die Apfelschorle so fest, dass das hautfarbene Rosé aus meinen Fingern gewichen ist und einem ungesunden Weiß-Gelbton Platz gemacht hat. Ich klicke auf Headline Nummer drei, die nur zwei Jahre alt ist.

Wanderer stirbt im Eschheimer Wald

 

Mein Magen verkrampft sich. Verschwinden ist eine Sache, sterben ist Gewissheit. Für mich bedeutet es die erste Gewissheit, dass in diesem Wald tatsächlich auch Menschen sterben. Verschwundene Menschen können lebendig wiedergefunden werden. Tote Menschen nicht. Ich reiße mich zusammen und lese den kurzen Artikel.

Die Leiche eines 44-jährigen Wanderers aus Lahnstatt ist am Freitagabend von einer Spaziergängerin im Eschheimer Wald gefunden worden. Der Mann scheint auf einen der Felsen am Eschheimer Nordhang geklettert und gestürzt zu sein, wobei er sich schwere Kopfverletzungen zuzog, denen er noch am Unfallort erlag. Die Frau des Mannes hatte ihn gerade als vermisst gemeldet, als nur wenige Stunden später der Anruf der Spaziergängerin einging.

 

»Ein Unfall«, denke ich und atme tief ein und aus. »Es war ein Unfall.« Die innere Stimme, die mir sagt, dass er auch geschubst worden sein könnte, ignoriere ich. Bevor ich es selbst richtig bemerke, habe ich mein Handy aus meiner Handtasche gezogen und die Nummer des Leiters der winzigen Sonderkommission gewählt. Die zahlreichen Nachrichten, die hier im guten Empfang Lahnstatts nacheinander aufploppen, wische ich auf dem Touchpad zur Seite.

»Frau Höffner?«, meldet sich der Kommissar mit der Gelfrisur am anderen Ende der Leitung. Mittlerweile kennt er wohl meine Nummer.

»Wieso haben Sie mir nichts von den verschwundenen Touristen in Eschheim erzählt? Und von Marlene? Das Mädchen? 1997? Sie müssen doch davon gewusst haben!«

Meine Begrüßung hat er sich wohl freundlicher vorgestellt, ich schreie beinahe in den Hörer. Als sich eine Frau am Tisch neben mir genervt zu mir umdreht, halte ich entschuldigend eine Hand hoch, räuspere mich und zwinge mich, ruhig und sachlich zu bleiben.

»Frau Höffner, wo stecken Sie denn? Sie sind nicht zu Hause, man erreicht nur Ihre Mailbox. Wir haben uns Sorgen gemacht.«

»Beantworten Sie meine Frage.« Meine Stimme hat ihre normale Lautstärke zurück, ist aber bestimmt. Er soll endlich Klartext mit mir reden.

Der Kommissar erlaubt sich eine Denkpause. »Marlene sagen Sie? Ja, an den Fall kann ich mich erinnern. Aber der ist ewig her und hat rein gar nichts mit Ihrer Familie zu tun. Es hätte Sie nur beunruhigt, wenn ich Ihnen davon erzählt hätte.«

Ich bemerke, dass ich meine Apfelschorle noch immer fest umklammere, nehme einen großen Schluck aus dem Glas und lasse schließlich davon ab. »Es beunruhigt mich, wenn Sie mir irgendwelche Halbwahrheiten auftischen. Was ist mit den Touristen? Und woher wollen Sie wissen, dass der Fall Marlene nichts mit meiner Familie zu tun hat?«

Ein langer Seufzer des Kommissars kommt als Knacken an meinem Ende der Leitung an. »Wir haben uns diese Fälle selbstverständlich angesehen, aber da gibt es wirklich keinerlei Gemeinsamkeiten, und bei allen wurde ein Gewaltverbrechen ausgeschlossen.«

Nervös fahre ich mir durch die Haare und drehe einzelne Strähnen mit meinen Fingern ein. »Das scheint so eine Masche der Polizei zu sein. Wenn Sie nicht weiterwissen, schließen Sie Schlimmeres einfach aus und stellen die Suche ein. Sie wären ein super Politiker.«

Wieder knackt es in der Leitung, diesmal hört es sich an wie ein lang gezogener Atemzug.

»Frau Höffner, diese Diskussion hatten wir doch schon. Ich verstehe ja, dass es auf Sie nicht so wirken mag, aber ich versichere Ihnen, wir tun, was wir können. Sie können gern aufs Revier kommen, und wir gehen noch einmal alles in Ruhe zusammen durch, was halten Sie davon?«

»Nichts«, entfährt es mir geradeheraus. »Außerdem bin ich gar nicht da.«

»Das habe ich mitbekommen. Wo stecken Sie?«

»Ich brauche einfach ein wenig Abstand. Machen Sie sich um mich keine Sorgen, machen Sie lieber Ihren Job.«

»Das machen wir, Frau Höffner. Passen Sie auf sich auf, und melden Sie sich wieder.«

Ich verstehe nicht, wie er so freundlich bleiben kann, wenn ich ihm nur motzig Vorwürfe mache, aber es ist wohl unprofessionell, Frauen anzuschreien, die ihre Familie verloren haben.

Nachdem wir aufgelegt haben, fliegen meine Finger erneut über die Tastatur meines Laptops, voller Entschlossenheit, selbst mehr über die vergangenen Fälle herauszufinden. Als ich schon fast aufgeben will, stoße ich auf einen archivierten Beitrag auf der Webseite einer evangelischen Kirchengemeinde Marburgs. In der Rubrik »Unsere Geschichte« wird darüber berichtet, wie Pastor Klaus Becker mit seiner Frau Judith und seiner Tochter Marlene im Jahr 1987 aus Frankfurt nach Marburg zog und Klaus Becker in der Gemeinde seine Pastorenstelle antrat. Ein Blick auf die damals siebenjährige Marlene auf dem Foto genügt mir, um sicher zu sein, dass hier dasselbe Mädchen lächelt, wie das in der Vermisstenanzeige. Ein paar Minuten später hat mir meine Suchmaschine die Adresse einer Judith Becker in Marburg ausgespuckt, und ich habe mir fest in den Kopf gesetzt, dieser Frau einen Besuch abzustatten, in der Hoffnung, dass es sich tatsächlich um die Judith Becker handelt.

Ich trinke die restliche Apfelschorle in einem Zug leer und gehe hinein an die Theke, um zu bezahlen. Aufgrund des schönen Wetters sitzen fast alle Gäste draußen, und ich beschließe, die Kellnerin auf die Fälle, die ich online gefunden habe, anzusprechen. Was ich allerdings nicht bedacht habe ist ihr Alter.

»1997 war ich gerade erst drei Jahre alt, ich fürchte, da kann ich Ihnen nicht weiterhelfen. Ich habe auch noch nie von dieser Marlene gehört.« Sie nimmt meinen Fünfeuroschein an und öffnet die Kasse.

»Stimmt so«, sage ich.

Sie lächelt. »Vielen Dank. Oh, und was die Touristen angeht … tut mir leid, auch davon weiß ich nichts. Es kann sein, dass ich schon mal davon gehört habe, aber auch nicht mehr als Sie.«

Ich lächle zurück. Das Mädchen kann auch nichts für meinen Schlamassel. »Kein Problem. Weißt du zufällig, wo ich mehr Informationen dazu bekommen könnte?«

Sie schließt die Kasse mit einem »Pling« und versenkt mein Trinkgeld in einem Porzellanschweinchen auf der Theke. »Außer bei der Polizei direkt? Keine Ahnung. Sie müssen vorsichtig sein, wen Sie fragen. Hier gibt es ziemlich viele Spinner, die Ihnen keine hilfreichen Antworten geben werden.«

Sofort muss ich an den Alten von heute Morgen denken. »Wie meinst du das, Spinner?«

Die Kellnerin hat in der Zwischenzeit ein Tablett und einen Putzlappen gezückt und läuft nun um die Theke herum zu mir. Mit dem Kopf bedeutet sie mir, ihr raus auf die Terrasse zu folgen, wo ich meinen Tisch verlassen habe. Ich folge ihr, und wir führen unser Gespräch im Gehen weiter.

»Na ja, viele sind überzeugt davon, dass der Wald … sagen wir, dass es darin spukt. Die bilden sich alle möglichen Dinge ein. Sehen Gesichter und so.«

Ich schlucke. Bin ich einer dieser Spinner? Das Mädchen stellt das Tablett mit meinem leeren Glas darauf auf einem Nachbartisch ab und wischt mit dem Lappen über meinen Tisch.

»Deshalb kann ich mir denken, dass Ihnen viele Leute erzählen werden, die Seelen oder was auch immer, hätten diese Marlene und das Pärchen mitgenommen. Irgendwie so was in der Art würde man Ihnen bestimmt weismachen wollen.« Sie ist fertig mit Putzen und hebt das Tablett auf.

»Die Seelen?«, frage ich, die Stirn in Falten gelegt.

»Ich weiß nicht, wie sie sie genau nennen oder was sich diese Verrückten einbilden. Aber es sind nur Geschichten. Die Leute stehen eben auf Gruselgeschichten. Ich muss jetzt weiterarbeiten, tut mir leid. Viel Erfolg jedenfalls.«

»Ja, klar. Danke«, nuschle ich in meinen Jackenkragen.

Meine Gedanken kreisen um Seelen und Gruselgeschichten, und als ich auf dem Weg nach Marburg am Wald vorbeifahre, fange ich beinahe an, daran zu glauben.

Kapitel 4

13 Monate zuvor

Die Reifen meines Toyota quietschen und hinterlassen Bremsspuren auf den Pflastersteinen des Krankenhausparkplatzes. Obwohl ich nur hinterm Steuer gesessen bin, bin ich außer Atem und schnappe nach Luft, als ich die Tür aufreiße. Ich packe meine Handtasche vom Beifahrersitz, stolpere aus dem Wagen und knalle die Tür hinter mir zu. Meine dreckigen Nikes sprinten so schnell über den Asphalt in Richtung Notaufnahme, dass ich das Gefühl habe, den Boden gar nicht zu berühren. Ob ich zugesperrt oder die Autotür überhaupt richtig zugemacht habe, weiß ich nicht. Ich vergewissere mich aber auch nicht noch einmal, denn es ist mir egal. Alles, was in diesem Moment zählt, befindet sich in diesem Krankenhaus.

Vor mir öffnet sich gerade noch schnell genug die automatische Schiebetür, und ich presche durch den Eingang zu einer Theke, hinter der eine mürrische Krankenschwester Kaugummi kaut.

»Bitte«, keuche ich, »Höffner, ich …« Ich schlucke, huste, räuspere mich.

Die Krankenschwester glotzt mich an, eine Augenbraue nach oben gezogen, Ungeduld im Blick.

»Meine Familie! Höffner, mein Mann und meine Kinder müssen hier irgendwo sein.« Mein Atem geht stoßweise, sodass ich eine weitere Sprechpause brauche. »Bitte, ich muss zu ihnen.«

Die Augenbraue der Schwester sackt nach unten. »Warten Sie hier.«

Mein Magen verkrampft sich, und ich krümme mich, was die Massen an wartenden Patienten sicherlich annehmen lässt, ich wäre ebenfalls mit Symptomen hier. Ein älteres Ehepaar tuschelt bereits, während sie mich ansehen. Es muss wohl so wirken, als würde ich vor ihnen behandelt werden, obwohl ich gerade erst angekommen bin und sie wahrscheinlich schon seit Stunden warten.

Die Minuten, die ich warten muss, bis die Schwester zurückkommt, ziehen sich wie der Kaugummi, den sie zwischen ihren Zähnen hin- und herschiebt. Ich merke, wie ich schwitze und mir trotzdem kalt ist, wie meine Beine die Konsistenz von Götterspeise annehmen. Zappelig stehe ich vor ihr, als sie mich abholt und »Kommen’S mit mir« in einen imaginären Bart nuschelt. Wir passieren einen Raum, in dem sich ein Mann gerade in eine Nierenschale übergibt. Ich schlucke gegen meinen eigenen Würgreflex an und folge der Krankenschwester noch ein wenig weiter den Gang hinunter. Mit jedem meiner Schritte pocht mein Herz schneller. In meinem Nacken haben sich Schweißperlen gebildet, gefolgt von einer Gänsehaut, die sich den ganzen Rücken hinunterzieht.

»Bitte.« Die Schwester zeigt mit der Hand in den Raum zu unserer Rechten, in dem ich Tom und Lina erkenne, die nebeneinander auf Liegen gebettet sind und von zwei anderen Krankenschwestern und einem Arzt behandelt werden.

»Oh mein Gott«, flüstere ich ins Leere und stürme in das Zimmer.

»Mama!«, ruft Lina mir mit Tränen in den Augen entgegen. Ich laufe zu ihr, greife nach ihrer Hand und drücke sie so fest, dass sie zurückzuckt. An ihren geschwollenen Wangen und roten Augen erkenne ich, dass sie geweint hat. Ein Zugang verbindet ihre andere Hand mit einer Infusion, die, Tropfen für Tropfen, Flüssigkeit in ihren Blutkreislauf drückt. Bis auf ein paar Schrammen und blaue Flecken sieht sie unversehrt aus, was mich kurz aufatmen lässt.

»Lina Maus, geht’s dir gut?«

Sie fängt wieder an zu weinen, nickt aber. Ich ignoriere die Schwester, die gerade eine ihrer Wunden säubert und ziehe sie vorsichtig an mich, streiche ihr über ihr blondes Haar.

»Schhh, ist ja gut.« Aber es ist noch längst nicht alles gut. Was ist mit Tom, und wo ist Luis? Ich drücke Lina einen Kuss auf die Stirn und streiche ihre Tränen von den Backen.

»Sind Sie die Mutter?«

Über mir sehe ich das Gesicht eines jungen Arztes, ein Stethoskop lässig um die Schultern gelegt. Ich nicke und stehe auf, um auf Augenhöhe mit ihm zu sein.

»Was ist passiert?«

»Ihr Mann hatte mit den Kindern einen Autounfall, Genaueres weiß ich nicht. Die Polizei schwirrt hier irgendwo rum, die können es Ihnen sicher sagen. Ihre Tochter hat nur ein paar Prellungen und den ein oder anderen Kratzer abbekommen. Nichts Schlimmes, nichts, was man nähen muss. Sie soll sich ein paar Tage ausruhen, aber sie wird sicher bald wieder fit sein.«

Mehr als ein weiteres Nicken bringe ich nicht zustande. Mir liegen so viele Fragen auf der Zunge, dass sich in dieser chaotischen Masse keine davon ihren Weg bis zu den Lippen freikämpfen kann. Zum Glück spricht der Arzt, dessen Kittel ihn als »Dr. Schröter« offenbart, unaufgefordert weiter.

»Mit Ihrem Mann verhält es sich ähnlich. Er hat sich mehrere Rippen geprellt und hatte eine Platzwunde am Kopf, die wir genäht haben. Dazu eine leichte Gehirnerschütterung. Wir behalten ihn zur Beobachtung bis morgen hier, aber auch er sollte sich schnell erholen. Im Moment steht er unter Schock.«

»Wo ist Luis?«, platzt es aus mir heraus. Die Frage, die seit ich in diesem Raum angekommen bin auf meiner Zunge brennt, hat sich wie ein Lauffeuer in meiner Mundhöhle verbreitet und schließlich den Ausgang gefunden.

Zu meiner unendlichen Beunruhigung legt mir der Arzt eine Hand auf den Arm. »Frau Höffner, wir sollten nicht vor Ihrer Tochter … lassen Sie uns kurz rausgehen.«

»Ich verstehe nicht, ich … Nein, ich lasse meine Tochter nicht allein.«