Hahn, R.P. Der Korndämon

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© 2019 Piper Verlag GmbH, München
Redaktion: Sandra Lode
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1. Kapitel:
Ein azurblaues Auto

Eigentlich hätte dieser Samstag genauso ereignislos werden sollen wie all die anderen Samstage in Richard Dreifürsts Ruhestand, aber die Vorsehung hatte es anders entschieden.

Richard verließ sein kleines Häuschen in der Garzer Poggenburgstraße gleich früh am Morgen und marschierte zum nahen Edeka hinüber, um die Einkäufe für das Wochenende zu erledigen. Obwohl Garz die älteste Ortschaft auf Rügen war, verfügte es nur über wenige Geschäfte, darunter ein gut sortierter Lebensmittelladen, eine Apotheke und ein Döner-Imbiss, das Raja. Die kleine Fast-Food-Bude stellte einen wichtigen Knotenpunkt des Lebens auf dem Südteil der Insel dar, denn die Leute hier in der Gegend hatten nicht viel Auswahl, wenn es darum ging, sich schnell mit warmem Essen zu versorgen.

Richard betrat den Laden, ging am Lila-Brötchenstand vorbei und steuerte die Regale mit den Spirituosen an. Er holte sich eine Flasche Kräuterlikör sowie einige Dosen Becks, die im Angebot waren. Dann kaufte er das Notwendigste fürs Frühstück ein und nahm eine Ostsee-Zeitung vom Stapel. Der Edeka deckte durch sein Angebot die gängigsten Ansprüche ab, die Einheimische und Touristen an ein Lebensmittelgeschäft stellten. Dennoch hätte Richard gerne einen Discounter in der Nähe gehabt. Das wäre für sein Budget weniger belastend gewesen.

Richard Dreifürst war vor einigen Wochen zweiundsechzig geworden. Er fühlte sich geistig nicht anders als mit fünfzig. Der gravierende Unterschied war, dass sein Körper mit den Jahren erschreckend viel von seiner Leistungsfähigkeit eingebüßt hatte.

Er hatte seinen Geburtstag nicht gefeiert. Es gab nichts zu feiern. Auf ein großes Leben konnte er nicht zurückblicken, und es gab nirgendwo Menschen, die sich Gedanken darüber machten, wie sie seinen Ehrentag wohl begehen könnten.

Richard war Lehrer für Deutsch und Geschichte gewesen. Er hatte das Lehramt mit Begeisterung angetreten, seine Ideale aber bald welken und sterben sehen. Marion, seine Ex-Frau und Mutter seines einzigen Kindes, war von Anfang an keine Wunschpartnerin gewesen, sondern eher die Fliege, die der Teufel in der Not fraß. Im Stralsunder Hansa-Gymnasium, in dem Richard unterrichtet hatte, war sie Lehrerin für Mathematik und Physik gewesen. Er wäre von sich aus nicht auf die Idee gekommen, sie anzusprechen. Sie war auf ihn zugekommen.

Im Grunde war Marion nicht Richards Typ, aber eine lange Periode der Einsamkeit hatte ihn mürbe gemacht. Zudem war sie trotz ihrer schlanken Erscheinung mit einem üppigen Busen gesegnet, dessen wogendem Magnetismus er nicht hatte widerstehen können. Sie waren ein Paar geworden, wobei Marion die Beziehung von Anfang an dominiert hatte.

Richard war kein gut aussehender Mann, aber er galt als fleißig, integer und als jemand, der etwas im Kopf hatte. Das war für Marion wohl ausreichend gewesen, und sie hatte irgendwann, als sie gut ein Jahr zusammen waren, die Pille abgesetzt. Ohne ihn davon in Kenntnis zu setzen. Da sie Frauen als überlegene Spezies und geheime menschliche Alphatiere ansah, schien Richards Ansicht zum Thema Familienplanung für sie keine Rolle zu spielen. Sie wurde schwanger. Damit schuf sie Tatsachen, die er nur sprachlos hinnehmen konnte. Kurz vor der Niederkunft war noch eine von Marion inszenierte standesamtliche Trauung über die Bühne gegangen. Auch hier war Richard nur über den Termin informiert worden, sein Einverständnis hatte die Hochschwangere einfach vorausgesetzt. Etwas später kam Annika auf die Welt.

Das Baby wurde die neue Sonne in Marions Planetensystem, und da die Familienplanung für sie damit abgeschlossen war, verweigerte sie Richard von da an jeglichen Sex. Erst jetzt erkannte der frischgebackene Familienvater, dass sie nie eine richtige Partnerschaft führen würden. Marion interessierte sich allein für die Durchführung ihres ganz persönlichen Masterplans. Was Richard betraf, hatte sie ihn als logistische Notwendigkeit in ihrem Leben installiert, wobei seine DNS und der Fleiß, mit dem er sich beim Haushalt einbrachte, von vorrangiger Bedeutung waren.

Marions Desinteresse, ihre herablassende Haltung und das Einstellen jeglicher körperlicher Zuwendung hatte Richard als tiefe Kränkung empfunden. Er, der sich vorher kaum für Alkohol interessiert hatte, fand nun Trost in trockenen Martinis.

Fast zur selben Zeit hatte der Schulleiter am Hansa-Gymnasium gewechselt, und mit dem Amtsantritt von Dr. Blaschka begann für Richard beruflich ein Spießrutenlauf. Der neue Schulleiter schaffte es, den bei seinen Schülern durchaus beliebten Deutschlehrer binnen kürzester Zeit durch ständige Kritik zu verunsichern, er mobbte ihn und machte ihn zum Nervenbündel.

Als Richard nach einer weiteren Demütigung im Lehrerzimmer daheim das erste Mal in Tränen ausgebrochen war, hatte Marion genervt reagiert. Sie wollte keinen Waschlappen an ihrer Seite und drückte das klar aus. Richard wusste nicht, ob seine Frau aus grausamem Kalkül handelte oder aus Gedankenlosigkeit, aber mit dieser harschen Reaktion verspielte sie auf einen Schlag alles, was noch zwischen ihnen übrig geblieben war.

So waren die Weichen schon recht früh nach Annikas Geburt gestellt gewesen. Es sollte dann aber noch drei weitere Jahre dauern, bis Richard sich schlussendlich von Marion trennte.

In der Folge war er von Stralsund nach Sassnitz gezogen, wo er eine neue Stelle gefunden hatte. In dieser Zeit besuchte er sein Töchterchen noch regelmäßig.

Doch je älter Annika wurde, desto distanzierter erlebte er sie. Für ihn hatte es den Anschein, als würde Marion einen Keil zwischen sie treiben. Das Kind sah ihn stets mit auffälligem Argwohn an, wenn er auf der Schwelle stand, so als könnten ihrem Papa jederzeit Hörner wachsen. Irgendwann war das Maß voll. Die eingeimpfte Skepsis seiner Kleinen hätte Richard vielleicht noch ausgehalten, aber nicht die Übelkeit, die in ihm aufstieg, wenn er den Vorwurf in Marions Gesicht sah, den sie ihm gegenüber ständig zur Schau trug. Dass er sich dem gemeinsamen, von ihr so trefflich geregelten Familienleben entzogen hatte, verstand sie nicht und strafte es mit kalter Verachtung ab. Vergebung und Schlussstriche lagen nicht in ihrer Natur. Dafür aber forderte sie, die als stellvertretende Direktorin inzwischen mehr als ordentlich verdiente, energisch Unterhalt von ihm ein, und wehe, er war mit einer Rate säumig, dann erhielt er umgehend einen blauen Brief von ihrem Anwalt.

Richard stellte die Besuche bei seiner Familie irgendwann resigniert ein. Aber das Trinken ließ sich nicht mehr so leicht einstellen. Die Droge Alkohol war nebenbei in seinen Alltag eingesickert und hatte sich dort festgesetzt wie ein böser Pilz. Er war nicht sofort ein extremer Säufer geworden und hatte es phasenweise geschafft, die Dämonen in Schach zu halten. Manchmal trank er über Wochen nichts und redete sich ein, dass der Alkohol keine Macht mehr über ihn hatte. Aber wehe, wenn es schöne Momente gab. Der Fußball-Weltmeistertitel der deutschen Nationalmannschaft in Brasilien hatte eine halbjährige Phase der Abstinenz bei ihm beendet. Mit einigen spontanen Freudenbierchen in einer Kneipe begann es, mit Schnäpsen ging es weiter und endete mit einem Absturz. Richard geriet betrunken in einen Streit und schlug einen Mitzecher mit einer Bierflasche. An nichts davon konnte er sich später noch erinnern.

Der Aussetzer aber hatte die Polizei auf den Plan gerufen und Wellen geschlagen. Auch seine neue Schule, das Ostsee-Gymnasium, erfuhr davon und mahnte ihn ab. Erst einmal war dann Ruhe. Als Richard aber einige Monate darauf bei einer Klassenfahrt erneut die Kontrolle verlor und sich in seinem Zimmer eine Flasche Gin genehmigte, nahm das Drama seinen Lauf. Einem seiner Schutzbefohlenen wurde in dieser Nacht schlecht, sodass ein Arzt gerufen werden musste. Das aber bekam der sturzbetrunkene Richard nicht mehr hin, eine Schülerin alarmierte dann den Notarzt.

Diese erneute Verfehlung hatte ernste Folgen. Er wurde sofort vom Dienst suspendiert, musste sich in der Folge einem Disziplinarausschuss stellen, der ihn in die Frühpension schickte und dazu seine Beamtenpension empfindlich kürzte. Das einzig Positive daran war, dass sich damit die Unterhaltszahlungen für Annika so gut wie erledigt hatten, da Marion jetzt fast dreimal so viel verdiente wie ihr Ex-Mann.

Angesichts seines dramatischen Gesichtsverlustes überlegte Richard zu dieser Zeit, Rügen den Rücken zu kehren und wieder nach Berlin zu gehen. Doch da bot ihm Herr Juskowiak, ein alter Freund seines Vaters, die Hälfte seines Hauses in der Garzer Poggenburgstraße für eine symbolische Miete an. Der alte Juskowiak war weniger an Geld interessiert, als daran, einen verlässlichen Nachbarn für seine Tochter Almut zu bekommen. Die ledige Sekretärin lebte allein in dem Doppelhaus, neigte zur Ängstlichkeit und brauchte manchmal Zuspruch. Richard konnte mit dieser Auflage leben. Finanziell war das Arrangement alternativlos, und so nahm er das Angebot an.

Nach seinem Einzug bemühte er sich ernsthaft darum, seinen Durst zu zügeln, aber er bekam sein Alkoholproblem nicht wirklich in den Griff. Er war jetzt noch die große Lachnummer auf der Insel. Hier, wo mancher Rüganer sich rühmte, seit Jahrzehnten angetrunken zu fahren, ohne je kontrolliert worden zu sein, hatte der gefallene Lehrer es geschafft, mit zwei Promille am Steuer erwischt zu werden.

Als er den Führerschein nach längerer Zeit zurückbekam, hatte Richard bereits kein Auto mehr. Es war eine vorsorgliche Maßnahme, weil er nicht riskieren wollte, noch einmal betrunken zu fahren. Trotzdem hätte er ein Gefährt gut gebrauchen können. Bereits Mitte fünfzig hatte er körperlich rapide abgebaut, und die Arthrose in seinen Knien galoppierte.

Es galt nun, mit etwas über tausend Euro im Monat über die Runden zu kommen. Es gab Menschen, die weniger hatten, aber große Sprünge waren mit dieser Pension trotzdem nicht möglich. Es reichte immerhin für die Drinks, die seinen Alltag diktierten. Phasen, in denen er pausierte und mit alkoholfreien Getränken vorliebnahm, gab es kaum mehr. Und er machte sich nichts mehr vor. Er war ein hoffnungsloser Alkoholiker.

 

Als er an diesem Samstag den Edeka verließ, schraubte er nach ein paar Schritten den Kräuterschnaps auf und trank. Dass er ein Schluckspecht war, hatte sich mit Sicherheit auch bis nach Garz herumgesprochen. Richard vermied es daher, öffentlich zu trinken. Doch jetzt gerade war der Drang zu groß. Er nahm noch einige Schlucke. Kurz darauf fühlte er wieder süßen Frieden in seinen Adern.

Richard ermahnte sich ständig innerlich zur Mäßigung. Was für fatale Folgen eine Vollrausch haben konnte, hatte er bereits zur Genüge erfahren. Ab zwei bis drei Promille wurde er unangenehm und aggressiv. Dabei war es ab dem fünften Kurzen egal, wie viel er nachkippte, der Wunsch nach mehr glühte in ihm bis zur Bewusstlosigkeit.

Während die Sonne über Rügen durch die Wolkendecke brach, betrat Richard seine Wohnung. Keine weibliche Hand hatte hier die Realität mit Gardinen, Häkeldeckchen und Accessoires geschönt. Er hatte die drei Ölbilder mit Ostseemotiven aufgehängt, die er von seinem Vater geerbt hatte. Nicht, weil er sie schön fand, er war einfach von Kindheit auf an sie gewöhnt. Alles an diesem Ort war abgewetzt und alt. Man sah der Wohnstätte jedoch nicht an, wie verwahrlost ihr Bewohner in seelischer Hinsicht war. Die oberflächliche Ordnung im Haus übertünchte das. Richard räumte regelmäßig auf. Aber die Staubbällchen auf dem Boden und die Teppichflusen bekämpfte er nur noch selten. Manchmal saugte er den verblichenen Perser vor der Wohnzimmercouch und wischte den Tisch mit einem Lappen sauber. Aber im Grunde war es ihm längst egal. Silberfische liefen ungehindert auf dem Boden herum, und die Spinnen waren in jeder Ecke.

 

Richard saß an seinem Küchentisch mit der ausgeblichenen Plastiktischdecke, frühstückte und las dabei die Ostsee-Zeitung, wobei er die Politik und das Feuilleton nur überflog. Der Sport interessierte ihn und die Lokalberichterstattung, auch wenn da nur selten frohe Botschaften vermeldet wurden.

In Stralsund und in der ganzen Region wären ohne den Tourismus schon längst die Lichter ausgegangen. Der letzte große Schiffsbauer hatte vor einigen Jahren dichtgemacht, und seitdem war es schwierig, hier eine ordentliche Anstellung zu bekommen. Der Fremdenverkehr, der inzwischen sechzig Prozent der Wirtschaft ausmachte, sorgte bei vielen für Lohn und Brot, war aber ein Saisongeschäft und erfüllte oft nur unzureichend die Bedürfnisse der Einheimischen.

Die Landwirtschaft brachte auch niemandem mehr eine goldene Nase ein, und beim Fischfang war es noch schlimmer. Zur Zeit des Arbeiter- und Bauernstaates waren die Fischer noch gutgestellte Leute gewesen, aber inzwischen war dieser Industriezweig nur noch ein Schatten seiner selbst. In der Bevölkerung hatte sich Tristesse breitgemacht.

Wenigstens gab es das Fernsehen. Richard saß viel vor der Flimmerkiste, ferngesehen wurde aber, von Sportübertragungen einmal abgesehen, nur am Abend. Frühstücksfernsehen lehnte er ab. Er benötigte am Morgen Ruhe, um seine Zeitung zu lesen.

 

Kurz nach drei verließ er das Haus und machte sich auf den Weg zum Raja. Der Imbiss war der einzige Ort in der Stadt, an dem man die Bundesliga live schauen konnte, wenn man kein Bezahl-Abo abgeschlossen hatte. Viele Frauen in Garz rümpften die Nase über die schmucklose Döneria. Obwohl der Imbiss von Türken geführt wurde, bevölkerten alteingesessene Rüganer das Hinterzimmer. Hier war der große Flachbildfernseher angebracht, auf dem man gemeinsam die Konferenzschaltung der Samstagsspiele schaute. Das Essen im Raja war im Gegensatz zur schlichten Optik sehr gut. Obwohl die umfangreiche Karte Gerichte aus den unterschiedlichsten Kulturkreisen anbot, schmeckte fast alles lecker. Und die Preise waren so günstig, dass auch Hartz-IV-Empfänger sich hin und wieder das Einkehren leisteten.

Die samstägliche Bundesliga war ein kleiner Farbtupfer in Richards grauem Alltag, auf den er sich immer wieder freute. Es war die einzige Gelegenheit, bei der er unter Menschen ging, wenn man von seinen Einkäufen im Edeka absah.

Von der Poggenburgstraße war es bis zum Raja nicht weit zu laufen. Obwohl Garz eine Stadt mit stolzen zweitausend Einwohnern war, gab es hier nur zwei Ampeln, die an der Hauptstraße standen. Hier fuhren alle Fahrzeuge durch, die in den östlichen Teil der Insel wollten.

Richard hatte zu Hause noch einen Schluck vom Kräutergeist genommen und damit einen angenehmen Pegel aufgebaut. Beeinträchtigt fühlte er sich dadurch nicht, und man sah ihm beim Laufen seine Promille nicht an. Er ließ Vorsicht walten. Schnell war man in seinem Tran versunken, passte nicht richtig auf und stolperte. Mit seinen maroden Gelenken konnte das fatale Folgen haben. Und so lief er nicht mehr, wie früher, da über die Straße, wo es ihm gerade passte, sondern wartete geduldig an der Fußgängerampel. Wegen seiner arthritischen Knie konnte er nicht mehr rennen. Seine Beine gaben im besten Fall ein eiliges Humpeln her.

Auch heute drückte er, wie jeden Samstag auf seinem Weg zum Raja, auf den Ampelknopf an der Lindenstraße und wartete auf Grün.

Richard schaute nach oben. Es dauerte nicht lange und das Signal wechselte von Grün auf Gelb.

In diesem Moment schoss ein azurblauer Ford Kombi heran, um die Ampel noch zu passieren, bevor es rot wurde. Richard, der schon losgehen wollte, blieb stehen. Der Fahrer des Fords überlegte es sich nun doch anders und bremste scharf ab. Der Wagen ragte ein gutes Stück in den Fußgängerüberweg hinein.

Richard sah missbilligend in das Innere des Autos. Der Mann am Steuer war kaum zu erkennen. Er trug eine Kappe, die seine Züge im Halbdunkel verschwinden ließ. Aber auf dem Beifahrersitz saß ein Junge. Er mochte zehn Jahre sein, vielleicht elf, wer konnte das bei den Kindern heute schon sagen?

Der Junge blickte zu Richard auf. Der erwiderte diesen Blick. Er sah in ein seltsames, von struppigen schwarzen Haaren umrahmtes Gesicht. Da registrierte er, wie der Fahrer ihm mit einer genervten Handbewegung bedeutete, dass der Weg nun frei sei. Richard nickte und lief los. Er überquerte die Straße und kam sicher auf der anderen Seite an, als ihn etwas innehalten ließ. Er drehte sich um.

Die Ampel hatte gerade wieder auf Grün geschaltet, und der azurblaue Ford schoss mit aufheulendem Motor davon. Richard sah nur noch das Rügener Kennzeichen. Das Fahrzeug bog bei der Senfmanufaktur rechts ab und verschwand aus seinem Blickfeld.

Richard stand einfach da und schaute. Er war irritiert. Aber er wusste nicht genau, weshalb. Hatte er sich über den unhöflichen Fahrer geärgert, der ihn beinahe umgefahren hätte? Oder hatte der blaue Wagen ungute Erinnerungen ausgelöst? Marion hatte auch mal so einen Kombi gefahren, und an seine Ex dachte er wahrlich nicht gern. Richard drehte sich um, ging einige Schritte weiter und betrat das Raja.

Im Hinterzimmer saßen sie schon alle: Kfz-Mechaniker Addi, Paul, der Bauer, Falk, der Schwerbeschädigte, Willie, der Makler, Pit, der Postbote, und Physiotherapeut Hannes. Richard ging zu jedem Einzelnen und gab ihm die Hand. Das bedeutete nicht, dass man eine verschworene Gemeinschaft darstellte, es war hier das Ritual der Begrüßung. Auch fußballhörige Touristen, die sich ins Raja verirrten, weil es nirgendwo anders in der Nähe Sky gab, wurden von Ankommenden mit Handschlag begrüßt.

Richard setzte sich an einen freien Tisch. Er gehörte zu keiner der Cliquen, war aber als Einzelgänger akzeptiert. Der Wirt Erol saß mit Hannes und Pit zusammen, und sie ärgerten sich gerade über die erneute Niederlage der Hansa-Elf aus Rostock. Angesichts des neuen Gastes erhob Erol sich und ging zu ihm hinüber.

»Ich nehm den Cheeseburger«, sagte Richard, dem Formulierungen wie »das Übliche« ein Gräuel waren, »ein Pils und dazu noch einen Kräuterschnaps.« Im Grunde war es aber genau das, was er immer nahm.

Erol ging aus dem Raum, und wenig später brachte sein halbwüchsiger Sohn Mohammed das Gewünschte.

Es war unmittelbar vor dem Anpfiff. Richard leerte die kleine, eisig beschlagene Kräuterschnapsflasche, die Mohammed gebracht hatte, zur Hälfte und trank etwas Bier hinterher, was ihm Behagen bereitete.

Die Uhr sprang auf 15:30, und die fünf Bundesligaspiele wurden angepfiffen.

Richard hatte keinen Favoriten, anders als die meisten in der Runde. Fast alle, die hier zusahen, waren eingeschworene Anhänger ihres Vereins. Der HSV, Dortmund, Leipzig, die Hertha oder die Bayern. Es ging hier querbeet. In früheren Zeiten hatte Richard auch dem einen oder anderen Verein angehangen. Aber welchen Farben er im Laufe seines Lebens auch immer die Daumen gedrückt hatte, irgendwann war er bitter enttäuscht worden und hatte sich von dem Club abgewendet. Inzwischen waren seine Sympathien vorübergehend und galten meist Aufsteigern und Underdogs. Dadurch wurde der Fußball weniger existenziell und blieb ein harmloser Spaß.

Heute jedoch war irgendetwas anders. Die Konferenzschaltung der Spiele konnte Richard nicht einfangen. Seine Gedanken wanderten zurück zu dem Jungen in diesem blauen Kombi. Diese Miene hatte etwas Eigentümliches an sich gehabt. Richard konnte nicht greifen, was genau es war, was ihn so irritierte.

»Moin, Richard!« Bruno Abtmann setzte sich zu ihm, ohne weiter zu fragen. Er war gut zehn Jahre jünger als sein Tischnachbar, hatte sich aber durch haltloses Trinken bereits völlig ruiniert. Bruno stammte aus einem berüchtigten Schweriner Kinderheim, wo schlimme Erlebnisse ihn gezeichnet hatten. Der Hartz-IV-Empfänger war mittellos, hatte einen Zwinkertick und schnorrte sich überall so durch. »Du, Richard, ich hab grad keine Kohle dabei. Legst du mir’n Bier und ’n Korn aus?«

Bruno war, genau wie Richard, eine arme Socke, nur dass er keine Rente hatte und von der Hand in den Mund lebte. Seine Alkoholabhängigkeit brachte ihn dazu, jeden anzubetteln. Man fuhr am besten, wenn man ihm das Quantum gab, was er brauchte, und so viel kostete es ja nicht.

Wenig später servierte Erol Schnäpschen und neue Biere. Die wurden nicht gezapft, sondern kamen in Flaschen. Dafür war der halbe Liter Pils billig und kostete nur einen Euro zwanzig.

Bruno zischte Bier und Korn um Nu weg. Er versuchte, den Spielen zu folgen und artig mit Richard Konversation zu machen. Der aber starrte nur abwesend ins Leere.

Obwohl er ein Gewohnheitstrinker war, verfügte Bruno noch über recht gute Antennen. »Sag mal, Alter, ist was mit dir?«

Richard sah ihn irritiert an. »Was meinst du?«

»Du guckst gar keinen Fußball. Du siehst aus, als wärst du ganz woanders.«

Richard sah hoch zum Fernseher, wo der weiße Ball auf dem Grün des Fußballplatzes zwischen den Spielern herumirrte. »Nein, nein. Es ist nichts.«

Bruno grinste. »Es ist nie ›nichts‹! Bist du … krank?«

Richard seufzte. Eigentlich hatte er das Bedürfnis, seinem Herzen Luft zu machen. Also tat er es. »Ich stand vorhin an der Ampel. Da kam so ein blauer Kombi! Und auf dem Beifahrersitz, da saß ein kleiner Junge. Neun, zehn, elf so was. Und der war …« Er brach ab, weil er sich immer noch nicht darüber im Klaren war, was eigentlich genau mit dem Kind gewesen war. »Der hat mich angesehen. Auf so eine komische Art …«

Bruno faltete die Hände. »Und? Viele gucken komisch. Ich wünschte, ich hätt nen Euro für jeden …!«

Oben auf dem Fernseher wütete ein Spieler, der gerade Gelb bekommen hatte, gegen den Schiedsrichter. Richard versuchte, einen Gedanken zu erhaschen, der in seinem Kopf herumspukte. Dann, als gerade ein abgefälschter Ball ins Bremer Tor flog, kam ihm die Erkenntnis. Es war, wie wenn das zentrale Stück sich ins Puzzle eingefügt hatte und endlich den Blick freigab auf das Wesen der Sache. Und nun wusste Richard, was er im Gesicht des Kindes in dem blauen Ford gesehen hatte: Der kleine Junge auf dem Beifahrersitz hatte Angst gehabt.

2. Kapitel:
Der Weg nach Putbus

Es konnte nicht bis zum Montag warten. Wenige Minuten nach seiner Erkenntnis hatte Richard das Raja verlassen und war nach Hause zurückgekehrt.

Er zitterte am ganzen Körper, denn seine Beobachtung hatte ihn nachhaltig aufgewühlt. Im blauen Ford war ein Junge gesessen, dem die blanke Furcht im Gesicht gestanden hatte. Dass ihm dies als erfahrenem Pädagogen nicht gleich aufgefallen war, erstaunte ihn. Und er wurde den Gedanken nicht los, dass es sich dabei nicht um die Angst handelte, die ein ungezogener Jungen zeigte, der väterlicher Züchtigung entgegensah. Es war eine andere Form der Angst gewesen. Eine existenziellere. Richard dachte an Todesangst.

Nach seiner Erkenntnis war sein erster Gedanke gewesen, dass es sich um ein entführtes Kind handelte. Er musste sich erst sammeln und zur Ruhe kommen. Dann griff er zum Telefonhörer und wählte die Nummer der Polizei. Es dauerte nicht lange, bis sich am anderen Ende eine männliche Stimme meldete.

»Polizeinotruf! Was kann ich für Sie tun?«

Richard musste sich räuspern, denn er krächzte. »Mein Name ist Richard Dreifürst. Ich wohne hier in Garz, Rügen. Ich habe gerade ein Auto gesehen. Möglicherweise ist da ein Kind entführt worden! Ich wollte das sofort melden!«

Am anderen Ende war ein Moment Stille. »Ein Kind ist entführt worden. Wie? Ist es in ein Auto gezerrt worden?«

»Nein, es saß im Auto, auf dem Beifahrersitz! Es war ein Junge, etwa zehn Jahre alt …!«

»Mal ganz langsam: Sie sagten, der Junge wäre entführt worden. Woran machen Sie das fest? Hat er um Hilfe geschrien?«

»Nein«, stammelte Richard, »um Hilfe geschrien hat er nicht, aber ich … ich habe gesehen, dass er Angst hatte …!«

»Wie, Sie haben gesehen, dass er Angst hatte?«, wiederholte die Stimme am Telefon skeptisch.

»Es war an der Straße. Der Wagen war sehr schnell. Er hätte mich beinahe angefahren. Aber dann hat er gebremst, und ich habe das Kind gesehen. Es war so ein Ausdruck in seinem Gesicht … Wenn Sie mich fragen, war es Todesangst!«

Wieder war da Schweigen in der Leitung. »Haben Sie die Autonummer?«

»Bedauerlicherweise nicht. Die ganze Sache ist mir erst später klar geworden.«

»Welche Sache?«

»Ich habe den Ausdruck im Gesicht des Jungen erst eine ganze Weile später deuten können!«

Ein unwilliger Laut drang zu Richard. »Sagen Sie mal, was ist denn das für eine Geschichte?«

»Hören Sie, es ist mir ganz ernst damit …« Richard kam nicht weiter, denn der Beamte schnitt ihm das Wort ab.

»Das hier ist eine Notrufleitung! Sie machen sich strafbar, wenn Sie die missbräuchlich nutzen!«

»Herrgott, das tue ich nicht! Ich habe den Jungen wirklich gesehen …«

»Ach wirklich? Und was soll das jetzt werden? Sie haben keine Autonummer, Sie haben keinerlei klare Hinweise auf eine Entführung beobachtet, und dass der Junge Angst gehabt haben könnte, ist Ihnen auch erst später klar geworden. Was soll ich denn damit anfangen?«

»Es war ein blauer Ford …«, stammelte Richard, aus dem Konzept gebracht. »Und er fuhr durch Garz in nördlicher Richtung!«

»Also gut. Hören Sie zu: Wir kümmern uns drum! Ist sonst noch was?«

Richard glaubte, nicht richtig zu hören. Wurde er hier gerade einfach abgespeist? »Sie kümmern sich drum? Was soll denn das heißen?«

»Dass wir uns drum kümmern. Machen Sie sich einfach keine Sorgen. Und nun bitte ich Sie, die Leitung wieder freizumachen. Vielen Dank für Ihre Meldung, Herr ehm … Dreifürst!« Damit legte er auf.

Richard saß einen Moment bewegungslos da, bevor auch er auflegte. Das war ja nicht so gut gelaufen. Ein Stück weit konnte er den Beamten sogar verstehen. Viel vorzuweisen hatte er wirklich nicht.

Aber er konnte die Sache nicht einfach auf sich beruhen lassen. Es war wohl unumgänglich, dass er persönlich bei der Polizei vorsprach. Ja, wenn er wollte, dass man ihm glaubte, musste er dem zuständigen Beamten in die Augen sehen.

Richard zog sich hastig um. Er nahm eines seiner beiden weißen Hemden und die gebügelte Stoffhose. Der Anzug aus reiner Schurwolle wies bereits kleine Mottenlöcher auf, ausgerechnet im Schritt der Hose. Aber der kleine Makel fiel nicht auf, wenn man stand und herumlief.

Er zog sein Tweedsakko an und warf den Gore-Tex-Anorak über. Es war zwar Hochsommer, aber mit Regen musste man immer rechnen. Die nächste Polizeidienststelle war in Putbus. Dorthin war es ein gutes Stück, wenn man zu Fuß ging.

Wäre es unter der Woche gewesen, hätte Richard den 30er-Bus nehmen können, aber an Samstagen verkehrte der nicht. Wer dann auf der Insel unterwegs sein wollte, benutzte ein Auto, einen Roller oder ein Fahrrad. Er besaß ein Rad, das allerdings kaputt war. So blieb ihm nur der Fußweg.

 

Richard hatte an diesem Tag bereits einiges getrunken, für seine Verhältnisse zwar in Maßen, dennoch war er alles andere als nüchtern. Über die Alleenstraße waren es zwei Stunden strammer Marsch bis nach Putbus. Den Rückweg würde er in keinem Fall zu Fuß schaffen. Er konnte aber in Putbus ein Taxi rufen. Seine Geldmittel waren begrenzt, weshalb er auf keinen Fall beide Wege fahren wollte.

Angesichts der Strecke brach er zügig auf. Während er vor sich hin schritt, stand ständig das Gesicht des kleinen Jungen aus dem Auto vor seinem inneren Auge. Er erinnerte sich an die Blässe des Knaben, an den schmalen kleinen Mund, an das schwarze Haar. Und dann diese unergründliche Not, die stumm aus den Augen schrie. Keine Frage, da lag definitiv etwas im Argen!

 

Rügen war zu dieser sommerlichen Jahreszeit ein Idyll mit sanft wogenden Feldern, schnurgeraden Alleen mit Bäumen, deren Kronen über der Straße zu behütenden Gewölben zusammenwuchsen, einem fast allgegenwärtigen Wind und einer Zeit, die langsamer abzulaufen schien als anderswo. Die Insel hatte etwas Paradiesisches, und nicht nur die Touristen liebten den Zauber des Ortes, sondern auch die Einheimischen.

Richard indes hatte sich schon lange daran sattgefreut. Denn was nutzte einem die schönste Kulisse, wenn der Verdruss über ein freudloses Leben an einem nagte?

Er lief, so zügig er konnte, auf der Alleenstraße dahin. Er versuchte wieder und wieder, sich das Gesicht des Kindes im blauen Auto zurück ins Gedächtnis zu rufen. In seiner Zeit als Gymnasiallehrer waren seine Sinne geschärft worden, was das Lesen seiner Schützlinge anging. Früher hatte er in der Regel gewusst, wann ein Kind log oder die Wahrheit sagte, ob es Kummer hatte oder aggressiv war. Oder ob es Angst hatte. Seine Antennen waren damals fein gewesen. Jetzt mochten sie etwas eingerostet sein, aber ihren Betrieb eingestellt hatten sie noch nicht. Seine Instinkte hatten ihm signalisiert, dass etwas faul war, bevor er es mit dem Verstand hatte nachvollziehen können. Das passierte ihm schließlich nicht jeden Tag. Nein, es war eine klare Wahrnehmung gewesen, und er neigte dazu, ihr zu vertrauen.

Richards Überzeugung verfestigte sich zunehmend. Seine weiteren Gedanken drehten sich um den Fahrer des blauen Autos. Welchen Grund konnte eine derartige Furcht auf dem Gesicht eines Kindes haben, wenn es sich bei dem Mann am Steuer nicht um einen Kidnapper handelte? Richard spielte alle Möglichkeiten durch, kam aber zu keiner anderen Erklärung. Für ihn sprach alles dafür, dass der Junge im Kombi verschleppt worden sein musste.

Sein rechtes Knie begann leicht zu schmerzen, als etwa die Hälfte der Strecke nach Putbus geschafft war. Solche Beschwerden traten immer mal auf, wenn er länger unterwegs war. Normalerweise verging der Schmerz über Nacht. Manchmal aber, nach einem falschen Auftreten etwa, konnte das Knie dick werden, und selbst in der Wohnung wurde dann jeder Gang zur Tortur. Das dauerte dann ein, zwei Wochen, bis sich das wieder gab. Richard hoffte, dass es nicht so weit kommen würde.

Es hatte zu tröpfeln begonnen. Einige Urlauber kamen ihm vom Wreechener See entgegen, offenbar von der aufziehenden Bewölkung vertrieben. Von der Alleenstraße aus konnte man zum blanken rügischen Bodden hinausblicken, aber Richard hatte keine Augen für die Reize der Ostsee. Fieberhaft ging er im Kopf immer wieder durch, was er auf der Polizeiwache sagen wollte. Auf keinen Fall sollte sein nächstes Gespräch so enden wie das am Telefon.

Dummerweise war er vor nicht allzu langer Zeit schon einmal auf dem Putbuser Revier gewesen. Das war noch kein Jahr her. Er hatte sich bei einem Polterabend über die Maßen betrunken und dann die Kontrolle verloren. Er war bei einer Frau zudringlich geworden. Irgendein Gockel hatte sich dann als ihr Ritter aufgespielt und ihn geohrfeigt. Richard war zornig geworden und hatte dem selbst ernannten Beschützer eine verpasst. Er war kein Schläger, aber wenn er im Suff ausrastete, kannte er keine Verwandten mehr. Nach seinem Schwinger war schnell die Polizei aufgetaucht und hatte ihn zum Ausnüchtern mitgenommen. Auch das war leider nicht ganz ohne Randale von seiner Seite abgegangen. Die Beamten schienen Kummer gewohnt zu sein und wollten keine große Sache daraus machen. Im Gegenteil, sie hatten sogar zwischen den Parteien vermittelt und nachdem Richard sich bei den Geschädigten offiziell entschuldigt hatte, war auch keine Anklage erhoben worden.

Noch zwei weitere Vermerke dieser Art hatten sich mit den Jahren in seiner Polizeiakte angesammelt. Er galt nicht als Krimineller, wohl aber als Alkoholiker und Querulant mit Aggressionspotenzial.

Richard versuchte, sich nicht im Vorfeld zu demotivieren. Obwohl Rügen weit vom Schuss lag, waren die Polizisten hier nicht weniger gut geschult als anderswo. Wenn sie ihm ins Gesicht sahen, würden sie seiner Beobachtung von heute das richtige Gewicht beimessen. Es war eine Kindesentführung, und sie würden nicht zögern, zu handeln.

 

Um kurz vor neunzehn Uhr betrat Richard mit leicht geschwollenem Knie das Putbuser Polizeirevier am Markt. Er hoffte, dass Polizeihauptmeister Oetzmann keinen Dienst hatte. Er war von den Beamten, die Richard bei seinem letzten Aufenthalt hier kennengelernt hatte, das unangenehmste Kaliber gewesen. Es handelte sich bei diesem Mann um einen Polizeiveteran, der unter dem Gewicht seiner Schulterklappen zu unnatürlicher innerer Größe gewachsen war und auftrat, als sei er das letzte Faustpfand der Zivilisation gegen Chaos und Verbrechen.

Richard wartete an der Sperre und hielt nach Oetzmann Ausschau. Er hatte Glück, denn ein anderer Beamter trat ihm entgegen, ein junger blonder Mann mit Hamsterbacken und Bauchansatz, den die beiden Sterne auf seinem blauen Rangabzeichen als Polizeimeister erkenntlich machten.

Der Beamte blieb abrupt stehen und schaute Richard mit großen Augen an. »Herr Dreifürst? Mensch, das ist aber eine Überraschung!«

Eine Überraschung? Wieso? Richard kannte den Mann nicht.

»Ich bin Jens Lackner!«, klärte der Polizeimeister ihn auf. »Ich hatte Sie in Deutsch und Geschichte! Hansa-Gymnasium!« Er streckte Richard breit lächelnd die Hand entgegen.

Der ergriff sie und erinnerte sich nun. Er hätte Jens Lackner nicht wiedererkannt. Damals, in der Schule, war er ein dicker Junge gewesen, ein scheuer Leisetreter, der nicht aus der Herde herausgestochen war. Er war immer ganz ordentlich mitgekommen im Stoff, hatte befriedigende Noten erzielt und sich dabei überwiegend unter dem Radar von Richards Aufmerksamkeit bewegt. Dann aber war Jens Lackner zu einer der größten Enttäuschungen in Richards pädagogischer Laufbahn geworden. Das jedoch war eine andere Geschichte.

Richard brachte dennoch ein Lächeln zustande und ergriff die Hand seines ehemaligen Schülers. »Ich erinnere mich. Wie geht es Ihnen, Herr Lackner?«

Lackner grinste verlegen, blickte sich um und zuckte die Achseln. »Ich arbeite auf einem Polizeirevier auf Rügen. Es ist definitiv noch Luft nach oben!« Er lächelte verschmitzt und hoffte wohl auf ein Zeichen der Erheiterung, aber Richard war von ausgelassener Wiedersehensfreude weit entfernt.

»Ich möchte eine Beobachtung melden!«, begann er, »Ich habe Anlass zu glauben, dass hier in der Gegend ein Kind festgehalten wird. Ein Kind, das von irgendwoher hierher verschleppt worden sein muss!«

Das Leuchten in Jens Lackners Gesicht erlosch. Er straffte sich, und seine Körpersprache strahlte nun einen Gesetzeshüter aus. Dennoch stand in seiner Miene Skepsis: »Ein verschlepptes Kind? Wie kommen Sie darauf? Ich meine, sind Sie sicher?«

Richard nickte knapp. »Ich bin zu Fuß den ganzen Weg von Garz rübergekommen deswegen. Glauben Sie mir: Ich bin mir sicher!«

Lackner überlegte einen kurzen Moment. Dann lächelte er knapp. »Kommen Sie doch bitte mit, Herr Dreifürst!«

 

Polizeimeister Jens Lackner hatte mit zwei Fingern auf die Tastatur eines antik wirkenden Computers eingehackt und gute zwanzig Minuten gebraucht, den Sachverhalt aufzunehmen. Dann war Hauptmeister Oetzmann erschienen, vom Kollegen herbeigerufen. Er ging auf die Sechzig zu, war einen guten Kopf kleiner als sein junger Mitarbeiter und trug einen pflegeleichten grauen Bürstenschnitt. Im feisten Gesicht von Lackners Vorgesetztem stand die ungesunde Röte eines Feierabendtrinkers. Der Revierleiter hatte Dreifürst gleich wiedererkannt und mit einem vielsagenden Blick gemustert.

Oetzmann setzte sich auf Lackners Platz, las dessen Bericht und lehnte sich zurück. Dann wendete er sich Richard zu. Er wirkte nun, da es sich um etwas anderes drehte, als er offenbar vermutet hatte, etwas weniger ungnädig. »Wie lange haben Sie dieses Kind gesehen?«

»Nicht lange. Es war nur ein Moment. Ein paar Sekunden vielleicht.«

Oetzmann schaute wieder auf den Computer. »Ein kurzer Blick in das Gesicht eines Kindes. Wie können Sie so sicher sein, dass es verschleppt wurde?«

Richard war auf die Frage nun besser vorbereitet, als Stunden zuvor am Telefon. »Wie Sie vielleicht wissen, war ich Lehrer. Ich habe lange Jahre mit Kindern gearbeitet und gelernt, ihre Mimik und Körpersprache gut einschätzen zu können …«

Oetzmann schaute auf und war, entgegen Richards Erwartung, keineswegs überzeugt. »Und was, wenn Sie sich irren?«

Man musste kein Geistesriese sein, um auch diesen Einwand vorhersehen zu können. »Was, wenn ich mich nicht irre?«

Polizeimeister Lackner sah von seinem ehemaligen Lehrer zu seinem Chef, neugierig, wie dieser wohl darauf reagierte.

Oetzmann ließ sich aber nicht aus dem Konzept bringen. »Herr Dreifürst, wie Sie wissen, führen wir hier eine Akte über Sie. Sie sind bereits mehrfach auffällig geworden. Alles Delikte in Verbindung mit Trunkenheit …!«

In Richard keimte nun Ungeduld auf. »Verzeihen Sie! Ich kenne meine Akte. Was hat sie mit dem kleinen Jungen in dem blauen Auto zu tun?«

»Erst einmal nichts. Aber bevor wir uns weiter mit diesem … ›Fall‹ beschäftigen, hätte ich doch gerne mal gewusst, ob Sie heute schon was getrunken hatten, als Sie …«, Oetzmann blickte auf den Bericht, »… als Sie um fünfzehn Uhr an der Ampel in Garz standen?«

Richard merkte, wie seine innere Balance kippte. Es trat nun das ein, was er insgeheim befürchtet hatte. Für Oetzmann war die Angelegenheit jetzt schon eine klare Sache. Er nahm den Trinker nicht für voll und stufte ihn als Spinner ein.

Richard bemühte sich, trotz dieser Entwicklung Ruhe zu bewahren. »Ich war nüchtern. Es war helllichter Tag!«

Oetzmann fixierte ihn aus seinen kleinen, wässrigen Augen. »Sie haben also bis fünfzehn Uhr definitiv nichts getrunken. Keinen Frühschoppen, kein kleines Schnäpschen, keinen Aperitif … um dem morgendlichen Zittern zu begegnen?«

Die Frage war unverschämt. Richard fiel es zunehmend schwer, seine Emotionen im Griff zu behalten. Gleichzeitig aber wuchs seine Verunsicherung. Er hatte heute bereits einiges getrunken. Wenn er dies nun leugnete, musste er damit rechnen, dass sie ihn ins Röhrchen pusten ließen. Der lange Marsch hatte ihn belebt, aber er hatte garantiert noch gehörig Restalkohol im Blut. Das würde ihn dann in jedem Fall kompromittieren.

Er beschloss, es nicht darauf ankommen zu lassen und die Wahrheit zu sagen. »Nun, ich hatte am Vormittag einen Magenbitter, aber das war wirklich nur …«

Oetzmann wartete nicht, bis Richard geendet hatte, sondern stand bereits auf. »Das reicht schon. Mehr muss ich nicht hören!«, sagte er und hatte den Mann vor sich damit ganz offensichtlich der Unglaubwürdigkeit überführt.

Der Revierleiter nickte Lackner knapp zu und schickte sich an zu gehen, doch Richard wollte sich nicht so schnell abfertigen lassen. »Warten Sie doch bitte mal!«, rief er und setzte sich unbewusst kerzengerade auf. »Vielleicht stimmt es ja, und ich habe ein Alkoholproblem. Aber meine Aussage wäre doch wohl eher dann problematisch, wenn ich meinen Pegel noch nicht gehabt hätte. Ich bin Trinker, aber ich war für meine Verhältnisse absolut klar! Ich habe etwas gesehen! Wenn Sie schon nicht meinetwegen aktiv werden, dann tun Sie es für den kleinen Jungen!«

Oetzmann war stehen geblieben und hatte seinen Blick auf Richard geheftet, ohne dabei sein Mitleid zu verhehlen. »Es ehrt Sie, dass Sie versuchen, anderen Menschen zu helfen, Herr Dreifürst, aber jetzt ist es besser, Sie gehen nach Hause!«

In Richards Kopf flackerte ein Gedanke auf. »Können Sie nicht wenigstens in ihren Datenbanken nachschauen? Die Polizei hat doch so was! Datenbanken für vermisste Leute! Kann man meine Aussage da nicht mal überprüfen? Vielleicht wird ja genau so ein Junge vermisst, wie ich ihn gesehen habe!«

In Oetzmanns Gesicht bewegte sich kein Muskel. Er sah zu Jens Lackner hinüber. »Der Mann wohnt in Garz! Fahren Sie ihn kurz rüber!« Dann ging er.

Richard kämpfte mit einem Mal mit einer innerlichen Leere.

Jens Lackner schaute betreten, während Richard sich beschämt und herabgesetzt fühlte. Er presste die Lippen zusammen. Es war die nackte Realität, er war ein Bürger zweiter Klasse, ein kranker Mann, dessen Aussagen keinerlei Bedeutung hatten.

»Kommen Sie, Herr Dreifürst!«, sagte Lackner.

 

Jens Lackner steuerte den Polizei-Passat, auf dessen Beifahrerseite Richard Platz genommen hatte und nun grübelnd vor sich hinblickte.

Sein ehemaliger Schüler sah zu ihm herüber. »Herr Oetzmann wollte Sie nicht beleidigen, Herr Dreifürst. Ich dürfte Sie überhaupt nicht nach Hause fahren, wenn es nach den Vorschriften ginge. Es ist eine Anerkennung Ihrer Bemühungen!«

Das, was aus dem Munde Lackners kam, war natürlich Unsinn. Aber Richard hatte kein Interesse, die Aufmunterungsversuche des Polizeinovizen zu würdigen. Ihm machte die Demütigung zu schaffen, die er gerade auf der Wache erfahren hatte. Dass er selbst mit sich nicht im Reinen war, sich Vorwürfe machte für die vielen falschen Entscheidungen in seinem Leben, das war eine Sache, aber dass ihm nun von Amts wegen quasi der Jagdschein ausgestellt wurde, das schmerzte tief.

Lackner fuhr in die Poggenburgstraße, hielt vor Richards Häuschen an und versicherte ihm, in jedem Fall die Augen offen zu halten. Der junge Beamte hatte immer noch den Status eines Schülers, der mit einer Respektsperson sprach, was Richard im gegenwärtigen Moment absurd vorkam. Er stieg aus, und Lackner fuhr nach einem letzten aufmunternden Lächeln davon.

 

Richard saß in seinem Wohnzimmer und hatte ein Pils getrunken. Ein Bier machte nichts. Es zeigte keine große Wirkung, aber es befriedigte gewisse innere Notwendigkeiten. Vor ihm auf dem Tisch wartete ein Glas mit Kräutergeist, das er sich automatisch eingegossen hatte. Er rührte den Schnaps aber nicht an, der Anblick reichte ihm. Seelisch ging es ihm wieder einmal dreckig, und an dieser Stelle war es besser, nicht weiterzutrinken. Es hätte auch wenig Sinn gemacht, denn kein Hochprozenter dieser Welt hätte einen solchen depressiven Schub auffangen können. Richard kannte das Versinken im Selbstmitleid nur zu gut, es war ihm fast zur zweiten Natur geworden. Nun aber kam noch etwas anderes dazu, das Gefühl der Ohnmacht. Er konnte nichts tun. Dieses arme Kind in dem blauen Ford war einem ungewissen Schicksal entgegengefahren, und keinen hatte es interessiert.

Als Richard Lehrer geworden war, war er beseelt von dem Wunsch, dem einen oder anderen Schüler Hilfestellung geben zu können, ihn zu beflügeln oder gar zu fördern. Die Realität war eine andere gewesen. Die Schüler waren wie eine Meute von Wölfen, die aggressiv wurde, wenn sie Schwäche witterte. Mitgefühl, Interesse und Großmut wurden schamlos ausgenutzt. Der Lehrer war nur ein Wetzpfosten für die jungen Krallen, die sich hier ungeniert austobten und Erfahrungen für das Leben sammelten. Schon bald hatte Richard begriffen, dass er kräftemäßig dagegenhalten, den Stier bei den Hörnern packen musste. In seinem Fall ging das nur mit rigoroser Strenge. Je härter er seine Schützlinge anfasste, desto besser wurde sein Stand. Empathie hob er sich für die Momente auf, wenn er mit einem Schüler unter vier Augen sprach. In solchen Situationen konnte er manchmal wirklich zur Problemlösung beitragen. Allen zu helfen war jedoch unmöglich. Das ließ die Realität nicht zu. Richard sah auch keinen Sinn darin, sich für andere aufzureiben, wenn dabei das eigene Wohlergehen auf der Strecke blieb.

Schülern zu helfen wurde einem nicht gedankt. Mitgefühl machte einen bei den Kollegen und den Eltern eher verdächtig, ein Wolf im Schafspelz zu sein, auf der Pirsch nach verbotenen Früchten. Dennoch hatte Richard sich im Fall der zwölfjährigen Carmen engagiert. Sie war ein bildhübsches Mädchen gewesen, zierlich, mit langen schwarzen Haaren und einem betörenden Lächeln, das perfekte weiße Zähne aufblitzen ließ. Aber Carmen war auch verhaltensauffällig. Ihre Fingerkuppen bluteten ständig, weil sie zwanghaft Nägel kaute. Sie schlug andere, auch Jungen. In der Klasse war sie isoliert und ätzte jeden weg, der sich ihr näherte. Richard hatte sich mit seinem Kollegen, dem Lateinlehrer Julius König, über sie unterhalten. Der äußerte in einem Vieraugengespräch vorsichtig die Vermutung, dass Carmen von ihrem Vater missbraucht wurde. Unternommen hatte König nichts, denn solche Sachverhalte waren äußerst kompliziert. Die Ämter reagierten mit größter Zurückhaltung, wenn derartige Verdächtigungen ausgesprochen wurden, und in der Regel ließen sich solche Delikte auch nur schwer nachweisen. Die betroffenen Kinder mauerten, wenn es drauf ankam, deckten häufig ihre übergriffigen Angehörigen, und die Untersuchung verlief im Sande. Oft zogen diese Schüler und ihre dysfunktionalen Familien dann einfach fort und entzogen sich so einer weiteren Beobachtung der Ämter.

Richard wollte aber nicht resignieren und zur Tagesordnung übergehen, nur weil die Erfolgsaussichten schlecht standen. Er war nicht bereit, bei einem solch gravierenden Missstand tatenlos zusehen, schon gar nicht als Lehrkraft. Und so suchte er, im Schulterschluss mit dem Kollegen König, eines Tages nach dem Unterricht das Gespräch mit Carmen. Sie war überrumpelt und gab offen zu, dass ihr von der Mutter getrennt lebender Vater sie zu sich ins Bett holte, wenn sie am Wochenende bei ihm war. Dort zwang er sie zu sexuellen Handlungen, die bis zum Beischlaf gingen.

Diese Aussage war für die Pädagogen starker Tobak. Gleichzeitig konnten sie kaum glauben, wie leicht das gegangen war. Aber Richard und Julius König hatten sich zu früh gefreut. Als Carmen ihre bittere Geschichte einige Tage später vor der Schulleitung wiederholen sollte, stritt sie plötzlich alles ab. Obwohl gleich zwei Lehrer die ursprüngliche Aussage des Mädchens bezeugten, weigerte sich Direktor Dr. Blaschka, die Sache weiter zu verfolgen. Mit der lakonischen Aussage, dass man nicht alles Elend dieser Welt auf die eigenen Schultern nehmen konnte, erschöpfte sich, was er zum Thema zu sagen hatte. Richard hatte heftig gegen diese Gleichgültigkeit aufbegehrt, aber ohne Erfolg. Das Einzige, was er letztendlich mit seiner Initiative erreicht hatte, war, dass Dr. Blaschka die Attacke des Deutschlehrers persönlich nahm und fortan einen Unruhestifter in ihm sah.

Richard war dann auf die Idee gekommen, einen anonymen Brief an das Jugendamt zu schreiben und diesem so Meldung über den Fall Carmen zu machen. Eine Sachbearbeiterin hatte daraufhin, wie er später erfuhr, beim Vater des Mädchens angerufen und ihn mit den Vorwürfen konfrontiert. Der Mann war wütend geworden, hatte alles abgestritten und mit einer Verleumdungsklage gedroht. Damit war die Sache für das Amt dann erledigt. Nach den Sommerferien hatte Carmen die Schule nicht mehr besucht. Beide Eltern waren, so informierte später die Schulleitung, unbekannt verzogen.

Das lag alles weit zurück. Und es war keine Zeit, an die Richard sich gerne erinnerte. Er füllte den Kräuterlikör vom Glas in die Flasche zurück. Ihm war nicht nach weiterer Betäubung.

Obwohl er sich damals bei seiner Lehrtätigkeit nicht nur für Carmen, sondern auch für einige andere Zöglinge eingesetzt hatte, war nie viel dabei herausgekommen. Als er einer fünfzehnjährigen Schülerin beistehen wollte, die ungewollt schwanger geworden war und sich ihm anvertraut hatte, war er von Dr. Blaschka im Lehrerzimmer vor der versammelten Mannschaft zurechtgewiesen worden. Er möge seine Ritterlichkeit für hübsche Schülerinnen in Not besser zügeln und Abstand zu ihnen halten, damit niemand auf »komische« Gedanken käme. Diese zwischen den Zeilen stehende infame Unterstellung vor dem versammelten Kollegium hatte Richard den Zahn gezogen. Angesichts Dr. Blaschkas Geringschätzung ihm gegenüber löste sich sein eigenes Nervenkostüm allmählich in seine Bestandteile auf. Aus reinem Selbstschutz hatte er dann gekuscht und dem Vorgesetzten Demut bezeugt. Irgendwann war die Gleichgültigkeit gekommen, und am Ende schlich sich auf leisen Sohlen der Hass ein, Hass auf die Arbeit, Hass auf das Kollegium und Hass auf die Gymnasiasten. Viele ausgebrannte Lehrer entwickelten irgendwann Aggressionen gegen ihre Schüler, manche von ihnen merkten es nicht einmal. Richard war beileibe kein Einzelfall. Hätte er die Zeit zurückdrehen können, er hätte sich ebenso wenig für das Lehramt entschieden, wie für eine Ehe mit Marion.

Sein Ohnmachtsgefühl von heute ähnelte dem, das er damals im Hansa-Gymnasium verspürt hatte. Konnte es sein, dass er falsch lag und dieser Junge im blauen Wagen kein verschlepptes Kind war? Beweise hatte er jedenfalls keine. Dennoch war er nach wie vor von einer Entführung überzeugt.

 

Richard erwachte gegen drei Uhr in der Nacht. Der lange Marsch nach Putbus hatte ihn müde gemacht und all die Grübelei zur Zermürbung beigetragen. Normalerweise sah er noch lange fern, aber in dieser Situation, angesichts des ungewissen Schicksals dieses bedauernswerten Kindes hätte er es als unpassend empfunden, sich von der Flimmerkiste berieseln zu lassen.

Er ging ins Bad, als ihm plötzlich ein Gedanke durchs Hirn zuckte. Es war ein Bild, eine Erinnerung. Und von einem Moment zum anderen war er hellwach.

Die Beule im Kotflügel!