Strick, Sabine Lava und Wellen – Tod in einer Tropennacht

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© 2020 Piper Verlag GmbH, München

Redaktion: Diana Napolitano
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PROLOG

»Lucien Mahé, ich verhafte Sie wegen Verdacht des Mordes an Nadia Junot!«

Die Stimme des Ermittlungsrichters dröhnte noch in Luciens Ohren, und unwillkürlich rieb er sich die Handgelenke, wo die Handschellen, die er den Großteil des Tages getragen hatte, schmerzende Druckstellen hinterlassen hatten. Unruhig ging er in der kleinen Arrestzelle zwischen der schweren Stahltür und dem vergitterten Fenster auf und ab.

In was für einen riesen Schlamassel war er da geraten, und das nur wegen eines dummen One-Night-Stands mit einer attraktiven Frau. Allerdings hatte diese das noch schlechtere Los bei der Sache gezogen, denn sie war nun tot. Und alle Indizien sprachen dafür, dass Lucien sie ermordet hatte. Als ehemaliger Kriminalkommissar wusste er zu gut, was das bedeutete. Natürlich hatte der Richter nicht das Wort »Mord« benutzt, denn es würde erst in einer Gerichtsverhandlung entschieden werden, ob es auch tatsächlich ein Mord gewesen war. Der Ermittlungsrichter hatte in sehr korrekter Amtssprache von »Begehung eines Tötungsdelikts« gesprochen, aber in Luciens Gedächtnis hatte sich das sehr viel aussagekräftigere Wort »Mord« eingefressen. Für ihn war klar, dass es sich kaum um Notwehr oder Totschlag handeln konnte, wenn eine Frau mit Würgemalen am Hals aufgefunden worden war.

»Kannst du endlich mal aufhören, hin und her zu tigern«, beschwerte sich sein Mitgefangener, der auf seiner Pritsche lag. »Das nervt!«

Seit Lucien vor zwei Stunden aus dem Gerichtsgebäude von Saint-Pierre in seine Arrestzelle im Hôtel de Police zurückgebracht worden war, hatten sie noch kaum miteinander geredet. Lucien war zu sehr mit seinen eigenen Problemen beschäftigt, und etwas in ihm wehrte sich dagegen, dass er nun gleichgestellt sein sollte mit den Verbrechern, die er noch vor Kurzem selbst knallhart verhört hatte. Aber vielleicht war es an der Zeit, von seinem hohen Ross herunterzusteigen. Paris und die Pariser Zentrale der Kriminalpolizei, für die er viele Jahre gearbeitet hatte, lagen inzwischen weit zurück, und er war nicht mehr derselbe.

Lucien zwang sich zur Ruhe und setzte sich auf seine Pritsche. »Warum bist du festgenommen worden?«, fragte er, mehr aus Höflichkeit als aus echtem Interesse.

Der andere, ein junger dunkelhäutiger Réunionese, richtete sich aus seiner liegenden Position auf. »Die wollen mir einen Einbruch mit Körperverletzung anhängen. Aber ich war das nicht. Ich habe den Eindruck, dieser Kommissar Talon ist ein Rassist.«

»Scheint mir auch so«, bestätigte Lucien. Eine Einstellung, die er in Marseille und Paris oft genug beobachtet hatte und die er befremdlich fand. Auf seiner Heimatinsel lebten die verschiedensten Ethnien auf engem Raum friedlich miteinander, und er war mit dem Respekt für andere Kulturen und Religionen aufgewachsen.

Neugierig sah sein Mitgefangener ihn an. »Aber du bist weiß … weswegen haben sie dich eingesperrt?«

»Mordverdacht.«

Der junge Mann starrte ihn entsetzt an.

»Keine Sorge, ich war es nicht.«

»Boah … will dir das jemand anhängen?«

Lucien fuhr sich nervös durch das kurz geschnittene dunkle Haar. »Kann sein – das mit den Fotos von mir und dem Mordopfer, die der Polizei zugespielt wurden, deutet darauf hin. Und Kommissar Talon würde mich gern hinter Gittern sehen, das hat wohl den Ausschlag gegeben.«

»Krass. Bist du ein lang gesuchter Verbrecher oder so was?«

Lucien lachte unfroh auf. »Nein. Zu viel Konkurrenz für ihn. Vor Kurzem war ich selbst noch Kriminalkommissar. Am Quai des Orfèvres, dem Sitz der Pariser Kriminalpolizei.«

»Echt jetzt? Cool. Du stammst aber schon von hier, oder? Du spricht Kreol.«

»Ja, ich bin hier geboren und aufgewachsen. Mein Vater war Bretone, aber meine Mutter ist gebürtige Réunionesin. Ich bin fürs Studium ins Mutterland gezogen und erst vor zwei Monaten wieder hierher zurückgekehrt.« Lucien starrte auf das vergitterte Fenster, vor dem ein rot blühender Flammenbaum eine schwache Ahnung der exotischen Kulisse hinter den Mauern des Polizeigebäudes vermittelte.

»Und wie ist es dazu gekommen, dass du jetzt auf La Réunion in einer Zelle sitzt?«

»Kann ich dir erzählen. Hast du Zeit?«, fragte Lucien ironisch.

Der andere lachte auf. »Klar, Mann.«

»Eigentlich fing alles ganz harmlos an, vor drei Tagen, als ich mit meiner Tochter Urlaub machen wollte.« Lucien starrte zu dem vergitterten Fenster und ließ seine Gedanken zurückschweifen.

1

»Was für ein tolles Urlaubswetter«, sagte Alizée Mahé enttäuscht und ließ ihren Blick über den Indischen Ozean schweifen, der ein verwaschenes Graublau zeigte anstelle des leuchtenden Azurblaus der Schönwettertage und des verführerischen Türkisblaus der Lagunen.

Die Brandung klatschte heftig gegen die Klippen. Dunkle Wolken jagten drohend über den Himmel und der schwarzbraune Lavasand des Strandes verdüsterte die Atmosphäre zusätzlich. Es war, als wolle der Tropensturm, der drei Tage zuvor über La Réunion gewütet hatte, noch einmal zurückkehren.

»Das launische Wetter ist eben typisch für diese eigenwillige Insel«, erwiderte Lucien Mahé gelassen.

Seine Heimat war ein wildes Stück Frankreich, das ständig den Naturgewalten unterworfen war. Seit Kurzem lebte er nun wieder hier, nach dreiundzwanzig Jahren im französischen Mutterland. Alizée war dort geboren und aufgewachsen. Für sie war La Réunion nur ein Urlaubsparadies. Ein Paradies mit Tücken.

»Das kann morgen schon wieder ganz anders aussehen«, tröstete er sie und lud ihr Gepäck aus dem Kofferraum seines schon leicht verbeulten Peugeot 207.

»Und das Hotel sieht schön aus«, bemerkte Yannick Lefèvre mit einem Blick auf die lang gestreckte Anlage und schloss seinen Geländewagen ab, den er direkt neben Luciens Auto geparkt hatte.

Das Miramar Hotel & Spa in L’Étang-Salé-les-Bains an der Westküste der Insel bestand aus einem sandfarbenen Haupthaus und mehreren Bungalows in einer weitläufigen, gepflegten Gartenanlage, in der üppig tropische Pflanzen gediehen. Die flachen Gebäude fügten sich harmonisch in die Landschaft ein. Flamboyant-Bäume leuchteten rot gegen den grauen Himmel, und der türkisblaue Pool trotzte dem düsteren Wetter als strahlender Farbklecks.

Melissa, die eine Jugendfreundin von Lucien und die Witwe von Yannicks kürzlich verstorbenem Vater war, hatte ihnen das Hotel empfohlen.

»Erst mal sehen, ob wir hier überhaupt Zimmer bekommen«, sagte Lucien.

Yannick blickte ihn überrascht an. »Hast du nicht reserviert?«

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Wie du weißt, war es schon spät, als wir gestern Abend aus Saint-Benoît zurückgekommen sind, und ich hatte keine Lust, noch ins Café zu gehen, um WLAN zu haben und im Internet nach den Kontaktdaten dieses Hotels zu suchen.«

Alizée stöhnte auf. »Kauf dir endlich einen Internet-Stick.«

»Da ich nun weiß, dass ich hierbleibe, werde ich am besten gleich einen Vertrag für Festnetz und Internet abschließen.«

Seit Lucien nach La Réunion zurückgekehrt war, lebte er in der kleinen Küstenstadt Saint-Pierre im Haus seiner Mutter, die vor einem halben Jahr zu ihrem Lebensgefährten nach Saint-Benoît gezogen war. Am Vortag hatte er beschlossen, dort wohnen zu bleiben und ihr das Haus abzukaufen.

»Abgesehen davon finde ich es sowieso besser, mir vor Ort einen Überblick zu verschaffen, statt irgendwas auf der Grundlage von gefakten Werbefotos und trügerischen Versprechen zu buchen.«

»Misstrauen ist bei dir eine Berufskrankheit, oder?«, fragte Yannick kopfschüttelnd.

»Ich fürchte ja. Zwanzig Jahre Kripo lassen sich nicht so einfach ablegen.«

Sie nahmen das Gepäck und schlenderten vom Gästeparkplatz zur Rezeption. Die Lobby des Hotels war in einem anheimelnden, afrikanisch inspirierten Stil gehalten, mit viel Holz und Pflanzen in großen Kübeln. Gemütliche Sitzmöbel waren mit gemustertem Stoff im Ethnolook bezogen.

»Wir möchten bitte drei Einzelzimmer«, sagte Lucien zum Empfangschef.

Dieser tippte etwas in den Computer. »Tut mir leid, wir haben nur Doppelzimmer zur Einzelbenutzung, und es sind nur noch zwei frei.«

Lucien blickte seine Tochter an. »Hältst du es in einem Doppelzimmer mit mir aus?«

Sie zuckte die Schultern. »Meinetwegen. Machen wir einen Deal: Ich werfe dir nicht jedes Mal was an den Kopf, wenn du schnarchst, und du meckerst nicht, wenn ich länger als eine halbe Stunde im Bad bin.«

»Na schön.«

»Ich wäre auch bereit, mir ein Zimmer mit Alizée zu teilen«, bot Yannick an. »Und ich schnarche nicht, soviel ich weiß.«

Lucien blickte ihn streng an. »Vergiss es! Dafür kennt ihr euch noch nicht lange genug.« Alizée hatte erst vor zwei Wochen die Bekanntschaft von Melissas attraktivem Stiefsohn gemacht, und die Umstände hatten erfordert, dass sie es langsam angehen ließen.

Der Empfangschef lächelte. »In drei Tagen wird ein weiteres Zimmer frei, ich kann es für Sie reservieren, wenn Sie möchten. Es liegt dann allerdings im Haupthaus. Die anderen beiden sind in den Bungalows.«

»Reservieren Sie es erst mal … bis dahin sehen wir weiter.« Yannick legte demonstrativ den Arm um Alizée, und Lucien beugte sich tief über das Reservierungsformular, um sein belustigtes Lächeln zu verbergen. Er hatte nichts gegen den Vulkanologie-Studenten aus Lyon, der die Universität in Saint-Pierre besuchte und sicher für so manche junge Frau ein attraktiver Partner gewesen wäre. Aber seine Tochter hatte in den letzten Monaten genug Kummer gehabt und sollte nicht auch noch mit Liebeskummer wieder nach Paris zurückfliegen, während Yannick sich auf La Réunion womöglich gleich nach dem nächsten Mädchen umsehen würde.

Die Bungalows waren im Stil von cases créoles gehalten, typisch kreolischen Häuschen mit filigranen Metallbordüren an den Fenstern und dunkelroten Dächern. Das Haus von Luciens Mutter sah so ähnlich aus. Das Innere des Bungalows war allerdings moderner eingerichtet – schlicht, aber behaglich, mit terrakottafarbenem Steinfußboden, Buchenholzmöbeln und roten Farbakzenten in Form von roten Kissen und eines Blumengemäldes an der Wand.

»Zwei getrennte Betten«, bemerkte Alizée erleichtert und stellte ihre Rucksack-Handtasche auf eines davon. Sie zog die Vorhänge auseinander und öffnete die dahinter verborgene Glastür. »Oh, und eine kleine Terrasse mit Blick zum Garten.«

Lucien studierte die Hinweise an die Gäste, die eingeschweißt auf dem Beistelltischchen lagen. »Das ist ja ein Öko-Hotel«, stellte er verblüfft fest.

»Green Hotel nennt man das jetzt«, korrigierte Alizée. »Finde ich gut.«

Er verzog das Gesicht. »Hoffentlich gibt es im Restaurant nicht nur Hasenfutter.«

»Und wenn schon. Es würde dir guttun, mal eine Weile vegetarisch zu essen.«

»Was soll das denn heißen?«

»Ich meine nur, ist gesünder als das viele Fleisch, das du isst.«

»Ich habe schon meinen Zigaretten- und Alkoholkonsum reduziert. Man muss es ja nicht übertreiben«, brummelte er.

»Mit beidem hast du ja in der letzten Zeit auch etwas übertrieben.«

»Wenn du jetzt anfängst, wie deine Mutter zu reden, bereue ich, dass ich dich nicht mit Yannick das Zimmer habe teilen lassen!«, grummelte er halb im Scherz und halb im Ernst.

»Ich kann ja zu ihm gehen – im Gegensatz zu dir habe ich damit kein Problem.« Sie grinste ihn an und öffnete dann ihren Koffer.

»Nein, bleib hier. Lass ihn wenigstens noch ein bisschen zappeln.«

»Apropos zappeln: Warum ist Melissa eigentlich nicht mitgekommen? Sie lässt dich auch ganz schön zappeln, oder?«

»Das ist was anderes. Melissas Mann ist schließlich erst vor zweieinhalb Wochen ermordet worden. Ist doch klar, dass sie noch nicht so weit ist, was Neues anzufangen.«

»Ach, aber für leidenschaftliche Küsse mit dir am Strand, die sie gestern so nebenbei erwähnt hat, hat es anscheinend gereicht«, bemerkte Alizée halb vorwurfsvoll, halb amüsiert.

»Wir haben zuvor in Jugenderinnerungen geschwelgt. Mit sechzehn, siebzehn war sie in mich verschossen.«

»Ach, echt? Ist ja süß. Aber du nicht in sie?«

»Nein. Ich fand sie anziehend genug, sie mal bei einer Strandparty zu küssen. Aber es war zu der Zeit schon klar, dass ich kurz darauf nach Paris gehen würde.«

»Und da hast du dann Maman kennengelernt.«

»Genau.«

Alizées hübsches zartes Gesicht verdüsterte sich. »Ihr seid schon seit über zwanzig Jahren zusammen, und du willst das wegschmeißen.«

»Ich? Deine Mutter hat einen anderen, nicht ich«, protestierte Lucien.

»Ja, aber du bist weggegangen, statt um sie zu kämpfen. Als du uns verlassen hast, wusstest du ja nicht mal, dass sie einen anderen hat. Wenn ich es dir nicht erzählt hätte, hättest du immer noch keine Ahnung, weil es dich scheinbar gar nicht mehr interessiert«, sagte sie anklagend.

Lucien fuhr sich über die Stirn. »Ach, Alizée … Bitte akzeptiere, dass ich versuche, mir ein neues Leben aufzubauen. Ich musste einfach aus Paris weg.«

»Hättest Maman ja fragen können, ob sie mit dir nach La Réunion geht.«

»Das wäre sie sicher nicht, seit einem halben Jahr hasst sie mich nämlich.« Zwischen Luciens Augenbrauen vertieften sich die beiden steilen kleinen Falten.

Alizée warf ihren Kulturbeutel aufs Bett. »Irgendwann wird sie kapieren, dass du nicht schuld bist am Tod von Elias. Aber nur, wenn du dich darum bemühst.«

»Wir waren auch schon vor dem Unfall nicht mehr glücklich miteinander. Dass sie seit einem Dreivierteljahr einen anderen hat, ist der beste Beweis.«

Alizée sah ihn deprimiert an.

Lucien trat auf sie zu und zog sie in die Arme. »Schatz, du bist zwanzig und betonst immer wieder, dass du erwachsen bist. Du wirst dich schon daran gewöhnen, dass deine Eltern nicht mehr zusammen leben.«

Sie seufzte. »Na ja, Hauptsache ihr seid glücklich.«

Lucien warf einen Blick zur Uhr. »Noch zu früh zum Abendessen, und Strand fällt bei dem Wetter wohl aus. Wollen wir sehen, ob wir irgendwo einen Kaffee oder ein Eis bekommen?«

»Okay.«

Sie holten Yannick aus dem Nachbar-Bungalow ab und schlenderten durch die gepflegte Hotelanlage, vorbei an dem von Liegestühlen umgebenen Pool.

»Das da muss die Strandbar sein, von der Melissa gesprochen hat.« Yannick wies auf einen rustikalen offenen Holzbau, der etwa zwei Meter oberhalb des Strandes lag und nach drei Seiten hin offen war. Ein Weg aus wettergegerbten Holzplanken führte vom Hotelgarten aus hinauf. Ein rotes Ziegeldach schützte vor Regen, aber der warme feuchte Wind blies vom Meer her durch die Bar und ließ Haare und Röcke der weiblichen Gäste flattern.

Durch das schlechte Wetter, das viele Urlauber vom Strand vergrault hatte, war die Bar auch am späten Nachmittag gut gefüllt und kein Tisch war mehr frei.

»Dürfen wir uns dazusetzen?«, erkundigte sich Lucien höflich bei einem Pärchen, das an einem der kleinen Holztischchen saß.

Die brünette Frau, die ungefähr Ende dreißig sein mochte, ließ den Blick an seiner sportlichen Figur zu seinem gutgeschnittenen Gesicht mit den tiefblauen Augen hinaufgleiten und strahlte ihn dann an. »Sehr gern! Gérard, rutsch mal ein Stück.«

Sie rückte einen der zierlichen Korbsessel für Lucien zurecht, während Gérard Platz für Yannick und Alizée machte.

»Wow, was für eine tolle Aussicht!« Alizée warf einen bewundernden Blick aufs Meer. Von der Strandebene aus wucherten üppige Hibiskusbüsche bis zur hölzernen Balustrade der Bar und schütteten in verschwenderischer Pracht ihre roten Blüten aus.

»Sind Sie gerade angekommen?«, erkundigte sich Luciens attraktive Sitznachbarin.

»Ja. Und Sie?«

»Wir sind schon über eine Woche hier.«

Alizée wandte den Blick vom Meer ab und musterte die Brünette prüfend. »Waren wir nicht im gleichen Flugzeug aus Paris? Sie haben zwei Reihen hinter mir gesessen, und wir haben zusammen vor dem Klo angestanden, oder?«

Sie lächelte entschuldigend. »Ich erinnere mich nicht. Wir sind mit dem Flug letzten Freitag aus Paris gekommen.«

»Ja, ich auch.«

»Aber an Sie kann ich mich erinnern.« Sie blickte Lucien bedeutungsvoll an.

Er schüttelte den Kopf. »Das kann nicht sein, ich war nicht auf diesem Flug.«

»Ich kenne Sie trotzdem irgendwoher.«

»Daran würde ich mich erinnern«, erwiderte er mit einem charmanten Lächeln.

»Vielleicht sind wir uns noch nie begegnet, aber ich habe Ihr Gesicht schon mal gesehen«, beharrte sie.

»Wahrscheinlich habe ich ein Allerweltsgesicht.«

»Absolut nicht! In meinem Ranking der attraktivsten Männergesichter wären Sie unter den Top Ten.« Schelmisch schwenkte sie den Zeigefinger. »Sie haben ein bisschen was von Alain Delon in seinen besten Jahren.«

»Ich weiß, das höre ich öfters. Ich hätte aber lieber sein Bankkonto als sein Gesicht.« Er zwinkerte ihr zu. »Dann komme ich Ihnen wohl deshalb bekannt vor.«

Sie lachte. »Ich heiße übrigens Nadia Junot. Und das ist mein Mann Gérard.«

Gérard, ein hagerer Mann um die Fünfzig, mit Stahlrandbrille, braungrauen Haaren und ausgeprägten Geheimratsecken, nickte höflich in die Runde.

»Ich bin Yannick Lefèvre.«

»Lucien Mahé. Und das ist meine Tochter Alizée.«

»Ja, das ist unverkennbar.«

»Dein Name ist echt schön, das wollte ich dir schon lange sagen«, warf Yannick an Alizée gewandt ein und griff nach ihrer Hand. »Alizée …« Er ließ die Silben wie Eiscreme genussvoll auf seiner Zunge zergehen.

»Pfff! Ali-zée Ma-hé.« Sie betonte die beiden Namensenden übertrieben lang. »Möchte wissen, was meine Eltern da geritten hat. Und wer bitte will schon wie ein karibischer Wind heißen? Ich bin sicher, ich wäre in der Schule gehänselt worden, wenn nicht diese Sängerin Alizée berühmt geworden wäre. Da war es plötzlich ein cooler Name.«

»Na, da hatten wir ja Glück«, gab Lucien ironisch zurück. »Aber karibischer Wind passt zu dir. Hurrikan wäre allerdings die treffendere Bezeichnung.«

Sie warf eine Erdnuss nach ihm.

»Lefèvre?« Gérard blickte Yannick an. »Sie heißen wie dieser kürzlich ermordete Vulkanologe. War das nicht der Leiter des Vulkanobservatoriums vom Piton de la Fournaise?«

»Er war mein Vater«, erklärte Yannick und fuhr sich unruhig durchs Haar, dessen fingerlange Strähnen vom Wind durcheinander gewuschelt wurden.

Nadia und Gérard murmelten mit betroffenen Mienen kurze Beileidsbekundungen. Dann schnippte Nadia mit den sorgfältig manikürten Fingern. »Jetzt weiß ich, wo ich Sie schon gesehen habe!«, sagte sie zu Lucien. »Sie waren erst neulich in den Nachrichten, oder? Das war am Tag nach unserer Ankunft.«

»Ach das.« Er verdrehte die Augen. »Dieses blöde Interview.«

»Genau, Sie sind der Kriminalkommissar aus Paris, der den Mord aufklären soll«, ergänzte Gérard.

Lucien schüttelte den Kopf. »Ich habe nur als Privatermittler inoffiziell an dem Fall gearbeitet.«

»Und haben Sie den Mörder gefunden, oder suchen Sie gar in diesem Hotel vielleicht nach ihm?«, fragte Nadia gespannt.

Lucien schüttelte lächelnd den Kopf und deutete ihr an, dass sein Mund verschlossen bleiben würde.

»Und Sie sind nicht aus Paris, sondern Réunionese, oder? Ich meine, einen kleinen kreolischen Dialekt herauszuhören«, sagte Nadia.

»Das ist richtig, ich bin hier geboren und aufgewachsen. Aber mit zwanzig bin ich aufs Festland gezogen und war dort tatsächlich bis vor Kurzem Kriminalkommissar.«

»Und jetzt nicht mehr?«

»Nein. Sehnsucht nach der Heimat.«

»Das kann ich verstehen. Wenn man von so einer traumhaften Insel stammt, muss Paris schwer zu ertragen sein.«

Er nickte nur.

»Aber Ihre Tochter lebt noch dort und besucht Sie hier?«

»Richtig.«

»Und Ihre Frau?« Sie legte den Kopf schief und betrachtete ihn interessiert.

»Ist in Paris geblieben.« Unwillkürlich zog er die Augenbrauen zusammen.

»Aha«, machte Nadia vielsagend und lächelte ihn tiefgründig an.

Automatisch wanderte Luciens Blick von ihren verschmitzten braunen Augen über ihre schön geschwungenen Lippen zu ihrem großzügigen Dekolleté. Schade, dass sie verheiratet ist, dachte er flüchtig. Doch das schien sie nicht daran zu hindern, mit ihm zu flirten, obwohl ihr Mann danebensaß.

Dieser beäugte Lucien ein wenig misstrauisch und tippte dann an seine Frau gewandt vielsagend auf seine Armbanduhr. »Chérie, wir müssen los.«

»Ach ja, das Abendessen mit Amélie und Bertrand. Gut, gehen wir. Hat mich gefreut, Sie kennenzulernen.« Sie lächelte Lucien gewinnend an. »Wir sehen uns sicher noch in den nächsten Tagen.«

Gérard nickte rasch in die Runde und folgte seiner Frau, die mit lasziv schwingenden Hüften davonstöckelte. Der Rest ihres braun gebrannten Körpers, von dem das winzige Strandkleid nicht viel verbarg, war so ansehnlich wie das Dekolleté, stellte Lucien angetan fest.

Yannick bemerkte seinen Blick und legte den Kopf schief. »Was ist eigentlich mit dir und Melissa?« wollte er wissen. »Warum wollte sie nicht mitkommen?«

Lucien seufzte. »Sie ist sauer auf mich.«

»Warum?«

»Du weißt doch sicher noch, dass sie gestern gefragt hat, ob ich jemals an ihrer Unschuld gezweifelt habe. Und ich habe zugegeben, dass ich es kurz in Betracht gezogen habe, dass ihr beide gemeinsame Sache gemacht und Xavier umgebracht haben könntet.«

»Ja, klar erinnere ich mich. Mich wundert nur, dass sie darüber überrascht war, denn ich finde, du hast dir wenig Mühe gegeben, zu verbergen, dass du mich verdächtigt hast, mein Lieber.« Yannick verzog die Lippen zu einem sarkastischen Lächeln.

»Hm, wenn ich wirklich Privatdetektiv werden will, muss ich mir wohl eine Taktik des unauffälligeren Verhörs zurechtlegen«, gab Lucien zu. »Vielleicht war ich Melissa gegenüber auch taktvoller. Jedenfalls ist sie jetzt verärgert, glaube ich.«

»Sie beruhigt sich schon wieder. Du bist sehr wichtig für sie, Lucien, deshalb muss es ihr wehgetan haben, das zu hören. Aber sie ist nicht nachtragend, denke ich.«

Er zuckte die Schultern. »Sie hätte nicht fragen sollen. Hätte ich etwa lügen sollen?«

»Vielleicht.«

»Alle wollen die Wahrheit, aber keiner verträgt sie«, knurrte Lucien.

»Da ist was dran. Ach, mach dir nichts draus, sie wird sich schon wieder einkriegen. Und es sieht so aus, als würdest du dich hier inzwischen nicht langweilen.« Yannick blinzelte ihm zu.

2

Am nächsten Morgen waren die düsteren Wolken verschwunden und hatten Sonne und blauem Himmel Platz gemacht. Das Meer zeigte nun wieder einladende Schattierungen von Azurblau bis Türkis.

Gleich nach dem Frühstück zog es Lucien, Alizée und Yannick an den Strand. An den Wochenenden wurden die Strände der Insel stets von einheimischen Familien bevölkert, die dort picknickten, musizierten, tanzten und Ball spielten. An diesem Wochentag war es jedoch nicht allzu voll. Die meisten Touristen bevorzugten die weißen Sandstrände weiter nördlich.

Sie ließen ihre Blicke nach einem geeigneten Liegeplatz suchend über den dunklen Lavasand streifen. Da es ein öffentlicher Strand war, stellte das Hotel keine Liegen zur Verfügung.

Jemand winkte ihnen zu, und sie erkannten Nadia und Gérard.

»Kommen Sie ruhig her«, sagte Gérard freundlich. Seine Frau schob kurz die Sonnenbrille hoch und lächelte zustimmend.

Sie folgten der Einladung und breiteten ihre Handtücher dicht neben dem Ehepaar aus.

Lucien setzte sich neben Nadia, die bäuchlings auf ihrem Handtuch lag und in einem Roman las. Alizée ließ sich zu seiner anderen Seite nieder.

Nach einer Weile blickte Nadia von ihrem Buch auf, lächelte Lucien an und betrachtete wohlgefällig seinen durchtrainierten und gebräunten nackten Oberkörper.

»Was lesen Sie da?«, fragte er höflich.

»Das ist ein superspannender Krimi.« Sie klappte das Buch zu, um ihm das Cover zu zeigen. »Kann ich nur empfehlen.«

»Ich lese keine Krimis«, wehrte er ab. »Ich habe das schon im Alltag zur Genüge gehabt, außerdem nervt es mich, wie oft in Büchern und Filmen die Vorgehensweise der Kriminalpolizei falsch dargestellt wird. Von all den medizinischen und juristischen Irrtümern mal ganz zu schweigen.«

Sie schürzte die Lippen. »Der ist aber trotzdem fesselnd.«

»Ich gebe zu, dass es die Hauptaufgabe von Krimi-Autoren ist, das Publikum zu unterhalten«, räumte er ein. »Unser Berufsalltag ist manchmal so gähnend langweilig, dass die Leser über der Schilderung der Realität einschlafen würden. Wer will schon einen Krimi lesen, der so ähnlich wie ein Steuerbescheid klingt?«

Nadia lachte. »So schlimm? Haben Sie deshalb bei der Kripo aufgehört?«

Er schüttelte den Kopf.

»Warum dann?«

»Ich gehe schwimmen, Papa«, unterbrach Alizée, die wusste, dass ihr Vater ungern mit Fremden über die Umstände sprach, die dazu geführt hatten, dass er seinen Dienst quittiert hatte.

»Geh aber nicht barfuß rein«, warnte er. »Es gibt hier Korallenriffe, die sind scharf wie Rasierklingen. Hast du keine Badeschuhe dabei?«

»Doch.« Sie kramte in ihrer großen Korbtasche. »Kommst du mit?«, fragte sie Yannick.

»Logisch! Warte, lass mich erst auf die Hai-App schauen.« Er zückte sein Smartphone und hob schützend die Hand darüber, um auf dem spiegelnden Display etwas zu erkennen.

»Die was? Ihr habt hier nicht ernsthaft eine App für Haie, oder?«

»Doch. Ist praktisch, um auf einen Blick zu sehen, ob an einer Küste vor Haien gewarnt wird. – Alles okay, es wurden heute noch keine gesichtet. Wir können.«

Kopfschüttelnd schlüpfte Alizée in ihre Badeschuhe und steckte sich dann das schulterlange kastanienbraune Haar auf.

Sie vergnügten sich eine Weile damit, in den Wellen herumzuspringen, die in Küstennähe dank des vorgelagerten Korallenriffs weniger heftig waren als im Süden der Insel, wo Lucien lebte. Alizée entdeckte im seichten Wasser an einer geschützten Stelle orange-weiß gestreifte Anemonenfische mit schwarz umränderten Flossen und bunt geschuppte Papageienfische.

»Yannick, habe ich dir schon erzählt, dass ich eigentlich Meeresbiologin werden wollte?«, fragte sie.

»Nein. Und warum studierst du dann Geologie?«

»Die Wartezeit auf einen Studienplatz in Biologie war wahnsinnig lang in Paris – da bin ich ja alt, bevor ich mit dem Studium fertig bin.«

»Geologie ist doch auch total interessant.«

»Aber nicht so lebendig.«

Yannick blinzelte gegen die Sonne. »Ich nehme dich mal mit auf den Piton de la Fournaise, kurz bevor er ausbricht, dann wirst du sehen, wie lebendig das sein kann.«

***

Beim Mittagessen entschlossen sie sich, den Nachmittag ebenfalls am Wasser zu verbringen. Die letzten Wochen waren anstrengend gewesen, und alle drei wollten vor allem ausspannen. Seit dem Tod von Yannicks Vater hatten sich die Ereignisse nur so überschlagen. Dennoch hatte Alizée schon lange keinen Urlaub mehr so genossen. Es war aufregend, diese exotische Insel zu erkunden, die zwar zu Frankreich gehörte, aber doch so völlig anders war. Die Wiedersehensfreude mit ihrem Vater war groß gewesen, und sie hatte in kurzer Zeit viele interessante Menschen kennengelernt. Insbesondere Yannick, der ihr so gut gefiel und mit dem sich etwas anbahnte, das über einen prickelnden Flirt möglicherweise weit hinausgehen könnte.

Als Alizée nach einem kurzen Mittagsschlaf in ihrem Zimmer an den Strand zurückkehrte, blickte sie sich suchend nach Yannick um. Sie entdeckte ihn auf einem Felsen am Strand sitzend. Er fixierte mit starrer Miene den Horizont. Der Wind wirbelte sein hellbraunes Haar durcheinander, ansonsten wirkte er unbeweglich wie eine Statue. Seine gut geschnittenen klaren Züge waren düster.

Langsam ging sie zu ihm, setzte sich neben ihn und betrachtete sein markantes Profil. »Woran denkst du?«

»An meinen Vater.«

Sie legte ihre Hand mitfühlend auf seine. »Vermisst du ihn?«

»Ja. Ich habe ständig mit ihm gestritten, aber der Gedanke, dass ich das nie wieder kann, ist furchtbar.« Nur die Muskeln in seinen Wangen verrieten seine innere Erregung.

»So geht es mir mit meinem Bruder«, sagte sie leise.

Er wandte ihr endlich das Gesicht zu. »Melissa hat erwähnt, dass er vor einem halben Jahr verunglückt ist. Was ist passiert?«

»Elias und Papa waren zusammen mit dem Auto unterwegs, auf einer schmalen Landstraße in der Nähe von Paris. Es war schon dunkel, und plötzlich ist ihnen ein Lkw in der Mitte der Fahrbahn entgegengekommen. Der Fahrer war wohl kurz am Steuer eingenickt. Papa musste ausweichen, aber dabei ist der Wagen gegen einen Baum geknallt. Mein Bruder ist in seinen Armen gestorben, bevor der Rettungswagen eingetroffen ist. Er hat sich das nie verziehen. Auch wenn er nichts dafür konnte.«

»Das tut mir leid«, murmelte Yannick. »Ist er deswegen weg aus Paris?«

»Ja. Er hat seinen Job gekündigt und hat Maman und mich in der Vorweihnachtszeit sitzen lassen, um nach Réunion zurückzukehren.«

»Und das hast du ihm nicht verziehen«, vermutete er.

»Na ja, ich fange gerade damit an.«

Er strich ihr sanft über das im Wind flatternde Haar. »Wann geht eigentlich dein Rückflug?«

»Ich habe noch keinen gebucht.«

»Und wie lange willst du noch bleiben? Musst du nicht Montag wieder zur Uni?«

Sie krauste die Nase. »Ich finde, ich verpasse nichts, wenn ich erst eine oder zwei Wochen später beginne.«

»Stimmt es wirklich, was du vorgestern bei deiner Großmutter erzählt hast, dass du gern auf La Réunion Vulkanologie studieren würdest?«

»Ja. Und stimmt es, dass du mir helfen kannst, hier einen Studienplatz zu bekommen?« Sie lächelte ihn entwaffnend an.

»Wenn ich die Beziehungen meines Vaters spielen lasse, klappt es vielleicht. Aber ist es dir auch ernst damit? Willst du wirklich Vulkanologin werden? Es ist strapaziös, du brauchst eine gute Kondition. Es gibt viel harte, schweißtreibende Arbeit«, warnte er.

»Das ist okay. Ich bin sportlich und zäher als ich aussehe«, beteuerte sie. »Und Geologie studiere ich ja sowieso schon, nur halt in Paris.«

»Du kannst auch als Geologin Vulkane erforschen. Dieser direkte Studiengang für Vulkanologie wird sowieso nur in Ländern mit einem aktiven Vulkan angeboten.«

»Ich weiß, aber ich würde zu gern nach La Réunion ziehen.« Sie ließ den dunklen Lavasand durch ihre Finger rieseln.

»Um bei deinem Vater zu sein?«

»Das auch.«

»Und um bei mir zu sein?« Seine grünbraunen Augen leuchteten.

Alizée deutete ein Nicken an. Er zog sie an sich und küsste sie lange.

***

Lucien, der oben in der Strandbar einen Espresso trank und dabei über das Meer blickte, beobachtete nachdenklich, wie seine Tochter die Arme um Melissas Stiefsohn schlang und ihn hingebungsvoll küsste. Dabei fiel ihm etwas ein.

Er zückte sein Smartphone und wählte eine eingespeicherte Nummer.

»Hallo?«, meldete sich eine weibliche Stimme.

»Inès? Hier ist Lucien.«

»Oh, Lucien, salut.« Die Frauenstimme klang erfreut.

»Geht es Ihnen gut?«, fragte er etwas besorgt.

»Bestens.«

»Wirklich?« Lucien blieb skeptisch, nach allem, was er über ihre Situation wusste.

Sie zögerte. Nach den Hintergrundgeräuschen von Trockenhaube, plätscherndem Wasser und Stimmengewirr zu urteilen, war Inès in ihrem Frisiersalon.

»Können Sie gerade nicht reden?«

»Doch, aber … ich kann nicht behaupten, dass es mir wirklich gut geht.« Sie klang angespannt und nervös.

»Ich schulde Ihnen eine Info – und ein Abendessen.«

»Sie haben also Xaviers Mörder gefunden?«, fragte sie sofort.

»Ja. Aber ich möchte nicht am Telefon darüber reden. Da wir sowieso miteinander essen gehen wollten: Was halten Sie von morgen Abend? Können Sie sich freimachen?«

Sie dachte kurz nach. »Ja, morgen passt gut. Wir können uns in Saint-Pierre treffen, wenn Sie wollen.«

»Ich bin diese Woche in L’Étang-Salé-les-Bains. Ich kann zu Ihnen nach Le Tampon kommen, das ist ja nicht so weit.«

»Lieber nicht. Didier macht zurzeit Stress, weil ich ihm gesagt habe, dass ich ihn verlassen werde. Er sollte uns nicht zusammen sehen.«

»Dann treffen wir uns doch in Saint-Louis, das liegt ungefähr in der Mitte für uns beide«, schlug er vor.

»Einverstanden. Ich kenne dort ein gutes Restaurant, das Côté Soleil in der Rue des Bourbons.«

Lucien hatte keine Ahnung, wo das hinführen sollte, aber er freute sich tatsächlich auf das Treffen mit Xavier Lefèvres Ex-Geliebter.

3

Das Hotel bot leichte Abendanimation an, und an diesem Abend trat in der Strandbar ein madagassisches Musik-Duo auf. Hinterher konnten die Gäste tanzen, erst zu Songs der Achtziger- und Neunzigerjahre, dann zu einheimischer Musik.

Da die Bar voll war, teilten sie sich erneut einen Tisch mit Nadia und Gérard.

Ein stattlicher Mann in den Fünfzigern mit silbergrauen Haaren und tief gebräuntem Teint blieb vor ihrem Tisch stehen.

»Ist alles zu Ihrer Zufriedenheit, mes amis?«, fragte er zuvorkommend mit sonorer Stimme.

Nadia schenkte ihm ein breites Lächeln. »Alles bestens, vielen Dank.«

Sein Blick wanderte von Nadia zu Lucien, Alizée und Yannick. »Ich glaube, wir kennen uns noch nicht. Ich bin Eric Ravelier, der Direktor dieses Hotels. Entspricht bisher alles Ihren Wünschen?«

»Wunderbar«, versicherte Lucien.

»Das freut mich. Bitte melden Sie sich sofort, falls irgendetwas nicht in Ordnung sein sollte. Es soll unseren Gästen schließlich rundherum gut gehen.« Er lächelte wohlgefällig Alizée an, die an diesem Abend besonders hübsch aussah in einem luftigen Sommerkleid, mit frisch geföhntem Haar und sorgfältig geschminkt. Yannick war ihr gegenüber rührend aufmerksam und ließ ihre Hand kaum einen Augenblick los.

»Ich finde es super, dass Sie hier ein umwelt- und klimafreundliches Hotel haben«, sagte Alizée begeistert zum Hoteldirektor. »Das Quinoa-Soufflé beim Abendessen war übrigens große Klasse!«

»Genau wie das Chia-Gratin mit Mango-Topping«, ergänzte Yannick, aus dessen Grinsen hervorging, dass er sie aufzog.

»Na, und erst das Rinderfilet«, warf Lucien ein. »Ich bin erleichtert, dass es kein vegetarisches Restaurant ist.«

»All unser Fleisch hat selbstverständlich beste Bio-Qualität«, versicherte Eric Ravelier. »Und wir verwenden so viele regionale Produkte wie möglich. Um einige Importe kommen wir natürlich nicht herum. Aber das ist dann alles Bio.«

»Was Sie nicht sagen … das ist ja fantastisch!«, lobte Nadia.

»Ich wünsche Ihnen allen einen schönen Aufenthalt im Miramar.« Eric Ravelier nickte ihnen zu und zog sich dann zurück.

»Ich bin müde«, sagte Gérard einige Zeit nach dem Live-Auftritt zu seiner Frau. »Kommst du mit aufs Zimmer oder bleibst du noch?«

»Was ist mit euch?«, fragte Nadia die anderen, sah dabei aber nur Lucien an.

Dieser fühlte sich noch nicht müde – zweiundzwanzig Uhr dreißig war für ihn im Urlaub keine Zeit zum Schlafengehen, und schließlich hatte er den ganzen Tag gefaulenzt. »Ich bleibe.«

Yannick und Alizée blickten sich an und dann zur Tanzfläche, wo sich Paare zu den lasziven Rhythmen einer Maloya aneinanderschmiegten. »Ein bisschen noch.«

»Geh schon vor, Gérard, ich komme später nach«, sagte Nadia zu ihrem Mann.

»Gut. Viel Spaß noch.« Er verließ die Bar.

Yannick hielt Alizée die Hand hin. »Darf ich bitten?«

Sie sprang sofort auf und folgte ihm auf die Tanzfläche. Lucien starrte den beiden sorgenvoll hinterher. Wie immer, wenn er ungehalten war oder sich sorgte, erschienen zwei kleine steile Falten zwischen seinen hochgeschwungenen Augenbrauen.

Nadia musterte ihn lächelnd. »Sie ist volljährig, oder?«

»Zwanzig.«

»Da bist du aber früh Vater geworden«, stellte sie fest.

Er tat ihr den Gefallen, ihr sein Alter zu verraten. »Mit dreiundzwanzig. Ich war genauso alt wie Yannick jetzt. Daher weiß ich, was Männer in seinem Alter vorrangig interessiert.«

»Das geht mich zwar nichts an, aber kann es sein, dass du sie ein wenig zu sehr beschützen willst?«

»Sie hat einiges hinter sich in letzter Zeit. Ich will nicht, dass er ihr wehtut.«

»Er wirkt doch sehr nett.«

»Mag sein.« Lucien verspürte wenig Lust, über diese sehr privaten familiären Dinge mit einer fast Fremden zu reden. Außerdem fühlte er eine unerklärliche innere Unruhe in sich wachsen.

Nadia legte die Hand auf Luciens Unterarm. »Komm, lass uns auch tanzen.«

»Ich habe schon lange nicht mehr getanzt«, wehrte er ab.

»Ist wie Radfahren, das verlernt man nicht. Du müsstest das im Blut haben, schließlich bist du Kreole!«

Er gab nach und ließ sich von ihr auf die Tanzfläche ziehen. Und es störte ihn auch nicht, wie eng sie die Arme um seinen Hals schlang. Im Gegenteil. Er atmete ihr sinnliches Parfüm ein, genoss das Gefühl ihrer Brüste gegen seinen Brustkorb und packte sie unwillkürlich fester.

Während sie sich in den erotisch anmutenden Tanzelementen eines Séga wiegten, streiften Nadias Lenden immer wieder seine. Lucien spürte ein lustvolles Kribbeln in seiner Körpermitte. Wie weit Nadia wohl gehen würde? Flirtete sie nur mit ihm, um sich Appetit zu holen und dann zu ihrem Ehemann zu gehen oder war sie tatsächlich an ihm interessiert?

Nach einer Weile kehrten sie alle vier zum Tisch zurück, und Lucien bestellte im Vorbeigehen an der Bar zwei Rumpunsch.

Er setzte sich, starrte auf das dunkle Meer und die Palmen, die unter der leichten Brise sachte hin- und herfächelten, während er versuchte, seine Erregung in den Griff zu bekommen. Er fixierte zwei runde Laternen, die den schmalen Weg zum Strand beleuchteten und plötzlich auf ihn zuzukommen schienen. Sie sahen aus wie die Scheinwerfer, die an jenem verhängnisvollen Abend in der Mitte der Landstraße direkt auf ihn zugerast waren. Lucien zuckte zusammen. Würde das denn nie aufhören? Seine innere Unruhe, die sich beim Tanzen in wohlige Lust verwandelt hatte, kam zurück und wurde stärker. Hastig zündete er sich eine Zigarette an.

Alizée trat zu ihm und beugte sich zu ihm hinunter. »Papa, ich bleibe heute Nacht bei Yannick«, sagte sie leise. »Widerrede zwecklos.«

Er blickte zu Yannick, der neben Nadia vor dem kleinen Tisch stand. »Wenn du sie unglücklich machst, dann bring ich dich um!«, warnte er, und es klang so überzeugend, dass der Kellner, der die Drinks brachte, ihn einen Moment befremdet anstarrte.

Yannick grinste unbeeindruckt. »Hat sich noch keine beschwert. Um neun beim Frühstück morgen?«

Lucien nickte und rang sich ein Lächeln ab. »Gute Nacht, ihr beiden.«

Sein Blick folgte ihnen, wie sie Arm in Arm die Bar verließen. Dann starrte er wieder übers Meer.

Nadia setzte sich in den Korbsessel neben seinen. »Alles okay bei dir?«, fragte sie leicht verwundert.

»Aber ja.« Lucien legte seine Zigarette im Aschenbecher ab und lächelte sie an. Es war ein Lächeln, das seine Augen nicht erreichte.

»Willst du eigentlich irgendwann nach Paris zurückkehren?« Sie nahm einen Schluck von ihrem nach Vanille und Orange duftenden Rumpunsch.

»Nein, ich glaube nicht. Anfangs habe ich das nur als Auszeit betrachtet, als Urlaub auf unbestimmte Zeit. Ich hatte Heimweh nach meiner Insel, wollte Zeit mit meiner hier ansässigen Familie verbringen, Kraft tanken. Aber vor einigen Tagen habe ich mich entschieden, dass ich für immer hierbleiben möchte. Sofern es mir gelingt, mir eine neue Existenz aufzubauen.«

»Womit, wenn ich fragen darf?«

Lucien lachte auf. »Anfangs habe ich überlegt, eine Kaffeebar aufzumachen. Du weißt schon, so ein Café, wo man einfach alle Sorten und Spezialitäten von Kaffee bekommt außer einem stinknormalen Filterkaffee.«

Nadia schmunzelte. »Vom Kriminalkommissar zum Barista, das ist ja eine ungewöhnliche Entscheidung.«

»Wenn schon, denn schon, oder?« Er nahm einen genussvollen Schluck von seinem eisgekühlten Punsch aus Rum und Orangensaft. »Ich liebe die Atmosphäre in diesen Coffeeshops, das hat mich in Paris immer sehr entspannt, wenn ich während der Ermittlungen abgehetzt irgendwo eingekehrt bin. Und ich liebe Kaffee.«

»Schade, dass ich nicht lange genug hierbleibe, um einen Kaffee bei dir trinken zu können.«

»Ich habe das Projekt erst mal aufgeschoben, weil sich was Neues ergeben hat.«

Sie fragte nicht nach, sah ihn aber mit freundlichem Interesse an, und so entschloss sich Lucien, ihr von seinen Plänen zu erzählen. »Ich will mich als Privatdetektiv selbstständig machen.«

»Das ist schon nahe liegender für einen ehemaligen Flic.« Sie lachte.

»Wie du ja mitbekommen hast, ist kürzlich der Leiter des Vulkanobservatoriums des Piton de la Fournaise ermordet worden. Seine Witwe Melissa ist eine Jugendfreundin von mir, und sie hat mich gebeten, nach dem Täter zu suchen. Sie hatte Grund zu der Annahme, dass der Leiter der Mordkommission, der für unsere Region zuständig ist, ihr den Mord in die Schuhe schieben wollte.«

»Das ist ja ein Ding. Und hast du den Täter gefunden?«

»Ja. Daraufhin hatte der Polizeichef von La Réunion die Idee, mir eine Zusammenarbeit in Aussicht zu stellen. Ich könnte bei Bedarf hin und wieder die oft überlastete Kripo unterstützen, zum Beispiel als Undercover-Ermittler. Keine Ahnung, wie viel dabei herausspringen würde, und ob ich genug andere Aufträge zusammenbekäme, um davon leben zu können. Aber ich habe mich entschieden, es zu versuchen und werde ihm in den nächsten Tagen zusagen.« Lucien drückte entschlossen seine Zigarette aus.

»Kannst du nicht hier wieder als Kommissar arbeiten?«

»Nein, das würde ich nicht wollen, ich habe den Dienst ja nicht umsonst quittiert. Dafür gab es Gründe, die nicht nur mit Paris oder Réunion zu tun haben.«

Aber um über den Tod seines Sohnes zu reden, war er nun wirklich nicht in Stimmung, und ehe sie nachfragen konnte, erkundigte er sich schnell: »Und was machst du beruflich?«

»Mein Mann und ich haben eine Agentur für Public Relations, wir organisieren bestimmte Events und sorgen dafür, dass die richtigen Leute eingeladen werden.«

»Klingt interessant. Hast du Kinder?«

»Nein, leider nicht.« Sie hob die Hände. »Die Agentur ist mein Baby, die braucht meine ständige Aufmerksamkeit. Du kannst wirklich stolz auf deine Tochter sein, Lucien, sie ist eine bildhübsche und offensichtlich sehr intelligente junge Frau.«

»Ich bin auch stolz auf sie.« Er runzelte jedoch sorgenvoll die Stirn.

Nadia sah ihn an und legte die Hand auf seine. Lucien nahm sie und küsste ihren Handrücken.

Sie hob die schmalen Augenbrauen. »Wie kommt es eigentlich, dass ein so attraktiver und charmanter Mann wie du allein ist?«

»Nun, offiziell bin ich ja verheiratet.« Er räusperte sich.

»Und inoffiziell?«

»Seit zwei Monaten getrennt – was sich bereits durch die räumliche Entfernung zwischen Paris und La Réunion ergibt. Außerdem hat meine Frau einen anderen.«

»Ist mir unbegreiflich.« Ihre Finger wanderten langsam an seinem sonnengebräunten Arm hoch und fuhren sanft unter den kurzen Ärmel seines weißen Oberhemds, ihr Daumen streichelte seinen Bizeps. »Willst du darüber reden?«

Er schüttelte den Kopf. »Warum sollen wir uns damit den Abend verderben?«

»Da hast du recht.«

Die Menge der Gäste hatte sich zerstreut, nur noch vereinzelte Pärchen saßen in der Bar, die Tanzfläche war leer, die Musik war leiser geworden.

»Was machen wir nun mit dem angebrochenen Abend?« In Nadias braunen Augen lag eine eindeutige Einladung.

»Ich möchte noch ein wenig hier sitzen.« Das Geräusch der Brandung in der Dunkelheit hatte etwas Meditatives, jetzt, wo es nicht mehr von der Musik übertönt wurde. Es entspannte ihn halbwegs, und er wollte nichts überstürzen.

»Kann ich bitte noch so einen Rumcocktail haben?«, bat Nadia einen vorbeieilenden Kellner, der die Tische abwischte.

»Wir wollen jetzt schließen«, sagte der Ober entschuldigend.

»Na gut.« Sie zuckte die Schultern und beugte sich dichter zu Lucien. »Gehen wir zu dir?«, raunte sie ihm ins Ohr, und ihre Lippen berührten dabei sein Ohrläppchen.

Ein wohliger Schauer durchrieselte ihn, aber die Vorstellung von ihr in seinem Bett behagte ihm nicht. Nicht auszudenken, wenn Alizée früher zurückkehren und sie überraschen würde.

»Gehen wir am Strand spazieren«, schlug er vor und hoffte, in der Zwischenzeit Gewissheit darüber zu erlangen, ob er sich auf Nadia einlassen wollte. Sie war eine attraktive Frau und durchaus sein Typ, aber er fand sie zu forsch und direkt. Er war lieber der Jäger als die Beute. Andererseits hatte er seit über einem halben Jahr keinen Sex mehr gehabt, und dieses Grundbedürfnis kehrte nun langsam zurück. Außerdem merkte er, dass ihr Interesse ihm guttat, nachdem seine Frau einen anderen hatte und er letzte Woche bei Melissa abgeblitzt war.

»Mhm, das ist eine tolle Idee. Der Strand ist romantisch um diese Zeit.« Sie erhob sich. »Gehen wir.«

Sein Blick glitt an ihren schlanken braun gebrannten Beinen hoch, über ihre sanft gerundeten Hüften und ihre wohlgeformten Brüste, die das dünne vanillegelbe Kleid eher hervorhob als verbarg. Seine Unruhe verwandelte sich in Begehren. Vielleicht war es besser, dieses aufgestaute Verlangen nach einer Frau abzubauen, bevor er sich am nächsten Abend mit Inès traf. Er hatte nicht die Absicht, mit ihr etwas anzufangen, schließlich war sie die Geliebte von Melissas Ehemann Xavier gewesen und noch dazu mit einem eifersüchtigen Ehemann geschlagen, der zur Gewalttätigkeit neigte. Lucien fand sie zwar anziehend, aber nicht genug, um sich auf solche Verwicklungen einzulassen. Nadia würde in wenigen Tagen wieder weg sein, das wäre unkomplizierter und unverbindlicher.

Sie verließen die Bar und wanderten am einsamen Strand entlang, bis sie außer Sichtweite des Hotels waren. Nadia hatte ihre Sandaletten ausgezogen und trug sie in der Hand. Das silberne Licht des Vollmondes erhellte den Weg und ließ die Schaumkronen der Brandung wie von innen angestrahlt leuchten.

Nachdem sie knapp zehn Minuten gelaufen waren, kamen sie zu einer Bucht, wo der Wald bis an den schmalen Strand heranreichte. Der salzige Meeresgeruch der samtweichen Luft vermischte sich mit dem harzigen Aroma der Filao-Bäume und dem Duft von Nachtjasmin und Ylang-Ylang-Blüten. Lucien atmete tief ein. Dieser Geruch, den er in den Jahren in der Großstadt vergessen hatte, weckte Jugenderinnerungen.

»Das ist eine hübsche kleine Bucht.« Nadia blieb stehen. »Ich komme mit meinem Mann manchmal zum Baden her.«

»Was ist eigentlich mit deinem Mann? Wird er dich nicht vermissen und nach dir suchen?«

»Wir führen eine offene Ehe«, meinte sie leichthin. »Mach dir darum keine Sorgen.« Sie lehnte sich gegen ihn und küsste ihn.

Lucien beschloss, dass schneller Sex ohne romantische Verstrickungen genau das war, was er jetzt brauchte, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Seine Finger fanden und öffneten wie von selbst den Reißverschluss ihres Kleides, und er streifte ihr eilig die Träger von den Schultern hinunter, während sie an den Knöpfen seines Hemdes nestelte.

Dann setzte er sich auf den Sand, streckte Nadia die Hand entgegen und zog sie zu sich hinunter.

»Autsch«, entfuhr es ihr, als sie sich rittlings über ihn kniete.

»Was ist? Habe ich dir wehgetan?«

»Nein. War nur so ein verdammter Muschel- oder Korallensplitter, der mich gepiekt hat.« Sie zog sein Hemd, das neben ihrer Wade lag, näher und legte das Knie darauf, bevor sie sich über ihn beugte und ihn lange küsste.

Ekstase unter sternenübersätem Himmel, bei Mondschein und Meeresrauschen in einer warmen Tropennacht, die nach Blüten duftete. Was brauchte es mehr, um alles andere zu vergessen. Lucien genoss diesen seltenen Rausch und fand ihn bedeutend besser als Alkohol. Sich einfach treiben zu lassen und an nichts anderes zu denken als an seine und ihre Lust erlöste ihn für eine kostbare Zeit von quälenden Gedanken und Selbstvorwürfen.

Wohlig ermattet blieben sie schließlich nebeneinander liegen, ohne sich zu berühren, starrten in den Sternenhimmel und lauschten der Brandung. Lucien war angenehm müde und schläfrig.