Über das Buch

Unsere Beziehung zu dem, was wir als Zuhause bezeichnen, ist kompliziert geworden. Immer weniger Menschen auf der Welt fühlen sich heute noch sinnstiftend mit dem Ort verbunden, an dem sie geboren wurden. Menschen ziehen um, Menschen werden verdrängt. Die Gegenwart ist geprägt von der Ungekannten Atmosphäre einer grundlegenden Unsicherheit – umso stärker wünschen wir uns einen Ort, an dem wir uns mit unserer jeweils eigenen Geschichte aufgehoben fühlen.

In seinem persönlichen Essay beschreibt Daniel Schreiber den Umschwung einer kollektiven Empfindung. Zuhause ist nichts Gegebenes mehr, sondern ein Ort, zu dem wir suchend aufbrechen. Schreiber blickt auf Philosophie, Soziologie und Psychoanalyse, zugleich erzählt er seine eigene Geschichte: von Vorfahren, die ihr Leben auf der Flucht verbrachten. Von der Kindheit eines schwulen Jungen in einem mecklenburgischen Dorf. Und von der Suche nach einem Zuhause in London, New York und Berlin.

Daniel Schreiber

ZUHAUSE

Die Suche
nach dem Ort, an dem
wir leben wollen

Carl Hanser Verlag

ISBN 978-3-446-25634-7

© Hanser Berlin im Carl Hanser Verlag München 2017

Umschlag: Peter-Andreas Hassiepen, München © choness/Thinkstock

Alle Rechte vorbehalten

Satz: Greiner & Reichel, Köln

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INHALT

Woher die Sehnsucht?

Was unser Erbe ist

Die Ausweitung der inneren Geographie

Woher ich kam

Das zuhauselose Zuhause

Dieses Gefühl der Sicherheit

Zu sich kommen

Die Schönheit der Narben

Danksagung

Literaturverzeichnis

WOHER DIE SEHNSUCHT?

Nirgends ist der Frühling schöner als in London. Es gibt viele milde, sonnige Tage, oft schon sehr früh im Jahr. Überall ergrünen die gepflegten Parkanlagen der Stadt, und alles beginnt, in freundlichen Farben zu blühen, erst die Kamelienbüsche in Rosa und Elfenbein, dann die verschiedenen Narzissensorten, schattierte Felder in Gelb, die Anemonen, Tulpen und Magnoliensträucher und schließlich die Zierkirschen in ihrem ganz eigenen, gebrochenen Magentaton. Zwischendrin erwecken Mandarinenten, Blässhühner und Höckerschwäne, wie aus dem Nichts gekommen, die Kanäle und Teiche zu neuem Leben. Diese Zeit zieht sich über einige Wochen, manchmal Monate hin. Das Grün nimmt die Stadt mit einer solch sanften Bestimmtheit in Besitz, dass man glaubt, es könnte für immer so bleiben.

Ich hatte schon die Jahre zuvor relativ viel Zeit in London verbracht, dieses Mal würde ich gleich für ein paar Monate bleiben. Als mein Flugzeug in Heathrow landete, fühlte ich mich erleichtert. Eine anstrengende Zeit mit zahllosen Lesungen und Interviews lag hinter mir, und ich freute mich darauf, endlich wieder durchatmen und in Ruhe schreiben zu können. Zwei Freunde hatten mir ihr kleines Haus im Osten der Stadt überlassen, um das ich mich kümmern würde, während sie in Amerika an einem gemeinsamen Projekt arbeiteten. Es war ein fast schon familiäres Arrangement, wir hatten es auch in den vorangegangenen Jahren oft so gehalten. Im Laufe der Zeit war mir das Haus ans Herz gewachsen, das Stadtviertel war mir vertraut geworden, und ich hatte einige Freundschaften geschlossen. Inzwischen hatte ich sogar gewisse Routinen entwickelt: Nach Vormittagen am Schreibtisch joggte ich mit lauter Musik in den Ohren die Themse entlang, von der Tower Bridge bis zur Hochhausinsel von Canary Wharf oder in Richtung des Victoria Park mit seinen Teichen, Platanen und historischen Pagoden. Fast täglich besuchte ich Ausstellungen in den Galerien, Museen und Kunstsammlungen der Stadt. Am Abend traf ich Freunde und Bekannte.

Ich dachte bereits eine ganze Weile darüber nach, dauerhaft nach London zu ziehen, hatte hin und wieder sogar schon nach einer Wohnung Ausschau gehalten und meine finanziellen Möglichkeiten überschlagen. Allerdings hatte ich am Ende jedes Mal wieder Abstand von der Idee genommen – der exorbitanten Lebenshaltungskosten der Stadt wegen, aber auch, weil mich irgendetwas in Berlin hielt.

Das Frühjahr in London zu verbringen sollte auch bedeuten, dass ich regelmäßig einen Freund sehen würde, mit dem ich ein Jahr zuvor für wenige Monate zusammen gewesen war. Wir hatten eine komplizierte Beziehung geführt, und der Trennung waren viele Wochen bewussten Abstands gefolgt. Schließlich hatten wir entschieden, einfach befreundet zu sein. Allerdings waren wir nicht besonders gut darin gewesen. Mittlerweile schrieben oder sprachen wir uns wieder jeden Tag, hatten Weihnachten miteinander verbracht und waren kurz darauf für ein paar Tage gemeinsam ins Engadin gefahren. In vieler Hinsicht fühlte es sich an, als wären wir zusammen, ohne wirklich wieder zusammen zu sein.

Doch je länger dieser Schwebezustand anhielt, je öfter wir uns in den ersten Tagen und Wochen jenes Frühjahrs sahen, desto schwieriger fühlte sich diese Freundschaft für mich an und desto stärker traten wieder jene Dinge in den Vordergrund, derentwegen unsere Trennung notwendig geworden war. Die Situation wurde bedrückend. Egal in welcher Konstellation, unser Bedürfnis nach Nähe schien immer wieder zu schmerzhaften Kollisionen zu führen. Irgendwann entschloss ich mich, ihn nicht mehr zu sehen, obwohl ich in seiner Stadt war.

Die Entscheidung, die einer erneuten Trennung glich, fiel mir schwer, sehr schwer. Ich hatte zwar nicht damit gerechnet, dass es mir danach blendend gehen würde, aber ich war auch nicht darauf vorbereitet, in welche Krise mich dieser Entschluss stürzen sollte. Er riss mir den Boden unter den Füßen weg. Nach unserem letzten Treffen hörte ich auf, regelmäßig zu essen und zu schlafen. Einige Tage später gab ich die fruchtlosen Versuche auf, an einem versprochenen Magazintext zu arbeiten. Ich war unfähig, auch nur eine Zeile zu schreiben. Obwohl ich wusste, dass es eine dumme Idee war, fing ich wieder mit dem Rauchen an. Das, was an Routine in meinem kleinen Londoner Alltag existiert hatte, verflüchtigte sich, als wäre es nie da gewesen. Alles, was ich tun konnte, war, ziellos durch die Stadt zu laufen, in Parks zu sitzen und mir mit einem unaufgeschlagenen Buch in der Hand die Wasservögel und das schöne Frühlingsgrün anzuschauen. An den Gesichtern einiger Freunde war abzulesen, dass sie anfingen, sich Sorgen um mich zu machen. Ich hatte mich schon lange nicht mehr so traurig gefühlt.

Jede Lebenskrise hat ihren eigenen Soundtrack, ihre ganz eigene Komposition aus Themen und Motiven. Jene Frühlingsmonate waren von einer intensiven Sehnsucht geprägt. Ich hatte gewusst, dass ich jenen Freund vermissen würde. Aber ich schien auch um etwas zu trauern, das ich nicht in Worte fassen konnte, um etwas, das sich wie das irrationale Versprechen auf eine Zukunft anfühlte. Noch viel mehr als jenen Freund schien ich das Gefühl einer gewissen Geborgenheit zu vermissen. Die Sehnsucht, die diese Krise bestimmte, war die Sehnsucht nach einem Aufgehobensein, nach einem Zuhause.

Diese Sehnsucht wurde im Verlauf der nächsten Wochen und Monate immer stärker. Das Bedürfnis nach einem Ort der Sicherheit empfand ich in dieser Zeit als nahezu überwältigend. Es war ein essentieller Wunsch, der sich damals seinen Weg bahnte, ein Wunsch, dem ich lange wenig Raum zugestanden hatte und der viel mit der inneren Ruhelosigkeit zu tun hatte, von der mein Leben in den vorangegangenen Jahren bestimmt gewesen war. Ein Wunsch, der sich in der Frage kristallisierte, wie und wo ich eigentlich leben wollte. Diese Frage hätte mich nicht völlig unvorbereitet treffen müssen. Fast alle meiner Freunde in Berlin hatten im Laufe der Jahre Familien gegründet. Wenn sie Partner hatten, bekamen sie Kinder, wenn sie noch keine Partner gehabt hatten, fanden sie plötzlich einen. Fast jeder, den ich kannte, hatte sich inzwischen eine Wohnung gekauft oder dachte darüber nach, es zu tun. Alldem hatte ich bis jetzt nie besonders große Bedeutung für mich und mein Leben beigemessen.

Die Tage wurden länger und wärmer, London erwachte immer mehr zum Leben. Die letzten Tulpen waren am Verblühen, und die Schwäne und Enten hatten kleine flauschige Küken bekommen. An einigen Tagen konnte man schon den Sommer in der Luft spüren, der bald über die Stadt kommen würde. Mir ging es immer noch nicht besser. Ich wollte nicht nach Berlin zurück, sosehr ich auch einige Freunde dort vermisste. Ich wollte nicht nach New York, wo ich zusammen mit meinem damaligen Partner den größten Teil meiner Zwanziger verbracht hatte. Und ebenso wenig wollte ich an der Mecklenburgischen Seenplatte sein, wo ich aufgewachsen war und wo meine Eltern leben. Ich sehnte mich nach einem Zuhause, jedoch ohne eine Ahnung davon zu haben, wo und was dieses Zuhause sein könnte.

Warum ist es überhaupt wichtig, ein Zuhause zu haben? Und was heißt es eigentlich, zu Hause zu sein? Das Gefühl des Zuhauseseins ist eine paradoxe Emotion. Es gehört so grundsätzlich zu unserem Leben, dass wir kaum je darüber nachdenken – es sei denn, wir sind dazu gezwungen. Es ist an einen festen Ort gebunden, manchmal auch an mehrere, aber zugleich ist es weit mehr als nur ein Ort. Das, was ein »Zuhause« ausmacht, evoziert so viele Bilder, Erinnerungen und Erwartungen wie wenig anderes, dennoch lässt es sich schwer benennen.

Schon in den frühesten indogermanischen Sprachen existierten Wörter, die einen Bedeutungskomplex von Zuhause, Siedlung, materieller und spiritueller Sicherheit umfassten. Der indisch-amerikanische Ethnologe Arjun Appadurai hat den Wunsch nach einem Zuhause als »ein menschliches Grundbedürfnis nach Verortung« beschrieben. Dieses Grundbedürfnis geht für ihn weit über den Umstand hinaus, dass Menschen sich an einem bestimmten Ort niederlassen; vielmehr umfasst es für ihn auch die wesentlichen Aspekte von Zugehörigkeit, Sicherheit und Gemeinschaft. Fast jeder von uns entwickelt irgendwann eine Sehnsucht nach Geborgenheit, nach einem Zuhause. Aus psychoanalytischer Sicht erfahren wir dieses Geborgenheitsgefühl zum ersten Mal als Kleinkind in den sicheren Armen der Eltern und verbringen dann oft unser ganzes Leben mit der Suche nach Möglichkeiten, diese Erfahrung von neuem machen zu können. In den Worten der französischen Philosophin Simone Weil ist die »Verwurzelung (…) wohl das wichtigste und am meisten verkannte Bedürfnis der menschlichen Seele«. Historisch und kulturell mag das, was wir als »Zuhause« verstehen, je nach Epoche, Land und Gesellschaftsform, unterschiedliche Formen angenommen haben, aber es ist eine unserer grundlegenden anthropologischen Konstanten. Der Wunsch nach einem Zuhause ist nicht nur tief in jedem Einzelnen von uns, sondern auch in unserem kollektiven Unbewussten verankert. Er bestimmt, wie wir unser soziales Leben organisieren, wie wir darüber denken, wer wir sind, und wie wir die Gesellschaft sehen, in der wir leben.

Vielleicht ist es diese tiefe psychische, historische und kulturelle Verankerung, die uns zu der Annahme führt, dass unser Zuhause auch heute etwas für uns sein sollte, das selbstverständlich ist. Bei genauerer Betrachtung ist jedoch das Gegenteil der Fall, denn die Beziehung zu dem, was wir als Zuhause bezeichnen, ist gegenwärtig für viele komplizierter, als sie es noch in der jüngeren Vergangenheit war, und alles deutet darauf hin, dass sich diese Entwicklung weiter verstärken wird. Immer weniger von uns leben heute noch an dem Ort, an dem sie geboren wurden. Klassische Beziehungsmuster, die lange allgemeingültig schienen, haben an Bedeutung verloren. Die voranschreitende Globalisierung der Welt geht für manche mit einem Zuwachs an Lebensmöglichkeiten einher, für andere mit Gefühlen des Selbstverlusts. Auch die wachsende Spaltung der Gesellschaft und der strukturelle Wandel von Politik und Öffentlichkeit führen zu einer erstaunlich tiefen Verunsicherung. Wir leben in Zeiten des Umbruchs, und solche Zeiten sorgen immer auch für Veränderungen in unseren grundsätzlichen Vorstellungen von der Welt und dem, was unser Zuhause ist.

Am deutlichsten ist der derzeitige Wandel an der langsam schwindenden Relevanz der früher so wichtigen Frage »Woher kommen Sie?« abzulesen. Wie der indischstämmige, in Großbritannien geborene, in den USA aufgewachsene und in Japan lebende Schriftsteller Pico Iyer in einem Essay über seine Herkunft schreibt, hat der Ort, an dem wir aufgewachsen sind, für eine immer größere Zahl von Menschen eine andere Bedeutung als noch vor wenigen Jahrzehnten. Die meisten von uns ziehen heute mehrmals in ihrem Leben um, manche in andere Länder oder gar andere Kontinente, einige auf Dauer, andere nur für eine gewisse Zeit. Zuhause ist heute mal mit den Eltern assoziiert, mal eine Wahlheimat für eine bestimmte Zeit, es ist der Ort, der mit einem Partner verbunden ist, oder der Ort, an dem man arbeitet und seine Steuern bezahlt. Wurde man in der jüngeren Vergangenheit in bestimmte Landschaften, soziale Kreise und Schichten hineingeboren und blieb diesen in der Regel – auch gefühlsmäßig – verhaftet, sind Selbstverständnis und Zugehörigkeitsgefühle dieser Tage überraschend häufig einem Prozess der Aufsplitterung unterworfen.

Es ist verführerisch, diese Entwicklung mit nostalgischem Blick zu beklagen, doch für viele Menschen stellt sie zunächst etwas überaus Positives dar. So können zahlreiche Menschen, für die das früher kaum möglich gewesen wäre, heute überhaupt erst ein Zuhause finden. Vor allem diejenigen, die den Normen der Welt, in die sie hineingeboren wurden, nicht entsprechen, die mit ihrem Herkunftsort Erfahrungen von Ausgrenzung und Stigmatisierung verbinden, können anderswo Menschen finden, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben wie sie selbst, oder auch schlicht Menschen, die sie so akzeptieren und lieben, wie sie sind. Vielleicht ist das der schönste und revolutionärste Aspekt des Veränderungsprozesses, dem unsere Vorstellungen von Zuhause unterworfen sind: Dass es heute für so viel mehr Menschen als früher möglich ist, Gemeinschaften zu finden, in denen sie respektiert werden und sich aufgehoben fühlen, Gemeinschaften, die in etwa dem entsprechen, was Hannah Arendt einmal in Anlehnung an die aristotelische Philosophie »Polis« nannte, Gemeinschaften also, in denen Menschen nicht mit dem Ziel einer gemeinsamen Identität handeln, sondern dem anderen Raum für sein Anderssein geben.

Der Wandel unserer Auffassungen von Zuhause ist, wie schon angedeutet, nicht auf Deutschland beschränkt, er ist ein globales Phänomen. Rund 250 Millionen Menschen leben heute in einem Land, in dem sie nicht geboren wurden – über 40 Prozent mehr als noch vor fünfzehn Jahren. Zu ihnen gehören Menschen, die vor Kriegen und den zusammenbrechenden Systemen ihrer Heimatländer fliehen, auf der Suche nach einem lebbaren Leben. Dazu zählen aber auch die wirtschaftlichen Eliten der Welt, die ein zunehmend mobiles Leben zwischen Europa, Amerika und Asien führen. Die Bewegung dieser Bevölkerungsströme strahlt auf die ganze Welt aus. Sie zieht eine andere Art zu denken und zu fühlen nach sich.

War das Gefühl des Zuhauseseins früher mit dem konkreten Ort verbunden, aus dem wir stammen, ist es heute eher mit einem imaginären Ort verknüpft, zu dem wir hinwollen. Zuhause ist inzwischen etwas, das wir uns in einem lebenslangen Prozess suchen und selbst aufbauen müssen: gleichermaßen ein realer wie ein innerer, ein spiritueller und ein sozialer Ort, an dem wir uns aus Gründen, die uns nicht einmal bewusst sein müssen, niederlassen. Im kollektiven Verständnis von »Zuhause«, lange Zeit gleichbedeutend mit »Herkunft«, scheint es nunmehr vor allem um diese Suche zu gehen, um eine der vielleicht wesentlichsten Suchen überhaupt: nach einer Gemeinschaft, einer Familie und einem inneren Einklang mit der Welt. Nach einem Ort, an dem eine Flucht ein Ende findet oder an dem man aufhört wegzulaufen. Nach einem Ort, der die Möglichkeit birgt, bei sich selbst anzukommen.

Ich hatte schon früher unter dunklen Phasen gelitten, die mir für Wochen und manchmal Monate das Leben erschwerten und mich gelegentlich sogar in Form von Depressionen außer Gefecht setzten. Das war etwas, das ich kannte und womit ich im Laufe der Zeit zu leben gelernt hatte. Seit ich ein paar Jahre zuvor aufgehört hatte zu trinken, hatten diese Phasen so sehr an Intensität verloren, dass ich manchmal dachte, sie wären ganz verschwunden. Die Depression, die nun in London anbrach, fühlte sich anders an. Sie überkam mich mit ungeahnter Wucht und sollte viele Monate anhalten, selbst dann noch, als ich schon lange wieder nach Berlin zurückgekehrt war. Ein schier unüberwindbarer Widerstand hielt mich davon ab, bewährten Gewohnheiten nachzugehen, die mir früher durch solche Phasen geholfen hatten. Ich ging weder zum Yoga noch zum Boxen, die Laufschuhe blieben irgendwann in der Ecke stehen, und auch an das Meditieren war bald nicht mehr zu denken.

Was die Situation während der Frühlingsmonate in London und in der Zeit danach zusätzlich erschwerte, war mein Eindruck, dass meine innere Instabilität noch von einer äußeren Unsicherheit verstärkt wurde. Nicht nur ich, sondern auch die Welt schien in einer tiefen Krise zu stecken. Im Grunde wiegen wir uns alle in der Sicherheit, dass unsere emotionale Verfassung nur wenig mit dem zu tun hat, was um uns herum passiert, mit den großen politischen und gesellschaftlichen Bewegungen, dem, was man früher »Weltläufte« nannte. Wir gehen insgeheim davon aus, dass sie nicht wirklich beeinflussen, wie wir leben und wie wir uns fühlen. Eine notwendige Illusion wahrscheinlich, ohne die wir unser alltägliches Leben kaum bewältigen könnten. Doch diese Illusion zerbrach für mich.

In jener Zeit zeichnete sich eine unübersehbare Verdunkelung der politischen Stimmung ab. Ich hatte den Eindruck, noch nie zuvor Zeuge einer Nachrichtenlage gewesen zu sein, die derart viele Terroranschläge, Kriege, Wirtschaftskrisen und Klimakatastrophen umfasste. In Deutschland machte sich zunehmend das Gefühl breit, dass die gesellschaftliche Mitte, von jeher der Antriebsmotor des Landes, wegzubrechen drohte. Es war eine Radikalisierung zu beobachten, wie ich sie ein Jahrzehnt zuvor schon in den USA miterlebt hatte, und mit dieser Radikalisierung trat immer stärker ein Hass zutage, der die auf Mäßigung und Konsens angelegte politische Kultur des Landes, meines Landes, im Kern bedrohte. Meinungen, die von Rassismus und Intoleranz geprägt waren, wurden wieder salonfähig. In den politischen Talkshows und in der Zeitungslandschaft fanden Stimmen ungeahnten Zulauf, die gegen Menschen aus anderen Ländern mobilmachten, offen homophobe und frauenfeindliche Ansichten vertraten und sich dabei noch mit dem Nimbus des Mutigen und des politisch Verfolgten umgaben. Diese Entwicklung war nicht nur auf Deutschland begrenzt. Während sich die Politik immer mehr von Krise zu Krise zu hangeln schien, gewannen Botschaften der Intoleranz und die Verklärung einer vermeintlich guten alten Zeit überall auf der Welt wieder an Popularität.

Währenddessen wurde immer deutlicher, dass die internationalen Ordnungssysteme, auf die sich jeder von uns lange verlassen hatte, ins Wanken gerieten. Das Europa, das ich die längste Zeit meines Erwachsenenlebens gekannt hatte, schien mit einem wirtschaftlichen und weltanschaulichen Kollaps zu liebäugeln. Unberechenbare, autokratisch geführte Staaten flößten dem Rest der Welt mehr denn je Angst ein. Die Globalisierung sorgte für immer mehr Ungleichheit. Flüchtlinge aus Kriegsgebieten konfrontierten die Europäer tagtäglich mit ihrem Irrglauben, dass sich das Leid, welches den Alltag von Menschen in vielen anderen Teilen der Welt bestimmt, dauerhaft auf Distanz halten ließe.

Ich konnte nicht anders, als diesen Wandel insgesamt als eine Bedrohung wahrzunehmen. Ich hoffte inständig, dass mich das Gefühl einer Zeitenwende trog. Trotzdem konnte ich nicht die Angst davor abschütteln, dass in jenen Monaten eine Ära der Stabilität zu Ende ging, von der ich wie so viele andere geglaubt hatte, sie würde für immer andauern.

Es überrascht kaum, dass eine solche politische und gesellschaftliche Lage bei vielen Menschen das Bedürfnis nach Sicherheit und den Wunsch, sich irgendwo zu Hause zu wissen, enorm verstärkt. Doch kann die Gewissheit eines Zuhauses tatsächlich eine Lösung sein, wenn wir mit derartigen Problemen konfrontiert sind? Der palästinensisch-amerikanische Kulturtheoretiker Edward Said war diesbezüglich skeptisch. In seinem einflussreichen Essay »Reflections on Exile« wies er darauf hin, dass unsere Vorstellungen von Zuhause schnell die Form von bedrohlichen Dogmen und Orthodoxien annehmen können. Abgrenzungen, so Said, würden häufig ohne Vernunft und ohne Notwendigkeit aufs Bitterste verteidigt und führten damit geradezu zum Gegenteil von Sicherheit.

Said war nicht der Einzige, der so dachte. Ein beachtlicher Teil der Philosophie und Geistesgeschichte des an Katastrophen so reichen 20. Jahrhunderts war dem Begriff des Zuhauses gegenüber erstaunlich negativ eingestellt und ging in seiner Ablehnung sogar noch weiter. Der amerikanischen Philosophin Susan Neiman zufolge stellt der Zweifel an der Existenz eines Zuhauses gar eine Signatur der Moderne dar, eines ihrer grundlegenden, unumkehrbaren Merkmale. Am deutlichsten lehnte Theodor W. Adorno die Idee ab. In seiner im kalifornischen Exil unter dem Eindruck der Schrecken des Zweiten Weltkriegs verfassten philosophischen Autobiographie Minima Moralia beschreibt er jedes Zuhause als etwas Dogmatisches, als gemeinschaftliche Erfindung und fragwürdige Vorschrift. »Es gehört zur Moral, nicht bei sich selbst zu Hause zu sein«, schreibt er dort. Damit meinte er, dass wir uns nicht über die Katastrophen unserer Welt hinwegtäuschen dürften, dass uns nichts mehr erlösen könne, dass es nichts Harmloses mehr gebe, dass es, um einen seiner berühmtesten Sätze aus Minima Moralia zu paraphrasieren, kein richtiges Leben im falschen geben könne.

Sieben Jahrzehnte nachdem Adorno seine »Reflexionen aus dem beschädigten Leben«, so der Untertitel des Buches, verfasst hat, wird deutlich, dass so etwas wie das »richtige« gesellschaftliche Leben wohl niemals eintreten wird und dass wir wahrscheinlich nie mit einer Zeit ohne Gefahren, Terror und bittere Ungerechtigkeit rechnen dürfen. Mit dem historischen Abstand zu dem Philosophen und seiner Zeit lässt sich allerdings auch feststellen, dass wir nichtsdestotrotz ein privates Leben brauchen, das für uns persönlich richtig ist, ein Leben, das sich für uns richtig anfühlt. Wäre es überhaupt möglich, Adornos moralischer Forderung zu folgen und die grundlegende Sehnsucht nach einem Zuhause zu ignorieren oder sie sich gar abzutrainieren? Und was wäre damit gewonnen?