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Ursula Eichenberger – Der Weichensteller | Jugendanwalt Gürber – Wörterseh Verlag

Alle Rechte vorbehalten, einschließlich derjenigen des auszugsweisen Abdrucks und der elektronischen Wiedergabe

© 2016 Wörterseh Verlag, Gockhausen

Lektorat: René Staubli, Zollikon
Korrektorat: Andrea Leuthold und Lydia Zeller, Zürich
Umschlaggestaltung: Thomas Jarzina, Holzkirchen
Fotos Umschlag: Gian Marco Castelberg / 13 Photo
Layout, Satz und herstellerische Betreuung:
Beate Simson, Pfaffenhofen a. d. Roth
Druck und Bindung: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm

Print ISBN 978-3-03763-069-3
E-Book ISBN 978-3-03763-604-6

www.woerterseh.ch

Inhalt

Über das Buch und die Autorin

Zu diesem Buch

Hansueli Gürber

Mit Statements der fünf Kinder zu ihrem Vater

Fallbeispiele

1: »Positiv unangenehm«

2: »Ein Biest«

3: »Wut im Ranzen«

Jugendkriminalität

Mit Einschätzungen zu Gürbers Arbeit

Fallbeispiele

4: »Klassischer Mitläufer«

5: »Kein Lämmchen«

6: »Mitgegangen, mitgefangen«

Schützen und erziehen

Mit Einschätzungen zu Gürbers Arbeit

Fallbeispiele

7: »Ich drehte durch«

8: »Nicht systemkompatibel«

9: »Krumme Dinge«

Entscheidungen und ihre Folgen

Der Verrat – Magazin-Artikel zum Fall »Carlos«
von Mathias Ninck

Konsequenzen

Anhang

Mit einer Kurzbiografie Gürbers, Statistiken und einem Glossar

Dank

Über das Buch und die Autorin

Während seiner dreißigjährigen Tätigkeit hatte Jugendanwalt Hansueli Gürber mit rund sechstausend jungen Männern und Frauen zu tun und für alle stets um die beste Lösung gerungen. Oft war diese unkonventionell. So auch im Fall »Carlos«, der durch einen Fernsehbericht an die breite Öffentlichkeit gelangt war und für einen Sturm der Entrüstung sorgte. Das machte den kurz vor seiner Pensionierung stehenden Jugendanwalt zu einer Person des öffentlichen Interesses, und dies nicht im positiven Sinn. Damals ging allerdings vergessen, wie erfolgreich Hansueli Gürber während seiner Tätigkeit bei der Wiedereingliederung von – zum Teil – schwerstkriminellen Jugendlichen war. Das Erfolgsrezept? Er interessierte sich wahrhaftig für die Lebensgeschichten der jungen Menschen. Dafür zollten ihm seine Klienten Respekt und Vertrauen; auch dann noch, wenn es keine andere Möglichkeit mehr gab und er sie in Untersuchungshaft oder in geschlossene Heime bringen musste.

Hansueli Gürbers Ziel war es gerade auch in diesen Fällen, den oft belasteten Biografien krimineller Jugendlichen eine Richtungsänderung zu geben. Zum Schutz der Jugendlichen selbst – vor allem aber auch zum Schutz der Gesellschaft. Wie er das schaffte, davon erzählt dieses Buch. Und man muss nicht zwischen den Zeilen lesen, um zu begreifen, dass er nicht nur sein ganzes Herzblut investierte, sondern auch einiges zu sagen hat.

Als Jugendanwalt agierte Hansueli Gürber zwar auf der Seite des Staates, setzte sich aber immer derart für »seine« kriminellen Jugendlichen ein, als wäre er ihr Verteidiger. Das konnte er, weil er die zum Teil schweren Taten klar missbilligte, nie aber die Jugendlichen ablehnte, die sie begangen hatten.

»Ein längst fälliges Buch, das die großen Verdienste Hansueli Gürbers im Jugendstrafrecht aufzeigt, die im Scheinwerferlicht des Falls ›Carlos‹ vergessen zu gehen drohten.«

Daniel Dunkel, Chefredaktor der »Schweizer Familie«

Ursula Eichenberger© Thomas Züger

URSULA EICHENBERGER, geb. 1968, studierte Geschichte und Non-Profit-Management, schrieb für verschiedene Medien wie »Neue Zürcher Zeitung«, »SonntagsZeitung«, »Weltwoche« und war bis 2006 Redaktorin beim »Tages-Anzeiger« mit Schwerpunkt Sozial- und Gesellschaftsthemen. Seither ist sie für Stiftungen und Non-Profit-Organisationen wie Unicef Schweiz tätig und schreibt Bücher. Für den Wörterseh Verlag realisierte sie bereits den Bestseller »Geboren als Frau – Glücklich als Mann«. Mit Hansueli Gürber hatte sie als Journalistin immer wieder zu tun und war von seinem beruflichen Engagement stets sehr beeindruckt. Ursula Eichenberger lebt in Zürich.

Zu diesem Buch

Marco lässt im Tankstellenshop zwei Päckchen Kaugummi mitlaufen; Anna zerdeppert mit Steinen eine Straßenlampe; in der Garderobe stiehlt Stefan das Portemonnaie aus Theas Jacke; Miro nimmt Luca in den Schwitzkasten und verlangt fürs Loslassen fünf Franken: Fast alle Jugendlichen begehen einmal eine strafbare Handlung. Meistens handelt es sich jedoch um Bagatelldelikte, bei denen weder die Polizei noch die Jugendbehörden einschreiten müssen. Es gibt aber auch Straftaten, bei denen kein Auge zugedrückt werden kann. »Zwei Verletzte nach Angriff mit Messer am Züri-Fäscht«; »Raubserie eines jungen Mannes« – eine Häufung solcher Schlagzeilen lässt vermuten, die Jugend sei gewalttätiger geworden.

Erhebungen des Bundesamts für Statistik belegen indessen, dass die Anzahl verurteilter Jugendlicher seit dem Jahr 2009 um über vierzig Prozent zurückgegangen ist. Diese Statistiken sind allerdings mit Vorsicht zu interpretieren, denn die Anzahl Verurteilungen lässt nicht definitiv darauf schließen, wie kriminell Jugendliche tatsächlich sind. Dazu fehlt eine absolute Messlatte. Einerseits beeinflusst das Anzeigeverhalten die Anzahl der Verurteilten, andererseits die Strenge beziehungsweise Milde der Richter.

Hansueli Gürber hatte als Leiter der Jugendanwaltschaften Horgen und Zürich während dreißig Jahren mit rund 6000 straffälligen Jugendlichen zu tun. Der bekannteste unter ihnen sorgte unter dem Pseudonym »Carlos« weit über die Landesgrenzen hinaus für Aufregung.

Seinen Anfang hatte der Fall »Carlos« mit der Reporter-Sendung Der Jugendanwalt genommen, ausgestrahlt im Schweizer Fernsehen SRF am 25. August 2013. Der Ankündigungstext zur Sendung des Filmemachers Hanspeter Bäni klang harmlos: »Hansueli Gürber ist seit sieben Jahren Leiter der Jugendanwaltschaft der Stadt Zürich. Dem 62-Jährigen, der aussieht wie ein Alt-Hippie, liegen die Jugendlichen am Herzen. Auch die, die schon einiges auf dem Kerbholz haben. Gürber geht immer wieder eigene Wege, nicht nur beruflich, auch privat.« Damit war nebst den gut hundert Reptilien, die er in seinem Privathaus hält, die Tatsache gemeint, dass er während achtzehn Jahren parallel mit zwei Frauen in zwei Familien mit insgesamt fünf Kindern lebte, woraus er kein Geheimnis machte.

Im Film stellte Hansueli Gürber eine der beiden maßgeschneiderten, besonders aufwendigen Sondertherapien aus seiner langjährigen Berufstätigkeit als Jugendanwalt vor. Er hatte sich für »Carlos« entschieden, denn er stufte die Entwicklung des Siebzehnjährigen als Erfolgsgeschichte ein: Nach 34 Verurteilungen lebte »Carlos« damals seit vierzehn Monaten deliktfrei. Das angeordnete Sondersetting umfasste eine Wohnung, in welcher der junge Mann mit einer persönlichen Betreuerin wohnte, einen Privatlehrer sowie regelmäßige Trainingsstunden beim mehrfachen Thaibox-Weltmeister Shemsi Beqiri. Monatliche Kosten: 29 200 Franken.

Es folgte ein Sturm der Entrüstung. Wurde hier ein Straftäter verhätschelt? Wurden Steuergelder verschwendet? Über Monate debattierten Politiker, Fachleute und Medien über die Kosten von Sondersettings und den Sinn von verordnetem Thaibox-Training. SVP und BDP forderten eine Parlamentarische Untersuchungskommission, Hansueli Gürber erhielt Morddrohungen, in seinem Briefkasten lagen anonyme Schreiben mit schwersten Vorwürfen, im Netz fegte ein Shitstorm über ihn hinweg, sein Haus musste von der Polizei bewacht werden. Das Sondersetting wurde abgebrochen, »Carlos« ins Gefängnis verfrachtet, ein weniger teures Sondersetting beschlossen, auch dieses abgebrochen, der Jugendliche schließlich wieder auf freien Fuß gesetzt.

Gürber musste das Dossier abgeben, Ende August 2014 ging er in Pension, acht Monate später wurde Justizdirektor Martin Graf aus dem Zürcher Regierungsrat abgewählt. »Keine Frage«, räumt Hansueli Gürber ein, »dass ich ›Carlos‹ in diesen Film miteinbezogen habe, war ein schwerwiegender Fehler, mit dem ich vor allem ›Carlos‹ geschadet habe.« Mehr darf er zu den Vorfällen nicht sagen, andernfalls würde er das Amtsgeheimnis verletzen und sich strafbar machen. Seinen Antrag auf eine teilweise Entbindung vom Amtsgeheimnis für dieses Buch wies die Justizdirektion im Frühling 2015 ab.

So laut Hansueli Gürbers Karriere endete, so leise hatte sie begonnen. Als er 1986 vom Erwachsenen- ins Jugendstrafrecht wechselte, habe dieses noch in »einer Art Dornröschenschlaf« gelegen: »Ziemlich unbehelligt von der Öffentlichkeit und von den Medien, konnten wir unserer Arbeit nachgehen. Wir wurden zwar nicht ganz ernst genommen, aber man ließ uns gewähren.« Erst nach und nach setzte sich in der Öffentlichkeit das Bewusstsein durch, dass in der Jugendstrafrechtspflege nicht nur »etwas seltsame Juristen« am Werk waren, sondern Spezialisten aus verschiedenen Fachbereichen.

In seiner Amtstätigkeit hat Hansueli Gürber Tausende von Stunden mit straffälligen Jugendlichen verbracht und sich auf jeden in der ihm eigenen engagierten und authentischen Art eingelassen. Dabei unterschied er stets zwischen dem Menschen und seinen Verfehlungen. Er verabscheute schwere Taten, jedoch keinen der Jugendlichen, die sie begangen hatten. Vielmehr interessierte er sich für ihre Lebensgeschichten und suchte in vertrackten Situationen oft nach unkonventionellen Lösungen. Die Jugendlichen reagierten mit Respekt und Vertrauen – auch wenn er harte Maßnahmen aussprach und sie in U-Haft, ins Heim oder gar hinter Gitter brachte. »Guten Morgen, Herr Gürber«, stand beispielsweise in einem Brief aus dem Bezirksgefängnis, »wenn sie bei mir vorbeikommen, bitte wenn es geht bringen sie mir 5 Pack Zigaretten. Es würde mich sehr freuen und paar Schokoladen. Wenn ich draußen bin, bezahl ich die Sachen, wenn es sein muss. Also Herr Gürber, bis bald, ich hoffe, dass es ihnen gut geht.«

Gürber scheute weder Mühe noch Aufwand, war rund um die Uhr und auch an Wochenenden erreichbar, chauffierte seine Klienten in Heime und Therapiestationen, auch wenn diese weit entfernt lagen, und schonte seine Kräfte nicht. Daran änderte auch ein Beinahe-Herzinfarkt mit notfallmäßiger Bypass-Operation nichts. Sein Ziel war es, dem Leben krimineller Jugendlicher eine Richtungsänderung zu geben, in ihrer jungen und oft belasteten Biografie eine Weiche zu stellen. »In diesen Jahren kann man noch formen, man hat den Lehm in der Hand. Und wenn man ihn richtig knetet, kommt es gut.« Wie er das machte, erzählt er in den Gesprächen in diesem Buch.

Mit vielen Jugendlichen verbindet ihn eine lange, intensive Geschichte. »Wenn ich ihre Namen höre, beginnt es in meinem Kopf zu rattern, und es macht klick.« Von einigen erzählen auch die folgenden Seiten. Gemeinsam haben wir neun seiner ehemaligen Klientinnen und Klienten getroffen. Mit manchen hatte Hansueli Gürber noch kurz vor seiner Pensionierung zu tun, andere hatte er viele Jahre nicht mehr gesehen. Das Setting war immer dasselbe: Wir verabredeten uns im Zürcher Kreis 5 auf einer Bank auf dem Platz an der Ecke Langstraße/Josefstraße; das Gespräch führten wir in einem nahen Sitzungszimmer. Die meisten unserer Gesprächspartner erschienen pünktlich, oft mit einem Lächeln im Gesicht, wenn sie »ihren« ehemaligen Jugendanwalt entdeckten.

Deutlich schwieriger war es, jene Personen für eine Einschätzung von Gürbers Arbeit zu gewinnen, die dem Jugendanwalt kritisch gegenüberstanden. Marcel Riesen-Kupper, Chef der Oberjugendanwaltschaft, erbat sich eine Woche Bedenkzeit und winkte dann ab. Ex-Regierungsrat Martin Graf (Grüne) schrieb per E-Mail: »Ich will nicht mit einem Zitat im Buch erscheinen.« Seine Abwahl als Justizdirektor im Frühling 2015 hatte er auch Gürber angelastet.

Durchgehend anders klang es bei den ehemaligen Klientinnen und Klienten. Ein junger Mann schrieb: »Guten Tag Herr Gürber, ich bin sehr erfreut, von Ihnen zu hören. Hatte schon ein paar mal an Sie gedacht. Wie geht es Ihnen? Hoffentlich gut. Natürlich stehe ich Ihnen bei der Erstellung des Buches zur Verfügung, denn meine Entwicklung ist Ihnen zu verdanken.«

Ursula Eichenberger, im Juni 2016