Horst Böttge

DRANGSALIERT
UND DEKORIERT

Von der Kunst des Überlebens in der DDR

mitteldeutscher verlag

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Projekts durch die LStU Sachsen und durch die Friedrich-Ebert Stiftung.

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2015

© mdv Mitteldeutscher Verlag GmbH, Halle (Saale)

www.mitteldeutscherverlag.de

Gesamtherstellung: Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale)

ISBN 978-3-95462-656-4

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2016

INHALT

Cover

Titel

Impressum

Prolog

Vorgeschichte

Die Brüder

Die letzten Kriegsjahre und die Nachkriegszeit

Mit 16 Jahren in den Zuchthäusern der DDR

1951 – Verhaftung, Verschleppung, Folterverhöre und Verurteilung

Gnadengesuche werden nicht beantwortet – eine tiefe Demütigung der Eltern

Noch ein Schritt näher zur Hölle – im „Gelben Elend“ von Bautzen

Beginn einer lebenslangen Freundschaft im „Gelben Elend“

Im „Roten Ochsen“ von Halle – mit Mördern und Kriminellen

Briefe aus den Folterkammern der DDR

Zurück in den Alltag

Die Aufholjagd beginnt – in einem schwierigen Umfeld

Erste Erfolgserlebnisse im Beruf

Die Arbeit im Fernwärmebereich Hoyerswerda – ein Spiegelbild der sozialistischen Wirtschaft

Einführung

Struktur und Aufbau des Fernwärmebereichs

Das Betriebsgeschehen

Umgang mit der Mangelwirtschaft und die Stasi im Genick

Die Wühlarbeit der Stasi – eine doppelte Tragödie für die DDR-Wirtschaft (1962–1969)

Ein „Maulwurf“, GI F. Schröder, berichtet der Stasi

Der Wahrheitsgehalt der GI-Berichte ist dürftig

Die „Fußangeln“ sind ausgelegt

Beruf und Privatleben Richard Böttges – eine Zwischenbilanz

Die berufliche Entwicklung

In geheimer Mission

Der Tragödie zweiter Teil (1974/75)

Sachstandsberichte und Maßnahmenpläne der Stasi

Die 7-Milliarden-Lüge

Das Finale – der Tragödie dritter Teil (1975/76)

Der Eröffnungsbericht mit dem Codenamen „Alpinist“

Die „Arbeiter- und Bauerninspektion“ greift ein – ein Hinterhalt der Stasi

Die Ergebnisse der Arbeit der Expertenkommission – eine Blamage für die Stasi-Aktion „Alpinist“

Wichtige Ereignisse bis zur Wende (1977–1989)

Diese Fachkraft ist nicht zu ersetzen

Auszeichnungen am laufenden Band

Erlebnisse als Stabschef der Zivilverteidigung

Die Mobilisierung der letzten Reserven

Nachtrag

Die letzten Jahre im Beruf

Rehabilitation, Entschädigung und Befreiung

Zum 80. Geburtstag

Epilog

Anhang

Glossar

Abkürzungsverzeichnis

Literatur

Der Verfasser stellt sich vor

Danksagung

Aus dem Programm des Mitteldeutschen Verlags

Fußnoten

PROLOG

Früher Morgen des 12. Januar 1951 um etwa 4 Uhr. Fritz Böttge, der Vater von Richard, telefoniert – noch im Bett liegend – mit der Fabrik, um sich nach den Ergebnissen und besonderen Ereignissen während der Nachtschicht zu erkundigen. – Ärgerlich, schon wieder ein vermeidbare Störung …

Er muss das Telefonat unterbrechen, um meinen Bruder Richard aus dem Tiefschlaf zu wecken. „Du hast den Wecker nicht gehört. Heute ist Berufsschultag. Dein Zug fährt um 5.47 Uhr.“ Zugleich widmet er sich wieder seiner Fabrik und das erneute Wachrütteln muss die Mutter übernehmen.

Mein Bruder hadert an diesem Morgen mit seinem Schicksal. Gerade einmal 16 Jahre alt geworden und so früh aufstehen. Da braucht man Unterstützung. Der Bettzipfel der Zudecke des jüngeren Bruders Horst zieht ihn geradezu magisch an. Er schüttelt ihn kräftig und ruft: „Frühstückst du mit mir zusammen?“ Die Mutter hat nun alle Hände voll zu tun, schnell etwas Essbares auf den Tisch zu bringen. Zeit für eine Unterhaltung bleibt nicht.

Bereits 5.30 Uhr muss Richard das Haus verlassen, um den Zug zu erreichen. Die Verkehrsverbindung zur Berufsschule nach Laubusch in der Nähe von Hoyerswerda ist nicht optimal. Warten auf den Anschluss in Hosena, eine Dreiviertelstunde Fußweg vom Bahnhof Schwarzkolm summieren sich zu einer Anreisezeit von fast drei Stunden. Da ist man schon frustriert, wenn man dann auch noch vor verschlossener Tür steht und liest: „Aus organisatorischen Gründen findet die Berufsschule heute im Jugendheim statt“, das ist allerdings in wenigen Minuten zu erreichen. Hier empfängt sie ein recht unfreundlicher Jugendheimleiter im Blauhemd, der für die quirlige Menge von Berufsschülern im Alter zwischen 15 und 18 Jahren überhaupt kein Verständnis aufbringt.

Nach vier Stunden Unterricht mit kleineren Unterbrechungen endlich eine längere Mittagspause. Getränke wie in der Berufsschule standen nicht zur Verfügung. Jeder würgt missmutig seine mitgebrachten Stullen herunter. Die Frusterlebnisse des Tages trugen dazu bei, dass pubertäre Blödelei und Angeberei die Oberhand gewannen, zumal die übliche Pausenaufsicht nicht vor Ort war. Meinem Bruder Richard fehlte jegliche Erfahrung, wie er sich in einer solchen Meute verhalten sollte. Es entsprach seinem Wesen, dass er sich an ein in der Ecke stehendes Klavier zurückzog, und versuchte, sich mit dem Spielen einiger Melodien aus der Kindheit aus der Affäre zu ziehen.

Die Situation eskalierte, nachdem einer den anderen mit immer größeren Randalen übertreffen wollte. Auch Inventar wurde beschädigt. Die Rebellion galt der unfreundlichen Heimleitung. Die Vernunft war längst auf der Strecke geblieben. Und da saß dann noch ein Feigling am Klavier, der nun massiv von der Meute aufgefordert wurde, sich zu beteiligen. Alle grölten, nachdem er sich überreden ließ, auf einem gerahmten Bild Lenins Bart mit abgebrannten Streichhölzern ein wenig aufzufrischen. Schnell zog er sich an das Klavier zurück. Hätte er geahnt, welche Auswirkungen dieser Jugendstreich auf sein ganzes Leben haben wird, er wäre wohl im Boden versunken.

VORGESCHICHTE1

DIE BRÜDER

Der Ältere, Richard, geboren im Dezember 1934, der Jüngere, Horst, im April 1936, sind zwei Söhne einer Familie, die immer in der Nähe einer Braunkohlen-Brikettfabrik wohnte, zunächst südlich von Leipzig zwischen Zeitz und Altenburg bei der Stadt Meuselwitz, ab 1947 in der Lausitz im Dreieck Senftenberg, Kamenz, Hoyerswerda, etwa 40 Kilometer nordöstlich von Dresden. Der Vater, Ingenieur der Bergbautechnik, führte hier Regie. Er war mit der Braunkohle verheiratet. Von den Söhnen, für die er wenig Zeit hatte, verlangte er strengen Gehorsam und Ehrlichkeit sowie die Pflicht mitzuhelfen, den Lebensunterhalt zu sichern. Der Gegenpol war die liebevolle Mutter, die es verstand, den Kindern Geborgenheit zu geben und so die Vorgaben des Vaters da und dort auch zu unterlaufen. Diese Umgebung und die Ereignisse der letzten Kriegsjahre sowie die Nachkriegszeit prägten die ersten konkreten Kindheitserinnerungen.

Richard, über dessen Lebensweg hier berichtet wird, war ein eher zurückhaltender, ruhiger und stets abwägender Typ. Er war das erste Kind in der Familie. 16 Monate später kam ein Bruder, der Autor dieser Dokumentation, im Mai 1941 noch eine Schwester hinzu. Der Altersunterschied zwischen den Brüdern war kein Anlass für ernsthafte Differenzen, und es gab sowohl im privaten als auch im öffentlichen Umfeld genügend Gründe für eine innige Bruderliebe.

Bereits die ersten Schuljahre verlangten engen Zusammenhalt, zumal eine Schule in einigen Kilometern Entfernung von der Brikettfabrik „Schädegrube“ im nächst liegenden Dorf besucht werden musste. Ein Fahrrad war ein Luxusgegenstand und öffentliche Verkehrsmittel waren nicht verfügbar. Bei einer Stunde Schulweg zur Schule von Zipsendorf konnte eine ganze Menge passieren. Das war allerdings das kleinere Problem. „Die von der Kohle kamen“ waren eine exklusive Minderheit, die sich der Dorfmehrheit nicht unbedingt unterordnen wollte. Dies gab Anlass zu vielen Raufereien, und es musste ein Weg gefunden werden, mit der zahlenmäßigen Übermacht fertig zu werden.

Es war der Ältere, der als Erster 1941 mit dieser Situation konfrontiert wurde. Die Unterstützung des Jüngeren war ihm sicher. Während des ersten Schuljahres begleitete er ihn wiederholt auf dem Schulweg und wartete vor der Schule, bis der Unterricht zu Ende und der gemeinsame Heimweg gesichert war. Außerdem rächte es sich jetzt, dass wir als Kinder keinen Kindergarten besucht hatten. Die seinerzeit grassierenden Kinderkrankheiten wie Masern, Scharlach, Windpocken, Mittelohrvereiterung etc. bedeuteten für den Älteren mehr als ein halbes Jahr Schulausfall. Der erste offizielle Schultag des Jüngeren im Jahr 1942 endete mit einer blutenden Wunde am Kopf, die er sich bei einer Prügelei mit einem älteren Schüler zuzog.

Es gelang beiden Brüdern doch, sich längerfristig Respekt zu verschaffen und einige Freunde zu gewinnen, gegebenenfalls auch durch kleinere Geschenke. Briefmarken aus dem Sammelalbum der Eltern hatten dabei einen hohen Stellenwert.

Dass man von den Lehrern ab und zu Prügel einstecken musste, es wurde mit dem Rohrstock auf die Fingerspitzen geschlagen, störte die Brüder weniger. Meistens war die Strafe verdient, man wollte es nur nicht zugeben.

DIE LETZTEN KRIEGSJAHRE UND
DIE NACHKRIEGSZEIT

Die zunehmenden Luftangriffe ab 1943 waren ein Horror für die Familie. Es wurde für den Vater immer schwieriger, die Brikettfabrik am Laufen zu halten. Ein mit sieben Lagen Eisenbahnschienen armierter Betonbunker auf dem Betriebsgelände diente für die Brikettfabrik als Ersatzteillager. Er sollte aber auch für kurze Fluchtwege sorgen, um bei Fliegeralarm so lange als möglich – bis man die Flugzeuge bereits hörte – am Arbeitsplatz bleiben zu können. Der Bunker widerstand allen Bombenangriffen und bewährte sich als Lebensretter für unseren Vater.

Die übrigen Anwohner – dazu gehörten auch wir – suchten bei Fliegeralarm Schutz in stillgelegten Verbindungstunneln nahe gelegener Braunkohlentagebaue. Der Weg dahin war etwas weiter, sodass auch wir wiederholt die angreifenden Flugzeuge über uns sehen konnten. Wenn wir auch ziemliche Lausbuben waren, gehörige Angst hatten wir dabei schon!

Die Einschläge kamen immer näher – ein Blindgänger vor unserem Garten und vor der Haustür unseres Nachbarn, eine Luftmine über dem Bahnanschluss der Brikettfabrik, kaum 100 Meter entfernt von unserem Wohnhaus, ein mehrere Tage brennendes Kesselhaus – und trotzdem hatten wir noch Glück. Die überwiegende Mehrzahl der Bomben landete in einem in der Nähe liegenden stillgelegten Tagebau, der ein beliebter Spielplatz von uns Kindern war.

Durch die Luftmine wurden Fenster und Türen unseres Wohnhauses eingedrückt und auch das Dach wurde beschädigt. Neben dem Bett des Älteren klaffte ein Loch in der Wand. Eine schnelle Reparatur war nur noch provisorisch möglich. Wenn es regnete, tropfte das Wasser durch die Decke. Es wurde notdürftig in Eimern aufgefangen, die je nach Intensität des Regens geleert werden mussten.

Es war für uns eine große Erleichterung, als schließlich Mitte April 1945 die amerikanische Armee auftauchte und ihr Versprechen einhielt, die Brikettfabrik und die nahe liegenden Dörfer vor der Zerstörung zu bewahren, wenn alle hastig errichteten Panzersperren abgebaut und kein Widerstand geleistet wird. Deutsche Soldaten hatten unsere Gegend ohnehin bereits verlassen und die Panzersperren, die der sogenannte „Volkssturm“ errichtet hatte, waren blitzschnell wieder beseitigt.

Bis an die Zähne bewaffnet, tauchten auch vor unserer Wohnungstür zwei Amerikaner auf, um nach versteckten deutschen Soldaten zu fragen. Die Wohnung durchsuchten sie nicht. In den folgenden Tagen – wenige Tage vor Kriegsende am 8. Mai 1945 – kamen wir aus dem Staunen nicht mehr heraus. Tag und Nacht rollten Militärfahrzeuge, Panzer, Panzerspähwagen, Mannschaftswagen, Geländewagen, Jeeps etc. in der Nähe unseres Hauses vorbei, ohne dass irgendjemandem etwas angetan wurde. Wir schlichen uns durch die Entwässerungsgräben der umliegenden Felder, um möglichst ungesehen in die Nähe der Straße zu kommen. Wir wurden jedoch bald entdeckt und ein amerikanischer Soldat nahm uns mit seinem Gewehr ins Visier. Jetzt waren wir ertappt und wagten nicht davonzulaufen. Ein kurzes Heranwinken änderte die Situation, und für unseren Mut bekamen wir eine große Tafel Schokolade. Das war ein Hochgefühl in dieser Zeit, und wir hatten neue Freunde gewonnen.

Die große Enttäuschung folgte etwa Mitte Juli 1945. Die amerikanischen Truppen, vor denen wir keinerlei Scheu mehr hatten, zogen in entgegengesetzter Richtung wieder ab … und russische Soldaten tauchten auf. Sie saßen auf kleinen Panjewagen, die von Panjepferden, gezogen wurden. Die meisten von ihnen waren angetrunken. Die drei Wohnhäuser an der Brikettfabrik bekamen erneut Hausbesuch, diesmal von drei Uniformierten zu Pferde. Ihr Hauptinteresse: Schnaps. Mein Vater konnte mit Händen und Füßen klar machen, dass er versuchen werde, vom Nachbarn einige Flaschen Obstwein – Marke Eigenbau – zu besorgen, die er schließlich aus unserem eigenen Keller holte. Das kam gut an. Eine Flasche davon wurde sofort ausgetrunken und die Eindringlinge zogen aus den drei Häusern wieder ab. Beinahe wäre einer der unbequemen Hausbesucher die Treppe hinuntergestürzt. Mein Vater konnte ihn zu unser aller Glück gerade noch auffangen und damit größeres Unheil vermeiden. Richard fragte verwundert seinen Vater: „Warum hast du ihn nicht hinuntergeschubst?“

Die folgenden Tage waren auch für uns Kinder voller Überraschungen. An öffentlichen Gebäuden und Plätzen und über vielen Straßen tauchten plötzlich Spruchbänder auf, um die „Rote Armee“ zu begrüßen und den großen Führer der Sowjetunion, Josef Stalin, zu preisen. Diese Ausstaffierung ging so blitzschnell vor sich, das Propagandamaterial musste bereits irgendwo in der Schublade gelegen haben, und das offensichtlich auch bei unserem Nachbarn, der Mitarbeiter in der Brikettfabrik war. Er entpuppte sich auch bald als überzeugter Kommunist und trug dazu bei, dass unser Vater seinen Arbeitsplatz verlor. Denn als Führungskraft war er Mitglied der NSDAP, wohl eher aus Notwendigkeit als aus Überzeugung. Als Kinder waren wir noch zu jung, die Ausmaße des Umbruchs zu erkennen und erst recht nicht, etwa an dem korrekten Verhalten des Vaters zu zweifeln oder dieses infrage zu stellen.

Dagegen verletzte der Verlust des Arbeitsplatzes unseres Vaters unser Gerechtigkeitsgefühl, zumal dieser Nachbar uns schon immer sehr unsympathisch war. Wir mussten Rache nehmen! In der Dunkelheit – so blieben wir unentdeckt – schlichen wir uns an sein Haus heran. Dann nahm der Große den Kleinen auf die Schultern, um an die Fenster heranzukommen und mit einem Messer die nach einem Luftangriff frisch eingesetzten Glasscheiben auszukitten, die bei der nächsten Öffnung aus dem Rahmen fliegen sollten. Wenn das unser Vater erfahren hätte!

Die Reparatur unseres Wohnhauses konnte nur notdürftig durchgeführt werden. Trotzdem hatten wir bald eine Zwangseinquartierung einer deutsch-rumänischen Familie zu akzeptieren, mit der wir uns eigentlich recht gut verstanden.

In dieser Nachkriegszeit herrschte Mangel an allem. Auch wir Kinder waren häufig unterwegs, um etwas Essbares aufzutreiben. Dazu gehörte vor allem die Nachlese der von den Bauern abgeernteten Rüben- und Kartoffelfelder, die häufig überfallartig und manchmal vor der Freigabe durch die Bauern von den ungeduldig Wartenden regelrecht gestürmt wurden. Wir Kinder konnten uns nur dadurch behaupten, dass wir mit unserer Hacke so extrem ausholten, dass unsere Konkurrenten links und rechts neben uns – meist waren es Frauen –, aus Angst verletzt zu werden, nach hinten ausweichen mussten. So dicht war die Menschenkette. In kürzester Zeit fand man auf dem Feld keine einzige Kartoffel mehr!

Wiederholt fiel auch die Schule aus. Kartoffelkäfer, die nach sowjetischer Propaganda der „böse“ Amerikaner abgeworfen hatte – keiner wollte es glauben –, sollten abgelesen werden. Wenigstens gab es bei dieser Gelegenheit stets eine dicke „Fettbemme“, der sächsische Ausdruck für eine Brotschnitte mit Schweineschmalz. So hatte sich der Einsatz auch dann schon gelohnt, wenn wir nur ganz wenige von diesen Krabbeltieren gefunden haben.

Etwa drei Monate nach dem Rauswurf fand unser Vater wieder eine Anstellung als Baggerführer in einem Braunkohlentagebau. Zwischenzeitlich musste er Massengräber von Kriegstoten freilegen. Darüber wollte er nicht sprechen. Der beißende Geruch seiner Kleidung hat ihn jedoch verraten.

Endlich die Erlösung. Im März 1947 Umzug in die Oberlausitz. Hier bekam unser Vater eine neue Chance als Leiter der Brikettfabrik Heye III, später Heide genannt, im Senftenberger Braunkohlenrevier. Eine heruntergekommene Fabrik war zu sanieren. In welchem Zustand sich diese einschließlich des Tagebaus befand, bekamen wir sehr schnell mit. Pro Woche ereignete sich mindestens eine Kohlenstaubexplosion. Unser Vater kam über längere Zeit nur noch zum Schlafen und zum Essen nach Hause. Das Telefon stand neben dem Bett. So konnte er morgens zwischen 5 und 6 Uhr bequem die ersten Telefonate – noch in horizontaler Lage – mit den Mitarbeitern der Nachtschicht führen.

Für uns Kinder handelte es sich um einen völligen Neuanfang, zugleich aber wiederum um die bereits bekannten Herausforderungen hinsichtlich des Schulbesuches. Erschwerend kam hinzu, dass wir wegen unseres breiten sächsischen Dialektes ständig gehänselt wurden. Davor schreckten nicht einmal die Lehrer zurück.

So war es gar nicht so einfach, neue Freunde zu gewinnen, zumal wir neben dem Schulbesuch ein recht umfangreiches Pflichtprogramm zu erledigen hatten, auf dessen Erfüllung unser Vater strikt achtete. Zu diesem Programm gehörten wie in der Vergangenheit hauptsächlich Tätigkeiten, die mittelbar oder unmittelbar dem Lebensunterhalt dienten.

Jeder hatte ein Stück Garten zu pflegen. Das begann im Frühjahr damit, etwa 5 Zentimeter Kohlenstaub und Sand – die Winterration aus der Brikettfabrik – vom Erdboden des Gartens abzutragen, damit überhaupt etwas angepflanzt werden konnte. Nahm das Unkraut auf dieser Fläche später überhand, wurde uns der Ausgang gesperrt, bis es beseitigt war. Als Düngemittel dienten neben Mist aus den eigenen Ställen Kuhfladen und Pferdeäpfel, die wir – damit es schneller ging – oft mit beiden Händen von der Straße aufklaubten. Sie stammten von den vielen Fuhrwerken, gezogen von Ochsen, Kühen oder Pferden, mit denen die Bauern der umliegenden Dörfer ihre Kohlezuteilung von der Brikettfabrik abholten. Das war ein regelrechter Wettbewerb zwischen den Kindern, wer als Erster an der meist noch dampfenden Quelle war!

Zuhause waren zwei Ziegen, etwa zwei Dutzend Hühner und die gleiche Anzahl Kaninchen zu versorgen. Die Ziegen mussten gemolken werden, alle Ställe waren zu reinigen und genügend Grünfutter musste herangeschafft werden. Bald reichte es nicht mehr, die Ziegen in den Wald zu führen, der dem Wohnhaus gegenüber lag. Dort gab es keinen grünen Halm mehr und die Blätter der Bäume waren bis in etwa zwei Meter Höhe abgefressen. Da blieben nur noch die an den Wald angrenzenden Felder für die Besorgung des Grünfutters übrig. Zwei Säcke pro Woche war das Minimum. Erwischt werden durften wir dabei nicht! Das verlangte einiges an Raffinesse. Zu zweit waren wir dabei im Vorteil, einer spielte den Beobachter und „Dirigenten“ vom Gipfel eines Baumes am Waldrand, der andere schlich sich in Bauchlage durch die Wiese, um an einer günstigen Stelle mit einer Sichel das nötige Gras oder den Klee zu schlagen und „einzusacken“.

Es kam auch vor, dass Bauern auf angrenzenden Feldern zu tun hatten, sodass die Aktion wiederholt verschoben werden musste. Kamen wir deshalb zu spät zum Abendessen, wurde die Ration gekürzt oder ganz gestrichen, eine Erziehungsmaßnahme unseres Vaters zur Pünktlichkeit!

Unsere Rache: Wenn wir Besuch im Hause hatten, ließen wir durchblicken, dass wir uns auf „Futterklau“ spezialisiert hatten! Übrigens haben wir das Abendessen meist doch noch bekommen. Wir hatten zum Glück eine umsichtige Mutter.

Zu unserer Aufgabe gehörte es auch, Tabakpflanzen zu pflegen und zu ernten sowie für den Eigenbau von Zigaretten für unseren Vater aufzubereiten. Das war äußerst mühsam. Jedes Blatt musste mehrfach in die Hand genommen werden. Nach der Ernte begann die Tortur mit dem Abwaschen des Kohlenstaubs von den Blättern, die anschließend zum Trocknen aufgehängt werden mussten, ehe sie später mittels einer Spezialvorrichtung in feine Streifen zu schneiden waren. Das Endergebnis haben wir natürlich auch selbst erprobt, und das ist uns beiden nicht so gut bekommen.

Taschengeld war für uns ein Fremdwort. Das mussten wir uns redlich verdienen. Pflücken und Sammeln von Waldbeeren und Pilzen sowie die bekannte Nachlese der von den Bauern abgeernteten Felder waren ein recht mühsames Geschäft. Verkalkuliert hatte sich unser Vater bei einer Belohnung von 50 Pfennigen für jede gefangene Maus in Keller, Dachboden oder Stall. Das war zunächst ein recht einträgliches Geschäft, zumal wir mit zusammen 20 Mausefallen bald pro Woche mehr als fünf Dutzend liquidierte Schädlinge präsentieren konnten. Daraufhin wurde der Obolus auf 10 Pfennige gekürzt. Dies empfanden wir als ungerecht, und es war für uns Anlass genug, nach Möglichkeiten eines Ausgleichs zu suchen. Wir konnten die Fangquote nochmals drastisch erhöhen. Zur Ausbeute mogelten wir nun auch Mäuse hinzu, die wir auf den gegenüber dem Haus liegenden Feldern mit dem Spaten erschlugen.

In diesen Jahren war es für uns Kinder selbstverständlich, dass jeder seinen Beitrag leistete, damit etwas zum Essen auf den Tisch kam. Dazu gehörten auch kleinste Fische, die wir mit Hilfe von Einmachgläsern in den abfließenden Gewässern der Karpfenteiche fingen. Sie wurden mit Kopf und Gräten von unserer Mutter in der Pfanne gebraten, dazu gab es auf der Ofenplatte ohne Fett gebackene Schalen von Pellkartoffeln. Für luxuriösere Produkte wie Milch, Quark und Fleisch musste bei den Bauern das Tafelsilber als Tauschobjekt herhalten, zumal die Zuteilung über Lebensmittelkarten mangelhaft war.

So war unsere Freizeit sehr knapp bemessen, was uns nicht so recht passte, zumal das Anlass für Lästereien unter den Freunden war. Das musste kompensiert werden, und wenn dann etwas „ausgefressen“ wurde, mussten wir uns gewöhnlich beweisen: zum Beispiel grüne Tomaten in offene Fenster werfen, die Nachbarhühner mit Pfeil und Bogen verscheuchen, Baggerloren, mit Abraum gefüllt, auskippen, Bedienungsgriffe einer Rangierbühne für Lokomotiven und Wagen der Reichsbahn von unten – und damit für den Bediener nicht sichtbar – mit Schmierfett verschmutzen.

Kreativität war besonders gefragt, wenn es um die Befriedigung unseres Bewegungsdranges ging. Fußball durfte nur barfuß gespielt werden. Die Schuhe mit Holzsohlen waren dafür nicht geeignet und dem Schulgang im Winter vorbehalten. Im Sommer ging man generell barfuß. Der Ball war ziemlich hart. Er bestand aus einem Wollknäuel, umspannt mit Gummiringen aus altem Fahrradschlauch. Zur Unterstützung der ersten Schwimmversuche in stillgelegten und gefluteten Kohlegruben, das war nicht ungefährlich, diente eine ausrangierte Holzschwelle eines Baggergleises. Für einen Hockeyschläger musste ein geeigneter Baum dran glauben.

Um unsere Fantasie anzuregen, war Karl May eine ideale Quelle. Zeit zum Lesen hatten wir allerdings nur in den Abendstunden, die bereits um 21 Uhr zu Ende sein sollten. Hier waren wir mit einer weiteren strikten Erziehungsregel unseres Vaters – der Schlaf vor Mitternacht ist der gesündeste – konfrontiert. Aber wir fanden Karl May noch spannender, wenn wir ihn mit der Taschenlampe unter der Bettdecke lasen! Ein Kinobesuch war auch für uns Kinder unter 16 Jahren am Abend nicht erlaubt, obwohl das Werkskino nur etwa 100 Meter von unserem Wohnhaus entfernt lag.

Richard (links) und Horst Böttge anlässlich des Grundschulabschlusses des Verfassers im Juli 1950

Die Währungsreform im Jahr 1948 sowie die Gründung der DDR am 7. Oktober 1949 waren Ereignisse, die uns Jungen noch relativ wenig interessierten. Wir waren wie alle unsere Freunde und Schulkameraden bei den Jungen Pionieren und später auch bei der FDJ. Irgendwelche Zweifel an dieser Mitgliedschaft hatten wir zu dieser Zeit nicht. Viele Menschen hatten die große Hoffnung, dass eine bessere Zukunft als all das in der Vergangenheit Erlebte doch möglich sein musste.

Noch nicht ganz 14 Jahre, begann mein Bruder Richard 1948 nach Abschluss der Grundschule eine praktische Lehre als Betriebsschlosser im Werk unseres Vaters, ich dagegen entschied mich zwei Jahre später für die Fortsetzung der schulischen Laufbahn.

Als sich die Ereignisse im Januar 1951 überschlugen, waren wir aufgrund der geschilderten Lebensumstände eher noch als Kinder einzuordnen.

MIT 16 JAHREN IN DEN ZUCHTHÄUSERN DER DDR

1951 – VERHAFTUNG, VERSCHLEPPUNG, FOLTERVERHÖRE UND VERURTEILUNG

Ein wichtiger Baustein der Ausbildung meines Bruders war der Besuch der Berufsschule im Ort Laubusch in der Lausitz. Ungünstige Verkehrsverhältnisse, dazu mangelnde Organisation der Stundenplanung sorgten wiederholt für Leerlauf. Die zeitweise Verlegung des Unterrichts in ein Jugendheim sollte am 12. Januar 1951 mehreren Jugendlichen, die eigentlich nur gegen einen arroganten Heimleiter protestieren wollten und dabei „über die Stränge schlugen“, zum Verhängnis werden. Dies hätte bereits durch das Eingreifen einer Pausenaufsicht verhindert werden können. Doch auch diese war wohl der Desorganisation zum Opfer gefallen.

Allein die Tatsache, dass mein Bruder bei dieser Aktion ein Leninbild mittels eines abgebrannten Streichholzes mit zusätzlichen Strichen am Bart versah, stempelte ihn offensichtlich mit gerade einmal 16 Jahren zum „Klassenfeind“! Die Volkspolizei, eingeschaltet von der Heimleitung, übergab noch am gleichen Tag (Protokoll vom 12. 1. 1951) den Vorfall an die Staatssicherheit, die meinen Bruder bereits kurz nach Mitternacht in einer Nacht-und-Nebelaktion aus dem Elternhaus abholte. Die aufgeregten Eltern wurden beruhigt, man müsse nur einige unüberlegte Handlungen von Jugendlichen in der Berufsschule aufklären, an denen auch ihr Sohn beteiligt sei. Er würde bereits am nächsten Tag wieder freikommen. Was für eine Lüge! Es folgte bald darauf eine Hausdurchsuchung bei unseren Eltern und die Beschlagnahme eines Kinderspielkastens zum Drucken sowie eines Sparbuchs mit einem Guthaben von 270 Mark, ausgestellt auf Richard Böttge.

Von nun an war mein Bruder spurlos verschollen. Weder er selbst noch die Eltern wurden über seinen Aufenthaltsort unterrichtet. Den Akten ist zu entnehmen, dass bereits am 13. Januar 1951 zwei – und nach Aussagen meines Bruders – zermürbende Verhöre stattfanden, zunächst durch die Stasi in Hoyerswerda. Das Vernehmungsprotokoll gibt überwiegend den Tatverlauf wieder. Zwischen den beiden Verhören findet der zweite Akt der Verschleppung statt, eine stundenlange Fahrt in der „Grünen Minna“, der Delinquent eingeklemmt in eine ungemütliche Sitzvorrichtung, die kaum irgendeine Bewegung und keinen Blick nach draußen zuließ. Wohin ging die Fahrt? Die Auskunft wurde verweigert. Das Ziel war Dresden, ersichtlich aus dem zweiten Vernehmungsprotokoll vom gleichen Tag. Während des zweiten Verhörs wurde mein Bruder zu Aussagen gezwungen, die er unter normalen Umständen nie gemacht hätte. Dabei hat man aus einem Jugendstreich eine politische Tat konstruiert und diese mit einer generellen Feindlichkeit der Familie gegenüber der russischen Besatzung und der DDR begründet. Ganz lapidar heißt es dann in einer Aktennotiz vom 18. Januar, die man zunächst als Entlassung interpretiert: an die Freunde abgegeben. Es ist nicht auszuschließen, dass dies auch eine gewisse Hilflosigkeit zum Ausdruck brachte, denn mit den „Freunden“ war die russische Besatzungsmacht gemeint.