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Bildnachweis

Alle Fotos (sofern nicht in der Bildunterschrift anders angegeben):

© Werner Gille

Hinweis

Die chinesischen Namen wurden so wiedergegeben, wie es im Deutschen in der Zeit der Kulturrevolution üblich war.

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www.herbig-verlag.de

© der Originalausgabe und dem eBook: 2016 F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Wolfgang Heinzel

Umschlagfoto: Werner Gille

Satz und eBook-Produktion: EDV-Fotosatz Huber/Verlagsservice G. Pfeifer, Germering

ISBN 978-3-7766-8239-7

Inhalt

Vorbemerkung

München, im Frühjahr 1967

»… wenn die Raben weiße Flügel haben«

Where East Meets West and West Meets East

»Ein Funke kann die ganze Steppe in Brand setzen«

Politischer Unterricht auf der Straße

Das Mädchen mit den weißen Haaren

Wandzeitungen und Staatspresse

Die Heimkehr der verlorenen Söhne

»Mit der einen Hand für die Produktion arbeiten, mit der anderen für die Revolution«

Sonderwünsche

Die vier alten Übel

Das Ideal der gegenseitigen Hilfe

Stumme Gedanken

Die Lange-Marsch-Gruppe der Roten Garde

Die Produktion eines neuen Bewusstseins

»Der Baum mag die Ruhe lieben, aber der Sturm lässt nicht nach«

Peking, 1. Mai 1967

Mauern nach außen, Mauern nach innen

Eine gemischte Arbeitskompanie

Zutritt verboten: Die Mausoleen der Ming-Kaiser

Im Nationalen Volkskongress

Stadtrundfahrt

Die Peking-Oper

Die Gleichschaltung der religiösen Gemeinschaften

Traktorenwerk Nr. 1

Schanghai

Xingye Lu 76

Das »Museum des Hasses«

Spießrutenlaufen

Antiquitäten

Hafenrundfahrt

Stille Stunden am Westsee

Schanghai – München

Nachwort

Bibliografie

Bildteil

Vorbemerkung

Tagebücher, Tonbandaufnahmen, Fotos, Gesprächsprotokolle, Notizen halfen mir, mich zurückzuversetzen in das China der Kulturrevolution. Ich hörte wieder die Lautsprecherdurchsagen, die Revolutionslieder, sah die demonstrierenden Massen, wurde als Deutscher angestaunt wie ein Wesen von einem anderen Planeten, erschrak vor fanatischen Appellen der jungen Rotgardisten an Schüler, Studenten, Arbeiter und Bauern, gegen Klassenfeinde kein Erbarmen zu zeigen, ließ mir von dem Kommandeur einer Propagandakompanie eine rote Armbinde mit der Inschrift »Freund des Volkes«, die mich vor Anpöbelungen auf den Straßen schützen sollte, über den linken Arm streifen, war begeistert von der leidenschaftlichen Hingabe des Balletts der Peking-Oper an seine Arbeit – und begann, meine Eindrücke und Erfahrungen so wiederzugeben, wie ich sie damals erlebt habe.

München, im Frühjahr 1967

Die »Große Proletarische Kulturrevolution« in China ist der Versuch, die Weltzustände total zu verändern. Sie bedeutet ein erfülltes Leben für die einen, Tod für die anderen. Gelingt die Revolution, setzt sie neue Maßstäbe für die Zukunft – misslingt sie, ist das Ergebnis das gleiche. Dass die Revolution »ihre Kinder frisst«, ist durch die Geschichte bewiesen, ebenso die Tatsache, dass sie eine Zeitenwende einleitet. Im Fall des Sieges zerstört sie die politischen Überzeugungen der Vergangenheit und vernichtet ihre Repräsentanten; scheitert sie, wird ihre Politik als blutiger Irrtum verurteilt, und die Revolutionäre werden als Verbrecher gebrandmarkt.

Lenin sagte kurz vor Beginn der Oktoberrevolution in St. Petersburg zu seinen Genossen: »Morgen gehört uns Russland, oder wir hängen an den Laternenpfählen.«

Ich möchte mich auf das einlassen, was in China geschieht; erleben, wie es zugeht, mich über Wasser halten in den Fluten der Gewalttätigkeiten, zur Ruhe kommen an einem Reisfeld, einem Flussufer, in einer nächtlichen Stunde; ich möchte begreifen, was die Worte Mao Tse-tungs für die Menschen bedeuten. Frei atmen inmitten einer Revolution, mich nicht fangen, nicht einschüchtern, nicht bestechen lassen. Zuhören, aufnehmen, festhalten, was geschieht – in Momentaufnahmen, in stunden- und tagelangen Beobachtungen. Die eigenen Überzeugungen nicht verleugnen, stumm bleiben, wo es sinnlos erscheint, sie zu erwähnen. Bilder sammeln für die Erinnerung, um beim Betrachten das einst Erlebte wiederzubeleben. Augenzeuge einer Revolution sein und dabei einen klaren Kopf behalten. Ist das möglich?

Wünsche sind das, Erwartungen, Gedanken vor einer Reise. Einer Reise nach Fernost, nach China, in ein China, das seine Vergangenheit zerstören will und auf dem Weg ist, sich eine neue, »von allem Alten gereinigte« Zukunft zu erbauen. Wird das gelingen, oder wird sich eines Tages herausstellen, dass die Revolution nur eine blutige Blase war, die am Ende zerplatzt? Es ist eine Kulturrevolution, die auch die uralte chinesische Kunst mitverantwortlich macht für den Luxus der Herrschenden auf Kosten des ohnmächtigen Volkes. Tabula rasa auf allen Gebieten des menschlichen Lebens.

Was nützen mir diese Gedanken im China so fernen München? Eine Antwort kann ich nur vor Ort finden. Wird es mir gelingen, eine Bresche in die chinesischen Mauern zu schlagen und ein Einreisevisum zu erhalten, und wenn ja, was werde ich sehen: eine von der Revolution zerstörte Zivilisation oder die »aufgehende Sonne der Hoffnung« für die bisher aller Hoffnung Beraubten?

»Lass dir nichts einreden, sieh selber nach«, dieser Satz von Bert Brecht weist in die richtige Richtung.

»… wenn die Raben weiße Flügel haben«

Um zu großen Erfahrungen zu gelangen, erzwingt das Leben oft mühselige Vorbereitungen. Meinen Wissensdurst nährten Geschichtsbücher, Forschungsberichte, asiatische Kunst, Musik, Bilder, Filme. Die bevorstehende Reise war meine erste nach Asien. Aufenthalte in Indien, Malaysia, Japan, Bhutan, Sibirien, Kasachstan, Usbekistan, in der Mongolischen Volksrepublik halfen mir, in der Fremde Fuß zu fassen. Sie haben mich beschenkt, aber auch beraubt um materielle Dinge, um Träume, die bei der Begegnung mit der Wirklichkeit erloschen – und mir neue Träume geschenkt.

Zuweilen hatte ich Bücher mitgenommen, um sie dort zu lesen, wo sie geschrieben wurden oder wo die Geschichten spielten. Sven Hedins Durch Asiens Wüsten las ich im Bayan-Bulak (dem »Tal der tausend Quellen«) am Rande eines Wüstengebirges und Mein Leben als Entdecker in der Universitätsbibliothek in Ulan Bator, der Hauptstadt der Mongolischen Volksrepublik. Von den Studenten wurde ich zuerst neugierig betrachtet, dann in Gespräche verwickelt. Ihr Hunger nach Informationen, nach Büchern aus dem Westen, ihre Fragen nach unserem Leben und warum ich, ein Westdeutscher, zu ihnen in die Mongolische Volksrepublik käme, berührten mich. Keine Belehrungen, nur Wissensdurst von diesen »Kindern der Steppe«. Hedins wissenschaftliche Erkenntnisse boten reichlich Stoff zum Nachdenken, doch weit mehr interessierten mich seine Abenteuer bei den Expeditionen ins Ungewisse, seine Hingabe an eine exotische, zuweilen fast unwirklich scheinende Fremde.

Meinen Traum von Indien zerstörten die Slums von Bombay und Kalkutta, er erfüllte sich beim Anblick des Tadsch Mahal bei Agra und führte mich zum »Pfad der Erkenntnis« bei der Lektüre von Rabindranath Tagores Gitanjali. Ich las es im »Indian Room« des »Great Eastern Hotel« in Kalkutta. Nur durch eine Tür, Zimmerwände, einen Gang getrennt – ich könnte auch sagen, abgeschirmt – von der internationalen Atmosphäre dieses Luxushotels. Männer aus »aller Herren Länder« in maßgeschneiderten Anzügen, Inderinnen in hauchdünnen Seiden-Saris, Europäerinnen, »perfekt gestylt« – jeder und jede unnahbar und doch höflich bei flüchtigen Begegnungen.

Nah, ganz nah dagegen waren mir die Gedichtzeilen Tagores:

An jeder fremden Tür muss der Wanderer pochen,

Eh er zu seiner eigenen kommt,

Durch alle äußeren Welten musst du wandern,

Bis du zuletzt im Heiligsten der Seele angelangt.

Ich brauchte nur wenige Schritte aus dem Hotel hinaus auf die Straße zu gehen, zu den Hütten der Unberührbaren an den Ufern des Ganges, den Elendsgestalten auf den Bürgersteigen, den um Reis und Rupien bettelnden Krüppeln, und schon war ich inmitten der Hungernden, der Rechtlosen, der orientierungs- und führungslosen Massen. Sie waren die Adressaten, an die sich Maos Appelle in Indien richteten.

Einige Jahre nach meinem China-Aufenthalt flog ich nach Japan. Bei einer öffentlichen Kundgebung des Literaturnobelpreisträgers Yasunari Kawabata hörte ich sein Urteil über die Kulturrevolution: Massenmord an der Kunst.

Kunst. Chinesische Kunst. Der holländische Kunsthistoriker Jan Fontein schreibt über die Kunst der Chinesen: »Sie ist die Kultur, die in der ganzen Welt die längste ununterbrochene Dauer aufweist…« (Propyläen Kunstgeschichte, Bd. 17, S. 14, Berlin 1968). Er schildert die Anziehungskraft, die Chinas Kunst auf Korea und Japan ausübte, und wie fremde Eroberer von der chinesischen Kultur überwältigt wurden und sich assimilierten. »Die Manchu kamen als fremde Eroberer … doch die Eroberer konnten sich auf die Dauer der Anziehungskraft der chinesischen Kultur nicht entziehen.« (a.a.O., S. 65). Auch im fernen Europa haben »große Geister des 18. Jahrhunderts Chinas wahre Größe wohl verstanden. Leibniz, der schon 1697 … die Auffassung vertrat, chinesische Missionare sollten nach Europa kommen … Voltaire, der … 1745 die Chinesen auf Kosten seines Vaterlandes pries« (a.a.O., S. 66).

Der chinesische Historiker und Politologe Kuo Heng-yü erklärt uns, dass in China seit Jahrhunderten »die Entwicklung des Neuen durch kritische Assimilation des Alten vorangeht … Dazu gehört auch die Nutzbarmachung ausländischer Errungenschaften.« (China und die Barbaren, S. 177).

Stand ich vor einem chinesischen Kunstwerk, wurde ich nie enttäuscht. Gemälde, Tuschzeichnungen, Porzellanvasen, Keramik, Jadeschmuck – alles war im Ausdruck vollkommen. Gemälde zeigten ein Bild der Natur, vollkommen dargestellt in einem Blütenzweig oder in einem Bambushain. In der Begegnung mit dieser uralten Kultur begriff ich, dass Europa nicht der geistige Mittelpunkt der Welt war (für den es sich jahrhundertelang hielt), sondern nur eine kulturelle und zivilisatorische Größe in einer globalen Welt.

Schwer vorstellbar, dass jetzt alles, was an das alte China erinnert, aus den Museen entfernt, vielleicht sogar zerstört werden sollte, verurteilt als volksfremde Kunst, entstanden zur Unterhaltung der Ausbeuterklasse, der Feudalherren, der kaiserlichen Generäle und ihrer Konkubinen.

China im Umbruch. Konnte es sein, dass auch diese Revolution nichts anderes bewirkte als Zerstörung, neues Elend, neuen Zwang? Wiederholte sich in China das, was Sergej Solowjow (1820-1879), Rektor der Universität Moskau, in seinem 29-bändigen Werk zur Geschichte Russlands über Revolutionen, Aufstände, Attentate und Umsturzversuche in seinem Land schrieb: »… dass den Guten die Hände verdorren, den Bösen aber freie Hand gelassen wird« und dass die Welt sich erst verändern wird, »wenn die Raben weiße Flügel haben«?

Edgar Snow, amerikanischer Journalist und Publizist, der 1936 den Bürgerkrieg in China miterlebte und 1960 fünf Monate kreuz und quer durch China reiste, gilt in West und Ost als China-Experte. Bedrückt von seinen Erfahrungen und den verheerenden gegenseitigen Missverständnissen, die in China über die USA und in den USA über China und Asien ganz allgemein herrschten, gibt er den Vereinigten Staaten einen großen Teil Mitschuld an den Zuständen in China. Aus der Sicht Pekings war der Korea-Krieg die Vorbereitung auf eine militärische Intervention in China und gehörte das amerikanische Stützpunkt-System in Asien zur Strategie der Einkreisung. Die Unterstützung Tschiang Kai-sheks und der konservativen Kräfte bestärkte die Kommunisten in ihrer Überzeugung, dass »die USA die Besitzenden bis zum Letzten unterstützen« würden. (Edgar Snow: Gast am anderen Ufer. Rotchina heute. 1961. Deutsche Ausgabe: München 1964. S. 720)

Nach Snow hätte Nordamerika den Sieg der Kommunisten zwar nicht verhindern können, eine Friedenspolitik hätte jedoch die »linken Thesen« von der Unbelehrbarkeit der Imperialisten und der die Politik Amerikas bestimmenden Macht des »militärisch-industriellen Komplexes« widerlegt und damit eine Änderung der maoistischen Politik eingeleitet. Amerika hingegen demonstrierte seine Macht, und China antwortete mit steigendem Nationalbewusstsein und der Radikalisierung des Kommunismus.

Bücher. Ich brauche sie wie die Luft zum Atmen. Die Autoren sprechen in ihnen auf sehr persönliche oder auf distanzierte Weise über sich selbst, über die Welt, über Liebe und Hass, über Krieg und Frieden – mit anderen Worten: über den Menschen. In Büchern nichtchinesischer Autoren über China suchte ich nach der Sicht des Außenstehenden auf das Leben der Menschen, die Geschichte, die Kultur eines für sie fremden Volkes. Ähnlich wie die Erkenntnisse dieser Autoren würden wahrscheinlich meine sein, da und dort verschieden, bedingt durch andere Sehnsüchte, Wünsche, Erfahrungen, doch im Grundsätzlichen nicht so weit weg von denen der anderen.

Was diese Autoren nicht miterlebt hatten, war eine Kulturrevolution. Um mich auf das, was noch nicht beschrieben worden war, vorzubereiten und China besser zu verstehen, las ich Klaus Mehnerts Peking und Moskau, von Gottfried-Karl Kindermann Konfuzianismus, Sunyatsenismus und chinesischer Kommunismus, Hellmut Wilhelms Gesellschaft und Staat in China. Zur Geschichte eines Weltreiches, das I Ging (Buch der Wandlungen), übersetzt von Richard Wilhelm, Plädoyer für Peking von Frank Thiess.

Genug der Lektüre. Ich wusste noch nicht einmal, ob ich das Einreisevisum erhalten würde. Es war an der Zeit, die dafür notwendigen Schritte zu unternehmen.

Um Rat und Unterstützung bittend, wandte ich mich an Wissenschaftler, Wirtschaftsführer, Journalisten. Nach ihren Erfahrungen wurden Einzelreisen nicht genehmigt, und auch Delegationen von Gewerkschaftsführern, Unternehmern und Gelehrten, die sowohl die Sowjetunion als auch die Volksrepublik China bevorzugten, erhielten nur in seltenen Ausnahmefällen ein Visum. Die Bundesrepublik Deutschland hatte keine diplomatischen Beziehungen zu Peking. Wer als Westdeutscher nach China reisen wollte, musste Kontakt mit der chinesischen Botschaft in der Schweiz in Bern aufnehmen.

Ob die Empfehlungsschreiben mir helfen würden, war ungewiss. Sie konnten auch das Gegenteil bewirken. Autoritär regierte Staaten sind zuweilen misstrauisch gegenüber Menschen, die sich informiert haben; Ahnungslose lassen sich leichter beeindrucken. Die chinesischen Botschaftsangehörigen nahmen die Schreiben zur Kenntnis. Mit keinem Wort zeigten sie, was sie über den Inhalt dachten. Meine Wünsche und Fragen hörten sie sich geduldig an, ein Ja oder Nein bekam ich nicht zur Antwort. »Wir werden Ihr Anliegen weiterleiten. Die Entscheidung wird in Peking getroffen. Sie werden alles rechtzeitig erfahren.«

Zu diesem Visum gibt es noch eine kleine Geschichte. Der Eintrag in die Rubrik »Beruf« bereitete mir einiges Kopfzerbrechen, denn Autoren und Journalisten war die Einreise verboten. Eingedenk der Tatsache, dass für Schriftsteller und Journalisten Papier zu ihrem Arbeitsmaterial gehört, schrieb ich dann kurz entschlossen »Papierkaufmann« in die entsprechende Rubrik, wohl wissend, welcher Gefahr ich mich damit aussetzte, aber ich wollte unbedingt in die Volksrepublik China. Im Land wurde ich dann einige Male in Papierfabriken geführt – das Erstaunen der Werkdirektoren und Arbeiter über meine Unwissenheit war nicht gering. Wahrscheinlich dachten sie, ich wolle bewusst nichts über die Papierproduktion in Westdeutschland erzählen oder »meine Regierung« hätte es mir verboten. Für mich war die Situation jedes Mal beschämend.

Nach knapp zwei Monaten, als ich schon fast nicht mehr damit gerechnet hatte, kamen das Visum und ein ausführliches Informationsschreiben. Es enthielt die Mitteilung, dass ich in Hongkong einer Delegation zugeteilt würde. Einzelreisen seien unüblich. Ich könnte jedoch jederzeit im Land Anträge auf Einzel-Unternehmungen stellen. Was ich tat und was gelang. In Hongkong solle ich Kontakt zu dem staatlichen chinesischen Reisebüro Luexingshe aufnehmen, dort würde ich alles Weitere erfahren. Ein Direktflug in die Volksrepublik China wäre für Fluglinien, die zu NATO-Staaten gehörten, untersagt. Sie dürften den Luftraum über China nicht überfliegen und nicht auf chinesischen Flugplätzen landen. Ich müsste von Hongkong aus einreisen. Es war vom ersten Moment an klar: Es ging nach ihren Vorstellungen oder es ging überhaupt nicht.

Was mir gewährt wurde, war vielen anderen versagt geblieben. So war zum Beispiel nicht nur für Journalisten und Schriftsteller, sondern auch für Politiker, Offiziere und Geistliche aus Westeuropa die Volksrepublik ein verbotenes Land. Warum ich ein Visum für einen Aufenthalt im kommunistischen China erhielt, ist mir bis heute unklar.

Vielleicht habe ich einfach nur Glück gehabt? Vielleicht wollten sie zeigen, dass es tausend Verbote gab, wenn es ihnen aber opportun erschien, sie eines davon plötzlich ohne Begründung außer Kraft setzten? Vielleicht hofften sie auch, damit ein vorsichtiges Zeichen dafür zu geben, dass ihr Land nicht so verschlossen war, wie es den Anschein hatte, und sie bereit waren für vorerst inoffizielle Kontakte zum Westen.

Meine Frau Eva begleitete mich zum Flughafen. Nachdem alle Formalitäten erledigt waren, gingen wir zur Passkontrolle. Sie blieb stehen, ich passierte. Nach einigen Schritten drehte ich mich zu ihr um. Sie trug ein weißes Kostüm, um den Hals einen hellroten Seidenschal, mit ihm winkte sie mir. Ich werde diesen wehenden Schal nicht vergessen. Wir wussten beide nicht, wann wir uns wiedersehen würden.

Die Lufthansa-Maschine stand startbereit auf der Rollbahn. Ich verstaute mein Handgepäck, setzte mich, Fensterplatz. Dann war es so weit. »Bitte anschnallen – fasten seatbelt …« Das Flugzeug raste über die Startbahn, hob ab, flog. Destination: Hongkong.

Vier Monate später berichtete ich dem damaligen Bundesfinanzminister Franz Josef Strauß von meinen Erlebnissen in China. Er hatte mich in seine Wohnung eingeladen, das Gespräch dauerte eine Stunde. Wir tranken Kaffee – es war das erste und einzige Mal in meinem Leben, dass mir ein Minister Kaffee einschenkte.

Strauß hörte aufmerksam zu, fragte in Anspielung auf den bayerischen Löwen, ob der steinerne Löwe in Peking noch in der Verbotenen Stadt stände, erkundigte sich nach dem Funktionieren der Kollektive, dem Patriotismus der Chinesen, der Zustimmung der Bevölkerung zu Maos Politik und wollte wissen, was ich im Lande über die politische Lage zwischen der Volksrepublik China und der Sowjetunion erfahren hätte. »Eine deutsche Ostpolitik darf nicht in Moskau enden«, sagte er. »Sowohl China als auch Westeuropa sind von Moskau her gefährdet. Wir müssen das Fenster zu China öffnen. Dann wird manches hereinkommen, was wir nicht wollen. Aber damit werden wir fertig – und frische Luft hat noch niemandem geschadet.«

Als ich erwiderte, dass die Chinesen von der Sowjetunion als dem »russischen Polarbären« sprachen, lachte er. »Wir haben keine Grenzprobleme mit China, es gibt keine chinesischen Besatzungstruppen in Deutschland, das kommunistische System missfällt uns, aber vor dem chinesischen Volk habe ich großen Respekt. Ich hätte nichts gegen gute Kontakte mit China einzuwenden.«

Im Jahr 1975 flog Franz Josef Strauß als erster westdeutscher Politiker nach Peking und wurde von Mao Tse-tung empfangen.

Where East Meets West and West Meets East

Bei Fernflugreisen gönne ich mir zuweilen den Luxus, nach einer Zwischenlandung nicht sofort weiterzufliegen, sondern einige Tage im Lande zu bleiben. Den langen Flug nach Hongkong unterbrach ich in Istanbul und Karachi. Langsam wollte ich mich meinem Reiseziel nähern, wollte spüren, welche riesigen Entfernungen zwischen Europa und Asien zu überwinden sind, welche unendliche Vielfalt zu entdecken ist, und wenigstens eine Ahnung davon bekommen, welche Strapazen Forscher, Abenteurer, Entdecker in den vergangenen Jahrhunderten auf dem Landweg überwinden mussten, ehe sie oft nach Jahren ihr Ziel erreichten.

Ich reise, um zu lernen. Ich urteile nicht, sondern versuche zu verstehen. Zuhören, verstehen wollen, soweit es möglich ist, mit den Menschen leben und nicht abseits von ihnen, war das Konzept, das sich bewährte.

So stieg ich bei der Ankunft auf dem Flughafen Kai Tak in Hongkong nicht in ein Taxi, sondern in eine Rikscha. Ich wollte im Schritttempo ins Hotel kommen und nicht möglichst schnell durch unbekannte Straßen rasen. Der Rikscha-Mann sagte »hang hau«, »sehr gut«, als ich ihm mein Hotel nannte. Das waren die ersten chinesischen Worte, die ich auf chinesischem Boden vernahm. Ich hörte Straßenlärm, Musik aus öffentlichen Lautsprechern, eine nicht fassbare Woge menschlicher Laute, blickte auf Schriftzeichen, die ich nicht lesen konnte, auf lateinische Buchstaben, die auf Englisch Auskunft gaben, worum es sich handelte, sah bunte Fassaden, Geschäfte, Verkaufsstände, Wohnblocks, Menschen. Männer, Frauen, Kinder, Greise, gut gekleidet, ärmlich, korrekt, nachlässig, sportlich. Eine in unablässiger Bewegung befindliche Menschenmenge, Chinesen, nur wenige Europäer. Ob darunter auch Amerikaner waren, wusste ich nicht. Ich übernahm die Bezeichnung »Europäer« instinktiv für alle Weißen. Wie ich später erfuhr, war das in Hongkong üblich.

Ich sah auf den gebückten Rücken, die trappelnden bloßen Füße, den fast kahlen Hinterkopf des Rikscha-Kulis. Bei dem Wort »Kuli« stockte mir der Atem. Aber ich hatte meine Bedenken, mich von einem Kuli ins Hotel fahren zu lassen, niedergekämpft. Diese Menschen leben davon, dass man ihre Dienste in Anspruch nimmt. Wortreiche Erklärungen von Menschenliebe und Verachtung für die gesellschaftlichen Zustände, die sie zwingen, diese Arbeit zu leisten, um sich und ihre Familie ernähren zu können, nützen ihnen nichts.

Noch ahnte ich nicht, dass ich eine Woche vor mir hatte, die zu den eindrucksvollsten meines Lebens gehört. In dieser chinesischen, britisch verwalteten Stadt begegnet Asien Europa und die westliche Welt China. Vielfalt auf allen Gebieten. Neben christlichen Kirchen buddhistische Tempel, neben muslimischen Moscheen Synagogen, neben Lasterhöhlen Gärten der Meditation, neben Großbanken Armenküchen für Obdachlose; neben Luxusrestaurants Menschen, die in Abfalltonnen nach Essbarem suchen; neben Wohnblocks, in denen zweitausend Menschen nur einen schäbigen Schlafplatz haben, Luxusvillen; neben eleganten Geschäften ausgemergelte Gestalten, an der Bambuslatte auf ihren Schultern ein paar Früchte befestigt, die sie verkaufen wollen; neben Luxusdampfern Dschunken; neben Agenten und Auslandskorrespondenten, die ihre Treffpunkte im »Peninsula«-Hotel oder im »Mandarin Oriental« haben, Hunderttausende von Touristen »who stayed an average of 3,9 days«. (Hongkong Report of the Year. 1967)

Im Hotel angekommen, rief ich Eva in München an und wartete in meinem Zimmer etwas länger als eine Stunde, bis die Verbindung hergestellt war. Das »China Travel Office Luexingshe« erreichte ich sofort, wurde willkommen geheißen und gebeten, am nächsten Tag in das Büro zu kommen.

Der Empfang war ausgesprochen herzlich. Ich hatte den Eindruck, dass mir von der Angestellten Li-yen die Fragen von den Augen abgelesen wurden, bevor ich sie gestellt hatte. Sie brachte mich mit höflichen Fragen, Rückfragen, Zwischenfragen, aufmerksamem Zuhören und nur dann und wann einen Satz über ihre Arbeit sagend ins Erzählen, sodass ich richtig in Schwung kam und wahrscheinlich mehr sagte, als ich es bei einem sachlich geführten Gespräch getan hätte. Wie sie meine Worte aufnahm, war ihr nicht anzumerken. Sie blieb gleichbleibend freundlich, schenkte mir ab und zu eine Tasse Tee ein und erklärte mir schließlich, was sie an Deutschland und den Deutschen bewunderte. Das war für mich völlig überraschend, aber es war Balsam auf meine »nationale Wunde«. Zu oft hatte ich das Gegenteil erlebt.

Hier, in diesem touristischen Stützpunkt der Volksrepublik China in der britischen Kronkolonie Hongkong, wurde ich vom ersten Augenblick an mit offenen Armen empfangen und als »Freund des chinesischen Volkes« begrüßt. Fast beiläufig wurde erwähnt, dass ich so viel Geld in ausländischen Währungen nach China mitnehmen könne, wie ich wolle, jedoch keinen einzigen Yuan (1 Yuan = DM 1,60); dass ich am 20. April um acht Uhr vormittags in meinem Hotel abgeholt und zusammen mit vier anderen Deutschen (drei Herren, eine Dame), aus denen die »Delegation« bestände, von einem Mitarbeiter von Luexingshe begleitet an die Grenze gebracht werden würde. Meinen Koffer könne ich in meinem Hotelzimmer lassen, er würde für mich nach Kanton transportiert und dort bei meiner Ankunft für mich bereitstehen.

Meinen Wunsch nach Einzelunternehmungen werde man, so gut es ginge, berücksichtigen, doch werde es mich sicherlich nicht stören, bei Mahlzeiten, Fabrikbesichtigungen, Theateraufführungen mit den anderen zusammen zu sein. An jedem Ort seien freie Tage und freie Vor- oder Nachmittage eingeplant, jeder könne dann seine Wünsche äußern.

Ich hatte einige Erfahrungen darin, mich bei von Betreuern begleiteten Reisen seitlich in die Büsche zu schlagen, und hoffte, dass es auch diesmal gelingen würde.

Li-yen wechselte das Thema und empfahl mir, chinesische Gerichte nur mit Stäbchen zu essen, dann schmeckten sie besser, und erwähnte beiläufig, dass in China jährlich achtzig Kilogramm Reis pro Person verzehrt würden. »Achten Sie darauf: Reiskörner müssen wie Perlen auseinanderfallen und leicht wie Blütenschnee vom Pflaumenbaum sein.«

Hätte ich noch Vorurteile gehabt, spätestens in diesem Moment hätten sie sich in nichts aufgelöst. Nur das Mao-Porträt hinter ihr passte nicht so recht in dieses Vorgespräch, das eher einer Plauderstunde ähnelte und das ich mir ganz anders vorgestellt hatte.

Dann bat sie mich, ihren Landsleuten auf dem Festland (in Hongkong sprach niemand von »Rotchina«) vorurteilsfrei und ohne Argwohn zu begegnen. »Wir gehören zu den ehrlichsten Völkern der Welt. Geld bedeutet uns nicht viel. Wir fühlen uns alle als Mitglieder einer großen Gemeinschaft. Deshalb ist es auch nicht so wichtig, welche Position man einnimmt, wichtig ist, dass man dazugehört und das leistet, was man leisten kann, und das nicht für sich selbst, sondern für die Gemeinschaft. Einen Tourismus gibt es in China praktisch nicht, und so werden Sie vielleicht manchmal unzufrieden sein. Bitte vergleichen Sie nicht mit Ihrem Heimatland oder mit Hongkong. Jeder Chinese wird sich Mühe geben, Ihnen den Aufenthalt in unserem Lande so angenehm wie möglich zu machen. Wenn es mal nicht klappt, verlieren Sie nicht die Geduld. Es heißt bei uns: ›Ein Mensch, der die Beherrschung verliert, verliert sein Gesicht.‹«

Sie strahlte mich an, und ich begriff, dass sie mir sagen wollte, wie ich mich zu verhalten hatte, und dass es von mir abhinge, was die Chinesen über »den Deutschen in ihrem Land« denken würden.

Schließlich erfuhr ich noch, dass ein Brief nach China aus Westdeutschland sieben Tage dauere und dass es nicht möglich sei, von China aus nach Hause zu telefonieren. Post für mich müsse an »Luexingshe, China Travel, Peking« adressiert werden, da die Hotels, in denen ich wohnen würde, vorher nicht festgelegt seien. Ebenso sei es mit der Reiseroute. »Aber seien Sie unbesorgt, Luexingshe weiß, wo Sie sind. Wir senden Ihnen Ihre Post nach und übermitteln Ihnen jede für Sie wichtige Nachricht.«

Ich war vollkommen von ihnen abhängig. Das gehört zu den Erfahrungen dieser Reise. Das Gespräch war zu Ende. Die hübsche, junge, fließend Englisch sprechende Chinesin gab mir die Hand, zeigte auf das Mao-Porträt an der Wand: »Mao Tse-tung sagt: ›Einmal sehen ist besser als zehnmal hören.‹«

Die Frage blieb: Was bekomme ich zu sehen? Aber auch Einschränkungen und Verbote sprechen ja eine klare Sprache. Und dann gab Li-yen dem Gespräch noch einmal eine Wendung ins Private: »Schreiben Sie mir ein paar Zeilen, wenn Sie wieder zu Hause sind? Darüber würde ich mich freuen.«

Ich trat hinaus auf die Straße, ließ mich mitnehmen von der Menschenmenge, und es schien mir, als sei keine Stadt bunter, lebhafter, von Menschen vollgepfropfter als Hongkong. Menschen, eingepfercht auf einer Fläche von etwa tausend Quadratkilometern, zwischen Hochhäusern und Gassen, Schlupfwinkeln, Wohnlöchern und Wohnkasernen, glanzvollen Gebäuden und Elendsquartieren, in Dschunken lebend oder in Luxusvillen. Hongkong hat rund vier Millionen Einwohner, zu denen Tausende von Flüchtlingen gehören. Die meisten kamen aus Korea, Kambodscha, Vietnam, China. Für Peking wäre es ein Leichtes, diese britische Bastion durch Grenzöffnung mit Flüchtlingen zu überfluten, der Kronkolonie die Wasserzufuhr zu sperren und die Lebensmittellieferungen (Reis, Gemüse, Obst, Fisch, Fleisch, Soja) einzustellen. Die Bewohner müssten dann hungern, denn was in der Stadt und im Hinterland an landwirtschaftlichen Produkten angebaut wird, reicht knapp für ein paar Hunderttausend Menschen.

Vieles ging mir durch den Kopf. Schon in den ersten Tagen wurde mir deutlich, dass Hongkong das perfekte Gegenbeispiel zum kommunistischen China war. Mühelos waren die politischen Unterschiede wahrzunehmen: hier das individualistische, auf sich selbst gestellte Leben des Einzelnen, auf der anderen Seite des »Bambusvorhangs« die totalitäre Herrschaft und die Einbindung des Einzelnen in ein Kollektiv.

In Gedanken versunken stehe ich plötzlich vor dem gigantischen Palast der »Bank of China« mitten in Hongkong Central. Sechzehn Stockwerke hoch und vom zehnten an aufwärts für jeden Fremden gesperrt. Die Bank verfügt über ein eigenes Funknetz, ein Kraftwerk, eine eigene, unabhängige Wasserversorgung und ein großes Vorratslager an Lebensmitteln. Eine kommunistische Festung im Herzen des kapitalistischen Hongkong. Von hier aus werden Pekings Interessen vertreten, Demonstrationen und Streiks organisiert, kleine Drohgebärden ausgesandt, die England daran erinnern sollen, dass China jederzeit das Leben der Kolonie drosseln kann. Die Briten reagieren gelassen. Sie sind davon überzeugt, dass Peking nicht »die britische Henne schlachtet, die auch für China goldene Eier legt«. Man schätzt, dass Peking etwa vier Milliarden Hongkong-Dollar abschöpft – das sind drei Viertel der 5,7 Milliarden, die China jährlich für seine Einkäufe im Westen ausgibt. Doch auch Großbritannien erwirtschaftet ansehnliche Gewinne. Mehr als zehn Milliarden Hongkong-Dollar beträgt das Importvolumen der Kronkolonie. Die Briten wollen sich diese Geschäftsbasis unbedingt erhalten. Es ist ihre letzte Bastion in Asien.

Bis zum Ende des 20. Jahrhunderts, an dem die Übergabe an China vertraglich festgelegt ist, hofft man in London, weltweit neue Märkte erschlossen zu haben. Bis dahin zu bleiben, um fast jeden Preis, zeigt auch die Stationierung von weiteren achttausend Soldaten und Offizieren, die den britischen Steuerzahler circa zweihundertfünfzig Millionen Hongkong-Dollar kostet. Großbritannien, dieses alte europäische Kolonial-Imperium, dessen Macht und Reichtum untrennbar mit der Eroberung und dem Erwerb riesiger Gebiete in Übersee verbunden sind, und die chinesische Volksdemokratie, die den Kolonialismus radikal bekämpft, leben hier Grenze an Grenze.

Beide Staaten beherrschen die Kunst des Sich-auf-den-Gegner-Einstellens. China protestierte gegen die Anwesenheit amerikanischer Kriegsschiffe im Hafen von Hongkong und deren »provokative Festbeleuchtung«. England verbot die Festbeleuchtung. Die Schiffe blieben, beide Seiten hatten ihr Gesicht gewahrt. Lächerliche Scharmützel. Versuche, die zeigen sollen, wie weit man gehen kann.

Ob die Rückkehr der Kronkolonie an das Mutterland 1997 ohne Blutvergießen erfolgt und ob China sein Versprechen hält, Hongkong einen Sonderstatus zu gewähren, weiß im Jahr 1967 niemand. Bis zum Ende der Pachtzeit sind es noch dreißig Jahre. Bis dahin heißt die Devise: Business as usual.

Zu diesem Business gehören auch die Millionen-Einnahmen, die aus dem Rotlichtmilieu in Hongkongs Amüsiervierteln nach China fließen. Ich werde einen Blick hineinwerfen und weiß, dass es nur ein Blick sein wird. Die Welt der Suzie Wong, der Weltbestseller des Autors Richard Mason, und die Filmadaption des Buches sind auch auf mich nicht ohne Wirkung geblieben. Eine sentimentale Geschichte von der Begegnung eines jungen Amerikaners mit einer hübschen chinesischen Prostituierten, die erst zugibt, in was für einem Milieu sie arbeitet, als er ihr dort begegnet. Eine Begegnung, die sich zu einer Liebesbeziehung entwickelt, die beide völlig in ihren Bann schlägt und doch ohne Happy End ausklingt. Vor allem der Film hatte mehr als nur einen Kratzer an der Oberfläche meines Empfindens zurückgelassen. Seine Spuren verblassten mit der Zeit, doch jetzt, am Ort des Geschehens, waren sie wieder urlebendig.

Im »Poor Man’s Nightclub«, der mit einem Nightclub nichts zu tun hatte, sondern ein Treffpunkt der Armen war, der menschlichen Wracks, der Verlorenen, die abends unweit der Fähre nach Macao ein bisschen Zuspruch suchten, billige Mahlzeiten, und bettelarmer Frauen, die für einen Teller voll Reis, ein paar Happen Fleisch und Gemüse mit einem Mann gingen, sollte meine »Entdeckungstour« beginnen. Die »glamour girls« in den Luxus-Etablissements im Wan-Chai-Viertel mussten warten. Ich ging nicht vom Glanz zum Elend, sondern vom Elend zum Glanz. Hatte ich eine Scheu davor, zu denen, die in der Gosse gelandet waren, zum Schluss zu gehen? Fürchtete ich, diese Eindrücke nicht mehr loszuwerden? Ich wusste es nicht. Ich folgte eher einem Impuls als einer klaren Überlegung.

Ich spürte sofort, dass ich Misstrauen erregte, nahm daher einen Kocher und eine Pfanne in die Hand – denn in »Poor Man’s Nightclub« bereitete der Gast sein Essen selbst zu –, häufte Reis, Bambusschoten, klein gehacktes Hühnerfleisch darauf und setzte mich auf einen Holzschemel am Rinnstein. Um mich herum lautes Schmatzen, Worte, die ich nicht verstand, dann und wann spuckte einer der Kauenden auf die Straße. Eine alte, ausgemergelte Frau hielt mir ihre leere Pfanne vors Gesicht. Ich stand auf, füllte sie mit Essbarem. Sie nahm sie, kauerte sich auf den Boden, aß langsam Bissen um Bissen, ohne einmal aufzublicken. Die Straßensteine waren schwarz vor Dreck, die Kleidung der hier auf billige Nahrung Hoffenden bestand aus Fetzen, zusammengenähten Stoffresten. Viele waren barfuß, einige trugen ausgelatschte Sandalen oder Bastschuhe. An dem Haus, in dem der Chef agierte, war der Putz abgeblättert. Ab und zu kam er heraus, mit müden Augen, eine schmutzige Schirmmütze auf dem Kopf. Er sah mich an, ohne eine Miene zu verziehen. Er stand nur da und blickte unverwandt auf mich. Und ich hatte plötzlich das Gefühl, in eine Welt einzudringen, in der ich nichts zu suchen hatte, in der ich ein unerwünschter Eindringling war, den Neugier hierhergeführt hatte und – ein Blick auf meine Kleidung genügte – der den anderen ihr Elend nur umso bewusster machte. Ich sagte ein paar Worte, legte ein paar Hongkong-Dollar auf den Schemel und ging. Für diese Art von Abenteuer war ich nicht hart genug.

Einige Schritte weiter am Kai entlang, und ich war inmitten einer Ansammlung von Verkaufsständen, wurde angesprochen, beobachtete einen Moment das Treiben, Feilschen, Kaufen und Verkaufen, winkte einem Taxi und sagte zu dem Fahrer: »Ocean Club. Wan Chai.«

Er fing sofort an, mir eine Anzahl von Massagesalons, Oben-Ohne-Bars und »beautiful girls« in privater Umgebung zu empfehlen, zu denen er mich fahren könnte. »Ich habe eine Verabredung, die ich einhalten muss«, erwiderte ich, um weiteren Überredungsversuchen aus dem Weg zu gehen. Er nickte, schwieg und hielt nach einer rasanten Fahrt durch das nächtliche Hongkong unweit des »Ocean Club«. Für eine Minute blendeten mich die roten, weißen, blauen Lichter an der Hauswand, dann war der Augenblick des Zögerns überwunden. Ich ging durch die Drehtür eine Treppe hinauf und sah durch eine Glastür einen riesigen Ballsaal, hell erleuchtet, mit einer großen Anzahl von Tischen, an denen jeweils vier Frauen saßen. Ein Kellner öffnete mir die Tür, führte mich an einen Platz unweit der Tanzfläche, stellte mir ungefragt eine Portion Tee auf den Tisch und legte eine Liste mit sechs eng bedruckten Blättern daneben. Auf ihr waren die Namen der Hostessen vermerkt, ihre Sprachkenntnisse – Chinesisch, Englisch, Japanisch oder auch Chinesisch und Englisch, Japanisch und Englisch. Neben jedem Namen stand eine Nummer, und auf einem winzigen Foto waren die Mädchen abgebildet.

Eine Tanzkapelle spielte einen Slowfox, während meine Augen über die Tische schweiften. Eine junge, zierliche Chinesin mit hochgesteckten Haaren, silbernen Ohrringen, in einem hauteng anliegenden Cheongsam (Seidenkleid mit gestärktem Kragen und einem langen, bis zum Oberschenkel reichenden Schlitz an der Seite), lächelte zur mir herüber. Ich lächelte zurück, schaute auf ihren Namen, ihre Nummer daneben und sagte zu dem Kellner: »Miss Li-Fung, Nr. 28, bitte.« Er verneigte sich: »Sie haben eine hervorragende Wahl getroffen.« Dann informierte er mich über die finanziellen Bedingungen dieses Abends: Tischgebühr pro Stunde zwanzig Hongkong-Dollar, Tanzen oder Gespräche je fünfzehn Minuten zehn Dollar. Um zwei Uhr nachts werde der Club geschlossen. Was die »dancing girls« danach machten, sei ihre Angelegenheit, wolle ich jedoch vorher mit einer von ihnen weggehen, müsse ich den Ausfall an Zeit bezahlen, die der Club durch ihren vorzeitigen Aufbruch verliere. »Das sind pro Stunde dreißig Dollar, jede angefangene Stunde wird voll berechnet.« Es war nur eine höfliche Floskel, als er hinzufügte: »Ist das für Sie in Ordnung, Sir?«