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Für Christina, die mich schon seit über zehn Jahren drängt, diese Geschichte endlich zu Ende zu erzählen – und für Timothy

Inhalt

There’s no success like failure – and failure is no success at all

Ein Vorwort

Schau doch einmal, wer dieser Herr Kahn war

Timothy, der Lehrer

Der Engel verschwand nicht, er saß dort im Schatten und betrachtete mich erstaunt

Ernst, der Schriftsteller

Er war schwarz angezogen und hatte knallrot geschminkte Lippen

Anna, Bekannte für einen Augenblick

Wir waren nie eng oder brüderlich befreundet. Auch nicht brüderlich verfeindet

Robert, der Bruder

Ich glaubte mit meinen zweiundzwanzig Jahren, dass man mit der Liebe alles heilen kann

Belinda, die Witwe

Wir waren befreundet wie Schiller und Goethe, klassisch. Dennoch war sein Tod eine Erleichterung

Franz, der Freund

Er war seiner Zeit weit voraus. Im Grunde wollte er wohl ein neuer Franziskus werden

Veronika, die Nachbarin

Er kam zur theologischen Arbeit weiß gepudert. Und hatte wohl auch schon was getrunken

Gustav, der Kompagnon

Er verlangte das Unmögliche von den Menschen. Er selbst aber tat, was er wollte

Albert (Dr. Magnus), der Meister

Er sagte, wo meine Freunde keinen Platz haben, habe ich auch keinen Platz. Dann ist er weg

Marianne, die Ärztin

Die Sünde will den Teil, den sie will, und reißt ihn heraus. Gott liebt das Ganze in jedem einzelnen Teil

Walther, der Dichter

Wenn ich auf 1951 zurückschaue, fühle ich mich heute ja fast schon an prähistorische Zeiten erinnert

Joseph, der Kaplan

»Simple twist of fate« – wenn das Schicksal sich ganz einfach dreht

Bob, der Sänger

Stellen vier Zeugen ein Geschehen exakt identisch dar, muss man unbedingt misstrauisch werden

Matthäus, der Richter

Nicht mitzuhassen, mitzulieben bin ich da

Sophokles, der Heide

Schreibt alles auf, was geschehen ist

Raphaёl, der Erzengel

Textnachweis und Anmerkung

Danksagung

»Einen Engel erkennt man immer erst,
wenn er vorüber gegangen ist.«

Martin Buber

There’s no success like failure – and failure is no success at all

Ein Vorwort

Mein Leben besteht aus Missverständnissen. Meine Frau mag nicht, dass ich davon spreche. Sie geniert sich immer noch sehr deswegen. Doch es muss ihr ja keiner verraten, wenn ich jetzt, da ich alt bin, zumindest vom vielleicht größten dieser Missverständnisse erzähle und wie es sich aufgelöst hat. Das ist die Geschichte eines Engels. Zuerst hatte ich ihn für eine Art katholischen Kabbalisten gehalten, später für einen frühen frommen Freak, dann für einen Nichtsnutz. Doch er war ein Engel.

Wenn ich die Augen schließe und an ihn denke, fallen mir Rosmarin und Lavendel ein. Die Erinnerung verleiht mir Flügel. Ich sehe die Steine Jerusalems vor mir, greife in einen blau blühenden Busch vor der Stadtmauer, zerreibe die harzigen Nadeln zwischen den Fingern und rieche daran. Ich lege den Kopf in den Nacken, und es ist sonnenhell. Glück durchströmt meine Beine, die nicht mehr so gut laufen können wie damals, als ich noch hinter ihm her die Hügel über dem Fluss hinauf und hinab lief. Es war ein langer Weg, der mich weit weg geführt hat, am Ende zu einer Entdeckung, von der ich später berichten werde. Zuerst aber muss ich ein wenig von dem Weg erzählen, der mich dorthin geführt hat.

Nennen Sie mich deshalb heute einmal Tobias, auch wenn ich nicht so heiße. Sie werden noch verstehen, warum. Denn bis auf den Namen Joseph Ratzingers und anderer Päpste, den Namen eines alten Dichters, und einiger Figuren der öffentlichen Zeitgeschichte habe ich in diesen Aufzeichnungen die Namen des wichtigsten Personals, das im folgenden Drama auftreten und agieren wird, vollständig verfremdet. Denn dieses Buch ist keine Belletristik oder Literatur und damit eine Erfindung, wie viele vielleicht denken mögen. Es ist keine Phantasie. Es ist ein Sachbuch. Mit anderen Worten: Die Sache ist wahr.

Ich bin 1948 geboren, drei Jahre nach Europas Mord an den Juden. Die Tyrannei war vorbei. Auch der große Krieg. Deutschland in Trümmern, bis auf unser Dorf, das nur eine – wohl versehentliche – Bombe abbekommen hatte. Friede war. Ich wurde groß wie ein verträumter kleiner Prinz. Mein Reich: ein Fenster zum Hof, ein Fenster zur Dorfstraße, vier ältere Brüder und ein jüngerer.

Wenn unter unserem Fenster im ersten Stock ein Leichenzug von der Kirche zum Friedhof zog – ein Pferdegespann vor einer schwarzen Kutsche hinter dem Pfarrer her, gefolgt von der Trauergemeinde –, betete meine Mutter oben am Fenster neben mir ein Vaterunser und ein Avemaria für die Seele des Toten und bat ihn, doch eine Warze von ihrem Fuß mit ins Grab zu nehmen. Eine Woche später zeigte sie dann meinem kleineren Bruder Klaus und mir an ihrem Fuß die Stelle, an der die schmerzende Warze vollkommen verschwunden war. Dieses Heilungsverfahren hatte sie von ihrer Mutter aus der Schnee-Eifel, die es wiederum von ihrer Mutter hatte. Meine älteren Brüder lachten darüber, doch uns Kleinen – Klaus und mir – imponierte die Sache sehr.

Ich kann nicht behaupten, dass auch ich nicht inzwischen im 21. Jahrhundert angekommen bin. Doch was meine Mutter betrifft, bin ich wohl eher ein Kind des 19., 18. und 17. Jahrhunderts und habe das immer als sehr luxuriös empfunden.

Beim Spülen und Putzen sang meine Mutter Marienlieder, erzählte von der schrecklichen Zeit zweier Weltkriege, und wenn sie sonntags Huhn mit Kapern und Reis kochte, sprach sie von den jüdischen »Herrschaften«, bei denen sie in Krefeld als Hausmädchen gearbeitet hatte. Da hatte sie dieses Rezept kennengelernt. Sie erzählte uns auch die Geschichten der Bibel nach, als sei es ihre Familiengeschichte, von Adam und Eva über Abraham und David, Tobias und Tobit und alle Erzengel bis hin zu Maria Magdalena und dem Apostel Paulus. Es war also in gewissem Sinne auch meine Familiengeschichte, die unser Pfarrer später im Kommunionunterricht weitererzählte.

Ich konnte nicht genug davon bekommen. Mich faszinierte die rätselhaft schöne Sprache der Bibel, die ich Sonntag für Sonntag an der Hand meines Vaters in unserer Dorfkirche hörte, etwa von einer fernen »Stadt, die weder Sonne noch Mond braucht, die ihr leuchten. Denn die Herrlichkeit Gottes erleuchtet sie, und ihre Leuchte ist das Lamm«. Staunend sah ich neben meinem Vater von einer Säule her dem Messdiener beim Schwingen des Weihrauchfasses in Gestalt eines kreisrunden silbernen Hauses mit vielen Fenstern zu, aus denen sich rauchender Duft mit dem Gesang lateinischer Choräle zur Höhe hin kräuselte. Die ersten Bilder Jerusalems und Bethlehems, den Jordan und die judäischen Hügel lernte ich dazu von klein auf an der Hand meiner Eltern auf den Altartafeln unserer Dorfkirche kennen, auch den Kreuzweg, Maria Magdalena und das Schweißtuch Christi, das auf manchen Bildern von Engeln, auf anderen von einer Frau namens Veronika gehalten und emporgehoben wird.

Nie wäre mir in den Sinn gekommen, dass uns irgendetwas fehlte, auch wenn meine Eltern das wohl bisweilen ganz anders sahen. Ich war ja ein Kind. Mein Vater war als Gefreiter in den Zweiten Weltkrieg gezogen und als Gefreiter aus dem Krieg herausgekommen. Karriere hatte er nicht gemacht, aber er hatte mit der Wehrmacht die Welt kennengelernt, wie die Fotos festhielten, die meine Mutter in das Familienalbum eingeklebt hatte. Er war mit seiner Flak-Einheit nach Paris gekommen, an die Kanalküste, nach Rumänien, nach Russland, auf die Krim und nach Stalingrad, wo er mit einer der letzten Maschinen ausgeflogen wurde, weil meine Mutter ihm wieder einmal einen Sohn geboren hatte, meinen Bruder Werner. Danach war der Kessel an der Wolga zu, und er konnte nicht mehr zurück. Im Album klebte auch ein frühes Familienfoto (ohne mich und Klaus), das an zwei Ecken verkohlt war, weil mein Vater es nach einem Angriff an der Front aus seinem brennenden Biwak gerettet hatte.

Viele seiner Kameraden waren tot oder in russische Gefangenschaft geraten, was fast auf das Gleiche herauskam. Auch Hitler war tot und die Nazis nicht mehr da. Ich wuchs auf in einer Welt, in der das Böse überwunden und vernichtet schien. Alles Böse war früher. Es war vergangen – oder sehr ferne. Im Zeitalter des Kalten Krieges war die Welt des Westens deshalb im Grunde auch eine Welt ohne Russen und Chinesen, die heute Städte wie Rom und Jerusalem und den Rest der Welt überfluten.

Was ich in meiner Jugend und viele damals für die ganze Welt hielten, war deshalb höchstens die Hälfte der Welt oder noch viel weniger. Ja, wir hatten ein Halbes für das Ganze gehalten. Das mag vielen heute völlig unwahrscheinlich erscheinen, auch wenn es uns in gewisser Weise wohl immer so gehen mag. Doch ich will nicht abschweifen.

Ein Jahr vor meiner Geburt war mein Vater als nervös gewordener frommer Friseur aus der amerikanischen Kriegsgefangenschaft in Bensheim an der Bergstraße zu meiner Mutter und meinen vier älteren Brüdern zurückgekehrt an den Niederrhein. Ein Held war er nie gewesen. Meine Mutter erzählte, dass er vor dem Krieg mit ihr oft Umwege gemacht habe und der marschierenden SA ausgewichen sei, um vor den Uniformierten nicht den Arm für den Hitlergruß recken zu müssen.

Was er im Krieg genau gemacht hat, weiß ich nicht und werde es nie mehr erfahren. Als ehemaliger Friseur vom Krefelder Stadt-Theater hatte er einen alten Karton mit Schminkutensilien und eine Perücke mit Glatze, die mich faszinierte. Das einzige Mitbringsel aus Krieg und Gefangenschaft waren ein Wams aus hartem Drillich mit inwendigem Katzenfell und ein olivfarbener wollener Ohrenschutz, der sich wie ein offener Strumpf über den Kopf ziehen ließ. Beides habe ihm das Leben gerettet, erzählte meine Mutter. Dafür sei er mit dem »Gefrierfleisch«-Orden für das Überleben im russischen Winter ausgezeichnet worden. Es war wohl die einzige Auszeichnung seines Lebens.

Morgens beobachtete ich neugierig, wie mein Vater sich an unserem Waschbecken in unserer Wohnküche mit herunterhängenden Hosenträgern vor dem Spiegel mit der Klinge rasierte, die er vorher blitzschnell an einem Ledergürtel abgezogen hatte, und wie das Blut in roten Tropfen durch den weißen Rasierschaum drang, bevor er das Haus mit vier, fünf kleinen Zeitungsschnipseln an den Schnittwunden im Gesicht verließ. Abends kam er gewöhnlich spät von der Arbeit nach Hause zurück. Ich war sein Friedenskind, das erste, das er von klein an aufwachsen sah, doch bevor ich mit ihm ins Gespräch kommen konnte, war er tot. Da war er 52 Jahre alt und hatte zwei Weltkriege überlebt, und ich war zehn.

Plötzlich war er nicht mehr da, wie seine Kriegskameraden auf den Fotos im Fotoalbum – und wie die Juden, von denen mir meine Mutter erzählte. Ihre »Herrschaften« im fernen Krefeld und Düsseldorf waren ermordet worden. In den 1950er-Jahren waren Flüchtlinge aus dem Osten um uns herum einquartiert worden. Doch es gab keine Juden in meiner Umgebung, weder in meinem Heimatdorf, noch später in Aachen im Gymnasium, noch zu Beginn meines Studiums in Freiburg im Breisgau. Ich sah sie nicht und erkannte sie nicht. Es gab sie in der Bibel und in Geschichtsbüchern. Lebendig vermutete ich sie mehr oder weniger unbewusst nur noch im fernen Israel, wo sie heldenhafte Kriege kämpften und wo sie einen gewissen Eichmann vor Gericht gestellt hatten. In Deutschland waren sie unsichtbar, zumindest für mich. Es war mir ganz unvorstellbar, dass nach dem Massenmord noch einige hier geblieben waren.

Außerhalb des Elternhauses, wo meine Mutter von ihnen erzählte, kamen – wie gesagt – auch die Nazis und ihre Verbrechen nicht vor in meiner Jugend, zumindest nicht in meiner Wahrnehmung. Es war ein Missverständnis, wie ich längst weiß, es war eine Täuschung, aber so war es. Ich las damals keine Zeitungen und sehr, sehr lange schauten wir auch noch kein Fernsehen.

Lebendiges Judentum, das damals komplett ausgerissen und nicht existent schien, lernte ich deshalb erst mit etwa zwanzig Jahren näher kennen – und auch nicht direkt, sondern über Robert Zimmermann alias Bob Dylan aus Duluth im fernen Minnesota und aus New York, und zwar im Radio und vom Plattenspieler. Seiner Musik lauschte ich in den 1960er- und 1970er-Jahren unzählige Stunden lang mit Freunden. Mit dem, was ich für seine »jüdische Stimme« hielt, hatte er mich vollkommen in Bann geschlagen.

Bob Dylan, der auf dem Cover seines »Freewheeling«-Albums von 1963 an einem eisigen Februartag verfroren mit seiner Freundin Sue Rotolo die Jones Street in Greenwich Village hinabstapfte, das war ich (mit meiner Freundin Helga), frühmorgens in der Telemannstraße im Frankfurter Westend. Nur zehn Jahre später. Aus meiner hilflosen Sehnsucht, mich aus einer Beziehung zu lösen und zu befreien, der nach meiner Überzeugung Wahrheit und Zukunft fehlte, hatte Dylan schon zehn Jahre zuvor hinreißende Lieder gemacht. Oft war es mir, als hätte er Träume und Hintergedanken von mir belauscht, die ich noch keinem erzählt hatte. Es war, als würde er aus geheimen Quellen schöpfen, als könne er zaubern. »There’s no success like failure (…) and failure’s no success at all« wurde zu meinem Credo. Noch jetzt könnte ich Hunderte seiner Lieder Wort für Wort mitsingen. Kein Studium hat sie je von der Festplatte meiner Erinnerung löschen können.

Seither faszinierte mich alles Jüdische. Es war, als würde das vorherige Manko einen einzigartigen Sog für mein Leben entfesseln – und es war, wie ich inzwischen längst weiß, irgendwie sehr deutsch. Mein Schicksal ist sehr deutsch. Ich bin kein Meister, aber doch ein alt gewordener Lehrling aus Deutschland, wo die kosmischen Verbrechen der Nazis erst im Lauf meines Lebens zu einer immer stärker sprudelnden Quelle der Inspiration und des Grauens wurden bis heute, wenn ich mir nur das Fernsehprogramm des letzten Abends oder die Debatten der letzten Wochen anschaue. Die Vergangenheit will hier nicht nur nicht vergehen, sondern kommt im Gegenteil immer stärker und lebendiger zurück in den Blick. Es ist ja längst eine Binse. Doch das war in den 1970er-Jahren noch ganz anders. Da waren wir mit einigen Freunden und mit Bob Dylan fast allein in dieser Geschichte. Freunde und die Freundin wechselten, Dylan blieb.

Im Winter 1972 kaufte ich deshalb in London in der Portobello Road auch zwei große Hefte aus Kalifornien, in denen ein gewisser Stephen Pickering in einer Reihe überzeugender Aufsätze nachwies, dass Dylan nur mit der Kenntnis des jüdischen Talmud zu verstehen sei. Per Hand schrieb ich mir Sätze aus diesen Heften ab. Ein besonders unverständliches Zitat pinnte ich mit einer mysteriösen Zeichnung später in Frankfurt am Main in unserer Mansarde übers Bett, weil ich es so schön fand, nicht weil ich wusste, was damit gemeint war: »Home? No home. A place, ha-makom? No place, no ha-makom. Not here, not there.« Der hebräische Buchstabe Aleph schwebte in der Zeichnung unter dem Zitat in einem Sternenkranz zwischen einem Mund und einer Schlange. Darunter waren Wasserwellen. Waren es die Wasser der Urflut? Gehörte der Mund zum Antlitz Gottes? Stand der Buchstabe Aleph – für die Zahl Eins und jeden Anbeginn – auch für Adam? Stand Adam hier zwischen Gott und der Sünde? Auf all diese Fragen gab Stephen Pickering keine Antwort. Alles war nur sehr rätselhaft – und fesselte mich doch so, dass ich jeden Morgen meinen Blick darauf warf.

»In der jüdischen Kabbala ist ›makom‹ ein Geheimname für Gott«, habe ich drei Jahrzehnte später von Klaus Berger erfahren, dem großen Theologen aus Heidelberg. »›Ha-Makom‹ heißt ›der Ort‹, und die jüdische Mystik ist eine geographische Theologie, eine Religion der heiligen himmlischen Hallen, die übereinander getürmt die himmlische Stadt ausmalen – wie ein bergan gerichteter Basar.« Als hätte ich es schon immer geahnt. Heimat, wie meine Mutter und mein Vater sie noch gekannt hatten, hatten wir damals nicht mehr und kannten sie nicht.

Zu reisen galt für mich als Leben schlechthin, es war meine Leidenschaft. Meine älteren Brüder hatten es mir vorgemacht, die alle irgendwie heraus wollten aus Deutschland, in eine größere und unzerstörte Welt, in der die Väter noch Helden und keine Kriegsverlierer waren. Das letzte Motiv war mir fremd, weil ich meinen Vater bis zu seinem Tod nur verehrt hatte. Doch »Ubi bene ibi patria!« hatte ich mir als Gymnasiast mit einem Filzstift auf meinen Rucksack geschrieben, mit dem ich per Anhalter durch Europa und um das westliche Mittelmeer gereist war: »Wo es gut ist, da ist das Vaterland!«

So einfach ist es natürlich nicht. Heimat ist komplizierter. Die grundsätzlichen Fragen nämlich – Wer bin ich, Woher komme ich, Wohin gehe ich? – diese Fragen stellten wir uns seit unserem Kommunionunterricht als Kinder nicht mehr wirklich. Wir waren nicht unglücklich, aber so war es.

Wir lebten im Moment, von Tag zu Tag, ohne Sonntag, selbst bei den Geburten unserer ersten Kinder. Alles war Gegenwart. Unsere Hochzeit war heiter, aber auch eine der einsamsten Eheschließungen seit Adam und Eva, und wir feierten sie mit unseren kleinen Kindern und drei Freunden in der Mansarde über dem Frankfurter Zoo, wo wir abends hoch über den Kastanienbäumen vor unserem Fenster die Löwen mit ihrem Heimweh nach Afrika brüllen hörten, im Chor mit den Nilpferden, Schimpansen und allen möglichen Vögeln des Dschungels. Als wir an diesem Abend zu Bett gingen, war es, als hätten wir auf eine heimliche Weise das erste Fest seit unseren Kindheitstagen erlebt.

Mein Freund Bernhard, unser Trauzeuge, hatte uns dazu einen alten Stich Jerusalems von 1590 über unseren Tisch geheftet, den er aus einem Buch ausgeschnitten hatte, mit der lateinischen Inschrift aus dem Buch Ezechiel darüber: »Hæc est Jerusalem. Ego eam in medio Gentium posui, et in eius circuitu terras.« Das heißt auf Deutsch: »Das ist Jerusalem. Ich habe es mitten unter die Völker und die Länder ringsum gesetzt.« Es war das einzige Hochzeitsgeschenk und hängt heute noch bei uns im Flur. Wir waren katholisch erzogen worden, doch davon schien damals nichts übrig geblieben zu sein. Kein Gebet, kein Gottesdienst, nichts. Kein Gott? Das will ich nicht sagen, doch er hatte in unserem Leben nichts zu sagen.

Wenn ich allein in einer fremden Stadt an einer alten und offenen Kirche vorbeikam, konnte es zwar immer noch geschehen, dass ich heimlich eintrat, automatisch meine rechte Hand in das Weihwasserbecken tauchte und mich bekreuzigte – oder sogar vor dem Tabernakel das Knie beugte, wenn mich keiner sah –, doch im Grunde hatte ich einfach abgelegt, wer ich als Kind und Jugendlicher war, als wäre ich es nie gewesen. Es war so, wie es damals Tausenden meiner Generation ging, völlig lautlos und unbemerkt, sogar vor uns selbst. Scham hatte die christliche Herkunft verschluckt. Plötzlich wurde kein Wort mehr darüber laut in den vielen geschwätzigen Debatten meiner Generation. Das betraf natürlich den Kult, den Gottesdienst, aber auch die Bildung, von dem Anspruch an ein christliches Leben ganz zu schweigen. Wir taten und ließen, was wir wollten, feierten, was und wie uns gerade zumute war. Alles in allem war es ein höchst undramatischer Verlust, wie in dem Gedicht Erich Kästners, wo es heißt: »… sie kannten sich gut. / Da kam ihnen die Liebe abhanden / wie anderen Stock oder Hut.«

Als Kind hatte ich die Kirche geliebt, weil meine Mutter sie geliebt hatte. Diese Liebe war mir ganz abhandengekommen. Jetzt liebte ich Bob Dylan und liebte es, mir mit meinen Freunden den Kopf über seine Lieder zu zerbrechen, die mich begeisterten. Englisch habe ich weniger in der Schule als von ihm gelernt. Ich studierte Geschichte an der Frankfurter Uni, doch unser Leben hatte – immer noch – fast keine Vergangenheit.

Es gab eine Geschichte in den Büchern – und es gab die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, die gerade einmal so alt war wie ich selbst. Davor und dahinter öffnete sich ein unverständlicher Abgrund.

Nur Jerusalem hatte in diesem Jenseits als merkwürdige Schnittmenge zwischen den täglichen Nachrichten und der Geschichte der Welt und der Kindheit überlebt, auch als ein Ort der Sehnsucht, von dem ich früh träumte. Es war die Stadt, in der ich mich irgendwie am besten auskannte, besser jedenfalls als in Mönchengladbach oder Aachen oder Krefeld oder in anderen deutschen Städten mit ihren Ruinen und den großen Parkplätzen mitten in der Innenstadt, wo einmal dicht besiedelte Häuserzeilen gestanden hatten, oder als in Frankfurt am Main, wo wir Mitte der 1970er-Jahre lebten; in der Stadt, in der meine Frau mir eines Tages den »Babylonischen Talmud« in der Taschenbuchausgabe des Wilhelm Goldmann Verlages von 1963 aus einer Buchhandlung als Geschenk in unsere Mansarde brachte. »Man schreibt den 25. September im Jahre 1975«, steht vorne mit schwarzem Kuli in ihrer Widmung. Ich habe das Buch schon Jahrzehnte nicht mehr in der Hand gehabt. Es ist zerfleddert wie kein anderes unserer Bücher, voller Papierstreifen, um Stellen und Seiten leichter wiederzufinden, und vollgekritzelt, mit tausend unterstrichenen Passagen. Brüchige Tesafilm-Reste kleben an dem losen Einband, den das Relief eines siebenarmigen Leuchters aus dem Bode-Museum in Berlin ziert. Mit Klebeband hatte ich auch versucht, das dicke Taschenbuch mit den vergilbten 670 Seiten zusammenzuhalten. Es war nicht von Dauer. Seit Langem steckt das Buch in seinen Einzelteilen in unserem Regal und hat doch all unsere Umzüge überlebt.

1975, als wir darin zu lesen begannen, war es, als hätten wir einen Schatz entdeckt, von dem wir bis dahin noch gar nichts geahnt hatten. »Ohne Judentum steht das Christentum auf tönernen Füßen«, hat meine Frau irgendwo an den Rand des Textes geschrieben. Ich schlage bei einem der abgerissenen und eingehefteten Merkzettel auf und lese, auf Seite 189: »Seit dem Tage, da das Heiligtum zerstört ist, gibt es keinen Tag, der keinen Fluch hätte; es steigt der Tau nicht zum Segen herab, und der Geschmack der Früchte ist weggenommen. Nachdem Rabbi Meïr gestorben war, gab es keine Gleichniserzähler mehr. Nachdem Rabbi Asais Sohn gestorben war, gab es keine Fleißigen mehr. Nachdem Somas Sohn gestorben war, gab es keine Ausleger mehr. Nachdem Rabbi Akiwa gestorben war, gab es die Herrlichkeit der Weisung nicht mehr.« Ich könnte mit dem Abschreiben solcher und anderer Zitate fortfahren, auch vierzig Jahre später noch. Es war ein unerhörter neuer Ton in unserem Leben, merkwürdig vertraut, obwohl wir ihn nie vorher vernommen hatten, und ich wusste: Dieser uralte Ton hat Zukunft.

Im Talmud, so fanden wir damals heraus, hatte alles Platz, jede Erzählung, jeder Widerspruch, auch jede noch so absurd scheinende Wendung. Um so aufregender wurde es, als wir irgendwann entdeckten, dass die Schriften des Evangeliums über das Auftreten und die Passion Jesu von Nazareth, die wir von Kindesbeinen an kannten und die so wunderbar in diese Denkweise hineinpassten, darin nicht enthalten waren. Der Talmud war ein Ozean, doch für das Evangelium war kein Platz in ihm. Irgendwie schien das Evangelium aus dieser Welt vertrieben, wie auch die Apostelgeschichte, in der Paulus an einer Stelle sagt: »Ich bin ein Jude, geboren in Tarsus in Zilizien, hier in dieser Stadt erzogen, zu Füßen Gamaliëls genau nach dem Gesetz der Väter ausgebildet, ein Eiferer für Gott, wie ihr alle es heute seid.«