Über das Buch:
Als ihr Exfreund Tom ihr im Getto von San Diego nachts buchstäblich vor die Füße fällt, ahnt die junge Ärztin Ruby McKinney noch nicht, dass der Drogenfahnder wieder ihr Leben durcheinanderwirbeln wird. Nicht nur ihre gemeinsame Vergangenheit holt sie ein – auch die Gegenwart wird lebensgefährlich, als Tom in ein Wespennest aus Verrat, Mord und Betrug sticht.
Als Teenager hat Rubys tiefer Glaube ihr geholfen, ihr Leben in den Griff zu bekommen. Nun steht sie vor dem Nichts: ihre berufliche Existenz, ihre Liebe zu Tom, ihr Glaube an Jesus sind zerbrochen. Kann Tom sie davon überzeugen, dass es zweite Chancen gibt?

Über die Autorin:
Raquel Byrnes schreibt viel und gerne – angefangen von romantischen, spannungsgeladenen Erzählungen bis hin zu Thrillern. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren sechs Kindern in Südkalifornien. „Ruby Dawn“ ist ihr erstes Buch, das auf Deutsch veröffentlicht wird.

Kapitel 8

Nach meinem Empfinden waren die Feldbetten für die Mitarbeiter, die Rufbereitschaft hatten, gar nicht so unbequem. Die meisten Ärzte beklagten sich darüber, aber wenn man schon einmal ein paar Nächte auf einer Parkbank hatte verbringen müssen, war man dankbar für eine Matratze, selbst wenn sie dünn und durchgelegen war. Trotzdem schlief ich unruhig. Einmal wachte ich auf und war in kalten Schweiß gebadet, weil ich dachte, man hätte mich entführt. Es lag an der fremden Umgebung. Ich konnte nicht wieder einschlafen, und so warf ich mich auf meinem Bett hin und her. Das Kopfkissen traktierte ich mit der Faust. Gegen sechs Uhr morgens gab ich schließlich auf und ging im Umkleideraum für Ärzte unter die Dusche. Ich hatte immer extra Unterwäsche in meinem Schließfach, weil ich mich hier im Krankenhaus häufig umzog. Einen Vorteil hat die Krankenhauskleidung: Man tauscht sie bloß gegen neue Anzüge in der eigenen Kleidergröße. Das Krankenhaus lagerte überall ausreichende Mengen davon, und das war auch notwendig, wenn man täglich in Kontakt mit Erbrochenem oder Blut kam.

Heute früh entschied ich mich für ein erbsengrünes Ensemble. Ich beneidete die Krankenschwestern um ihre Uniformen, die in schönen, sanften Farben gehalten waren. Als ich fertig angezogen war, band ich mein Haar zu einem lockeren Knoten. Dann verließ ich den Umkleideraum. Jetzt fühlte ich mich schon ein bisschen besser. Schwester Renée begegnete mir auf dem Weg zur Eingangshalle. Sie lotste mich in ein Besprechungszimmer. Ich bemerkte, dass sie eine bunte Schwesternuniform anhatte, mit Bildern von kleinen Teddybären auf strahlend blauen Untergrund.

„Ist alles in Ordnung? Ist noch etwas zu retten?“, wollte sie wissen.

Ich lehnte mich an den Tisch. „Meinst du mein Auto, die Ambulanz oder meinen Geisteszustand?“

Sie klopfte mit einem Bleistift auf das Schreibbrett, das sie in der Hand hielt.

„Was, alle drei?“, fragte sie entsetzt.

„Mein Auto ist wohl nicht mehr zu retten. Es war sowieso schon ein Wrack. Du hast bestimmt gehört, dass die Ambulanz zerstört worden ist, aber ich bin noch nicht dort gewesen.“ Ich zog die Augenbrauen hoch. „Woher weißt du das überhaupt?“

„Mike hat mir von deinem Auto erzählt“, erwiderte Renée, die noch immer wie betäubt wirkte. „Aber du hast gerade selbst die Sache mit der Ambulanz erwähnt.“

„Oh.“ Als Kriminelle würde ich mich schlecht eignen. Ein bisschen Druck genügte, und schon plauderte ich alles aus.

Renée kratzte sich nachdenklich an der Nasenspitze. Ihre Fingernägel waren korallenrot lackiert.

„Dann ist das eine Erklärung für das, was ich vorhin gehört habe“, sagte sie schließlich. „Die Empfangsmitarbeiterin im vierten Stock, die für Dr. Daniels arbeitet, hat erzählt, dass er sie gebeten hat, alle Mitglieder des Ausschusses noch heute früh anzurufen. Einen nach dem anderen.“

Ich staunte wieder einmal, dass Schwester Renée immer bestens informiert war über alles, was im Krankenhaus geschah.

„Ich glaube, meine Bewerbung ist jetzt hinfällig.“ Meine Stimme zitterte, und ich biss mir auf die Unterlippe, damit ich nicht wieder anfing zu weinen. „Es wäre nur ganz nett gewesen, wenn mich einer von ihnen wenigstens angerufen hätte.“

„Ach Ruby“, murmelte Renée. „Das alles tut mir so schrecklich leid.“

Sie legte ihre kräftigen Arme um mich und zog mich in eine nach Rosen duftende Umarmung. Als Krankenschwester konnte sie Menschen besser Trost spenden als die meisten Ärzte, die ich erlebt hatte. Ich war dankbar, dass ich eine so verständnisvolle Freundin hatte.

„Danke, Renée.“

Renée ließ mich los und rückte die Brille auf ihrer Nase zurecht. „Wenn du Hilfe brauchst, lass es mich wissen, Liebes.“

„Du hast nicht zufällig irgendwo ein Auto rumstehen, oder?“, fragte ich und streckte die Hand nach der Tür aus.

„Doch, das habe ich.“ Renée lächelte mich strahlend an.

„Was sagst du da?“

„Mein Mann Charles hat mir zum Geburtstag einen von diesen niedlichen kleinen Minis geschenkt. Er will meinen alten Geländewagen auf dieser kostenlosen Webseite zum Verkauf anbieten. Aber wenn du ihn eine Zeitlang fahren möchtest, kannst du ihn gerne haben.“

„Du willst mir dein Auto leihen?“ Ich starrte die Krankenschwester ungläubig an.

Renée nickte und tätschelte mir den Arm. „Der Wagen steht doch sowieso rum, bis sich jemand auf unsere Anzeige meldet. So kann er sich wenigstens nützlich machen. Er steht vor unserem Haus. Du kannst ihn dir immer holen, wenn du ihn brauchst.“

„Ich bin … vielen herzlichen Dank“, stammelte ich.

„Sei doch nicht so entsetzt, Schätzchen. Weißt du, es geschieht auch noch Gutes in dieser Welt.“

„Manchmal verliert man den Glauben an das Gute“, murmelte ich.

Über den Rand ihrer Brille warf Renée mir einen besorgten Blick zu. „Bei dem vielen Leid, das du siehst, bei allen diesen armen Seelen, die durch die Tür deiner Ambulanz kommen, musst du auch mal was anderes erleben, Ruby, ein bisschen von dem Glück, von dem es da draußen auch noch etwas gibt. Du brauchst jemand, der sich zur Abwechslung auch mal um dich kümmert.“

„Weißt du, Renée, auf der Liste der Glücksfälle in meinem Leben gehörst du mindestens zu den ersten fünfzig“, erwiderte ich spöttisch.

Renée musste lachen. Sie verdrehte die Augen, und dann holte sie einen Schlüsselbund aus ihrer Tasche. Sie drehte den Autoschlüssel ab und schüttelte ihn, während sie sprach. „Also gut. Ich werde dir jetzt nichts von meinem unglaublich gut aussehenden, alleinstehenden Neffen erzählen.“

„Dafür bin ich dir wirklich dankbar, Renée.“

„Ich weiß, Süße.“ Sie klopfte mir auf die Schulter und lächelte mich an. „Ich werde weiter für dich beten.“

Weil ich nicht wusste, was ich darauf erwidern sollte, murmelte ich noch einmal ein Dankeschön und machte mich auf den Weg. Warum hatte in letzter Zeit jeder das Bedürfnis, für mich zu beten? Sah ich wirklich so schlecht aus?

Ich wollte in die Cafeteria, weil ich dringend ein Frühstück brauchte.

Jedes Mal, wenn ich dorthin kam, „vergaß“ Sasha, die Chefin der Cafeteria, meinen Mitarbeiterausweis in die Kasse einzuscannen. Vor zwei Jahren war ihr Sohn, ein niedlicher Junge im Alter von vierzehn Jahren, von einem Auto angefahren worden, während er auf dem Heimweg von der Schule gewesen war. Als er in die Notaufnahme gekommen war, hatte ich den Bruch an seinem Oberschenkelknochen operiert. Danach war ich zusammen mit Sasha die ganze Nacht am Bett ihres Sohnes geblieben. Sasha war alleinerziehend. Sie tat mir von Herzen leid, weil sie mich an Lilah erinnerte. Deshalb hatte ich sie nicht mit der Sorge um ihren Sohn allein lassen wollen.

Als die Zeit für die ambulante Nachsorge gekommen war, hatte Sasha das Geld dafür nicht aufbringen können. Sie war mit einem Arbeitsvisum aus Russland gekommen, aber sie kam finanziell kaum über die Runden. Ich hatte ihren Sohn regelmäßig in ihrer Wohnung besucht, bis der Bruch vollständig verheilt war, aber ich hatte nichts für diese Besuche berechnet. Sasha hatte sich bei mir für diesen Liebesdienst mit selbst zubereiteten Mahlzeiten revanchieren wollen. Ich wusste jedoch, wie hart sie arbeitete. Deshalb hatte ich sie gebeten, sich wegen der Bezahlung keine Gedanken zu machen. Seitdem nahmen sie und alle anderen Mitarbeiter in der Cafeteria von mir kein Geld, wenn ich meine Mahlzeiten dort einnahm. Ich wollte so etwas zwar nicht ausnutzen, aber heute Morgen hatte ich großen Hunger.

Ich durchquerte die hell erleuchtete Halle und erlag dem verlockenden Duft von Donuts. Deshalb packte ich ein paar von den Gebäckstücken in eine Tüte, nahm widerwillig noch einen Apfel mit und blieb stehen, um mit Sasha ein paar Worte über ihren Sohn zu wechseln. Er konnte bereits Auto fahren.

„Ich sage ihm immer wieder, Dr. McKinney, dass er sich erinnern soll, wie sehr ein gebrochener Knochen wehtut, aber er fährt, als ob er in einem dieser Agentenfilme mitspielen will!“ Sasha schnalzte missbilligend mit der Zunge und berührte das weiße Namensschild aus Plastik, das am Träger ihrer blauen Schürze steckte.

„Sagen Sie ihm, dass ich ihn nicht wieder in der Notaufnahme sehen möchte.“ Ich biss ein Stück vom Apfel ab.

Sie lächelte mich an und nickte. „Ja, das mache ich. Ach, Dr. McKinney, fast hätte ich vergessen, es Ihnen auszurichten. Vor ein paar Minuten war ein Mann hier und hat nach Ihnen gesucht.“

Verwundert sah ich mich in der Cafeteria um. Ben hätte bestimmt hier nach mir gesucht, aber bei Tom war ich mir nicht so sicher. „Hat er seinen Namen genannt?“

„Oh nein, er ist nicht mehr hier. Dieser Mann war sehr gut aussehend. Wissen Sie, ich habe so schöne grüne Augen nur einmal in meinem Leben gesehen, bei einem Musiker zu Hause in Russland. Der hat vielen Frauen das Herz gebrochen.“

Sie schenkte mir ein verschwörerisches Lächeln. Aha, sie meinte also Tom.

„Oh ja, das ist ein alter Freund von mir.“ Ich tat so, als würde mich die Schale des Apfels faszinieren.

„Niemand ist mit einem solchen Mann bloß befreundet.“ Sa-sha zwinkerte mir zu.

„Na ja, Sie haben es selbst gesagt, Sasha. So ein Mann ist ein Herzensbrecher“, murmelte ich. Jetzt wich ich ihrem Blick nicht länger aus.

„Er hat sich Sorgen um Sie gemacht, Dr. McKinney. Ich kann das an seinem Gesicht ablesen“, fügte Sasha hinzu. Offenbar wollte sie für Tom eine Lanze brechen.

„Natürlich kann er auch sehr nett sein“, gab ich zu. Ich hob die Tüte in meiner Hand hoch, als ich mich auf den Weg nach draußen machte. „Vielen Dank für das Frühstück.“

„Ich habe ihm gesagt, dass Sie heute nicht arbeiten“, rief sie mir nach.

Na, das ist ja großartig.

Draußen ging ich aus Gewohnheit zum Parkplatz. Ich blieb abrupt stehen. Ein Kleintransporter stand neben dem Trümmerhaufen meines Autos. Man kann nicht mehr erkennen, dass es einmal blau war, dachte ich.

Ben streckte den Kopf aus dem Fenster auf der Fahrerseite. Er lächelte mich an. „Hallo Ruby. Sie sollten nicht allein hier draußen sein. Diese Banden schlagen ohne Vorwarnung zu.“ Er schüttelte den Kopf. „Ich habe die Einsatzgruppe für Bandenkriminalität angerufen und sie über den Vorfall informiert.“

Ich ließ den Kopf hängen und schluckte den dicken Kloß hinunter, der sich in meiner Kehle gebildet hatte. Die Farbe, mit der mein Auto übergossen war, leuchtete feuerrot im Sonnenlicht. Das machte alles noch schlimmer, als es sowieso schon war. Die grelle Farbe auf meinem Auto und dem Asphalt sah aus, als ob ein Gemetzel stattgefunden hätte.

„Ich habe gedacht, die Farbe ist schwarz. Also, heute Nacht sah das so aus …“, platzte ich heraus.

Ben sprang aus dem Auto und stellte sich dicht neben mich. Ich war so fassungslos, dass ich mit einem tiefen Seufzen den Kopf auf seine Schulter sinken ließ.

„Wir kriegen die Kerle, die das angerichtet haben.“ Er strich mir zärtlich über den Rücken und sprach leise auf mich ein.

Als ich zu ihm hochsah, wirkte sein Lächeln so zuversichtlich, dass ich ihm am liebsten geglaubt hätte. Ich wollte ihm sagen, dass Antonio und seine Gefolgsleute mir vermutlich auf diesem Weg eine Drohung übermittelt hatten, aber ich entschied mich dagegen. Ben würde sich verpflichtet fühlen, Antonio aufzuspüren, aber ich wollte nicht, dass er meinetwegen sein Leben riskierte. Stattdessen hielt ich die Tüte mit den Donuts hoch und schüttelte sie.

„Ich habe Ihnen die standardmäßige Polizei-Währung mitgebracht.“

„Dann hoffe ich, dass es Bärentatzen sind.“

Ben fuhr mich zur Ambulanz. Während der Fahrt erzählte er mir von den interessanten Notrufen, auf die er letzte Nacht reagiert hatte. Ich musste zugeben, dass mir Ben in lässigen Jeans und T-Shirt sehr gut gefiel. Sogar sein Haar fiel ihm heute wirr in die Stirn. Mir war vorher noch nie aufgefallen, dass seine Augen beinahe goldfarben waren. Sofort verbot ich mir jeden weiteren Gedanken an ihn und konzentrierte mich auf die Geschichte, die er mir erzählte.

„Also, ich komme zu diesem Waschsalon, und da versucht doch tatsächlich dieser Typ mit dem Dinosaurier-Kostüm, eine Waschmaschine aus der Wand zu reißen. Er hatte sogar eine Metallkette um das Gerät gewickelt. Ich glaube, er hätte die Maschine mit seinem Auto abtransportiert, wenn ich nicht aufgetaucht wäre. Als ich ihn fragte, was er denn da machen würde, beklagte er sich darüber, wie viel es ihn kosten würde, sein Kostüm nach jeder Kinder-Party zu waschen. Mindestens einmal pro Woche findet ein Kind es witzig, ihn mit Eiscreme zu bewerfen. Der Typ hat mir sogar ein bisschen leidgetan.“

Ich knabberte an dem mit bunten Zuckerstreuseln verzierten Donut. „Wie geht es Ihrer Partnerin?“

Ben starrte angestrengt auf die Straße. „Es geht ihr gut. Anscheinend ist sie nicht so wild darauf, ihr Baby zu Hause zu lassen, aber die Familie braucht das Geld, das sie verdient.“

„Das muss schlimm für sie sein“, stimmte ich ihm zu.

„Sie ist immer noch hin- und hergerissen. Der Chef sagt, er hält ihr die Stelle frei, bis sie ihm etwas anderes mitteilt. Aber sie hat ja noch ein paar Wochen.“

Bens Kollegin war seit fast einem Monat im Mutterschaftsurlaub, und er zögerte noch, bevor er sich einen anderen Partner zuteilen lassen wollte. Tina war älter als Ben. Sie war ein sehr mütterlicher Typ und versuchte immer wieder, ihren Kollegen mit einer ihrer sechs Schwestern zusammenzubringen.

„Ich bin Ihnen wirklich dankbar, dass Sie mich in Ihrem Auto mitnehmen, Ben, und auch für alles andere, was Sie für mich tun. Sie müssen ja nicht jede Nacht bei der Ambulanz vorbeikommen, und trotzdem machen Sie es. Dafür danke ich Ihnen von ganzem Herzen.“

„Das ist doch überhaupt kein Problem“, erwiderte er und warf mir von der Seite einen Blick zu. „Dann habe ich wenigstens die Gelegenheit, Sie zu sehen.“

Seine Offenheit trieb mir die Röte ins Gesicht. Ben war so ehrlich und geradlinig.

„Ich … äh … ich wollte Ihnen bloß danken.“

Ich sah aus dem Fenster und ärgerte mich, weil ich ihm gegenüber so unbeholfen und unentschlossen war.

Ben musste sich räuspern. „Äh, Ruby.“

Ich drehte mich wieder zu ihm um. „Ja?“

„Wollen wir mal zusammen eine Tasse Kaffee trinken gehen?“

Ich zögerte kurz. Meine Gedanken überschlugen sich förmlich.

Ich weiß nicht, wie ich ihm Toms Rolle in meinem Leben erklären soll … oder ob es überhaupt etwas zu erklären gibt. Und habe ich mir nicht vorgenommen, Ben näher an mich heranzulassen? Schließlich ist er sehr nett.

„Klar, Ben, sehr gerne.“ Ich musste lächeln, als ich die Besorgnis in seinen Augen sah.

„Wie sieht es heute Abend aus? Haben Sie Bereitschaftsdienst?“

Ich überlegte einen Moment lang. Noch wusste ich nicht, wie viele von meinen Sachen durch den Einbruch beschädigt worden waren, aber ich hoffte, dass die Täter nicht meinen modischen Geschmack teilten und meine Kleidungsstücke dagelassen hatten.

„Heute Abend passt es mir gut.“

„Prima.“ Er schenkte mir ein strahlendes Lächeln.

Als wir vor der Ambulanz anhielten, meinte ich, mein Herz würde aufhören zu schlagen. Ich stieg aus und war entsetzt. Wieder war alles mit roter Farbe bedeckt. Passanten gingen am Absperrband der Polizei vorbei und starrten ins Innere des Gebäudes, aber niemand blieb stehen. Das tat niemand in diesem verrufenen Stadtviertel.

„Oh nein“, flüsterte ich atemlos. Und wieder spürte ich diese lähmende Hilflosigkeit.

Ich ging näher an das Gebäude heran. Plötzlich gaben meine Knie nach, während gleichzeitig unbändige Wut in mir hochstieg. In meinem Magen brannte es förmlich, als ich sah, wie das Ergebnis meiner harten Arbeit von einem Monster wie Antonio zerstört worden war. Die vorderen Fenster, die von außen offenbar mit Steinen eingeschlagen worden waren, sahen aus wie klaffende Löcher auf einem blutenden Brustkorb. Rote Farbe ergoss sich über den Bürgersteig, die Vorderseite der Ambulanz und sogar über die Parkuhr an der Straße. Die Täter mussten das Zeug eimerweise verschüttet haben. Ich fuhr mir mit der Hand durch das Haar.

„War irgendwo ein Ausverkauf von roter Farbe?“, fragte ich skeptisch.

Ben kratzte sich nachdenklich am Kopf. „Wir glauben, dass die Täter, die das hier getan und Ihr Auto am Krankenhaus zerschlagen haben, die Farbe aus der noch nicht fertig gebauten Abteilung für Sportmedizin gestohlen haben.“

Ich stieß verächtlich die Luft aus. Die Abteilung für Sportmedizin war zu einem Planungsfiasko geworden. Der Gebäudeflügel stand schon fast drei Monate lang halbfertig da. Gespendete Betten, Möbel und medizinische Geräte trafen bereits ein, bevor die Finanzierung des Gebäudes endgültig geklärt war. Deshalb wurde alles im Rohbau abgestellt. Diebstähle waren an der Tagesordnung, und auch Antonio war dieses Problem offenbar bekannt.

„Ich kann im Laufe des Nachmittags vorbeikommen und Ihnen beim Aufräumen helfen“, meinte Ben. „Jetzt muss ich erst mal meine Schwester vom Flughafen abholen.“ Er warf mir einen entschuldigenden Blick zu.

„Ach, Ben, Sie haben schon mehr als genug getan, indem Sie mich hierher gefahren haben. Ich kann mir gut vorstellen, dass Sie deswegen einen großen Umweg gemacht haben.“ Ich lächelte ihn an und drückte ihn beruhigend am Arm. „Das geht schon in Ordnung. Lilah kommt später hierher.“

„Das ist wirklich kein Problem, Ruby“, murmelte Ben. „Ich will Ihnen bloß helfen.“

„Na ja …“ Ich seufzte und sah Ben an. „Ich sollte mich da drin mal umsehen.“

Ben reichte mir eine Taschenlampe. Er sprach mit sanfter Stimme, als ob er Angst hätte, dass ich bei zu viel Lärm zusammenbrechen könnte. „Die werden Sie brauchen, weil die Lampen zerschlagen sind. Soll ich mitkommen?“

„Nein, danke, Ben. Ich muss mir das allein ansehen.“

„In Ordnung. Ich bin hier draußen, wenn Sie mich brauchen.“

Ich wandte mich wieder der Ambulanz zu. Glasscherben knirschten unter meinen Schuhen, als ich durch den Haupteingang eintrat. Nur eine Deckenleute funktionierte noch. Im dämmrigen Innenraum kniff ich die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Letzte Nacht erwähnte Ben, dass einiges gestohlen worden sei. Das war eher untertrieben. Viele medizinische Hilfsmittel, Stühle und sogar die Abfalleimer waren verschwunden. Ich stand in der Mitte des zerstörten Raums und ließ meinen Blick umherschweifen. Ich war entsetzt. Ein unterdrücktes Schluchzen schlüpfte über meine Lippen. Wütend wischte ich mir die Tränen aus den Augen.

„Ruby, ist alles in Ordnung mit dir?“ Ich drehte mich abrupt um, als ich Toms Stimme hörte.

„Tom, was machst du denn hier?“

„Als ich hörte, was passiert ist, bin ich hierhergekommen, weil ich mich davon überzeugen wollte, dass dir nichts zugestoßen ist.“

Hilflos hob ich die Arme und ließ sie wieder sinken. Tom hatte sich die Haare schneiden lassen. Jetzt sah er aus, als ob er Mitglied in einem vornehmen Club wäre. Trotzdem trug er noch immer den Dreitagebart. Damit sah er eigenartig aus, wie ein Gangster der Luxusklasse. Er bemerkte, wie ich ihn anstarrte, befeuchtete seinen kleinen Finger und tat so, als ob er sich die Augenbrauen richten würde. Mit dieser Bewegung hatte er mich im Unterricht oft zum Lachen gebracht. Mein Lächeln war jetzt zwar etwas zittrig, aber diese Geste weckte Erinnerungen an schöne Zeiten.

„Du weißt, wer das getan hat“, sagte Tom und zeigte mit einem Kopfnicken auf die über den Fußboden vergossene Farbe.

Er hatte diesen Satz nicht als Frage formuliert.

„Antonio Llave“, flüsterte ich. „Der Bandenchef, von dem ich dir erzählt habe. Ich glaube, dass er dahintersteckt.“

„Ich habe ein bisschen recherchiert, nachdem du mir von ihm erzählt hattest.“ In seinem Gesicht sah ich ein plötzliches Aufflackern von Zorn. „Er legt bei den Culebras einen raketenartigen Aufstieg hin.“ Tom betrachtete den angerichteten Schaden mit einem kritischen Blick. „Das hier sieht aus wie eine Drohung, nicht wie Vandalismus. Geringer Schaden, aber eine ernste Warnung. Du hast wahrscheinlich recht.“

Im Eingangsbereich war eine zweite Stimme zu hören, wie ein Echo von Toms Worten.

„Geringer Schaden?“, wiederholte Ben. „Meinen Sie das wirklich ernst? Die Täter haben einen beträchtlichen Schaden von mehreren hundert Dollar angerichtet.“ Er stieg durch das zerbrochene Fenster und kam zu Tom und mir. Wir standen in der Mitte des Vorraums. Mein Blick wanderte von Ben zu Tom. Ich fühlte mich unsicher mit den beiden Männern in einem Raum.

„Ja, das meine ich ernst. Wer sind Sie überhaupt?“ Tom machte eine Handbewegung, die den gesamten Raum umfasste.

„Ich bin Polizeimeister Farrell“, erwiderte Ben prompt. „Ich habe mitgeholfen, Sie neulich mitten in der Nacht von der Straße aufzusammeln.“

Beide Männer waren gleich groß. Sie standen sich gegenüber wie zwei zum Angriff bereite Kampfhähne. Mich erinnerte dieser Anblick an ähnliche Szenen aus der Schulzeit. Ich wartete nur noch darauf, dass einer zum anderen sagen würde: „Trau dich doch endlich!“

„Tom, äh … Ben hat uns beide zum Krankenhaus gefahren.“

Ben beäugte Tom misstrauisch.

Plötzlich lächelte Tom und streckte dem anderen Mann die Hand entgegen. „Ich habe Ihnen noch gar nicht danken können, Polizeimeister Farrell“, sagte er, während er Ben die Hand schüttelte. „Ich bin froh, dass Sie meinen Namen aus dieser Sache herausgehalten haben. Ich habe meinem Chef erzählt, wie professionell Sie mit dieser Situation umgegangen sind.“

„Das war doch kein Problem.“ Ben war verblüfft über Toms plötzlichen Stimmungsumschwung. Tom drehte sich zu mir um, steckte sich einen Kaugummi in den Mund und zwinkerte mir zu. Ich hatte vergessen, wie entwaffnend sein Charme sein konnte. Er brachte es fertig, mit einem charmanten Lächeln einen Feind zum Waffenbruder zu machen. Ich hatte ihn immer damit aufgezogen, dass er sogar einer vornehmen Dame mit weißen Handschuhen Wasser-Eis mit Ketchup verkaufen könnte.

„Ben, Tom ist ein alter Freund aus … früheren Zeiten, bevor ich hierher gezogen bin“, erklärte ich vorsichtig.

Tom musterte Bens Gesicht und mein verlegenes Lächeln. Dann verzog er seinen Mund zu einem wissenden Grinsen. Er wusste, dass Ben mich mochte. Er machte einen Schritt auf mich zu, legte einen Arm um meine Schultern und küsste mich auf mein Haar.

„Wir kennen uns schon – wie lange? Dreizehn Jahre?“, fragte Tom.

Ben biss die Zähne so fest zusammen, dass seine Kiefermuskeln hervortraten.

Ich unterdrückte ein verärgertes Aufstöhnen. Tom gefiel es, wenn er in ein Hornissennest stechen konnte. Ich entzog mich seiner Umarmung, ging mit festen Schritten zu Ben und gab ihm einen Kuss auf die Wange.

„Noch einmal danke, Ben, dass du für mich da warst und mich hierher gefahren hast. Mir geht es schon viel besser. Ich werde jetzt mit dem Aufräumen anfangen“, sagte ich zu ihm. Ben sah mich etwas verwirrt an, weil ich ihn plötzlich duzte und küsste, doch er fing sich schnell wieder.

„Dann mache ich mich mal auf den Weg.“ Ben warf Tom einen triumphierenden Blick zu. „Passen Sie auf, dass Sie nicht wieder in einer Seitenstraße angeschossen werden, denn heute habe ich keinen Dienst.“

„Machen Sie sich keine Gedanken. Ruby kann sehr gut auf mich aufpassen.“

„Tschüss, Ben!“, sagte ich und zog ihn zum Eingang.

„Sehen wir uns heute Abend?“, fragte Ben.

„Klar doch. Bitte hol mich um acht Uhr hier ab.“

Ich sah ihm nach, und dann drehte ich mich mit einem verärgerten Stirnrunzeln zu Tom um.

„Lass mich raten: Kaffee?“ In seinem Blick lag genüssliche Freude.

Ich verdrehte die Augen und schob Tom durch den hinteren Flur bis zur Hintertür.

„Musst du nicht irgendwo an einem gefährlichen Ort sein?“ Ich dachte an seine Arbeit in der Drogenfahndung, und mein Herz schlug schneller vor Angst. „Was ist eigentlich mit deiner Tarnung, Tom? Du darfst doch gar nicht hier sein, oder?“

„Darüber brauchst du dir keine Gedanken zu machen, wie ich höre.“ Tom blieb stehen und hielt sich mit beiden Händen am Türrahmen fest. Er sah zu mir herunter und lächelte mich an. Ich spürte, wie die Hitze in meine Wangen stieg. Er legte seine Stirn an meine.

„Du übernachtest doch nicht etwa allein hier, oder?“, flüsterte er. Sein Atem streifte meine Augenlider.

Tom wollte mir offenbar immer noch so nah wie möglich sein.

„Wie kommst du auf die Idee, dass ich hier übernachte?“ Ich trat zurück und stemmte die Hände in die Hüften.

Tom legte den Kopf schief und verschränkte die Arme vor der Brust. Er wusste also schon Bescheid.

„Woher weißt du …?“, fragte ich.

„Es ist meine Aufgabe, über Leute Bescheid zu wissen, Ruby. Ich kann es einfach nicht glauben, dass du deine Wohnung aufgegeben hast, um diese Ambulanz am Laufen zu halten.“

Ich machte noch einen Schritt weg von ihm und warf einen Blick zurück in den Flur, dorthin, wo mein zertrümmertes Büro lag. Voller Wut über so viel Zerstörungswut schüttelte ich den Kopf. „Du weißt ja gar nicht, was ich durchgemacht habe, um diese Ambulanz ins Leben zu rufen. Jetzt kann ich dem Ganzen nicht einfach den Rücken kehren.

„Du hast recht. Ich weiß gar nichts.“ In seinen Augen las ich Schmerz.

„Ich wollte dir nicht wehtun, Tom. Ich wollte doch bloß sagen …“

Sofort bereute ich meine Worte.

„Schsch“, flüsterte Tom. Er nahm meine Hand und küsste die Handfläche. Diese Geste trieb einen wohligen Schauder durch meinen Körper.

„Schon gut, ich weiß, was du sagen wolltest, Ruby. Und du hast auch recht mit dem, was du neulich gesagt hast.“ Er holte Luft und beugte sich zu mir herunter.

„Was ich gesagt habe?“ Ich konnte kaum noch klar denken, so verwirrt war ich von seiner Nähe.

„Du hast gesagt, dass du mich nicht mehr kennst. Dass ich dich wieder von Neuem kennenlernen muss.“ Er lächelte. Er war mir jetzt so nah, dass ich spürte, wie sich seine Lippen bewegten.

„Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich so etwas nicht gesagt habe“, hauchte ich.

Toms Hand glitt zu meinem Gesicht und legte sich beschützend um meine Wange. Er strich mit dem Daumen über meine Unterlippe. Diese Bewegung entzündete ein Feuer in meinem Innern. Ich packte die Ärmel seiner Jacke. Meine Finger gruben sich tief in den Stoff. In meinem Kopf schien zwar eine Alarmglocke zu schrillen, aber ich schloss die Augen, anstatt mich von ihm zu lösen. Toms Lippen näherten sich meinem Mund, ohne ihn jedoch zu berühren. Ich spürte seinen Atem wie einen sanften Lufthauch.

„Hier liegt ja alles in Trümmern!“, rief Lilah vom Eingang her. Erschrocken wandte ich mich von Tom ab.

„Ich … ich bin hier hinten!“, rief ich ihr zu. „Ich komme gleich nach vorn.“

Lilah kam immer zum falschen oder zum genau richtigen Zeitpunkt. Ich konnte mich bloß noch nicht entscheiden, ob ich das gut oder schlecht fand. Tom stöhnte leise auf und ließ mich los. Frustriert schaute er nach vorn zur Eingangstür. Ich folgte seinem Blick und sah, wie Lilah durch Schutt und Scherben stapfte und dabei Lärm für mindestens drei Personen machte.

„Ich muss endlich anfangen, wenn ich bis acht Uhr fertig sein will.“ Ich versuchte, ruhig und gelassen zu wirken. Um nicht zu zeigen, wie schwer ich atmete, bückte ich mich und hob einen zerbrochenen Kaffeebecher auf.

„Du wirst ihm das Herz brechen.“ Tom verzog den Mund zu einem schiefen Lächeln.

„Das weißt du doch gar nicht.“ Verärgert stemmte ich die Hände in die Hüften.

„Er ist nicht dein Typ.“ Tom lehnte sich an den Türrahmen.

„Aber du bist es?“ Ich warf ihm einen düsteren Blick zu.

„Wenn ich mich richtig erinnere.“ Die Wut über seinen spöttischen Tonfall und über meine eigene Schwäche trieb mir die Hitze ins Gesicht.

„Das ist lange her, Tom. Wenn ich mich richtig erinnere, hat es mit uns beiden nicht so gut geklappt.“

Für den Bruchteil einer Sekunde sah ich einen Anflug von Trauer auf seinen gleichmäßigen Gesichtszügen, aber er riss sich zusammen und schenkte mir ein gewinnendes Lächeln. „Seitdem hat sich eine Menge geändert, Ruby. Das wirst du noch sehen.“

„Ich weiß nicht, ob das jetzt noch eine Rolle spielt, Tom.“ Ich legte eine Hand an meine erhitzte Wange und zuckte mit den Schultern.

„Du solltest unsere Beziehung noch nicht völlig abschreiben.“ Seine Augen blickten traurig.

Ich sah ihn entsetzt an. Dann zeigte ich mit dem Finger auf meinen Brustkorb. Jetzt musste ich es herausschreien. „Ich … du willst mir sagen, dass ich unsere Beziehung nicht abschreiben soll … Du hast mich doch verlassen!“

„Das waren vielleicht nicht die richtigen Worte.“ Tom hob die Hände, als ob er sich ergeben wollte, und ging ein paar Schritte rückwärts.

Ich deutete mit einem zitternden Zeigefinger auf die Hintertür. „Geh jetzt.“

„Ruby …“

Ich griff nach einer herumliegenden Zeitschrift und warf sie in seine Richtung.

Tom duckte sich geschickt. „Du kannst immer noch sehr gut zielen“, sagte er mit einem süffisanten Grinsen.

„Tom, ich meine es ernst.“ Sein leiser Spott ärgerte mich. „Geh.“

„Und du brauchst nicht meine Hilfe?“ Er lächelte wieder. Offenbar ließ er sich durch meine Reaktion nicht einschüchtern.

„Ich will, dass du jetzt gehst, Tom. Ich kann nicht klar denken, wenn du hierbleibst.“ Mit beiden Händen wischte ich mir die Tränen aus den Augen.

Sein Lächeln wurde schwächer. „Tut mir leid.“ Er entfernte sich noch einen Schritt weiter von mir. „Ich gehe jetzt.“

„Das ist wohl das Beste“, flüsterte ich. Verunsichert biss ich mir auf die Unterlippe. Ich sehnte mich nach ihm, als ob ich ihn brauchte, um weiterzuleben.

„Wir sehen uns bald wieder.“ Jetzt waren seine grünen Augen dunkel vor Kummer, aber sein Lächeln blieb zärtlich.

„Tschüss, Tom“, sagte ich leise. Ich wollte mich wegen ihm nicht schlecht fühlen, und ich wollte ihn nicht mehr so nah an mich heranlassen. Schließlich hatte ich zu viel Verantwortung. Ich konnte es mir nicht leisten, seinetwegen den Verstand zu verlieren.

„Ruby!“, schrie Lilah wieder. „Ruby!“

Zögernd drehte ich mich um und ging durch den Flur zum Eingangsraum. „Das sieht schlimmer aus, als es ist, Lilah.“

„Was redest du da? Hier herrscht das totale Chaos!“

Sie breitete die Arme aus und drehte sich im Kreis. Ich hörte, wie sich die Hintertür leise schloss. Suchend sah ich mich nach Tom um. Mir wurde es schwer ums Herz. Er war verschwunden.

Kapitel 9

Jugendstrafanstalt Dresden Heights
Vor zwölf Jahren

In der Dunkelheit tastete ich nach der Leiter. Mit meinen zu großen Turnschuhen kletterte ich unbeholfen nach oben, und prompt stieß ich mir den Kopf an der Dachluke. Mühsam drückte ich sie nach oben. Mit einem Knirschen öffnete sich die Luke und fiel krachend auf den Kies. Ich kroch auf das Dach. Ich sah seinen schattenhaften Umriss an der Dachkante aus Ziegelsteinen. Die Strahlen der Scheinwerfer warfen ein grelles Licht auf das dunkle Feld unter uns.

„Die Wachleute suchen nach dir.“

Tom streckte eine Hand aus. Ich griff danach und setzte mich neben ihn. Dann warf ich einen Blick hinauf zum Vollmond über uns. Er sah aus wie ein hervorstehendes, blindes Auge, das auf uns herunterstarrte.

„Hast du schon mal bemerkt, dass die Menschen nie nach oben sehen, noch nicht einmal in Horrorfilmen?“

Ich erkannte den gequälten Klang seiner Stimme. Tom war wieder bei Dr. Wells gewesen, dem Schulpsychologen. Jeder in der Jugendstrafanstalt musste einmal im Monat zu ihm. Nach diesen Sitzungen war Tom immer seltsam verändert. Ich machte mir große Sorgen um ihn. Diese düsteren Stimmungen wollten mir nicht gefallen. Es machte mir Angst, wenn Tom so war. Ich hatte Angst vor ihm, wenn er sich in seiner Melancholie verlor.

„Was ist passiert?“, fragte ich. Ich merkte, wie Tom mit den Schultern zuckte.

„Er meint, ich kann die Prügelattacken einfach wegreden.“

Mir wurde die Kehle ganz eng vor lauter Mitleid. Wutanfälle unter Alkoholeinfluss, Narben von brennenden Zigaretten und schlecht verheilte Knochenbrüche – diese äußeren Zeichen erzählten eine schlimme Geschichte von dem unaussprechlichen Schaden, den Toms Vater bei seinem Sohn angerichtet hatte. Ich konnte nicht verstehen, warum Dr. Wells versuchte, mit Tom immer wieder über diese schrecklichen Erinnerungen zu reden. Ich tastete nach Toms Händen. Er hatte sie zu Fäusten geballt. Hartnäckig bohrte ich meine Finger in eine Faust, und er ließ es geschehen.

„Es tut mir so leid, Tom. Es tut mir so leid, dass dein Vater dir so wehgetan hat.“

Ich spürte seine innere Anspannung und versuchte, gegen meine wachsende Hilflosigkeit anzukämpfen. Eine Zeitlang saßen wir schweigend da. Dann flüsterte er kaum vernehmbar: „Wie machst du das bloß, Ruby? Wie machst du es, dass du die Hoffnung nicht aufgibst? Glaubst du wirklich, Gott denkt an Kinder wie uns, an einem Ort wie diesem?“

Ich nickte im Dunkeln. „Sheila hat immer gesagt, dass man Gott vertrauen muss, auch wenn es gerade nicht so gut aussieht. Ich glaube, wir sind jetzt in so einer Situation. Du musst Vertrauen zu Gott haben.“

Er strich mit einem Finger über die dünne Narbe an meiner Schläfe. Ich legte meine Hand auf seine.

„Das versuche ich ja, Ruby.“ Er beugte sich vor und gab mir einen Kuss auf die Schläfe. „Ich kann bloß nicht verstehen, warum die Leute so grausam sein können. Warum schmeißen sie Kinder einfach so weg … wie Müll?“ Er konnte nicht weitersprechen.

„Wir sind kein Müll, Tom“, flüsterte ich. Mein Herz war zentnerschwer. Ich wollte Tom unbedingt helfen, aber ich wusste nicht, wie. Im Mondlicht wirkte er noch bleicher, noch verlorener. „Sheila hat mich immer ihren vergrabenen Schatz genannt. Sie sagte, es sei für sie ein Segen gewesen, dass sie mich gefunden hat. Und weißt du was – ich glaube, sie hat das ehrlich gemeint.“

Tom sah mich mit tränennassen Augen an. Ich wurde unsicher. „Na ja, ich glaube es fast immer“, murmelte ich schließlich.

Tom nickte schweigend. Mit dem Ärmel seines T-Shirts wischte er sich die Tränen ab. Ich wünschte, er hätte Sheila kennengelernt. Ich berührte das kleine goldene Kreuz an meinem Hals. Sie hatte es mir geschenkt, als wir meinen ersten Geburtstag bei ihr feierten.

„Ich wünsche mir bloß, dass dieser Tag schon vorbei wäre“, sagte er. Seine Stimme klang traurig.

Plötzlich erinnerte ich mich an meine Überraschung. Ich zog ein kleines Päckchen aus der Tasche meines Sweatshirts. „Es ist noch nicht Mitternacht, Tom.“

„Was?“

„Herzlichen Glückwunsch zu deinem sechzehnten Geburtstag, Tom.“ Ich wickelte den kleinen Schokoladenkuchen aus und steckte eine Kerze in die Mitte. Die Kerze hatte ich aus dem Aufenthaltsraum der Lehrer entwendet. Dann zündete ich sie mit einem der neben der Kühlbox liegenden Streichhölzer an.

„Du hast an meinen Geburtstag gedacht“, sagte er erstaunt.

„Na klar doch.“

Tom lächelte und nahm mein Gesicht in beide Hände. Er legte seine Stirn an meine und flüsterte leise: „Du bist einfach umwerfend.“

Dann neigte er plötzlich den Kopf und berührte mit seinem Mund sanft meine Lippen. Es war ein zaghafter Kuss, der mein Gesicht zum Glühen und mein Herz zum Rasen brachte. So etwas hatte er noch nie gemacht.

„Soll ich mir etwas wünschen?“ Tom ließ mich los, hob den kleinen Kuchen hoch und schenkte mir ein strahlendes Lächeln.

Ich nickte stumm, während ich um Fassung rang. Ich sah zu, wie er die Kerze ausblies, aber ich hatte auf einmal große Angst, weil mir seine Nähe den Atem raubte.

* * *

„Ist Lava-Kuchen auch in Ordnung?“

Bens Stimme brachte mich wieder in die Gegenwart zurück, in das voll besetzte Café. Er stand am Tisch und hielt einen Teller mit Kuchen in der Hand.

„Wie bitte?“, fragte ich.

„Der Schokoladenkuchen ist schon weg, aber die Kellnerin meint, dieser Lava-Kuchen ist so ähnlich.“

„Ja klar, Lava-Kuchen ist prima.“ Hungrig stürzte ich mich darauf. Ich hatte kein Abendbrot gegessen. Nachdem Lilah und ich den ganzen Tag lang in der Ambulanz aufgeräumt und geputzt hatten, hatte ich mich gerade noch ein wenig frisch machen können, bevor Ben gekommen war. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie er mich besorgt musterte.

„Meinst du, du kommst klar, Ruby?“

„Natürlich. Der Schaden in der Ambulanz ist nicht so schlimm. Ich habe die Farbe abgewaschen und ein paar Klapptische gefunden. Natürlich war es ein furchtbarer Schock, aber es sind ja bloß Gegenstände, die sich ersetzen lassen. Ich komme schon zurecht.“ In Wirklichkeit hatte ich keine andere Wahl.

„Ja, sicher, aber … nein, das stimmt einfach nicht. Das hier ist ein Fall von Vandalismus, nicht bloß sinnlose Schmierereien oder eine blödsinnige Protestaktion. Das hier ist ein zielgerichteter Versuch, der Ambulanz und dir Schaden zuzufügen.“ Ben sah mir unverwandt in die Augen. Er war wirklich beunruhigt.

„Ich weiß, dass es so aussieht. Aber vielleicht waren es auch bloß ein paar Leute aus dem Viertel, die sich über mich ärgern, weil ich ihnen keine Drogen gebe.“

Ich hatte ihn wohl nicht überzeugt, aber er widmete sich schweigend seinem Kirschkuchen. Ich hatte meinen Lava-Kuchen viel zu rasch vertilgt, und jetzt hatte ich das dringende Bedürfnis, den Teller abzulecken. Stattdessen nippte ich an dem heißen Kaffee. Die dunkle Flüssigkeit tropfte auf meine cremefarbene Bluse und meinen hellblauen Rock. Ich versuchte, die Flecken mit einer Papierserviette abzutupfen. Rock und Bluse gehörten zu den wenigen eleganteren Kleidungsstücken, die ich besaß.

„Und was meint Tom dazu?“, fragte Ben zwischen den einzelnen Bissen. Er musste noch üben, locker und gelassen zu wirken.

„Du hast ja gehört, was er dazu meint“, entgegnete ich und sah Ben an. „Aber wenn es dir nichts ausmacht, möchte ich jetzt weder über ihn noch über die Ambulanz reden.“

„Na gut“, sagte er, lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und wischte sich mit der Papierserviette über den Mund. „Darf ich dich etwas fragen?“

„Klar doch.“

„Wie warst du als Kind? Wolltest du schon immer Ärztin werden?“

Ich war plötzlich auf der Hut. Es wollte mir nie so richtig gelingen, über die fehlenden Jahre meiner Kindheit oder mein schreckliches Leben als Teenager zu sprechen. Deshalb war ich meistens sehr zurückhaltend, wenn es um meine Person ging. Lilah kannte meine ganze Lebensgeschichte. Und Tom natürlich.

„Ähm, na ja. Ich glaube, ich habe mich erst auf dem College für den Arztberuf entschieden. Ich habe dort auf der Krankenstation gearbeitet, um meine Ausbildung zu finanzieren, und daraus ist dann mein Berufswunsch entstanden.“

Und dann waren da noch die Krankenschwestern, denen ich meinen Namen verdankte, und die eine, die mich als Pflegekind aufgenommen hatte. Das Krankenhaus war meine erste zusammenhängende Erinnerung in meinem Leben. Die Version, die ich Ben erzählte, gefiel mir jedoch besser als die Wirklichkeit.

„Und deine Eltern? Die sind bestimmt sehr stolz auf dich.“ Er merkte, dass ich ihn hinhalten wollte.

„Dieser Kaffee schmeckt hervorragend, Ben. Möchtest du wirklich keinen?“

„Vielleicht bestelle ich mir doch welchen. Danke.“ Ben fixierte mich kurz mit seinem Blick. Mit den Fingerspitzen klopfte er auf seinen Teller. Das leise Geräusch zerrte an meinen Nerven.

„Das solltest du tun“, sagte ich schließlich mit einem hoffnungsvollen Lächeln.

Ben war nicht dumm. Er merkte, dass er mich nicht bedrängen durfte.

„Und wie gefällt dir dein neues Auto?“, fragte er nach einem kurzen, peinlichen Schweigen. Mein Blick fiel auf Renées Autoschlüssel. Ich hatte Angst, dass mit diesem Auto auch etwas passieren könnte.

„Es gefällt mir gut.“ Ich sah, wie Ben angestrengt die Augenbrauen zusammenzog, und ich bekam ein flaues Gefühl im Magen.

„Also gut, Ben. Frag mich, was du willst. Dieses leere Geschwätz geht mir auf die Nerven.“

„OK.“ Er beugte sich vor und sah mir tief in die Augen. „Wie ist das mit Tom? Er ist ein VE, stimmt’s? Woher kennst du ihn?“

„Ein VE? Was ist denn das?“

„Ein verdeckter Ermittler. Was verbindet euch beide? Er hat gesagt, dass ihr euch schon mehr als ein Jahrzehnt lang kennt.“

„Es ist eher so, dass ich ihn vor einem Jahrzehnt gekannt habe“, murmelte ich.

„Wie bitte?“ Bens goldgefleckte Augen blickten erstaunt.

„Ich habe es dir doch schon erzählt. Ich kannte ihn, bevor ich hierher gezogen bin. Das ist alles“, erwiderte ich mit gespielter Gleichmütigkeit.

„Ja“, bestätigte er. „Ich weiß, dass du ihn eine ganze Weile nicht gesehen hast.“

„Woher weißt du das denn?“, fragte ich verblüfft.

„In der Nacht, als ich euch beide zur Notaufnahme gefahren habe, hat er ständig versucht, sich bei dir zu entschuldigen.“

Ich nickte, während ich aus meiner Serviette einen Kranich faltete.

„Diese verdeckten Ermittler stehen ständig unter Hochspannung. Weil ich ihn in meinem Bezirk noch nie gesehen habe, auch nicht draußen auf der Straße, muss er neu sein“, erklärte Ben.

„Ja, und?“

„Wieso taucht er gerade dann hier auf, wenn in der Ambulanz alle diese verrückten Sachen passieren? Wie gut kennst du diesen Typen eigentlich?“

„Ich kenne ihn, Ben“, antwortete ich ruhig. „Vertrau mir, ich … ist das jetzt ein Verhör oder was?“

„Ich frage mich bloß, warum ein verdeckter Ermittler im aktiven Dienst Umgang hat mit jemandem, der seinen richtigen Namen kennt.“ Ben lehnte sich zurück und hob die Hände, als ob er sich ergeben wollte.

„Er hat keinen Umgang, Ben, sondern er wollte sich nur versichern, dass es mir gut geht. Und noch etwas: Woher weißt du, ob er im aktiven Dienst ist oder nicht? Beurlaubt die Drogenfahndung nicht Mitarbeiter, auf die geschossen wurde?“

„Die Drogenfahndung?“

„Am besten wechseln wir das Thema, bevor ich Abschuss-Codes oder Ähnliches preisgebe.“ Ich schlug mir mit der Hand an die Stirn.

„Ich bin nicht an seiner beruflichen Geschichte interessiert, sondern bloß an seiner Geschichte mit dir.“

„Aber warum denn?“

„Weil ich sehe, wie er dich anschaut.“

„Hör zu, Ben, ich kenne Tom seit meiner Kindheit.“ Ich spürte, wie mir die Röte vom Hals ins Gesicht hinaufstieg.

„Seit deiner Kindheit? Wie alt warst du da?“ Er zog die Augenbrauen hoch.

„Warum spielt das denn für dich eine Rolle?“

Ben beugte sich noch ein Stück weiter vor. Seine Stimme wurde zu einem verschwörerischen Flüstern, seine dunklen Augen glitzerten. „Ich will wissen, ob du mit Kindheit meinst: Wir haben zusammen im Sandkasten gespielt, oder ob du eher meinst: Wir waren Teenies und hatten eine romantische Beziehung, so ähnlich wie Romeo und Julia.“

„Eine romantische Beziehung?“

„Ich will wissen, wer meine Konkurrenten sind, das ist alles.“

Ben streckte den Arm aus, nahm meine Hand und verschränkte seine Finger mit meinen.

Bevor ich etwas erwidern konnte, gab mein Handy einen zirpenden Ton von sich. Ich hatte es für meine Verabredung mit Ben auf stumm geschaltet, aber die SMS machten sich trotzdem bemerkbar. Ich warf einen Blick auf das Display. Eine Nachricht von Lilah zeigte die Nummer des Notrufs und etwa zwanzig Ausrufezeichen dahinter.

„Oh weh“, sagte ich besorgt. Mein Magen zog sich zusammen. Ich hatte eine düstere Vorahnung.

„Was ist denn los?“

Ich schüttelte den Kopf und wählte Lilahs Nummer. Meine Vorahnung verwandelte sich in eiskalte Furcht. Hier stimmte etwas nicht. Sie nahm nach dem ersten Klingeln ab.

„Ruby, Dakota ist verschwunden!“, schrie sie laut. Ich konnte sie kaum verstehen.

„Sprich langsam, Lilah“, ermahnte ich sie. „Was ist passiert?“

Sie weinte ins Telefon. Es waren laute, herzzerreißende Schluchzer, die mich vor Angst zittern ließen.

„Er hat gestern gesagt, dass er sich mit einem Kumpel treffen wollte, aber er ist nicht zurückgekommen. Ich bin über das ganze Gelände gelaufen und habe nach ihm gesucht. Dann habe ich den Minivan hinter den Garagen gefunden. Ruby …“ Ihre nächsten Worte waren ein verzweifelter Aufschrei. „Auf dem Fahrersitz ist Blut. Überall ist Blut!“