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Der Wille zur Macht

Eine Auslegung alles Geschehens

von
Friedrich Nietzsche

Neu ausgewählt und geordnet von
Max Brahn

Große Dinge verlangen, daß man von ihnen schweigt oder groß redet: groß, das heißt zynisch und mit Unschuld.

1917

Alfred Kröner Verlag in Leipzig

Altenburg
Pierersche Hofbuchdruckerei
Stephan Geibel & Co.

 

[Der Plan, der dieser Anordnung zugrunde gelegt wurde, lautet in Nietzsches Niederschrift:]

Der Wille zur Macht
Versuch einer Umwertung aller Werte

Erstes Buch
Der europäische Nihilismus

Zweites Buch
Kritik der bisherigen höchsten Werte

Drittes Buch
Prinzip einer neuen Wertsetzung

Viertes Buch
Zucht und Züchtung

entworfen
den 17. März 1887
Nizza

 

Vorwort.

Nietzsche hatte die Absicht, in einem zusammenhängenden Werke den Gesamtertrag seiner Lehre darzustellen. Die Titel des beabsichtigten Werkes und die Gesichtspunkte seiner Ordnung wechselten, aber die einheitliche Idee, seine Philosophie übersichtlich darzustellen, blieb bestehen. Es sollten keine neuen Grundideen in dem Werke stehen, keine wichtige Grundlehre verändert werden; das Werk hätte vielmehr beweisen sollen, daß sein Gedankenkreis vom ersten bis zum letzten Werk der gleiche geblieben ist. Alle so verschieden erscheinenden Lehren der einzelnen Entwicklungsperioden sind nur Variationen des gleichen Themas; eine Grundmelodie tönt dem aufmerksam Hinhörenden stets durch. Sie herauszuhören, ist nicht leicht. Denn seine Neigung, die gerade im Vordergrunde stehenden Gedanken, den augenblicklich herrschenden Affekt fast gewaltsam zu betonen, ihm die ganze Kraft seiner eindrucksvollen, überwältigenden Sprache zu leihen, läßt oft die Nebentöne deutlicher vernehmen als den Grundton. Daher wenige Denker so bedächtig gelesen werden müssen, wie der anscheinend so leicht eingehende Nietzsche.

Volle, leichte Klarheit hätte daher nur ein solches, die Hauptgedanken allein hervorhebendes Werk bringen können. Darum ist es ein so trauriger Gedanke, daß seine Erkrankung die Vollendung gerade dieses Werkes verhinderte, an dem er vom Jahre 1882 an stets gearbeitet, zu dem er sich ununterbrochen Einzelaufzeichnungen gemacht und Dispositionen entworfen hat. Aus diesem Gedankenkreise entnahm er wesentliche Teile und vereinigte sie zu seinen letzten Werken, besonders zum Antichrist, der in den letzten Monaten vor seiner Erkrankung entstanden ist und in einem erregten Ton geschrieben ist, der sich von der Stilart der Niederschriften völlig unterscheidet.

Was dann vom Gesamtwerke übrigblieb, das war eine unendliche Fülle von einzelnen Notizen, die sich in einer großen Anzahl von Heften finden. Die bisherigen Ausgaben stellten sich die Aufgabe, von diesem Gedankenreichtum nichts verloren gehen zu lassen, und ordneten alles Vorhandene unter die von Nietzsche selbst angegebenen Gesichtspunkte. Durch zahlreiche Stichproben durfte ich mich davon überzeugen, mit wie großer Sorgfalt und treuer Gewissenhaftigkeit Elisabeth Förster-Nietzsche und Peter Gast die mühevolle Aufgabe gelöst haben, die schwer lesbaren Manuskripte zu entziffern und die Aphorismen unter die gegebenen Gesichtspunkte zu bringen. In den Heften fand sich vielerlei, was dem Denker bei Gelegenheit der Niederschrift oder zufällig zu gleicher Zeit einfiel, ohne daß es unmittelbar für das neue Ganze nötig war. Es ist nicht leicht, diese oft so lockenden Gedanken wegzulassen; es war auch für eine erste Ausgabe das Rechte, sie dem Leser nicht vorzuenthalten. Doch erschweren sie oft das Sichzurechtfinden in den leitenden Ideen und geben auch durch ihre große Zahl dem Werke einen übermäßigen Umfang.

Da schien es angebracht, den Versuch zu machen, aus den Manuskripten wenigstens dem Sinne nach das zu machen, was Nietzsche selbst vorschwebte: eine Darstellung seiner Grundlehre; zugleich aber dem neugeordneten Werke eine Form zu geben, die eine leichte Übersicht gestattet und so durch die Änderung der äußeren Form das Eindringen in die Hauptlinien des Inhaltes erleichtert. So konnte ich in Übereinstimmung mit Elisabeth Förster-Nietzsche das herausheben, was den Grundgedanken, des „Willen zur Macht“, erklärt. Dann kam es darauf an, das Vorhandene so zu verteilen, daß ein Führer durch Nietzsches Grundlehren entstand. Da fehlen freilich Begriffe als wesentlich, die sonst oft im Vordergrund zu stehen scheinen, wie der „Übermensch“; andere, wie die „ewige Wiederkehr“, treten nur gelegentlich auf. Nicht ein Wechsel der Lehre liegt aber in diesen Fällen vor; der systematische Aufbau läßt vielmehr das an früheren Stellen laut Betonte hier nur als einen Unterteil eines größeren Ganzen erscheinen. So geht der Übermensch unter in der Gesamtauffassung des neuen, großen Menschen überhaupt, und die ewige Wiederkehr aller Dinge, von der es einst scheinen konnte, sie zähle zu den Hauptlehren, wird eines unter den verschiedenen Mitteln zur Zucht des großen Menschen, wenn auch eines der entscheidenden. Gerade in dieser Ausgeglichenheit der Werte liegt die große Bedeutung, die das Werk selbst als unvollendetes hat. In Zarathustra hatte Nietzsche prophetenhaft zur Nachfolge seiner Lehre aufgerufen; kein Wunder, daß ein so geartetes Werk, dem Eindruck bestimmt, ihn auch im weitesten Kreise machte. Der Prophet will wirken, beeinflussen – dazu gehört Affekt, der mitreißt, gehört starke Betonung dessen, was der Prophet in den Vordergrund stellen will. Der „Wille zur Macht“ will lehren, klarlegen, aus Geschichte und Natur erläutern, wohl gar beweisen. Hier ist der ordnende Intellekt an der Arbeit, der systematisch aufbaut, nicht um zur Tat aufzurufen, den heiligen Krieg für eine neue Lehre zu verkünden, sondern um zu zeigen, aus welchen Wurzeln die eigene Lehre erwachsen ist, und wie sie die Gesamtheit der Welt dem willig Folgenden zu erklären vermag.

Eine Weltdeutung kann aber aus sehr verschiedenen Wurzeln erwachsen, je nach der Persönlichkeit des Philosophen. Die Versenkung ins All, in die unmittelbare Tiefe der Dinge kennzeichnet den Typus des Metaphysikers und Mystikers. Die Vereinigung der letzten wissenschaftlichen Ergebnisse den wissenschaftlichen Philosophen. Das Ausgehen vom Menschen als dem Geschichte schaffenden und nur in der Geschichte bekannten Wesen den Kulturphilosophen, dem der Mensch das interessanteste Problem ist. Vom ersten bis zum letzten seiner Werke ist Nietzsche Kulturphilosoph. Von der Kultur der Griechen – dem höchsten Kulturtypus – schlug er in seinem Erstlingswerk die Brücke zu Wagner, also zur Kultur der Gegenwart. Das Christentum stand im Hintergrunde; es brauchte gar nicht genannt zu werden, um doch da zu sein. Vom Christentum führt auch der „Wille zur Macht“ zur Gegenwart, noch mehr zur neu zu schaffenden Zeit, zu der Zukunft, die durch den starken Willen des Menschen aus dieser Gegenwart werden soll.

 

Von unserer Zeit redet dieses Buch zunächst, nicht von einer Ewigkeit, einem stets Gleichen, wie die Metaphysiker tun. Eine Zeit ist nur aus den Werten bestimmbar, an die sie glaubt: denn alles Handeln ist ein Werten, jede Bewegung will etwas, also wertet sie etwas. Alle Werte ordnen sich letzten Endes einem letzten, höchsten, einem Oberwert unter, wie Raoul Richter in seinem Nietzschebuch ausgeführt hat. Unsere Zeit hat keine festen Werte; „das Eis, das uns noch trägt, ist so dünn geworden: wir fühlen alle den warmen, unheimlichen Atem des Tauwindes.“ Uns fehlt jeder bestimmte Glaube an den Wert der Dinge, da der einzige bisher zusammenhaltende Glaube im Niedergang ist, der christliche. Er gab dem Menschen einen absoluten Wert, den man genau kannte, gab ihm Selbstachtung und dem Übel einen Sinn. An sich selbst hat Nietzsche das Dahinschwinden des christlichen Glaubens empfunden, er, der Abkömmling von Theologen bis ins dritte und vierte Geschlecht. Er kannte die Feinheiten des Glaubens, er wußte, daß sie Erbgut in ihm waren, besonders jener vom Christentum anerzogene Glaube an die Wahrhaftigkeit. Schwindet er dahin, so tritt leicht die Meinung auf, daß es überhaupt keinen Sinn der Welt gibt, wenn dieser nicht gilt: die Ziellosigkeit an sich wird der Wert, der Nihilismus ist da.

Wie aber konnte ein solches letztes Ziel verloren gehen, woher mußte die Auflehnung gegen das Christentum entstehen? Nach Nietzsche ist die Ablehnung des Christentums Abweisung der décadence, das heißt der Lehre der Erschöpften, der Schwachen, der Gegner des Lebens, derer, die nicht das Wachstum, die Größe, die Schönheit der Dinge der Welt wünschen. Unsre bisherige Moral ist im Grunde christliche; sie ist aber gleichzeitig die Moral der schwachen Menge, die sich gegen die gefährlichen Starken auflehnt, die aber durch ihre Zahl, ihre größere Klugheit, feinere Geistigkeit den Sieg über die Starken davonträgt. In dieser Erkenntnis sieht er wohl die kritische Grundlehre seines Systems, auf die sich alles Positive aufzubauen hat.

 

Denn aufbauend will er sein; alles Kritische, Verneinende ist ihm zuwider, er benutzt es nur als Mittel, sein Bejahendes deutlich zu machen, als nötig zu erweisen. Zu Taten will er die Menschheit befähigen, da er ein Philosoph ist, das heißt für ihn ein Werteschaffer; unserer Zeit aber „fehlt der Philosoph, der Ausdeuter der Tat, nicht nur der Umdichter“. Daher auch der Kern dieses Werkes nicht im ersten und zweiten Buch liegt, die nur Schutt wegräumen wollen, ehe das Gebäude im dritten und vierten Buch aufgerichtet wird: in diesen liegt nach der Absicht Nietzsches die Deutung der Zukunft.

Worauf es also bei ihm hinausläuft, das ist mit einem Worte zu sagen: auf eine neue Moral. Wo er Moral bekämpft, da kürzt er nur das Wort; es müßte da stets heißen: bisherige Moral, für deren entwickeltste Form er die christliche ansieht. Was seine Moral mit der christlichen verbindet, das sagt ganz deutlich seine schöne Bestimmung: „Ich verstehe unter Moral ein System von Wertschätzungen, welches mit den Lebensbedingungen eines Wesens sich berührt.“ Daher kann es für ihn keine allgemeine Moral geben. Streng genommen gibt es nur eine Moral für jeden Einzelnen; faßt man die Einzelnen zu Typen, Arten zusammen, so gibt es Moralen für die Starken und die Schwachen, die Gesunden und die Kranken. Hier berührt sich die Lehre mit modernen Ideen, die, von ihr unbewußt oder bewußt abhängig oder nicht, die Menschen nach Anlagen einteilen und verlangen, daß unsere Erziehung in jedem die Anlage voll entwickelt und nicht versucht, aus jedem alles zu machen. In strenger Selbstuntersuchung, sich selbst verantwortlich, hat ein jeder festzustellen, „wer bin ich?“ und sein Leben so zu gestalten, daß sein Ich ungebrochen zur Entwicklung kommt, nicht nur die Freuden seiner Eigenart und seiner Lebensform suchend, nein, alle Leiden gern als notwendig mit auf sich nehmend. Streng und unerbittlich, hart gegen sich, wie nur je ein Asket es sein kann, vielleicht aber im Strome des Lebens viel leidender, viel gequälter.

 

Die Moral, die hier gelehrt wird, ist die der Starken, die den Mut zu diesem strengen, harten, nur sich selbst verantwortlichen Leben haben. Wer diese lehrt, wird notwendig manches angreifende, kriegerische Wort für die entgegengesetzte Art, die Schwachen, haben. Aber „möchten wir eigentlich eine Welt, in der die Nachwirkung der Schwachen, ihre Feinheit, Rücksicht, Geistigkeit, Biegsamkeit fehlte?“ Die Moral der Schwachen wird von Nietzsche nicht etwa nur geduldet – ein ihm furchtbares Wort –, sie wird gewünscht, weil für nötig befunden. Aber sie soll nicht die herrschende sein, sie soll nicht sich alle „Moral“ zuschreiben; sie muß einsehen, daß sie genau so moralisch und unmoralisch, weil genau so nur aus einer bestimmten Perspektive der Welt hervorgehend ist wie die der Starken. Sie will Erhaltung, oft Stillstand: sie lasse der Moral des Schaffens freie Bahn, die das Alte oft zerbrechen muß, um neue Maßstäbe aufzustellen. Nietzsche sah voraus, daß es „dem nächsten Jahrhundert hier und da gründlich im Leibe rumoren wird“, daß neue Werte in jeder Hinsicht kommen werden – hat unser Geschlecht, das des größten Krieges der Weltgeschichte, wirklich das Gefühl in sich, daß es den alten Werten gehorcht? Neues, Starkes kommt, weil es kommen muß, weil es sich mit unseren Lebensbedingungen berührt, die nicht mehr die gleichen sein werden. Ob nicht gar der Prophet dieser neuen Zeit schon gelebt hat?

Woher nimmt nun Nietzsche diese neue Wahrheit über die Moral; glaubt er allgemeingültige Sätze aufzustellen, deren Gegensatz falsch sein muß? Nein, auch diese Wahrheit ist ihm wie jede andere nur „eine Art von Irrtum, ohne welche eine bestimmte Art von lebendigen Wesen nicht leben könnte. Der Wert für das Leben entscheidet zuletzt.“ Jeder Sinn, der in den Dingen liegt, ist ihm nur eine Beziehung, die sich der Mensch schafft, letzten Endes, um der Dinge Herr zu werden, um sein Machtgefühl über die Dinge zu steigern, um seinen unbezähmbaren Willen zur Macht auszuüben. Es gibt vielerlei Wahrheiten von den Dingen, jede Art macht sich die Dinge so zurecht, daß sie seinem Leben dienen, macht sich die ihm nützlichsten Fiktionen vom Sein und Wesen der Dinge. Darin steht Nietzsche der Philosophie sehr nahe, die neuerdings unter dem Namen der „Philosophie des Als-Ob“ so großes Aufsehen gemacht hat. Man kann, wenn man das dritte Buch dieses Werkes liest, nicht mehr behaupten, daß Nietzsche nur Moralphilosoph sei – von seinen Anschauungen über die Erkenntnis ist stärkste Anregung auf unsere Zeit ausgegangen. Er hat, mag er auch Darwin bekämpfen, so doch aus dem Geiste der Entwicklungslehre letzte Folgerungen gezogen. Und nun verfolgt er diese Grundidee, daß es der Wille zur Macht ist, der unsere Wahrheiten schafft durch alles Sein hindurch, in alle Tiefen unserer Weltanschauung hinein. Aber nicht unser Erkennen allein – selbst nur eine Sonderart der Natur – ist Wille zur Macht, die Natur ist es in ihrem tiefsten Kern. Alles Sein ist Leben – alles Leben Machtwille. Kräfte des Willens, die immer neue Kräfte anhäufen, die ihnen innewohnende Macht steigern und organisieren möchten, sind die letzten Erklärungen, die es für alles Sein gibt. Alles Geschehen, alle Veränderung läßt sich auf den Willen zur Macht zurückführen, der nie ruht, stets zu neuen Formen größerer Macht sich wandeln will – mit dieser Einsicht, die selbst keine absolute ist, gewinnen wir die für uns brauchbarste „perspektivische Schätzung“ der Welt, Macht über sie. „Diese Welt ist der Wille zur Macht – und nichts außerdem. Und auch ihr selber seid dieser Wille zur Macht – und nichts außerdem.“

Soviel Macht einer in sich birgt, so viel ist er dieser Beurteilungsweise wert. So entsteht eine Rangordnung der Menschen nach ihren Machtgrößen. Ist es wirklich nötig, darauf hinzuweisen, daß es sich hier nicht um jene äußere Macht handelt, die mit Kanonen sich durchsetzt? Daß es sich dabei um eine innere Haltung der Seele handelt, die stark ist und nichts will, als ihre Kraft, ihre Macht erweitern, die sich nicht genug tun kann, ihren Mut zu erweisen, die so stark strömt, daß sie wissentlich ihre Kräfte verschwendet, die im Herrschen über sich und andere ihre Pflicht findet. Solche Aristokratie ist angeboren, ist „Geblütsadel“. „Ich rede hier nicht vom Wörtchen ‚von‘ und vom Gothaischen Kalender: Einschaltung für Esel.“ So darf man auch denen zurufen, die das Wort Macht bei Nietzsche vergröbern, um dagegen zu kämpfen.

Diese Menschen voll Willen, Kraft, Macht sind die Erschaffer des Neuen; sie geben allem neue Werte, sie rechtfertigen die Welt einfach dadurch, daß sie da sind. Nicht ihre Leistung, ihr Sein ist das Wesentliche. Es geht hier mit dieser von Nietzsches Lehren wie mit anderen: in seiner grandiosen, übersteigenden Sprache klingen sie oft so weltfremd, so erfunden, so lebensunbrauchbar. Und doch drücken sie nur Wahrheiten aus, die sich in der Menschheit stets wieder als ganz natürliche Erlebnisse erweisen. Hat nicht die Erregung der Kriegszeit gezeigt, wie sehr die Menschen dazu neigen, sich Heroen zu schaffen, führende, herrschende Naturen, denen alle anderen gern, als ob es nicht anders sein könnte, sich unterwerfen! Willig folgen sie dem, der neue Werte aufstellt und beweist, daß er einen starken, langen Willen hat, der imstande ist, sich gegen eine Welt von Hindernissen durchzusetzen. Auf seinen Wink tun sie alles, leiden sie alles, opfern sie sich hin bis zum Aufgeben des Lebens. Eine ganze Nation erlebt dann plötzlich die Wahrheit der Lehre, daß es auf diese geborenen Führernaturen ankommt, daß sie herangezogen werden müssen, wenn die anderen nicht untergehen sollen. Dann sieht man auch deutlich, daß nicht Lust und Unlust, wenigstens nicht die Formen, von denen Optimismus und Pessimismus zu sprechen pflegen, großes Handeln des Menschen bestimmen. Das Glück dieser Großen liegt allein „in dem herrschend gewordenen Bewußtsein der Macht und des Sieges.“ Darf man von ihnen die Moral des Mitleids, Rücksichtnahme, Milde verlangen – oder wünscht nicht die Menge sie hart, unbeugsam, stark, Macht durch und durch? Groß sollen sie sein und vornehm – die beiden Haupteigenschaften, die Nietzsche von „seinen“ Menschen verlangt.

 

Diese großen schaffenden Menschen – der Theorie oder der Praxis – greifen mit mächtiger Hand in das Rad des Daseins; sie drehen seine Speichen ein Stück vorwärts, indem sie das Gefühl in sich tragen, der Welt neue Kräfte gewinnen zu müssen, nicht anders zu können, als Welt zu gestalten, indem sie sich selbst gestalten. Sie fragen nicht nach dem Werte des Lebens, sie fühlen die furchtbaren Gründe, auf denen es ruht, sie kennen seine Furchtbarkeit und seine Untiefen – und gewinnen daraus Einsicht und Kraft, es neu zu gestalten, ihren Willen zur Macht daran zu erproben, selbst wie göttliche Kräfte, darin zu zerstören, zu vernichten, Altes zu zerbrechen, Verbrecher am Gesetz zu werden, um Neues, Größeres werden zu lassen. Sie sagen „Ja“ zum Gesamtdasein und können darum zu keinem Teil „Nein“ sagen: denn die Notwendigkeit verschlingt alle Dinge untrennbar ineinander, daß man alles Sein bejahen muß, wenn man den kleinsten Teil bejaht. Ihre unendlich strömende Kraft freut sich des Gestaltens an dieser Welt, der einzigen Aufgabe des Menschen, seines Künstlerberufs. Sie kennen keine seiende Welt, nur eine werdende, eine sein sollende, an der Menschen ihr und der Welt Geschick zimmern. An den Widerständen, die sie ihnen bietet, wächst ihre Kraft; ihr Wille zur Macht kann sich nie genug tun, dieser Welt immer neue Gestalten zu geben, von ihrer Fülle, dem Reichtum ihrer Geistes- und Willenskräfte in die Welt hinüberströmen zu lassen. Sie sehen auf diese Welt als ihr Werk und wünschen sich nur eins: stets wieder an ihr zu formen bis in alle Unendlichkeit, immer von neuem wieder, unendlich oft. Sie bejahen dieses Dasein und wünschen, so wie es ist, wie es durch sie und ihren Machtwillen wird, möchte es wiederkehren: in gleicher Form unendlich oft in ewiger Wiederkehr. Diese Sehnsucht, ihrem Machtwillen entstammend, gibt ihnen Kraft – und diese neue Kraft gibt ihnen neue Sehnsucht. Die Schwachen aber gehen an dem Gedanken zugrunde, daß dieses Leben unendlich oft wiederkehren möge – und hier wie überall trennen sich denn die Menschen in ihrem Glauben, ihrem Wissen, ihrer Kunst, ihrem Handeln und Wünschen notwendig in die Starken und die Schwachen, weil dieser Unterschied ruht auf dem letzten Grunde des Seins: dem Grade des Willens zur Macht.

Max Brahn.

 

Inhalt.

Seite

Vorwort

V-XIV

Erstes Buch: Der europäische Nihilismus

1-45

1. Geschichte

1

2. Wesen und Ursache

14

3. Krisis

32

Zweites Buch: Kritik der höchsten bisherigen Werte

46-120

(Einsicht in das, was durch sie Ja und Nein sagte.)

I. Moral:

1. Entstehung und Sieg

46

2. Die moralischen Ideale

71

3. Philosophie und Moral

99

4. Philosophie und Wissenschaft

107

5. Freie Philosophie

116

II. Religion:

1. Entstehung

120

2. Christentum

131

Drittes Buch: Prinzip einer neuen Wertsetzung

156-307

I. Die neue Deutung der Welt

156

II. Der Geist – ein Machtwille:

1. Wahrnehmung

163

2. Erkenntnis

177

a. Allgemeines

177

b. Logik und Wissenschaft

185

c. Ursache und Wirkung

195

d. Ich und Außenwelt

204

3. Metaphysik

206

Die „wahre“ Welt

206

III. Die Natur – ein Machtwille:

1. Die anorganische Natur

219

2. Die organische Natur

229

3. Der Mensch als Naturwesen

239

IV. Die Gesellschaft – ein Machtwille:

1. Der Mensch als geselliges Wesen

253

2. Der Staat

266

V. Kunst – ein Machtwille

277

Viertes Buch: Zucht und Züchtung

308-376

1. Die Rangordnung

308

2. Der züchtende Gedanke

347

 

Erstes Buch.
Der europäische Nihilismus.

1. Geschichte.

1.

Was ich erzähle, ist die Geschichte der nächsten zwei Jahrhunderte. Ich beschreibe, was kommt, was nicht mehr anders kommen kann: die Heraufkunft des Nihilismus. Diese Geschichte kann jetzt schon erzählt werden: denn die Notwendigkeit selbst ist hier am Werke. Diese Zukunft redet schon in hundert Zeichen, dieses Schicksal kündigt überall sich an; für diese Musik der Zukunft sind alle Ohren bereits gespitzt. Unsere ganze europäische Kultur bewegt sich seit langem schon mit einer Tortur der Spannung, die von Jahrzehnt zu Jahrzehnt wächst, wie auf eine Katastrophe los: unruhig, gewaltsam, überstürzt: wie ein Strom, der ans Ende will, der sich nicht mehr besinnt, der Furcht davor hat, sich zu besinnen.

2.

– Der hier das Wort nimmt, hat umgekehrt nichts bisher getan als sich zu besinnen: als ein Philosoph und Einsiedler aus Instinkt, der seinen Vorteil im Abseits, im Außerhalb, in der Geduld, in der Verzögerung, in der Zurückgebliebenheit fand; als ein Wage- und – Versuchergeist, der sich schon in jedes Labyrinth der Zukunft einmal verirrt hat; als ein Wahrsagevogel-Geist, der zurückblickt, wenn er erzählt, was kommen wird; als der erste vollkommene Nihilist Europas, der aber den Nihilismus selbst schon in sich zu Ende gelebt hat, – der ihn hinter sich, unter sich, außer sich hat.

3.

Denn man vergreife sich nicht über den Sinn des Titels, mit dem dies Zukunftsevangelium benannt sein will. „Der Wille zur Macht. Versuch einer Umwertung aller Werte“ – mit dieser Formel ist eine Gegenbewegung zum Ausdruck gebracht in Absicht auf Prinzip und Aufgabe; eine Bewegung, welche in irgendeiner Zukunft jenen vollkommenen Nihilismus ablösen wird, welche ihn aber voraussetzt, logisch und psychologisch, welche schlechterdings nur auf ihn und aus ihm kommen kann. Denn warum ist die Heraufkunft des Nihilismus nunmehr notwendig? Weil unsre bisherigen Werte selbst es sind, die in ihm ihre letzte Folgerung ziehen, weil der Nihilismus die zu Ende gedachte Logik unsrer großen Werte und Ideale ist, – weil wir den Nihilismus erst erleben müssen, um dahinter zu kommen, was eigentlich der Wert dieser „Werte“ war.... Wir haben, irgendwann, neue Werte nötig....

4.

Die Verdüsterung, die pessimistische Färbung kommt notwendig im Gefolge der Aufklärung. Gegen 1770 bemerkte man bereits die Abnahme der Heiterkeit; Frauen dachten mit jenem weiblichen Instinkt, der immer zugunsten der Tugend Partei nimmt, daß die Immoralität daran schuld sei. Galiani traf ins Schwarze: er zitiert Voltaires Vers:

Un monstre gai vaut mieux
Qu'un sentimental ennuyeux.

Wenn ich nun vermeine, jetzt um ein paar Jahrhunderte Voltairen und sogar Galiani – der etwas viel Tieferes war – in der Aufklärung voraus zu sein: wie weit mußte ich also gar in der Verdüsterung gelangt sein! Dies ist auch wahr: und ich nahm zeitig mich mit einer Art Bedauern in acht vor der deutschen und christlichen Enge und Folgeunrichtigkeit des Schopenhauerschen oder gar Leopardischen Pessimismus und suchte die prinzipiellsten Formen auf (– Asien –). Um aber diesen extremen Pessimismus zu ertragen (wie er hier und da aus meiner „Geburt der Tragödie“ herausklingt), „ohne Gott und Moral“ allein zu leben, mußte ich mir ein Gegenstück erfinden. Vielleicht weiß ich am besten, warum der Mensch allein lacht: er allein leidet so tief, daß er das Lachen erfinden mußte. Das unglücklichste und melancholischste Tier ist, wie billig, das heiterste.

 

5.
Die drei Jahrhunderte.

Ihre verschiedene Sensibilität drückt sich am besten so aus:

Aristokratismus: Descartes, Herrschaft der Vernunft, Zeugnis von der Souveränität des Willens;

Femininismus: Rousseau, Herrschaft des Gefühls, Zeugnis von der Souveränität der Sinne, verlogen;

Animalismus: Schopenhauer, Herrschaft der Begierde, Zeugnis von der Souveränität der Animalität, redlicher, aber düster.

Das 17. Jahrhundert ist aristokratisch, ordnend, hochmütig gegen das Animalische, streng gegen das Herz, „ungemütlich“, sogar ohne Gemüt, „undeutsch“, dem Burlesken und dem Natürlichen abhold, generalisierend und souverän gegen Vergangenheit: denn es glaubt an sich. Viel Raubtier au fond, viel asketische Gewöhnung, um Herr zu bleiben. Das willensstarke Jahrhundert; auch das der starken Leidenschaft.

Das 18. Jahrhundert ist vom Weibe beherrscht, schwärmerisch, geistreich, flach, aber mit einem Geiste im Dienst der Wünschbarkeit, des Herzens, libertin im Genusse des Geistigsten, alle Autoritäten unterminierend; berauscht, heiter, klar, human, falsch vor sich, viel Kanaille au fond, gesellschaftlich....

Das 19. Jahrhundert ist animalischer, unterirdischer, häßlicher, realistischer, pöbelhafter, und ebendeshalb „besser“, „ehrlicher“, vor der „Wirklichkeit“ jeder Art unterwürfiger, wahrer; aber willensschwach, aber traurig und dunkel-begehrlich, aber fatalistisch. Weder vor der „Vernunft“, noch vor dem „Herzen“ in Scheu und Hochachtung; tief überzeugt von der Herrschaft der Begierde (Schopenhauer sagte „Wille“: aber nichts ist charakteristischer für seine Philosophie, als daß das eigentliche Wollen in ihr fehlt). Selbst die Moral auf einen Instinkt reduziert („Mitleid“).

 

Auguste Comte ist Fortsetzung des 18. Jahrhunderts (Herrschaft von cœur über la tête, Sensualismus in der Erkenntnistheorie, altruistische Schwärmerei).

Daß die Wissenschaft in dem Grade souverän geworden ist, das beweist, wie das 19. Jahrhundert sich von der Domination der Ideale losgemacht hat. Eine gewisse „Bedürfnislosigkeit“ im Wünschen ermöglicht uns erst unsere wissenschaftliche Neugierde und Strenge – diese unsere Art Tugend....

Die Romantik ist Nachschlag des 18. Jahrhunderts; eine Art aufgetürmtes Verlangen nach dessen Schwärmerei großen Stils (– tatsächlich ein gut Stück Schauspielerei und Selbstbetrügerei: man wollte die starke Natur, die große Leidenschaft darstellen).

Das 19. Jahrhundert sucht instinktiv nach Theorien, mit denen es seine fatalistische Unterwerfung unter das Tatsächliche gerechtfertigt fühlt. Schon Hegels Erfolg gegen die „Empfindsamkeit“ und den romantischen Idealismus lag im Fatalistischen seiner Denkweise, in seinem Glauben an die größere Vernunft auf Seiten des Siegreichen, in seiner Rechtfertigung des wirklichen „Staates“ (an Stelle von „Menschheit“ usw.). – Schopenhauer: wir sind etwas Dummes und bestenfalls sogar etwas Sich-selbst-Aufhebendes. Erfolg des Determinismus, der genealogischen Ableitung der früher als absolut geltenden Verbindlichkeiten, die Lehre vom Milieu und der Anpassung, die Reduktion des Willens auf Reflexbewegungen, die Leugnung des Willens als „wirkender Ursache“; endlich – eine wirkliche Umtaufung: man sieht so wenig Wille, daß das Wort frei wird, um etwas anderes zu bezeichnen. Weitere Theorien: die Lehre von der Objektivität, „willenlosen“ Betrachtung, als einzigem Weg zur Wahrheit; auch zur Schönheit (– auch der Glaube an das „Genie“, um ein Recht auf Unterwerfung zu haben); der Mechanismus, die ausrechenbare Starrheit des mechanischen Prozesses; der angebliche „Naturalismus“, Elimination des wählenden, richtenden, interpretierenden Subjekts als Prinzip –

 

Kant, mit seiner „praktischen Vernunft“, mit seinem Moral-Fanatismus ist ganz 18. Jahrhundert; noch völlig außerhalb der historischen Bewegung; ohne jeden Blick für die Wirklichkeit seiner Zeit, zum Beispiel Revolution; unberührt von der griechischen Philosophie; Phantast des Pflichtbegriffs; Sensualist, mit dem Hinterhang der dogmatischen Verwöhnung –.

Die Rückbewegung auf Kant in unserem Jahrhundert ist eine Rückbewegung zum achtzehnten Jahrhundert: man will sich ein Recht wieder auf die alten Ideale und die alte Schwärmerei verschaffen, – darum eine Erkenntnistheorie, welche „Grenzen setzt“, das heißt erlaubt, ein Jenseits der Vernunft nach Belieben anzusetzen....

Die Denkweise Hegels ist von der Goetheschen nicht sehr entfernt: man höre Goethe über Spinoza. Wille zur Vergöttlichung des Alls und des Lebens, um in seinem Anschauen und Ergründen Ruhe und Glück zu finden; Hegel sucht Vernunft überall, – vor der Vernunft darf man sich ergeben und bescheiden. Bei Goethe eine Art von fast freudigem und vertrauendem Fatalismus, der nicht revoltiert, der nicht ermattet, der aus sich eine Totalität zu bilden sucht, im Glauben, daß erst in der Totalität alles sich erlöst, als gut und gerechtfertigt erscheint.

6.

Voltaire – Rousseau. – Der Zustand der Natur ist furchtbar, der Mensch ist Raubtier; unsere Zivilisation ist ein unerhörter Triumph über diese Raubtiernatur: – so schloß Voltaire. Er empfand die Milderung, die Raffinements, die geistigen Freuden des zivilisierten Zustandes; er verachtete die Borniertheit, auch in der Form der Tugend; den Mangel an Delikatesse auch bei den Asketen und Mönchen.

Die moralische Verwerflichkeit des Menschen schien Rousseau zu präokkupieren; man kann mit den Worten „ungerecht“, „grausam“ am meisten die Instinkte der Unterdrückten aufreizen, die sich sonst unter dem Bann des vetitum und der Ungnade befinden: so daß ihr Gewissen ihnen die aufrührerischen Begierden widerrät. Diese Emanzipatoren suchen vor allem eins: ihrer Partei die großen Akzente und Attitüden der höheren Natur zu geben.

7.

Rousseau: die Regel gründend auf das Gefühl; die Natur als Quelle der Gerechtigkeit; der Mensch vervollkommnet sich in dem Maße, in dem er sich der Natur nähert (– nach Voltaire in dem Maße, in dem er sich von der Natur entfernt). Dieselben Epochen für den einen die des Fortschritts der Humanität, für den andern Zeiten der Verschlimmerung von Ungerechtigkeit und Ungleichheit.

Voltaire noch die umanità im Sinne der Renaissance begreifend, insgleichen die virtù (als „hohe Kultur“), er kämpft für die Sache der „honnêtes gens“ und „de la bonne compagnie“, die Sache des Geschmacks, der Wissenschaft, der Künste, die Sache des Fortschritts selbst und der Zivilisation.

Der Kampf gegen 1760 entbrannt: der Genfer Bürger und le seigneur de Ferney. Erst von da an wird Voltaire der Mann seines Jahrhunderts, der Philosoph, der Vertreter der Toleranz und des Unglaubens (bis dahin nur un bel esprit). Der Neid und der Haß auf Rousseaus Erfolg trieb ihn vorwärts, „in die Höhe“.

Pour „la canaille“ un dieu rémunérateur et vengeur – Voltaire.

Kritik beider Standpunkte in Hinsicht auf den Wert der Zivilisation. Die soziale Erfindung, die schönste, die es für Voltaire gibt: es gibt kein höheres Ziel, als sie zu unterhalten und zu vervollkommnen; eben das ist die honnêteté, die sozialen Gebräuche zu achten; Tugend ein Gehorsam gegen gewisse notwendige „Vorurteile“ zugunsten der Erhaltung der „Gesellschaft“. Kultur-Missionär, Aristokrat, Vertreter der siegreichen, herrschenden Stände und ihrer Wertungen. Aber Rousseau blieb Plebejer, auch als homme de lettres, das war unerhört; seine unverschämte Verachtung alles dessen, was nicht er selbst war.

 

Das Krankhafte an Rousseau am meisten bewundert und nachgeahmt. (Lord Byron ihm verwandt; auch sich zu erhabenen Attitüden aufschraubend, zum rankünösen Groll; Zeichen der „Gemeinheit“; später, durch Venedig ins Gleichgewicht gebracht, begriff er, was mehr erleichtert und wohltut, .... l'insouciance.)

Rousseau ist stolz in Hinsicht auf das, was er ist, trotz seiner Herkunft; aber er gerät außer sich, wenn man ihn daran erinnert ....

Bei Rousseau unzweifelhaft die Geistesstörung, bei Voltaire eine ungewöhnliche Gesundheit und Leichtigkeit. Die Ranküne des Kranken; die Zeiten seines Irrsinns auch die seiner Menschenverachtung und seines Mißtrauens.

Die Verteidigung der Providenz durch Rousseau (gegen den Pessimismus Voltaires): er brauchte Gott, um den Fluch auf die Gesellschaft und die Zivilisation werfen zu können; alles mußte an sich gut sein, da Gott es geschaffen; nur der Mensch hat den Menschen verdorben. Der „gute Mensch“ als Naturmensch war eine reine Phantasie; aber mit dem Dogma von der Autorschaft Gottes etwas Wahrscheinliches und Begründetes.

Romantik à la Rousseau: die Leidenschaft („das souveräne Recht der Passion“); die „Natürlichkeit“; die Faszination der Verrücktheit (die Narrheit zur Größe gerechnet); die unsinnige Eitelkeit des Schwachen; die Pöbel-Ranküne als Richterin („in der Politik hat man seit hundert Jahren einen Kranken als Führer genommen“).

8.

Die beiden großen Tentativen, die gemacht worden sind, das 18. Jahrhundert zu überwinden:

Napoleon, indem er den Mann, den Soldaten und den großen Kampf um Macht wieder aufweckte – Europa als politische Einheit konzipierend;

Goethe, indem er eine europäische Kultur imaginierte, die die volle Erbschaft der schon erreichten Humanität macht.

 

Die deutsche Kultur dieses Jahrhunderts erweckt Mißtrauen – in der Musik fehlt jenes volle, erlösende und bindende Element Goethe –

9.

Schopenhauer als Nachschlag (Zustand vor der Revolution): – Mitleid, Sinnlichkeit, Kunst, Schwäche des Willens, Katholizismus der geistigsten Begierden – das ist gutes achtzehntes Jahrhundert au fond.

Schopenhauers Grundmißverständnis des Willens (wie als ob Begierde, Instinkt, Trieb das Wesentliche am Willen sei) ist typisch: Werterniedrigung des Willens bis zur Verkennung. Insgleichen Haß gegen das Wollen; Versuch, in dem Nicht-mehr-wollen, im „Subjektsein ohne Ziel und Absicht“ (im „reinen willensfreien Subjekt“) etwas Höheres, ja das Höhere, das Wertvolle zu sehen. Großes Symptom der Ermüdung oder der Schwäche des Willens: denn dieser ist ganz eigentlich das, was die Begierden als Herr behandelt, ihnen Weg und Maß weist....

10.

Henrik Ibsen ist mir sehr deutlich geworden. Mit all seinem robusten Idealismus und „Willen zur Wahrheit“ hat er sich nicht von dem Moral-Illusionismus frei zu machen gewagt, welcher „Freiheit“ sagt und sich nicht eingestehen will, was Freiheit ist: die zweite Stufe in der Metamorphose des „Willens zur Macht“ seitens derer, denen sie fehlt. Auf der ersten verlangt man Gerechtigkeit von Seiten derer, welche die Macht haben. Auf der zweiten sagt man „Freiheit“, das heißt, man will „loskommen“ von denen, welche die Macht haben. Auf der dritten sagt man „gleiche Rechte“, das heißt, man will, so lange man noch nicht das Übergewicht hat, auch die Mitbewerber hindern, in der Macht zu wachsen.

11.

Kritik des modernen Menschen: – „der gute Mensch“, nur verdorben und verführt durch schlechte Institutionen (Tyrannen und Priester); – die Vernunft als Autorität; – die Geschichte als Überwindung von Irrtümern; – die Zukunft als Fortschritt; – der christliche Staat („der Gott der Heerscharen“); – der christliche Geschlechtsbetrieb (oder die Ehe); – das Reich der „Gerechtigkeit“ (der Kultus der „Menschheit“); – die „Freiheit“.

Die romantische Attitüde des modernen Menschen: – der edle Mensch (Byron, Victor Hugo, George Sand); – die edle Entrüstung; – die Heiligung durch die Leidenschaft (als wahre „Natur“); – die Parteinahme für die Unterdrückten und Schlechtweggekommenen: Motto der Historiker und Romanziers; – die Stoiker der Pflicht; – die „Selbstlosigkeit“ als Kunst und Erkenntnis; – der Altruismus als verlogenste Form des Egoismus (Utilitarismus), gefühlsamster Egoismus.

Dies alles ist achtzehntes Jahrhundert. Was dagegen nicht sich aus ihm vererbt hat: die insouciance, die Heiterkeit, die Eleganz, die geistige Helligkeit. Das Tempo des Geistes hat sich verändert; der Genuß an der geistigen Feinheit und Klarheit ist dem Genuß an der Farbe, Harmonie, Masse, Realität usw. gewichen. Sensualismus im Geistigen. Kurz, es ist das achtzehnte Jahrhundert Rousseaus.

12.

Meine Freunde, wir haben es hart gehabt, als wir jung waren: wir haben an der Jugend selber gelitten wie an einer schweren Krankheit. Das macht die Zeit, in die wir geworfen sind – die Zeit eines großen inneren Verfalles und Auseinanderfalles, welche mit allen ihren Schwächen und noch mit ihrer besten Stärke dem Geiste der Jugend entgegenwirkt. Das Auseinanderfallen, also die Ungewißheit, ist dieser Zeit eigen: nichts steht auf festen Füßen und hartem Glauben an sich: man lebt für morgen, denn das Übermorgen ist zweifelhaft. Es ist alles glatt und gefährlich auf unserer Bahn, und dabei ist das Eis, das uns noch trägt, so dünn geworden: wir fühlen alle den warmen, unheimlichen Atem des Tauwindes – wo wir noch gehen, da wird bald niemand mehr gehen können!

 

13.
Zur Geschichte der modernen Verdüsterung.

Die Staatsnomaden (Beamte usw.): ohne „Heimat“ –

Der Niedergang der Familie.

Der „gute Mensch“ als Symptom der Erschöpfung.

Gerechtigkeit als Wille zur Macht (Züchtung).

Geilheit und Neurose.

Der Anarchist.

Menschenverachtung, Ekel.

Tiefste Unterscheidung: ob der Hunger oder der Überfluß schöpferisch wird? Ersterer erzeugt die Ideale der Romantik. –

Nordische Unnatürlichkeit.

Das Bedürfnis nach Alcoholica: die Arbeiter-„Not“.

Der philosophische Nihilismus.

14.

Das langsame Hervortreten und Emporkommen der mittleren und niederen Stände (eingerechnet der niederen Art Geist und Leib), welches schon vor der französischen Revolution reichlich präludiert und ohne Revolution ebenfalls seinen Weg vorwärts gemacht hätte, – im Ganzen also das Übergewicht der Herde über alle Hirten und Leithämmel – bringt mit sich

1. Verdüsterung des Geistes (– das Beieinander eines stoischen und frivolen Anscheins von Glück, wie es vornehmen Kulturen eigen ist, nimmt ab; man läßt viele Leiden sehen und hören, welche man früher ertrug und verbarg);

2. die moralische Hypokrisie (eine Art, sich durch Moral auszeichnen zu wollen, aber durch die Herden-Tugenden: Mitleid, Fürsorge, Mäßigung, welche nicht außer dem Herden-Vermögen erkannt und gewürdigt werden);

3. eine wirkliche große Menge von Mitleiden und Mitfreude (das Wohlgefallen im großen Beieinander, wie es alle Herdentiere haben – „Gemeinsinn“, „Vaterland“, alles, wo das Individuum nicht in Betracht kommt).

15.

Was heute am tiefsten angegriffen ist, das ist der Instinkt und der Wille der Tradition: alle Institutionen, die diesem Instinkt ihre Herkunft verdanken, gehen dem modernen Geiste wider den Geschmack.... Im Grunde denkt und tut man nichts, was nicht den Zweck verfolgte, diesen Sinn für Überlieferung mit den Wurzeln herauszureißen. Man nimmt die Tradition als Fatalität; man studiert sie, man erkennt sie an (als „Erblichkeit“ –), aber man will sie nicht. Die Anspannung eines Willens über lange Zeitfernen hin, die Auswahl der Zustände und Wertungen, welche es machen, daß man über Jahrhunderte der Zukunft verfügen kann – das gerade ist im höchsten Maße antimodern. Woraus sich ergibt, daß die desorganisierenden Prinzipien unserem Zeitalter den Charakter geben. –

16.

Die ehemaligen Mittel, gleichartige, dauernde Wesen durch lange Geschlechter zu erzielen: unveräußerlicher Grundbesitz, Verehrung der Älteren (Ursprung des Götter- und Heroen-Glaubens als der Ahnherren).

Jetzt gehört die Zersplitterung des Grundbesitzes in die entgegengesetzte Tendenz: eine Zeitung (an Stelle der täglichen Gebete), Eisenbahn, Telegraph. Zentralisation einer ungeheuren Menge verschiedener Interessen in einer Seele: die dazu sehr stark und verwandlungsfähig sein muß.

17.

Die „Modernität“ unter dem Gleichnis von Ernährung und Verdauung. –

Die Sensibilität unsäglich reizbarer (– unter moralistischem Aufputz: die Vermehrung des Mitleids –); die Fülle disparater Eindrücke größer als je: – der Kosmopolitismus der Speisen, der Literaturen, Zeitungen, Formen, Geschmäcker, selbst Landschaften. Das Tempo dieser Einströmung ein Prestissimo; die Eindrücke wischen sich aus; man wehrt sich instinktiv, etwas hereinzunehmen, tief zu nehmen, etwas zu „verdauen“; – Schwächung der Verdauungskraft resultiert daraus. Eine Art Anpassung an diese Überhäufung mit Eindrücken tritt ein: der Mensch verlernt zu agieren; er reagiert nur noch auf Erregungen von außen her. Er gibt seine Kraft aus teils in der Aneignung, teils in der Verteidigung, teils in der Entgegnung. Tiefe Schwächung der Spontaneität: – der Historiker, Kritiker, Analytiker, der Interpret, der Beobachter, der Sammler, der Leser, – alles reaktive Talente, – alle Wissenschaft!

Künstliche Zurechtmachung seiner Natur zum „Spiegel“; interessiert, aber gleichsam bloß epidermal-interessiert; eine grundsätzliche Kühle, ein Gleichgewicht, eine festgehaltene niedere Temperatur dicht unter der dünnen Fläche, auf der es Wärme, Bewegung, „Sturm“, Wellenspiel gibt.

Gegensatz der äußeren Beweglichkeit zu einer gewissen tiefen Schwere und Müdigkeit.

18.

Die Zuchtlosigkeit des modernen Geistes unter allerhand moralischem Aufputz. – Die Prunkworte sind: die Toleranz (für „Unfähigkeit zu Ja und Nein“); la largeur de sympathie (= ein Drittel Indifferenz, ein Drittel Neugierde, ein Drittel krankhafte Erregbarkeit); die „Objektivität“ (= Mangel an Person, Mangel an Wille, Unfähigkeit zur „Liebe“); die „Freiheit“ gegen die Regel (Romantik); die „Wahrheit“ gegen die Fälscherei und Lügnerei (Naturalismus); die „Wissenschaftlichkeit“ (das „document humain“: auf Deutsch der Kolportageroman und die Addition – statt der Komposition); die „Leidenschaft“ an Stelle der Unordnung und der Unmäßigkeit; die „Tiefe“ an Stelle der Verworrenheit, des Symbolen-Wirrwarrs.

19.

Man kennt die Art Mensch, welche sich in die Sentenz tout comprendre c'est tout pardonner verliebt hat. Es sind die Schwachen, es sind vor allem die Enttäuschten: wenn es an allem etwas zu verzeihen gibt, so gibt es auch an allem etwas zu verachten! Es ist die Philosophie der Enttäuschung, die sich hier so human in Mitleiden einwickelt und süß blickt.

Das sind Romantiker, denen der Glaube flöten ging: nun wollen sie wenigstens noch zusehen, wie alles läuft und verläuft. Sie nennen's l'art pour l'art, „Objektivität“ usw.

20.

Überarbeitung, Neugierde und Mitgefühl – unsere modernen Laster.

21.

Wohin gehört unsre moderne Welt: in die Erschöpfung oder in den Aufgang? – Ihre Vielheit und Unruhe bedingt durch die höchste Form des Bewußtwerdens.

22.

Die Deutschen sind noch nichts, aber sie werden etwas; also haben sie noch keine Kultur, – also können sie noch keine Kultur haben! Das ist mein Satz: mag sich daran stoßen, wer es muß. – Sie sind noch nichts: das heißt, sie sind allerlei. Sie werden etwas: das heißt, sie hören einmal auf, allerlei zu sein. Das letzte ist im Grunde nur ein Wunsch, kaum noch eine Hoffnung; glücklicherweise ein Wunsch, auf dem man leben kann, eine Sache des Willens, der Arbeit, der Zucht, der Züchtung so gut, als eine Sache des Unwillens, des Verlangens, der Entbehrung, des Unbehagens, ja der Erbitterung, – kurz, wir Deutschen wollen etwas von uns, was man von uns noch nicht wollte – wir wollen etwas mehr!

Daß diesem „Deutschen, wie er noch nicht ist“ – etwas Besseres zukommt, als die heutige deutsche „Bildung“; daß alle „Werdenden“ ergrimmt sein müssen, wo sie eine Zufriedenheit auf diesem Bereiche, ein dreistes „Sich-zur-Ruhe-setzen“ oder „Sich-selbst-anräuchern“ wahrnehmen: das ist mein zweiter Satz, über den ich auch noch nicht umgelernt habe.

 

2. Wesen und Ursache.

23.

Was bedeutet Nihilismus? – Daß die obersten Werte sich entwerten. Es fehlt das Ziel; es fehlt die Antwort auf das „Warum?“

24.

Der radikale Nihilismus ist die Überzeugung einer absoluten Unhaltbarkeit des Daseins, wenn es sich um die höchsten Werte, die man anerkennt, handelt; hinzugerechnet die Einsicht, daß wir nicht das geringste Recht haben, ein Jenseits oder ein An-sich der Dinge anzusetzen, das „göttlich“, das leibhafte Moral sei.

Diese Einsicht ist eine Folge der großgezogenen „Wahrhaftigkeit“: somit selbst eine Folge des Glaubens an die Moral.

25.

Nihilismus. Er ist zweideutig:

A. Nihilismus als Zeichen der gesteigerten Macht des Geistes: der aktive Nihilismus.

B. Nihilismus als Niedergang und Rückgang der Macht des Geistes: der passive Nihilismus.

26.

Der Nihilismus ein normaler Zustand.

Er kann ein Zeichen von Stärke sein, die Kraft des Geistes kann so angewachsen sein, daß ihr die bisherigen Ziele („Überzeugungen“, Glaubensartikel) unangemessen sind (– ein Glaube nämlich drückt im allgemeinen den Zwang von Existenzbedingungen aus, eine Unterwerfung unter die Autorität von Verhältnissen, unter denen ein Wesen gedeiht, wächst, Macht gewinnt....); andrerseits ein Zeichen von nicht genügender Stärke, um produktiv sich nun auch wieder ein Ziel, ein Warum, einen Glauben zu setzen.

Sein Maximum von relativer Kraft erreicht er als gewalttätige Kraft der Zerstörung: als aktiver Nihilismus.

Sein Gegensatz wäre der müde Nihilismus, der nicht mehr angreift: seine berühmteste Form der Buddhismus: als passivischer Nihilismus, als ein Zeichen von Schwäche: die Kraft des Geistes kann ermüdet, erschöpft sein, so daß die bisherigen Ziele und Werte unangemessen sind und keinen Glauben mehr finden –, daß die Synthesis der Werte und Ziele (auf der jede starke Kultur beruht) sich löst, so daß die einzelnen Werte sich Krieg machen: Zersetzung –, daß alles, was erquickt, heilt, beruhigt, betäubt, in den Vordergrund tritt, unter verschiedenen Verkleidungen, religiös oder moralisch, oder politisch, oder ästhetisch usw.

27.

Der Nihilismus stellt einen pathologischen Zwischenzustand dar (pathologisch ist die ungeheure Verallgemeinerung, der Schluß auf gar keinen Sinn): sei es, daß die produktiven Kräfte noch nicht stark genug sind, – sei es, daß die décadence noch zögert und ihre Hilfsmittel noch nicht erfunden hat.

Voraussetzung dieser Hypothese: – Daß es keine Wahrheit gibt; daß es keine absolute Beschaffenheit der Dinge, kein „Ding an sich“ gibt. – Dies ist selbst nur Nihilismus, und zwar der extremste. Er legt den Wert der Dinge gerade dahinein, daß diesen Werten keine Realität entspricht und entsprach, sondern daß sie nur ein Symptom von Kraft auf Seiten der Wert-Ansetzer sind, eine Simplifikation zum Zweck des Lebens.

28.

Die Frage des Nihilismus „wozu?“ geht von der bisherigen Gewöhnung aus, vermöge deren das Ziel von außen her gestellt, gegeben, gefordert schien – nämlich durch irgendeine übermenschliche Autorität. Nachdem man verlernt hat, an diese zu glauben, sucht man doch nach alter Gewöhnung nach einer anderen Autorität, welche unbedingt zu reden wüßte und Ziele und Aufgaben befehlen könnte. Die Autorität des Gewissens tritt jetzt in erster Linie (je mehr emanzipiert von der Theologie, um so imperativischer wird die Moral) als Schadenersatz für eine persönliche Autorität. Oder die Autorität der Vernunft. Oder der soziale Instinkt (die Herde). Oder die Historie mit einem immanenten Geist, welche ihr Ziel in sich hat und der man sich überlassen kann. Man möchte herumkommen um den Willen, um das Wollen eines Zieles, um das Risiko, sich selbst ein Ziel zu geben; man möchte die Verantwortung abwälzen (– man würde den Fatalismus akzeptieren). Endlich: Glück, und, mit einiger Tartüfferie, das Glück der Meisten.

Man sagt sich

1. ein bestimmtes Ziel ist gar nicht nötig,

2. ist gar nicht möglich vorherzusehen.

Gerade jetzt, wo der Wille in der höchsten Kraft nötig wäre, ist er am schwächsten und kleinmütigsten. Absolutes Mißtrauen gegen die organisatorische Kraft des Willens fürs Ganze.

29.