Mara Laue

 

Cupcake Connection

Piet van Dycks 3. Fall

Kriminalroman

 

 

2.

 

Mittwoch, 13. Juli

 

Piet betrat Luculls Paradies in der Cäcilienstraße und setzte sich an seinen täglich für ihn reservierten Stammtisch am Fenster neben der Tür, wo schon alles für sein Frühstück eingedeckt war. Die beiden Verkäuferinnen strahlten ihn an.

„Guten Morgen, Herr van Dyck!“ Sieglinde Unger sang die Begrüßung beinahe.

Janina Gerken winkte ihm zu. „Kaffee?“, fragte sie überflüssigerweise, denn Piet trank jeden Morgen zu seinem Frühstück Kaffee. Sie ging zum Kaffeeautomaten.

„Gern“, antwortete er dennoch. „Wen gibt es denn heute im Angebot?“ Luculls Paradies konnte sich rühmen, nicht nur herkömmlichen Arabica „von der Stange“, sondern erlesene Kaffeespezialitäten aus aller Welt anzubieten.

„Mocambo und Monsooned Malabar“, antwortete Janina Gerken.

„Ich nehme den Mocambo“, entschied Piet. Dieser Kaffee schmeckte ihm besonders gut, weil er eine winzige schokoladige Note und einen Hauch von Malzgeschmack besaß.

Er verkniff sich die Frage, wo die Herrin des Paradieses steckte. Er musste schließlich nicht jedem auf die Nase binden, dass er nicht nur wegen des exzellenten Frühstücks und manchmal auch zum Mittagessen oder Abendbrot herkam, sondern in erster Linie wegen Frankie. Vermutlich wussten die Angestellten das sowieso oder ahnten es zumindest, denn weder Piet noch Frankie machten ein Geheimnis daraus, dass sie sich auch außerhalb des Cafés trafen und gemeinsam Sport trieben.

Der Vorschlag stammte ursprünglich von Frankie. Vor gut einem Jahr hatte Piets Hausarzt bei ihm beginnenden Diabetes festgestellt und ihm eine gefühlt endlose Liste von Lebensmitteln mitgegeben, die er künftig nicht mehr essen sollte. Dazu gehörten auch seine geliebten „Bienenwaben“ – süße Waffeln mit Honig und Marzipanbienen – und das Frühstücksmenü „Gott lebt in Frankreich“, das aus Croissants und Frankies selbstgemachter Marmelade bestand und mit handgefertigten Pralinen serviert wurde. Und was es in Luculls Paradies zum Mittagessen oder als Abendmahlzeit gab, übte einen unwiderstehlichen Reiz auf ihn aus.

Als er versucht hatte Frankie schonend beizubringen, dass mit dem Schlemmen in ihrem Café aus Gesundheitsgründen Schluss sein müsse, hatte sie ihm versprochen, ihm spezielle Mahlzeiten zu servieren, mit denen er den Diabetes in den Griff bekommen konnte. Piet hatte eine fade Diät befürchtet und staunte immer noch und immer wieder aufs Neue, dass das gesunde und erheblich kalorienärmere Essen ein ebensolcher Genuss war wie seine früheren Schlemmereien. Zusätzlich hatte Frankie ihm vorgeschlagen, mit ihm gemeinsam Rad zu fahren und ins Sportstudio zu gehen, um sein Übergewicht abzubauen.

Das Ergebnis konnte sich sehen lassen. Piet hatte siebzehn Kilo abgenommen und fast sein Idealgewicht erreicht, das er zuletzt als Jugendlicher auf die Waage gebracht hatte. Der Diabetes war weg. Er konnte wieder seine geliebten lekkers genießen, wenn auch in Maßen, nicht wie früher in Massen, und fühlte sich rundherum fit. Trotzdem hatte Frankie nicht aufgehört, mit ihm zum Sport zu gehen.

Piet fragte sich schon seit geraumer Zeit, ob das ein Signal für das war, was er sich insgeheim erhoffte. Aber hatte er tatsächlich eine Chance bei ihr? Sie war gerade sechsundzwanzig und eine bildschöne Frau, hinter der sämtliche männlichen Gäste des Cafés her waren; zumindest ließ keiner einen Flirt aus und manche versuchten, etwas mehr zu bekommen als einen unverbindlichen Flirt. Aber Frankie flirtete nicht. Sie war zu allen Gästen freundlich, höflich und zuvorkommend, zog aber dahinter eine unmissverständliche Grenze. Nur nicht bei Piet.

Frankie kam aus der Backstube und trug ein Blech frischer Brötchen, deren Duft augenblicklich das Café erfüllte und Piet das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ. Sie schüttete sie in den Brötchenkorb hinter dem Tresen. Als sie sich umdrehte, entdeckte sie Piet. Augenblicklich breitete sich ein strahlendes Lächeln auf ihrem Gesicht aus.

Buon giorno, commissario! Ich bin gleich bei dir.“

Piet winkte ihr zu. Er fand ihre italienischen Einflechtungen charmant, die sie immer gebrauchte, wenn etwas sie berührte – im Guten wie im Schlechten. Er hatte Frankie schon ein paar Mal gewaltig in ihre Muttersprache fluchen gehört mitsamt einer die Flüche begleitenden dramatischen Gestik, die dem sprichwörtlichen Temperament der italienischen Frauen alle Ehre machte. Dabei war sie mit sieben Jahren nach Deutschland gekommen und schon lange deutsche Staatsbürgerin; außerdem hatte sie einen deutschen Vater. Aber Italien lag ihr buchstäblich im Blut.

Sie kam zurück, nahm im Vorbeigehen ein Tablett, auf dem sie schon Piets Frühstück arrangiert hatte, und brachte es ihm zusammen mit dem Mocambo, den Janina Gerken ihm eingeschenkt hatte. Sie stellte das Gedeck und das Essen auf den Tisch, ehe sie sich Piet gegenübersetzte und ihn erwartungsvoll ansah. Er betrachtete die duftenden Köstlichkeiten. Auch das war ein inzwischen lieb gewonnenes Ritual. Frankie brachte es fertig, ihm jeden Morgen etwas Leckeres zu zaubern. Selbst wenn sie ein altbekanntes Gericht, das er schon oft gegessen hatte, nur geringfügig variierte, schmeckte das Ergebnis, als sei es etwas vollkommen Neues. Piet war jeden Morgen neugierig, mit welcher Kreation sie ihn dieses Mal verwöhnte.

Zwei Scheiben Brot, deren intensiver Duft ihm verriet, dass es sich um Ingwerbrot handelte, waren als Sandwich geschnitten, zwischen deren Scheiben Salatblätter hervor lugten. Piet hätte zu gern den Deckel abgehoben, um nachzusehen, was sich darunter verbarg. Doch das hätte ihm und Frankie das Spiel verdorben, das darin bestand, durch den Geschmack zu erraten, was außer Brot und Salat sich im Inneren der Köstlichkeit verbarg.

Er nahm eine Sandwichhälfte, schloss die Augen und schnupperte daran. Ein fruchtiger Duft stieg ihm in die Nase, aber auch Pfeffer. Er wandte den Kopf zur Seite und nieste. Frankie lachte und reichte ihm die Serviette als Taschentuchersatz. Er wischte sich die Nase ab und steckte die Serviette in die Hosentasche, ehe er einen zweiten Schnupperversuch unternahm, diesmal etwas vorsichtiger. Gurke, Tomate und einen würzigen Käse konnte er identifizieren. Aber da war noch etwas anderes verborgen.

Er biss ein Stück ab und kaute. Als Erstes schmeckte er das Getreide des frischen Brotes und den zitronig-pfeffrigen Ingwer darin, da Frankie für ihr Ingwerbrot stets gehackte frische Ingwerknollen verwendete. Der Geschmack vermischte sich mit scharfem Senf, den Frankie für Piets Spezialfrühstück als Ersatz für Butter oder Margarine nahm. Der wurde gleich darauf gemildert von dem Salatblatt und der hauchdünnen, leicht gesalzenen und gepfefferten Tomatenscheibe. Darunter entfaltete sich ein deutlicher Geschmack von Pecorino. Darin mischte sich noch ein anderer, fruchtiger, den Piet nicht auf Anhieb identifizieren konnte. Er schmeckte ein bisschen wie Pfirsich und ein bisschen nach Möhre, etwas süßlich, aber ebenfalls leicht pfefferig. Als er sich darauf konzentrierte, fand er es heraus: Mango. Frankie hatte dem Sandwich noch eine Mangoscheibe hinzugefügt.

Er lächelte. „Köstlich wie immer“, lobte er und wurde mit einem strahlenden Lächeln belohnt. „Leider bekomme ich nur ein einziges Sandwich.“

Sie lachte. „Dafür aber noch etwas anderes.“

Sie schob ihm einen Teller hin, dessen Inhalt unter einer silbernen Käseglocke verborgen war. In Zeitlupentempo näherte sie ihre Hand dessen Kugelgriff, fasste ihn mit zwei Fingern und lüftete Zentimeter für Zentimeter das Geheimnis.

Auf dem Teller thronten zwei Cupcakes. Einer hatte eine grüne „Haube“, auf dem ein Frosch in etwas hellerem Grün mit einer goldfarbenen Krone hockte, auf dem anderen saß ein bunter Schmetterling auf einem gelbweißen Grund. Handgemachte Kunstwerke, wie Piet wusste, weil Frankie solche Dinge ausschließlich per Hand anfertigte. Ein Blick zur Auslage in der Theke zeigte ihm, dass dort ganze Horden von Cupcakes mit Schmetterlingen und gekrönten Fröschen arrangiert waren. Er fragte sich, wie viel Zeit die Herstellung wohl gekostet haben mochte. Bestimmt war Frankie deshalb heute Morgen noch früher aufgestanden als sonst.

Luculls Schmetterling und der Froschkönig“, erklärte sie. „Cupcakes sind in. Lass sie dir schmecken.“

Sie wollte noch etwas sagen, aber ein Gast an einem anderen Tisch winkte nachdrücklich. Da Janina Gerken und Sieglinde Unger mit dem Thekenverkauf für die Laufkundschaft beschäftigt waren, ging Frankie hinüber, um den Gast zu bedienen.

Piet widmete sich seinem Frühstück. Er aß zuerst die beiden Sandwich-Hälften und genoss dazu schluckweise den Mocambo. Wegen des gestrigen Todesfalls hatte er eigentlich keinen Appetit auf Cupcakes, aber er wollte Frankie nicht enttäuschen. Außerdem aß er Süßes einfach zu gern. Und diese Cakes waren ganz sicher nicht mit Brechwurz versetzt oder anderweitig vergiftet.

Er biss den Froschkönig in den Allerwertesten, der intensiv nach Marzipan schmeckte. Die Haube bestand aus Frischkäse mit einer süßen Note und dem Geschmack nach goldenen Kiwis. Kiwistücke fanden sich neben kleinen Apfelstücken auch im Cake selbst, der nach einem Hauch Vanille schmeckte. Lecker! Nach dem ersten Bissen probierte Piet den Schmetterlings-Cake. Er hatte die Angewohnheit, alles erst einmal zu probieren und sich das, was ihm am besten schmeckte, für den krönenden Abschluss seiner Mahlzeit aufzuheben. Luculls Schmetterling besaß eine ganz andere Geschmacksrichtung: ausgeprägt nach Rum und etwas Honigähnlichem, aber Honig war es nicht.

Frankie setzte sich wieder zu ihm. „Ahornsirup“, erklärte sie, weil sie wohl ahnte, was er überlegte. „Und Rum im Teig und Vanille im ‚Hut’.“ Erwartungsvoll sah sie ihn an.

„Wunderbar wie alles bei dir, Frankie“, versicherte er. „Bei dir schmeckt mir sogar Müsli.“

Sie lachte und legte eine Hand auf seinen Arm, ließ sie zu seiner Hand gleiten und sie darauf liegen. Ihre Finger waren angenehm warm. Die Berührung sandte ein wohliges Kribbeln durch seinen ganzen Körper. Und die Art, wie sie ihn ansah ... Er schluckte. Und kam sich auf einmal völlig irrational wie ein Penner vor. Frankies natürliche Schönheit kontrastierte erheblich mit seinem eigenen Aussehen. Ihre ebenmäßigen Gesichtszüge, die glatte Haut, der Schimmer ihrer schwarzen Haare und das tiefe Blau ihrer Augen erinnerten ihn jedes Mal an das Gesicht der Maria in der Pietá von Michelangelo. Ihre Kleidung war zwar nicht auffallend, aber sie sah geschmackvoll aus, obwohl Frankie immer nur Jeans und eine Bluse oder einen Pullover trug. An ihr wirkte alles elegant. Was sicherlich an der Art lag, wie sie sich bewegte: geschmeidig, selbstsicher und mit einem Hauch von etwas, das auf Piet aristokratisch wirkte.

Dagegen trug er die Klamotten, die er auch schon vor zehn Jahren getragen hatte. Die Jeans waren inzwischen ziemlich ausgebeult und verwaschen, die Hemden ebenso. Außerdem schlotterten sie nach seinem Gewichtsverlust am Leib und wirkten, als hätte er in einem Secondhandladen nichts Passendes in seiner Größe gefunden. Verdammt, warum sollte eine Frau wie Frankie sich für so einen Mann interessieren, der kein bisschen auf sein Äußeres achtete?

Aber sie tat es, falls er ihre Signale nicht völlig falsch interpretierte. Sollte er darauf eingehen? Im Grunde genommen wünschte er sich nichts mehr als das. Gleichzeitig fürchtete er sich davor. Denn einen Schritt weiter zu gehen, brachte gewisse Verpflichtungen mit sich. Die er nur zu gern einzugehen bereit war. Aber er fragte sich, ob eine Beziehung mit Frankie gutgehen konnte. Sie stand um zwei Uhr morgens auf, war um halb drei in der Backstube und ging spätestens um zehn Uhr abends zu Bett, oft früher, wie sie ihm mal erzählt hatte. Und an Tagen, an denen in Luculls Paradies Events wie Musikaufführungen, Lesungen oder private Gesellschaften stattfanden, war sie den ganzen Tag bis Mitternacht beschäftigt.

Piet hatte oft Bereitschaft und musste dann auch nachts und am Wochenende erreichbar sein. Und wenn er im Team einer Mordkommission war, waren Überstunden Programm. Bei solchen Fällen kam er manchmal nicht vor zehn oder noch später nach Hause. Seine Ehe war daran zerbrochen. Wenn er sich auf eine Beziehung mit Frankie einließ – immer vorausgesetzt, sie wollte das auch –, würde es eine Menge Tage geben, an denen sie sich kaum sahen. Oder an denen sie sich nur, wie bisher, hier im Café zum Frühstück begegneten. Er bezweifelte, ob das auf die Dauer ausreichte. Andererseits: Wenn er die Chance nicht ergriff, würde er nie herausfinden, ob sie beide eine gemeinsame Zukunft haben könnten.

Doch bevor er in der Richtung etwas unternahm, sollte er erst einmal dafür sorgen, dass er äußerlich zu jemandem wurde, dessen Frankie sich nicht zu schämen brauchte. Falls er heute pünktlich Feierabend machen konnte, würde er in die Innenstadt gehen und sehen, ob er nicht das eine oder andere neue Kleidungsstück kaufen konnte.

Er räusperte sich, als ihm bewusst wurde, dass er Frankie seit einer geschlagenen Minute oder schon länger anstarrte. „Eh, ja, bevor ich es vergesse: das Müsli. Ich brauche wieder einmal ein Pfund von meiner Spezialmischung.“ Die Frankie „Glück und Gesundheit“ getauft und speziell für ihn zusammengestellt hatte.

„Mache ich dir gleich fertig, Piet. Genieß deine Cupcakes. Noch einen Kaffee?“

„Gern.“

Als Frankie zehn Minuten später mit einer Tüte Müsli und einer frischen Tasse Kaffee zurückkam, hatte Piet die Cupcakes aufgegessen. „Wirklich lecker“, lobte er. Ihm kam eine Idee. „Sag mal, Frankie, hast du schon mal von der Cupcake Connection e. V. gehört?“

Sie schnaubte. „Sì. Un branco di galline stupide.“

Piet blickte sie verständnislos an.

„Ein Rudel dummer Hühner“, übersetzte Frankie für ihn.

Er musste lachen. „Den Eindruck hatte ich auch.“ Zumindest wenn er daran dachte, dass erwachsene Menschen sich wie unreife Kinder aufführten, indem sie anderen den Teig ruinierten, bloß um einen Preis zu gewinnen, der erstens nur symbolischen Charakter besaß und obendrein auch noch monatlich verliehen wurde, sodass jeder alle vier Wochen eine neue Chance bekam, ihn zu gewinnen.

„Gestern ist eine von ihnen gestorben“, fuhr Frankie fort.

Er blickte sie überrascht an. „Woher weißt du das?“

Sie zuckte mit den Schultern. „Ich hatte mich breitschlagen lassen, gestern für die Verleihung des Goldenen Cupcakes als Jurymitglied zu fungieren. Seit der Gründung ihres Vereins haben sie mich wahlweise damit bekniet oder mir eine Mitgliedschaft angeboten.“ Sie lächelte flüchtig. „Natürlich völlig uneigennützig und ohne den Hintergedanken, ein paar meiner Backtricks zu erfahren, wenn ich als Mitglied gemäß ihrem Vereinszweck meine Rezepte mit ihnen teile.“ Sie schüttelte den Kopf. „Aber weil bei ihnen doch spürbare und ungesunde Spannung herrscht, habe ich die Mitgliedschaft abgelehnt.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Gestern hatte ich Zeit und habe deshalb den Juryposten angenommen. Aber kaum waren die anderen Juryleute und ich beim Clubhaus angekommen, wurden wir schon wieder verabschiedet wegen des Todesfalls. Der Notarzt war noch da.“

Demnach hatte er Frankie dort vermutlich nur um eine oder zwei Stunden verpasst. „Ist dir vielleicht etwas aufgefallen?“, wollte er wissen. „Irgendetwas Ungewöhnliches vielleicht? Oder was auch immer.“

Sie blickte ihn erstaunt an. „Das hört sich so an, als sei der Todesfall ein – Mord?“

Er wiegte den Kopf. „Das wissen noch nicht. Aber wir haben erfahren, dass einige Mitglieder, um den Preis zu gewinnen, zu unlauteren Methoden gegriffen haben. Der Todesfall könnte damit zusammenhängen.“

Frankie dachte nach. Schließlich schüttelte sie den Kopf. „Als ich ankam, waren alle bedrückt und dem Vorfall entsprechend sprachlos, teilweise auch nervös. Etwas, das ich als ungewöhnlich bezeichnen würde, ist mir nicht aufgefallen. Aber ich war auch höchstens zwei Minuten da.“

„Und niemand hat irgendetwas gesagt in der Zeit, das dir vielleicht unangemessen vorkam?“, hakte Piet nach, obwohl das ein immenser Zufall wäre.

Wieder zögerte Frankie und überlegte sichtbar, wie er an ihrer gerunzelten Stirn erkannte. „Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, jemand hat gesagt: ‚Sie hat es verdient’.“

„Weißt du vielleicht noch, wer das war?“

Sie schüttelte den Kopf. „Eine Frau. Mehr weiß ich leider nicht. Tut mir leid.“

„Das muss dir nicht leidtun. Vielleicht ist das auch gar nicht wichtig, weil sich herausstellt, dass die Todesursache etwas völlig Unspektakuläres war.“ Er lächelte.

Frankie lächelte zurück. Wieder wurde ihm bei diesem Blick ganz anders. Er warf einen Blick zur Uhr, der ihn ernüchterte. Er musste sich sputen, wenn er nicht zu spät zum Dienst kommen wollte. Er trank hastig seinen letzten Rest Kaffee aus und stand auf.

„Ich muss los. Tschö, Frankie. Und danke für alles.“

„Ciao, Commissario.“

Er verließ das Café. Bezahlen musste er nicht, denn als Stammgast, der jeden Tag zum Frühstück kam, wurde alles, was er verzehrte, einmal im Monat von seinem Konto abgebucht. Er fuhr zum Präsidium und schrieb als Erstes das Protokoll des gestrigen Tages. Er hatte den letzten Satz vollendet, als Gerd Raimund, der Leiter des KK 11 ins Büro kam.

„Morgen, Piet.“ Gerd nahm unaufgefordert auf dem Besucherstuhl vor Piets Schreibtisch Platz. „Kann ich was von deinem köstlichen Kaffee schnorren?“

„Morgen, Gerd. Wie isset?“, wollte er wissen, während er einen Kaffeebecher holte und aus der Kanne auf der Wärmeplatte der Kaffeemaschine einschenkte. Seit er dazu übergegangen war, Kaffeepulver aus Frankies  Sortiment zu kaufen und im Büro aufzubrühen, hatten etliche Kollegen die Angewohnheit entwickelt, ab und zu auf eine Tasse vorbeizukommen.

Trotzdem fragte er sich, weshalb Gerd gekommen war. Normalerweise setzte der sich nicht zum Kaffeetrinken in Piets Büro, sondern holte sich wie die anderen nur seine Portion ab. Er stellte den Becher vor ihn auf den Schreibtisch und setzte sich wieder.

„Ich habe gute Neuigkeiten“, verkündete Gerd und blickte Piet bedeutungsvoll an.

Gute Neuigkeiten, für die Gerd sich persönlich herbemühte? Sollte etwa ... Piet wagte kaum zu hoffen. „Ich bin ganz Ohr.“

Gerd schüttelte den Kopf. „Nun tu mal nicht so, als hättest du keine Ahnung.“ Wieder der bedeutsame Blick. „Der Personalrat hat mir gesteckt, dass zwei meiner Leute befördert werden.“ Er nickte. „Und die Glücklichen sind du und Dideldum. Herzlichen Glückwunsch. Aber erst mal inoffiziell. Also häng’s noch nicht an die große Glocke.“

Piet war sowieso nicht der Typ, der irgendetwas an die große Glocke hängte. Und in diesem Fall erst recht nicht. Erst nach der offiziellen Ernennung zum Hauptkommissar wäre er davon überzeugt, dass die Beförderung real war. Zwar hatte Gerd ihm schon vor einiger Zeit angedeutet, dass Piet aufgrund der letzten guten Leistungsbeurteilung die Poleposition auf der Liste der Beförderungskandidaten erreicht hatte und an der Reihe sei, sobald die nächste Planstellenzuweisung vom Ministerium käme; aber es konnte immer noch etwas dazwischenkommen. Auch wenn das nicht sehr wahrscheinlich war.

Piet hatte sich schon lange angewöhnt, nichts für selbstverständlich zu halten, auch wenn es so aussah. Diese Lektion hatte er vor gut neun Jahren schmerzhaft gelernt, als Maria ihn ohne Vorankündigung Knall auf Fall mitsamt seinem Sohn verlassen hatte. Das Ereignis hatte ihn so sehr aus der Bahn geworfen, dass er mehrere Jahre lang nur in der Lage gewesen war, Dienst nach Vorschrift zu machen; und auch das nur gerade so eben. Dass das keine positiven Beurteilungen gegeben hatte, die eine Beförderung rechtfertigten, verstand sich von selbst. Falls alles wie geplant lief, hatte er es nun geschafft. Er lächelte.

„Danke, Gerd.“ Er nahm seinen noch halb vollen Kaffeebecher und stieß mit Gerd an. „Sobald es offiziell ist, gebe ich einen aus.“

„Keine Ursache. Das hast du schließlich verdient, denn ich gebe keine Gefälligkeitsbeurteilungen ab.“

„Was ich zu schätzen weiß.“

Immerhin war die anstehende Beförderung ein Grund mehr, sich neu einzukleiden. Im „Forum“, der Duisburger Shopping Mall auf der Königsstraße, gab es ein Bekleidungsgeschäft für Herrenmode, wenn er sich nicht irrte. Er beschloss, nach Dienstschluss dort vorbeizuschauen und sich das Sortiment anzusehen.

Gerd stand auf. „Ich verkünde dann mal Dideldum die frohe Botschaft. Man sieht sich.“

Piet nickte und trank noch einen Schluck Kaffee, während Gerd den Raum verließ. Fünf Minuten später kam Falko Hülskenberg – Dideldum – herein und strahlte über das ganze Gesicht. Er ließ sich in einen Drehsessel vor Piets Schreibtisch fallen, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und drehte sich hin und her.

„Hauptkommissar Hülskenberg – wie klingt das, Piet?“

Piet grinste ebenfalls. „Irgendwie zu hoch für dich.“

Falko schnitt eine Grimasse. „Du hast es grad nötig“, meinte er.

„Glückwunsch.“

„Dir auch.“ Falko grinste immer noch. „Hey, was hältst du davon, wenn wir das Ereignis, sobald es offiziell ist, bei deiner Italienerin feiern? Mit der ganzen Mannschaft.“

Piet seufzte. „Erstens und zum hundertsten Mal: Frankie ist Deutsche und zweitens nicht ‚meine’.“ Die Kollegen meinten das in keiner Weise negativ, aber auch Piet war wegen seiner niederländischen Abstammung „der Holländer“, obwohl er von Geburt an auch die deutsche Staatsbürgerschaft innehatte. Außerdem stammte er nicht aus der Provinz Holland, sondern aus Harderwijk in der Provinz Gelderland. Aber für die meisten Deutschen waren Holland und die Niederlande irrigerweise dasselbe; sogar für manche Niederrheiner, die direkt an deren Grenze wohnten. „Davon abgesehen ist das drittens eine hervorragende Idee.“

Falko winkte ab. „Gebongt. Wir feiern!“

Piet kam nicht dazu, ihm zu antworten, denn ein Anruf von der Pforte teile ihm mit, dass ein Herr Felix Körner und eine Frau Sabine Traude zu ihrem Termin bei ihm gekommen seien. Piet verließ das Büro, um sie abzuholen. Als er am Eingang ankam, waren inzwischen auch Werner Bongers und Emma Schmidtchen eingetroffen. Piet führte sie zu seinem Büro und bat sie bis auf Felix Körner, im Wartebereich davor Platz zu nehmen. Bevor er mit der Befragung des jungen Mannes begann, informierte er Carol, dass die Zeugen angekommen waren, damit er einen Teil der Befragungen übernahm.

Felix Körner setzte sich auf die Stuhlkante, als Piet ihn bat, Platz zu nehmen. Er schluckte mehrfach, befeuchtete die Lippen mit der Zunge und wusste offensichtlich nicht, wo er seine Hände deponieren sollte. Für ein paar Sekunden hakte er die Daumen in die Taschen seiner Jeans, dann faltete er sie vor dem Bauch, stützte sie gleich darauf an der Tischkante ab und legte sie schließlich auf die Stuhllehnen, wo er sie liegen ließ.

„Mögen Sie einen Kaffee, Herr Körner?“, versuchte Piet ihm die Nervosität zu nehmen.

Der junge Mann schüttelte den Kopf. „Ich will’s nur möglichst schnell hinter mich bringen.“

„Dann beeilen wir uns.“ Er blickte ihn gerade an. „Haben Sie eine Ahnung, wer Frau Mangold irgendetwas in den Teig, ein Getränk oder was auch immer getan haben könnte?“

„Nein!“ Felix Körner verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich habe nichts gesehen“, bekräftigte er. „Ich war mit meinem eigenen Teig beschäftigt.“

„Dann erzählen Sie mir bitte so genau wie möglich, und sofern Sie sich noch daran erinnern, wer sich wo befand.“ Er blätterte in seinem Notizbuch. „Frau Ludwig hat gestern ausgesagt, dass Sie alle Frau Mangold ständig im Auge behalten haben. Da können Sie mir diese Frage sicher beantworten.“ Erwartungsvoll sah er ihn an.

Felix Körner dachte nach, wie Piet an seiner gerunzelten Stirn und dem Blick zum Fenster hin merkte. „Also eigentlich waren wir alle die ganze Zeit in der Küche. Bis auf die paar Augenblicke, wenn mal jemand auf die Toilette musste oder Werner mal auf die Terrasse eine rauchen gegangen ist. Jeder hatte seinen Platz am großen Tisch oder an der Anrichte und hat da seinen Teig gemixt und die Verzierung vorbereitet.“

„Wo war Frau Mangold?“

„Bei der Anrichte. Abseits von uns anderen. Da konnten wir alle sie am besten im Auge behalten. Vielmehr hätten wir dann sofort gemerkt, wenn sie an den großen Tisch gekommen wäre und jemandem was in die Cakes getan hätte. Darum glaube ich auch nicht, dass sie die Cakes meiner Mutter verschandelt hat.“

„Ihre Mutter ist ...“

„Sabine Traude.“

Na toll! Damit hatte die gesamte engere Familie von Richter Traude mit dem Fall zu tun: Ehefrau, Schwiegermutter und Stiefsohn. Piet hoffte, dass keiner dieser drei etwas mit dem Tod von Louisa Mangold zu tun hatte.

„Wer könnte es sonst gewesen sein?“

Felix Körner zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Aber es muss passiert sein, als meine Mutter auf der Toilette war. Ich musste nur eine Minute später auch austreten, noch bevor sie zurück war. Da ich meinen Backplatz ihr direkt gegenüber hatte, hätte ich sonst gesehen, wenn jemand sich an ihrem Teig zu schaffen gemacht hätte.“

Piet notierte das. „Und haben Sie irgendwann jemanden gesehen, der sich an Frau Mangolds Teig zu schaffen gemacht hat oder in dessen Nähe war, als sie zum Beispiel auf die Toilette gegangen ist?“

„Nein. Das habe ich doch schon gesagt.“

Piet fragte noch nach ein paar Details, aber entweder Felix Körner hatte wirklich nichts Verdächtiges beobachtet oder er wollte niemanden verraten. Die pikanteste Frage hob er sich bis zuletzt auf: „Stimmt es, dass Frau Mangold versucht hat, Sie sexuell zu verführen?“

Der junge Mann wurde erst blass, dann puterrot, ehe er die Fäuste ballte und sie rasch in die Jackentaschen steckte. Wo sie immer noch geballt blieben, wie die Ausbuchtungen im Stoff verrieten. „Das Miststück hätte ich nicht mal mit der Kneifzange angefasst!“

„Das beantwortet nicht meine Frage, Herr Körner. Hat sie es versucht?“

Felix Körner wiegte den Kopf. Das Thema war ihm sichtlich unangenehm. „Ja. Keine Ahnung, warum! Ein paar Tage vorher hat sie sich noch über mich lustig gemacht – als Mann, meine ich. Und dann hat sie mich angetatscht, als ich von der Toilette kam, und wollte gleich mit mir einen Quickie. Ekelhaft!“ Er schüttelte sich. „Die hätte meine Mutter sein können. Und sie war auch nicht echt an mir interessiert. Ich glaube, die wollte damit nur meiner Mutter eins auswischen.“

Jetzt wurde es interessant. „Warum das?“

„Keine Ahnung. Mama hat mal erwähnt, dass die schon früher in der Schule ein Biest war. Leute wie die brauchen keinen Grund, um jemandem das Leben zur Hölle zu machen. Die sind einfach so.“

Nach Piets Erfahrung hatte so ein Verhalten immer eine Ursache. Wenn Kinder und Jugendliche sich derart aufführten, lag die Ursache in der Regel in mangelnder Erziehung, Misshandlungen oder anderen Problemen im Elternhaus begründet. In diesem Fall war Piet davon überzeugt, denn Paul Mangold hatte behauptet, dass seine Schwiegermutter auf Betreiben seiner Frau nicht einmal zu ihrer Hochzeit eingeladen worden war. So etwas tat man mit der eigenen Mutter ganz sicher nicht ohne einen gravierenden Grund.

„Wie haben Sie reagiert, Herr Körner?“

Der junge Mann schnaubte. „Was glauben Sie denn? Ich hab sie weggestoßen und sie angebrüllt, sie soll ihre Dreckspfoten von mir lassen.“ Er errötete. „Und ja, ich habe ihr auch an den Kopf geknallt, dass sie mich anekelt. Dann bin ich weg. Danach wurde sie dann richtig gemein.“

„Ja, Frau Ludwig erwähnte, dass Frau Mangold bei nächster Gelegenheit sich an Ihren Cupcakes gerächt hat.“

Felix Körner nickte. „Zum Glück hat sie ihre Bösartigkeit paritätisch verteilt. Jeder war mal dran. Und Freitag wäre damit endlich Schluss gewesen.“ Das klang erleichtert. Er sah Piet in die Augen. „Ich hab sie nicht umgebracht, das schwöre ich. Aber ich bin nicht traurig darüber, dass sie tot ist.“

Piet ging nicht darauf ein. Er stellte noch ein paar allgemeine Fragen, ehe er Felix Körner entließ. Der junge Mann eilte aus dem Zimmer und machte in seiner Hast nicht einmal die Tür richtig zu.

Eine gute Stunde später hatte er seinen Teil der Zeugenbefragungen abgeschlossen und wusste nun auch, wer Sabine Traudes Cupcakes verschandelt hatte. Marion Vehreschild hatte gestanden, in der Zeit, während Felix und seine Mutter auf der Toilette weilten, heimlich Glaubersalz hineingemischt zu haben.

„Es sollte nur ein harmloser Streich sein“, versicherte sie. „Aber mit Louisas Tod habe ich nichts zu tun. Wirklich nicht!“ Sie wurde rot. „Wissen Sie, ich habe noch nie den Goldenen Cupcake gewonnen. Und ich hatte diesmal wirklich Chancen. Aber dann habe ich gesehen, dass Sabine Pflaumenwein und gehackte Macadamianüsse in ihren Teig gegeben hat. Und schon konnte ich mit meinen piselichen kandierten Ingwerstücken und den Liebesperlen auf dem Hut wieder nicht gewinnen. Darum dachte ich ...“ Sie zuckte mit den Schultern. „Bitte denken Sie nicht zu schlecht von mir.“

Piet konnte eine solche erbitterte Konkurrenz wegen ein paar Cupcakes nicht nachvollziehen. Aber er hütete sich, das zu sagen und hatte nur leicht lächelnd den Kopf geschüttelt.

Auch die anderen gaben sich ausnahmslos unschuldig, wie er feststellte, als er seine Befragungsergebnisse mit denen von Carol verglich. Das mochte stimmen, denn solange die Analyseergebnisse der Cupcakes nicht vorlagen, stand noch nicht fest, woher das Gift oder Allergen stammte. Vielleicht gab die Obduktion darüber Aufschluss, der Carol und er zusammen mit Staatsanwältin Verena Saladin in einer guten Stunde beiwohnen mussten. Bis dahin konnte er noch ein paar Berichte über die Befragung der Zeugen schreiben.

 

Als Piet ein paar Stunden später zurückkehrte, war inzwischen auch eine Mail vom Erkennungsdienst angekommen, in die Analyse von Louisa Mangolds Backzutaten und Cupcakes stand. Sie bestätigte das Ergebnis der Obduktion. Er druckte sie aus und ging zu Gerd.

„Wir haben ein Tötungsdelikt“, erklärte er, als er ihm den Ausdruck auf den Tisch legte. „Und es deutet alles auf vorsätzlichen Mord hin.“

 

*

 

Gerd hatte umgehend das Team der Mordkommission „MK Cupcakes“ zusammengestellt und überließ es Piet, die Kollegen über das Ergebnis der Analyse, des restlichen Berichts des Erkennungsdienstes und des Obduktionsbefundes in Kenntnis zu setzen.

„Louisa Mangold wurde vorsätzlich vergiftet. Das Gift – es handelt sich um Coniin aus dem Conium maculatum, also Gefleckter Schierling – befand sich ausschließlich in dem Ahornsirup, den sie auf den Cake gegossen hat, der ihr dadurch zum Verhängnis wurde. Und es steht außer Zweifel, dass das auch die Todesursache war. Sie ist an den Folgen der Vergiftung gestorben.“

„Dann müssen wir den Hersteller warnen und das Geschäft, in dem der Sirup gekauft wurde, damit die einen Rückruf herausgeben“, meinte Falko.

„Das ist meiner Meinung nach nicht notwendig“, widersprach Piet. „Auf der Sirupflasche befanden sich ausschließlich Fingerabdrücke der Toten. Das zeigt, dass derjenige, der das Gift in die Flasche getan hat, seine Fingerabdrücke abgewischt hat. Wenn das Gift schon eingefüllt worden wäre, bevor das Opfer den Sirup gekauft hat, müssten noch weitere Abdrücke auf der Flasche sein, vielleicht auch verwischt, aber zumindest die von der Kassiererin, die die Flasche über den Kassenscanner gezogen hat, und auch von der Person, die sie ins Verkaufsregal geräumt hat. Es waren aber nur die der Toten darauf und obendrein nur wenige. Deren Verteilung und Anzahl deuten darauf hin, dass Louisa Mangold die Flasche nach dem Einfüllen des Giftes nur ein einziges Mal angefasst hat, um sich den Sirup über den Cake zu gießen. Das legt den Schluss nahe, dass das Gift vor dem letzten Gebrauch der Flasche eingefüllt worden sein muss, sonst wären erheblich mehr Abdrücke darauf.“

„Demnach muss der Täter einer aus der Connection sein“, war Carol überzeugt.

Piet schüttelte den Kopf. „Nicht zwangsläufig. Das kann auch schon bei ihr zu Hause passiert sein. Oder auf einem Zwischenstopp, den sie vielleicht vor dem Treffen mit ihren Kuchenbäckerfreunden eingelegt hat. Nehmen wir an, sie hatte die Flasche schon in die Tasche mit den Backutensilien gelegt, danach hat jemand das Gift eingefüllt, die Flasche abgewischt und Frau Mangold hat sie erst wieder aus der Tasche genommen, als sie den Cake damit aufpeppen wollte. Das wäre eine plausible Möglichkeit.“

„In jedem Fall war es jemand, der genau wusste, dass sie den Sirup bei sich hat oder mitnehmen würde“, brachte Gülsah Demirci es auf den Punkt.

„Sehe ich auch so“, stimmte Piet ihr zu. Er warf Gerd einen kurzen Blick zu, der ihm zunickte fortzufahren. „Falls sie keinen Zwischenstopp irgendwo eingelegt hat – was aber bedeuten würde, dass sie sich dort mit einem oder einer Bekannten getroffen hat, die oder der von dem Sirup in ihrer Tasche wusste –, kann das Gift nur bei der Back-Session oder bei ihr zu Hause eingefüllt worden sein. Und bei den Leuten vom Backclub haben wir gestern keine verdächtige Substanz gefunden und auch keinen Behälter, in dem sie hätte transportiert werden können. Zumindest nicht in deren Hand- und Jackentaschen. Was aber nichts heißen will. Falls der Täter oder die Täterin unter ihnen ist, könnte er oder sie den Behälter unmittelbar nach der Tat entsorgt haben.“

Wieder blickte er zu Gerd, der ihn erwartungsvoll ansah. Offenbar sollte Piet weitermachen.

„Ich schlage vor, Carol und ich reden noch mal mit dem Ehemann. Mal sehen, wie er auf die Nachricht reagiert, dass seine Frau ermordet wurde. Denn der Vorsatz steht außer Zweifel. Ich habe mich über den Schierling im Internet schlaugemacht. Der wurde früher und wird teilweise immer noch, wenn auch wegen seiner Giftigkeit selten, als Zierpflanze in Gärten verwendet. Außerdem kommt er in der Natur an Waldrändern und Bachufern vor. Aber wer ihn beziehungsweise Teile davon – im Sirup befanden sich zermahlene Fruchtstücke – in ein Nahrungsmittel oder Getränk mischt, tut das nicht, wenn er nichts von der Giftigkeit weiß und die Vergiftung nicht beabsichtigt. Außerdem war laut Analyse die Giftkonzentration hoch genug, um ein Pferd zu töten.“ Piet legte die Ausdrucke, die er die ganze Zeit in der Hand gehalten hatte, auf den Tisch. „Da aber diese Informationen im Internet frei zugänglich sind, geben uns die Berufe der Verdächtigen leider keinen zwangsläufigen Hinweis auf die Täterschaft eines von ihnen.“

„Trotzdem überprüfen wir die“, entschied Gerd und verteilte die Aufgaben.

Direkt danach machte Piet sich mit Carol auf den Weg zum Haus der Mangolds.

 

*

 

Paul Mangold starrte Piet in einer Weise an, als habe er nicht verstanden, was dieser ihm gesagt hatte. „Tatsächlich Mord?“, vergewisserte er sich. „Aber ...“ Er schüttelte den Kopf. „Die haben sie also doch vergiftet.“

„Bedauerlicherweise besteht an dem Vorsatz und der bewussten Tötungsabsicht kein Zweifel“, bestätigte Piet und kraulte den braunen Labrador hinter den Ohren, der ihn nicht nur freudig wie einen alten Bekannten begrüßt, sondern ihn offensichtlich in sein Hundeherz geschlossen hatte. „Das Gift befand sich im Ahornsirup, den Ihre Frau mit zum Backtreffen gebracht hatte.“

Er warf einen unauffälligen Blick in die Runde des Wohnzimmers, das sich seit dem gestrigen Besuch verändert hatte. Über der hässlichen Couch lag eine farbenfrohe, gehäkelte Patchworkdecke, die so tief herunterhing, dass die Chrombeine nicht zu sehen waren. Dicke Kissen glichen die Unbequemlichkeit der nach hinten geneigten Rückenlehne aus. Auch der Sessel, in dem Mangold saß, hatte eine ähnliche Verbesserung erfahren. Ein kariertes Plaid in Ocker und Terrakottafarbe verdeckte das blaue Leder und die Chromstelzen. Und über dem Glastisch lag eine mit blauen Blüten auf hellgrünem Grund gemusterte Tischdecke.

Mangold nickte. „Sie hat das Zeug geliebt. Es verging kein Tag, an dem sie es sich nicht schon zum Frühstück auf den Toast geschmiert hat. Und manchmal noch zum Mittag oder Abendessen auf Pfannkuchen. Und natürlich auf jeden Cupcake und andere Kuchen, die sie gebacken hat. Mir ist es einfach zu süß. Darum habe ich nie was davon gegessen.“ Er blickte von Piet zu Carol. „Wer von denen war es?“

„Das wissen wir noch nicht“, antwortete Carol. „Es besteht aber durchaus die Möglichkeit, dass das Gift in die Flasche gefüllt wurde, bevor Ihre Frau sie mit zu dem Treffen genommen hat.“

Mangold reagierte nicht darauf. Sekunden später richtete er sich kerzengerade auf. „Moment mal! Wollen Sie damit andeuten, dass ich Louisa vergiftet habe?“

„Wir können momentan keine Möglichkeit ausschließen“, sagte Piet. „Würden Sie uns gestatten, uns in Ihrem Haus umzusehen?“

Der Gedanke war Mangold nicht nur sichtlich unangenehm, er löste auch Empörung aus. „Brauchen Sie dafür nicht einen Durchsuchungsbeschluss?“

„Für eine komplette Durchsuchung, ja“, bestätigte Piet. „Aber nicht für eine Nachschau, wie es im Amtsdeutsch so schön heißt, wenn Sie uns die erlauben.“ Er blickte Mangold so wohlwollend an, wie es nur ging.

Der runzelte die Stirn und wirkte ungehalten. „Warum sollte ich das tun?“

„Um uns Ihre Unschuld zu beweisen“, antwortete Carol.

Mangold hätte am liebsten abgelehnt, das sah man ihm an. Aber der über ihm hängende Verdacht, dass er selbst seine Frau umgebracht haben könnte, war ihm offenbar unerträglich. „Von mir aus. Wenn dadurch vom Tisch ist, dass ich was mit Louisas Tod zu tun haben könnte, bitte sehr. Durchsuchen Sie alles. Aber wonach genau suchen Sie eigentlich? Nach dem Gift, schon klar. Aber wenn ich der Täter wäre, glauben Sie, dann würde ich das Zeug hier aufbewahren?“ Er biss sich auf die Lippen, als ihm bewusst wurde, dass die Bemerkung den Verdacht gegen ihn nicht ausräumte, sondern eher bestätigte. „Was für ein Gift war es denn? Hat Louisa – gelitten?“