Über Thomas Wagner

Thomas Wagner, geboren 1967 in Rheinberg, studierte in Aachen Soziologie, lehrte und forschte in Dresden und promovierte in Münster. Er arbeitete als freier Autor u. a. für Die Zeit, Süddeutsche Zeitung, Neue Zürcher Zeitung, junge Welt, Woz, Falter und Der Freitag. Publikationen u. a.: Die Mitmachfalle (2013), Robokratie (2015).

Informationen zum Buch

Wer sind die Neuen Rechten? Eine hochbrisante Innenansicht

Mit dem Aufkommen der AfD droht die Neue Rechte breite bürgerliche Schichten zu erfassen. Wer sind ihre Ideengeber, und worin haben sie ihre Wurzeln? Thomas Wagner stellt erstmalig heraus, wie wichtig »1968« für das rechte Lager war, weil es einen Bruch in der Geschichte des radikalrechten politischen Spektrums markiert, der bis heute nachwirkt. Das zeigen unter anderem die Gespräche, die Wagner mit den Protagonisten und Beobachtern der Szene geführt hat, darunter Götz Kubitschek, Ellen Kositza, Martin Sellner, der inzwischen verstorbene Henning Eichberg, Alain de Benoist, Falk Richter und Frank Böckelmann. Wagners Buch liefert eine spannende Übersicht über die Kräfte und Strömungen der Neuen Rechten und ihre Ursprünge.

»Nur wer begreift, wie die Akteure wirklich denken, ist in der Lage, angemessen auf ihre Provokationen zu reagieren. Fest steht: ›1968‹ ist nicht nur die Geburtsstunde einer neuen Linken jenseits der Sozialdemokratie, sondern auch die einer Neuen Rechten. Dieses Buch erzählt, wie es dazu gekommen ist.« (aus der Einleitung)

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Thomas Wagner

Die Angstmacher

1968 und die Neuen Rechten

Inhaltsübersicht

Über Thomas Wagner

Informationen zum Buch

Newsletter

Einleitung: Wer sind hier eigentlich die Nazis?

Was 1968 war

Kampf um Deutungshoheit

Das Pendel schlägt zurück

Konservatismus in der Defensive: Arnold Gehlen

Gegen die »Hypermoral«

Politische Resignation

Ein neuer Anfang: Die Rebellion der Nationalisten

Für die deutsche Einheit

Die schwarze Fahne empor

Wider den Status quo

Nationalrevolutionäre Zirkel

Nur bedingt praxistauglich

Die Faszination des Eurofaschismus

Krawall und Rock ’n’ Roll

Französische Vorbilder: Mabire, Benoist, Venner

Das Situationistische Manifest

Eine andere Kulturrevolution

Vom Marxismus lernen: Gramsci und die Metapolitik

Flaneur des Pariser Mai

Der Sound der Linken

Abkehr von den Altnazis

Antiimperialismus von rechts

Befreiungsnationalismus

Kritik an der Entwicklungshilfe

Ein politischer Kampfbegriff

Lob der Differenz

Exkurs: Ein Gespräch über den Ethnopluralismus

Tipps in Basisdemokratie: Der Anarchist und die »Sache des Volkes«

Nationalrevolutionäre Umweltschützer

Eine ungewöhnliche Debatte

Mit Faschisten redet man nicht

Nationalkonservative Graswurzelbewegung: Die Junge Freiheit

Immer noch: die deutsche Frage

Moeller van den Bruck und die Moderne

Jungkonservative Ideen

Exkurs: Armin Mohler und der faschistische Stil

Die Neunundachtziger: Rechter Aufbruch im Wende-Deutschland

Mit Ernst Jünger auf der Loveparade

68 auf den Kopf gestellt

Ein Historiker wittert Morgenluft

Pop-Linke gründen Wohlfahrtsausschüsse

Neofolk: Sehnsucht nach dem anderen Europa

Der Vatikan im Achtundsechziger-Rausch

Der Reaktionär Martin Mosebach erhält den Georg-Büchner-Preis

Die Kunst der politischen Provokation

Ein konservativer Sponti

Münchner Untergrund

Theorie und Praxis

Revolutionäre Selbstveränderung

Spiel mit dem Feuer

Die Achtundsechziger als Lehrmeister

Antibürgerliche Gemeinsamkeit

Die Türöffner: Thilo Sarrazin und Peter Sloterdijk

Das Untergangsszenario

Die SPD wird neoliberal

Der Geist ist aus der Flasche

Die dunkle Seite des Liberalismus

Der bürgerliche Widerstand formiert sich

Kritik am Merkel-Kurs

Ein liberaler Strippenzieher

Die rechten Alternativen: AfD und Pegida

Demokratie von unten

Dresden und die Retter des Abendlandes

Böckelmanns langer Weg nach rechts

Der Skandal um Tumult

Halbdistanz zur Obrigkeit

Stagnationserscheinungen

Identitärer Kulturkampf: Die Pop-Rechte in Aktion

Aufstehen gegen das System: Mishima und die Linke

Kriegserklärung an die Achtundsechziger

Vorbilder in Italien und Frankreich

Humor als Waffe

Die Strategie der Gewaltfreiheit

Geistiger Bruch: vom Neonazi zum Identitären

Ein Gespräch über Mohler und den Begriff der Nation

Der eigene Weg

Der Ritt auf dem Tiger

Sorel und der politische Mythos

Der »große Austausch«: Die Konstruktion eines Feindbilds

Die Zornbatterie wird aufgeladen

Invasion der Habenichtse

Erhöhte Wehrbereitschaft

Sloterdijks Schüler

In vorderster Reihe: Die Frauen der Neuen Rechten

Die Silvesternacht 2015

Ein Gespräch über den alten und den neuen Feminismus

Karl Marx und der »Faschismus des 21. Jahrhunderts«

Getrennte Wege: Kubitschek und Weißmann

Und wieder: Eurofaschismus

Linke Sozialwissenschaft

Exkurs: Ein Gespräch mit Kubitschek und Kositza über die Gewalt

Dem Bösen keine Bühne: Das Theater schafft sich ab

Verordnungsliberalismus

»Einreisestopp« im Maxim Gorki

Falk Richter und die AfD

Alte und neue Identitäten

Schluss: Das uneingelöste Versprechen von 1968

Zu Besuch in Odense

Der Front National und die soziale Frage

Die Rückkehr der »höfischen Sprache«

Die alten Fragen sind die neuen Fragen

Danksagung

Anhang

Anmerkungen

Literatur

Personenregister

Impressum

Einleitung:
Wer sind hier eigentlich die Nazis?

Herbst 2015. Eine Kundgebung in Berlin. Im Osten der Hauptstadt. Nicht weit vom Roten Rathaus. Die Straße Unter den Linden ist gesperrt. Demonstranten verteilen Blumen. Ergraute Langhaarige sind darunter, Rentner-Ehepaare, Männer in Motorradkluft, auch ein paar St.-Pauli-Fans. »Keine Gewalt«, tönt es von der Rednertribüne. Die Demokratie sei gefährdet, hört man hier und da. Die Frau werde im Islam unterdrückt. Und immer wieder: Merkel muss weg. Hinter der Polizeiabsperrung eine in Schwarz gekleidete Menge, junge Gesichter, manche vermummt. Drohgebärden in Richtung der Blumenkinder in fortgeschrittenem Alter. Die setzen sich zur Wehr, bilden Sprechchöre. »Nazis raus! Nazis raus!«, rufen sie den Gegendemonstranten zu. Aber wer sind hier eigentlich die Nazis? Wer die Guten, wer die Bösen? Die Touristen vor der Filiale der Coffee-to-go-Kette, in der ich gerade mein Frühstück verzehrt habe, sind irritiert. Man klärt sie auf: Die militanten Jungen sind von der Antifa, also Linke. Die Alten mit den Blumen von der AfD, also Rechte. Die Verwirrung hat einen Grund: Die politische Rechte greift auf Sprüche und Aktionsformen zurück, die man seit den Tagen der Achtundsechziger-Studentenrevolte vor allem mit der Linken in Verbindung bringt.

Besonders beliebt sind gezielte Provokationen. Sie gehörten zur Strategie der Antiautoritären. Das dahintersteckende Kalkül: Der verunsicherte Staat reagiert über und entlarvt sich dadurch selbst als ein repressives Regime. Je mehr Wirbel dabei entsteht, desto mehr potenzielle Anhänger werden über die Massenmedien erreicht. Die Selbstinszenierung als Bürgerschreck gehörte für Rudi Dutschke und die Akteure der Außerparlamentarischen Opposition (APO) dazu.

Heute sind es rechte Gruppierungen, wie die Identitäre Bewegung, die sich in ihren Fußstapfen bewegen. Ob sie den Zugang zur CDU-Bundeszentrale vorübergehend mit einer Sitzblockade versperren, das Brandenburger Tor erklimmen oder Veranstaltungen in renommierten Theatern stören: Die Aktionen der Identitären schockieren viele Zeitgenossen. Und wieder kommt es zu den erwünschten Überreaktionen der etablierten Institutionen. Es ist wie ein Déjà-vu. Nur mit umgekehrtem Vorzeichen. Heute sind es nicht mehr elitäre Kulturkonservative, sondern egalitär gesinnte Linksliberale, die auf den alten Sponti-Trick hereinfallen. Nehmen wir das Maxim Gorki Theater in Berlin. Nach einer Störaktion durch eine Gruppe Identitärer, bei der es weder zu Sach- noch zu Personenschäden kam, eröffnete die Intendanz im Herbst 2016 seinen potentiellen Besuchern aus »der rechtsextremen Szene« mittels einer Banneraufschrift, man behalte sich vor, sie auf der Grundlage des »Hausrechts« hinauszukomplimentieren. Ein wenig klingt das wie: »Rasen betreten verboten.«

Das Theater, kritisierte Michael Wolf auf dem Kulturportal Nachtkritik, agiere wie ein »Stammtisch bürgerlicher Selbstvergewisserung«, von dem die »Schmuddelkinder« ausgeschlossen bleiben.1 Letztere dürften sich ins Fäustchen gelacht haben. »Den 68ern schmeckt ihre eigene Medizin offenbar überhaupt nicht«, wurde in einem Video der Identitären Bewegung Österreich die öffentliche Empörung über eine andere ihrer »ästhetischen Interventionen«2 kommentiert. Je mehr sich die dem eigenen Anspruch nach plurale Öffentlichkeit nach rechts hin schließt, desto effektiver scheinen die von den Achtundsechzigern und ihren Adepten erprobten Methoden der Spaßguerilla und der Provokation zu greifen. »Überraschend viele Techniken der politischen Auseinandersetzung entstammen dem Repertoire der Achtundsechziger-Bewegung: der Tabu- und Konventionsbruch, die Aggressivität in der Auseinandersetzung, die Unbedingtheit in der Position, die eigene Publizistik mit eigenen Verbreitungswegen«,3 schreibt Matthias Drobinski in der Süddeutschen Zeitung: »Nur dass der Pflasterstrand jetzt Compact heißt und seine Leser nicht in der Szenekneipe findet, sondern im Internet – und nicht mehr Fritz Teufel vor dem Richter erst mal sitzen bleibt, sondern Björn Höcke in der Talkrunde seine Deutschlandfahne über die Sessellehne hängt. Und aus dem Kampfbegriff ›faschistisch‹ ist der Kampfbegriff ›links-rot-grün-versifft‹ geworden, den der AfD-Vize Jörg Meuthen im baden-württembergischen Wahlkampf mit großem Erfolg verwendet hat.« Gestandene rechtskonservative Politiker und Professoren rennen gegen das Establishment an. 50 Jahre zuvor waren es noch linke Studenten.

Was 1968 war

Am Sonntag, dem 18. Februar 1968, machten sich etwa 12 000 Gegner des Vietnamkriegs auf den Weg zur Deutschen Oper in Berlin. Sie hakten sich in Ketten unter. Rhythmische Sprechchöre skandierten »Hồ-Hồ-Hồ Chí Minh«. Einzelne Blocks stürmten im Laufschritt voran.4 Tags zuvor hatte im Audimax der Technischen Universität der Internationale Vietnam-Kongress getagt. Den circa 4000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern ging es dabei nicht um die Erörterung theoretischer Fragen, sondern um die Demonstration einer aktiven politischen Solidarität mit dem Kampf der Nationalen Front für die Befreiung Südvietnams – dem Vietcong – gegen die Truppen der USA. Am Ende verabschiedeten sie ein Aktionsprogramm, in dem zur Zerschlagung der NATO, zur materiellen Unterstützung der Befreiungsbewegung, zur Desertion US-amerikanischer Armeeangehöriger sowie zu Sabotageaktionen gegen den militärischen Nachschub aufgerufen wurde. Zu den Rednern des Kongresses zählen der britische Autor und Filmemacher Tariq Ali, der italienische Verleger Giangiacomo Feltrinelli, der trotzkistische Wirtschaftswissenschaftler Ernest Mandel, die Schriftsteller Bahman Nirumand, Gaston Salvatore sowie Erich Fried und Peter Weiss.

Prominente europäische Intellektuelle von Michelangelo Antonioni über Herbert Marcuse, Pier Paolo Pasolini, Ernst Bloch, Hans Magnus Enzensberger, Bertrand Russell, Jean-Paul Sartre bis zu Luchino Visconti erklärten sich mit den Zielen der Veranstalter solidarisch.5 Es ging gegen den Imperialismus, dessen aggressive Natur in den Studien von Wladimir Iljitsch Lenin, Rosa Luxemburg und Nikolai Iwanowitsch Bucharin offengelegt worden war. Die angepasste und karriereorientierte Jugend der Nachkriegszeit6 war durch eine Generation abgelöst worden, die sich dem politischen Protest verschrieben zu haben schien. Was aber bewegte die studentische Jugend von 1968?

An erster Stelle stand die Solidarität mit den Befreiungsbewegungen ehemaliger westlicher Kolonien. Was in Kuba, Vietnam, Algerien, im Trikont geschah, erschien vielen als Auftakt der erhofften Weltrevolution. Schüler, Lehrlinge und Studenten begehrten auf gegen Autoritäten in Betrieb, Schule und Behörden, gegen eine rigide Sexualmoral und Erziehungsmethoden, die damals vielerorts noch mit körperlicher Züchtigung verbunden waren. Die Gleichberechtigung der Geschlechter wurde gefordert. Frauen, Schwule und Lesben begannen für ihre Interessen zu kämpfen. Studenten setzten sich ein für Hochschulreformen, die eine größere Beteiligung des akademischen Nachwuchses an der Selbstverwaltung der Universitäten und der Gestaltung der Lehrinhalte ermöglichen sollten. Der Leitspruch hieß: »Unter den Talaren – Muff von 1000 Jahren«. Hinzu kam die Auseinandersetzung mit den Verbrechen, die vom Naziregime begangen wurden. Die Angehörigen der Elterngeneration, die sich zumeist über ihre eigene Rolle im Faschismus ausschwiegen, wurden mit ihrer Vergangenheit konfrontiert. Die Studenten machten Schluss mit der Sprachlosigkeit, die unter den Angehörigen der Kriegsgeneration hinsichtlich des Dritten Reichs herrschte. Da jeder von dem Dreck wusste, den der andere am Stecken hatte, hatte man sich über die Naziherrschaft ausgeschwiegen. »Die Verdrängungen der Vergangenheit wurden öffentlich gemacht, die Leichen der NS-Zeit aus dem Keller der neuen Republik geholt. Erst mit den 68ern brach ein gesellschaftlicher Graben auf, der bis heute nicht zugeschüttet wurde«,7 meint der Politikwissenschaftler Albrecht von Lucke. Ein wichtiger Faktor für die Mobilisierung von Unterstützern war die weitverbreitete Ablehnung der Großen Koalition aus CDU/CSU und SPD unter der Kanzlerschaft des ehemaligen NSDAP-Mitglieds Kurt Georg Kiesinger. Es ging gegen die Einschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses durch die Notstandsgesetze, den geplanten Einsatz der Bundeswehr im Inneren und einen Kapitalismus, der die globale Ungleichheit verschärfte und immer mehr Lebensbereiche dem Diktat der Kommerzialisierung auszusetzen drohte.

Die Linken antworteten darauf mit der Forderung, die Wirtschaft zu demokratisieren. Privates Eigentum sollte öffentlich werden, die ökonomische Planung sich nicht mehr am Eigennutz, sondern am Gemeinwohl orientieren. Eine wirkliche Partizipation breiter gesellschaftlicher Schichten, so glaubte man, ließe sich nur in einer sozialistischen Gesellschaft verwirklichen. Die allerdings sollte anders aussehen als in der DDR: basisdemokratisch, ohne Gängelung durch eine Partei, die im Zweifel immer recht hatte. Die Saat hierfür glaubte man schon im Hier und Jetzt pflanzen zu können. Kinderläden und Kommunen entstanden. Eine beachtliche Gegenkultur bildete sich heraus. Ein Netzwerk linker Verlage, Buchhandlungen, Kneipen, Bands, Kinos usw.

Man gab sich nonkonform. Die sogenannten guten Manieren, Pünktlichkeit und fraglose Arbeitsdisziplin gerieten in Misskredit. Das Unkonventionelle in Kleidung und Lebensgewohnheiten, die Suche nach dem Echten und Ursprünglichen sowie die Überwindung künstlicher Grenzen wurde betont. Was nach bürgerlichen Maßstäben verurteilt wurde, galt als chic.8 Mit dem sprunghaften Anstieg der Studentenzahl, die auf das Bedürfnis der zunehmend technisierten Wirtschaft nach wissenschaftlich ausgebildeten Arbeitskräften zurückzuführen ist, hatte der Nonkonformismus die Chance, in breitere Schichten hinein zu wirken.9 Lebensmodelle, die zuvor in den Nischen der bürgerlichen Gesellschaft von kleinen Avantgarde-Bewegungen erprobt worden waren, wurden auf diese Weise populär. Das Leben in einer Wohngemeinschaft – heute als praktischer Behelf und als Lebensmodell weithin akzeptiert – war anfangs ein Skandal.

Von den Achtundsechzigern war zu dieser Zeit allerdings noch nicht die Rede. Das Wort existierte weder als Eigen- noch als Fremdbezeichnung. Die Akteure sahen sich nicht als Generationsgemeinschaft. Sie wollten ihren politischen Aufbruch nicht als Jugendrevolte gegen die ältere Generation, sondern als ersten Schritt in Richtung einer wirklichen Revolution verstanden wissen. Die Bezeichnung Achtundsechziger geht auf einen Kursbuch-Artikel von Klaus Hartung vom Dezember 1978 zurück10 und wurde alsbald von Freund und Feind aufgegriffen. Seit dieser Zeit war jeder Kampf um die politisch-kulturelle Hegemonie in Deutschland aufs engste mit 1968 verknüpft.11 Der Kölner Schriftsteller Erasmus Schöfer hat in seinem rund 2000 Seiten starken Roman-Vierteiler »Die Kinder des Sisyfos« die Kämpfe und die Entwicklung dieser Generation von 1968 bis 1990 auf eine beeindruckende Weise nachgezeichnet. Er begleitet seine Hauptfiguren – einen Reporter, einen Historiker, eine Gewandmeisterin und einen Werkzeugmacher – auf den wichtigsten Stationen dieses Kampfes für mehr Demokratie und eine solidarische Gesellschaft: vom Protest gegen den Vietnamkrieg über die Anti-AKW-Bewegung, die Massenproteste der Friedensbewegung gegen die atomare Aufrüstung, den Kampf der Gewerkschaften für die 35-Stunden-Woche bis hin zu Widerstand der Stahlarbeiter gegen die Schließung der Stahlhütte in Rheinhausen.12 Der Mordanschlag auf Rudi Dutschke am 11. 4. 1968 wurde zum zündenden Funken der Revolte der aufgebrachten städtischen Jugend. Eine Schlüsselszene des ersten Bandes – »Ein Frühling irrer Hoffnung« – schildert eine unangemeldete Protestdemonstration vor dem Druckhaus des Verlags Axel Springer in München, die Ostern 1968 stattfand. Die Studenten skandierten »Heute Rudi, morgen wir«. Sie gaben der Berichterstattung von Zeitungen aus diesem Hause eine Mitschuld am Hass gegen die Linke, der sich in der brutalen Gewalttat entlud.

Kampf um Deutungshoheit

Es war auf dem Höhepunkt der »Enteignet Springer!«-Kampagne, als sich einige Angehörige des Rings Christlich Demokratischer Studenten (RCDS) in die Mensa der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität setzten und dort demonstrativ die Bild-Zeitung lasen. Einer von ihnen war Peter Gauweiler. Der spätere bayerische Minister und stellvertretende CSU-Vize war damals Jurastudent und Vorsitzender des RCDS. »Gauweiler, das geht entschieden zu weit!«, schimpften seine Gegner vom Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) damals. »So was freut einen natürlich«,13 erinnert sich der Politikveteran, der sich selbstironisch schon mal als »alten reaktionären Knochen« bezeichnet.14 Seinen politischen Kontrahenten von damals will er im Nachhinein jedoch einen gewissen Respekt nicht verwehren. »Ihre Unverschämtheiten waren immer auch Transportmittel der Wahrheit«,15 bekannte er im Rückblick. Manch demonstrativer Verstoß gegen die Tanzstunden-Etikette von damals habe auch etwas Erfrischendes gehabt. Man sei ab und zu gemeinsam im Mutti-Bräu in Schwabing ein Bier oder im Hahnhof einen billigen Rotwein trinken gegangen. Mit Fritz Teufel habe ihn eine lustige Gegen-Kameradschaft verbunden, ohne dass es in politischer Hinsicht einen Kuschelkurs gab. Gauweilers altersmilder Rückblick ist nicht unbedingt typisch für die Sicht des rechtskonservativen Lagers auf die Studentenbewegung. Man warf den Achtundsechzigern von Anfang an vor, für alles verantwortlich zu sein, was in der gegenwärtigen Gesellschaft schiefläuft. Sie hätten den Nachgeborenen eine »wertelose Gesellschaft« hinterlassen.16 Hierher rührten Kriminalität, Schwangerschaftsabbrüche, Ehescheidungen, Kriegsdienstverweigerungen, Kirchenaustritte, das Aufkommen von Psycho-Sekten, Drogenmissbrauch, Linksterrorismus, Leistungsverweigerung und die Bildungsmisere.17

Der »von nahezu religiösen Hoffnungen getragene emanzipatorische Aufbruch der Studentenbewegung und weiter Teile der Jugend« sei gescheitert, bilanzierte der katholische Philosoph Günter Rohrmoser18 gut 15 Jahre nach der Revolte. Linke Intellektuelle, schrieb der konservative Soziologe Helmut Schelsky schon Mitte der siebziger Jahre, zerstörten durch das ständige und schrankenlose In-Frage-Stellen von allem und jedem altbewährte Institutionen, ohne neue Bindungen zu schaffen, die über die Einrichtung einer Dauerreflexion hinausreichten. Er warf den kritischen Intellektuellen im Gefolge der Frankfurter Schule vor, als Meinungsbildner in den Medien eine neue Form der Priesterherrschaft auszuüben. Die eigentlichen Machthaber seien nicht mehr Kapitalisten aus dem Hause Krupp, Thyssen oder Flick, sondern Schriftsteller wie Heinrich Böll und Günter Grass oder Wissenschaftler wie Herbert Marcuse, Alexander und Margarete Mitscherlich.19 Das war zwar hanebüchener Unsinn, bestätigte jedoch das Unbehagen, das viele Konservative verspürten, wenn sie zu dieser Zeit vermehrt gesellschaftskritische Töne aus Funkhäusern und Redaktionen vernahmen. Als die Protestbewegung der Studenten, Schüler und Lehrlinge an den Grundfesten der bundesrepublikanischen Gesellschaft zu rütteln begann, waren Schelsky und viele seiner Kollegen in hohem Grade alarmiert. In der studentischen Presse, den Diskussionen und auch in der Begegnung von Professoren und Studenten breitete sich ein Ton aus, »den man kaum anders als aggressiv, rüde, erbittert bis zur Bosheit, herrisch, in extremen Fällen als vulgär und bedrohlich bezeichnen muss«,20 klagte der Soziologe Wilhelm Hennis, Jahrgang 1923. »Erschüttert über das blindwütig Emotionale jener Radikalen«21 zeigte sich der 1908 geborene protestantische Theologe Helmut Thielicke in seiner 1969 veröffentlichten »Kulturkritik der studentischen Rebellion«. Er »habe sie nur im Kollektiv, gleichsam in Sprechchören, erlebt, kaum als einzelne«.22 Eine »Vergewaltigung des Mitmenschen aus Gesinnung« warf Erwin K. Scheuch den Studenten vor. Er charakterisierte den Protest 1968 als eine von den Massenmedien unterstützte Erweckungsbewegung.23 Der Religionshistoriker Hans-Joachim Schoeps sprach gar von »bürgerkriegsähnlichen Verhältnissen an den Universitäten«.24 1933 hatte er national gesinnte Juden mit Hilfe des von ihm gegründeten Vereins Der deutsche Vortrupp in das Naziregime integrieren wollen,25 nun mobilisierte er zum Kampf gegen »die rote Spielart des Faschismus«.26 Wenn die Bundesrepublik vor einer Politik der Härte gegenüber der jungen studentischen Generation zurückscheue, werde »in Deutschland noch viel Blut fließen«.27 Um das Hereinbrechen des Chaos zu verhindern, wollte er »die Reste bestehender Ordnung mit allen Mitteln« verteidigen.28

Deutlich weniger militant gab sich der Soziologe Helmut Schelsky, der in jungen Jahren – ebenso wie Schoeps und Arnold Gehlen – mit der faschistischen Ordnung sympathisiert hatte. Er gehörte zu jenen Professoren, die zur Zielscheibe eines studentischen Protests wurden. Er und seine Familie hätten mehrere Jahre lang unter anonymen Telefonanrufen und Beschimpfungen übelster Art gelitten, erinnert sich der Hochschullehrer.29

Auch unter den ehemaligen Protagonisten der »deutschen« Kulturrevolution gab es – mit größerem Abstand zum historischen Geschehen – einige, die im Rückblick kaum noch ein gutes Haar am Aufbruch der linken Jugend lassen wollten. Die Revolte sei der Beginn eines »roten Jahrzehnts« gewesen,30 so Gerd Koenen. Dieses, so glaubte manch ein Beobachter, mündete mit beinahe unausweichlichen Konsequenzen in den RAF-Terror des Jahres 1977.31 Dabei war es die Staatsgewalt, die dem Bedürfnis der studentischen Bewegung nach gesellschaftlichem Engagement und demokratischer Partizipation zunächst mit massiver Gewalt begegnete. Ein Schlüsselereignis war die Erschießung des Studenten Benno Ohnesorg während einer Demonstration gegen den Besuch des Schahs von Persien am 2. Juni 1967 durch den Polizisten Karl-Heinz Kurras.

Der Historiker Götz Aly bewertete die Studentenrevolte in einem insgesamt wenig überzeugenden, allerdings erfrischend polemisch verfassten Essay als »Spätausläufer des Totalitarismus«32 mit einer ganzen Reihe brauner Flecken. Hierzu zählte er den Bewegungscharakter, die Ablehnung von Pluralismus und Parlamentarismus sowie den Antiamerikanismus. Hinter der damals weitverbreiteten Hoffnung auf mehr Partizipation durch eine Rätedemokratie witterte er das »Bedürfnis nach zukunftsängstlicher Regression« in die »Kuhwärme« überschaubarer Gemeinschaften.33 Koenen und Aly, beide selbst ehemals Protagonisten der linksradikalen Kulturrevolution, setzten ihre Lesart von 1968 gegen ein Narrativ, das sich nach 1988, dem zweiten großen Jubiläum, durchgesetzt hatte.

Viele Achtundsechziger waren zu diesem Zeitpunkt bereits in der bürgerlichen Gesellschaft angekommen. Sie hatten gut bezahlte Jobs, bekleideten leitende Positionen in Wirtschaft, Wissenschaft, Politik und Kultur. Von der Idee einer sozialistischen Revolution hatten sich die meisten längst verabschiedet. Sie betrachteten sich aber nicht als gescheitert, sondern verbuchten die nicht zu bestreitende »Fundamentalliberalisierung« der bundesrepublikanischen Gesellschaft auf ihr Konto. 1968 stand nun für den Beginn eines breiten gesellschaftlichen Demokratisierungsprozesses, aus der Frauen-, Friedens- und Umweltbewegungen hervorgegangen waren. »Im bürgerlichen Feuilleton, das immer mehr durch Angehörige der 68er-Generation besetzt wurde, war ›68‹ zum Synonym für die kulturelle Verwestlichung geworden, für die Übernahme demokratischer Spielregeln und deren Ausübung. Erst die Revolte schien aus dem vormals autoritär-hierarchischen Obrigkeitsstaat eine moderne, zivilisierte Demokratie gemacht zu haben.«34 Die Achtundsechziger, meint Albrecht von Lucke, machten sich die Bundesrepublik in einem Akt der politischen Selbstermächtigung zu eigen. Insofern könne man ihr Tun tatsächlich als zivilgesellschaftliche Um- oder Neugründung der Bundesrepublik bezeichnen.

Im Hinblick auf den Kapitalismus, den sie ja überwinden wollten, erreichten sie jedoch das genaue Gegenteil. Sie trugen zu seiner Modernisierung bei. Ein Unvermögen, die bestehenden Machtverhältnisse tatsächlich grundlegend verändern zu können, wurde der aufmüpfigen studentischen Jugend bereits 1968 von Caspar von Schrenck-Notzing attestiert. Ausstaffiert mit dem reichen symbolischen und ideologischen Fundus vergangener Klassenkämpfe, erschöpfe sich der Schulterschluss mit dem Proletariat im revolutionären Rollenspiel. »Wer die rote Fahne schwingt, wird dadurch so wenig zum Proletarier wie zum Sadhu wird, wer ein Krishna-Poster an die Wand hängt«,35 urteilte der Schriftsteller, der in den sechziger Jahren für Nation Europa, die National-Zeitung, aber auch für den Bayernkurier, also die Parteizeitung der CSU, schrieb. Die Träger der studentischen Revolte begriff er als eine nach Macht strebende Schickeria, als »schicke Linke«,36 deren ökonomische Grundlage und ideologische Hauptbetätigung im kulturellen Dienstleistungssektor, in Funk und Fernsehen, zu suchen sei. Die von ihr gemeinte Revolution sei »eine Art Lockerungsübung«,37 die Solidarität mit der »Dritten Welt« allenfalls dazu geeignet, die Bartmoden umzuwälzen.38

Ganz ähnlich sah es der griechische Philosoph Panajotis Kondylis. Wer 1968 nach unmittelbarer Selbstverwirklichung strebte, so lautet sein Argument, mag sozialistische Ideen im Kopf gehabt haben. In Wirklichkeit hätten die rebellierenden Studenten gerade dadurch die Durchsetzung einer restlos kommerzialisierten Gesellschaft unterstützt. Deren erstes Gebot lautet, dass »hier und jetzt konsumiert werden kann und soll«.39

Der Wunsch, jederzeit alle Bedürfnisse verwirklichen zu können, korrespondiert mit einer Ausweitung der Ladenöffnungszeiten. Die ist bequem für die Konsumenten, verlangt aber von den abhängig Beschäftigten eine zunehmende Flexibilität, die oft alles andere als selbstbestimmt ist. Der Kommunismus der Freien, wie er der Protestbewegung 1968 vorgeschwebt haben mag, verwandelte sich in eine Freiheit ohne Kommunismus. Der Absatz von Stereoanlagen, Motorrädern und Fernreisen wuchs dabei stetig, der Niedriglohnsektor auch. Selbst die Verweigerung gegenüber dem Leistungsprinzip fand ihren Niederschlag in der Verwertungsmaschinerie, indem die Arbeitsprozesse »humaner« und »kreativer« gestaltet wurden. »Das Team duzt den Chef und verteilt die Aufgaben autonom, aber die Arbeitszeit wächst unaufhaltsam«,40 schloss sich der Achtundsechziger Frank Böckelmann der Deutung von Kondylis an. Insofern die Veteranen von 1968 und ihre Adepten diesen Prozess beschleunigten, »können sie heute von sich sagen, auf ihrer Laufbahn durch die Institutionen die gesellschaftliche Hegemonie errungen zu haben. Aber eben nicht als Revolutionäre und nicht als Linke.«41

Klar ist, dass Forderungen, die mit der Überwindung oder auch nur mit der wirksamen Einhegung des Kapitalismus in Verbindung standen, auf der Strecke blieben. Weder ist die im Zuge der Bildungsexpansion der siebziger und achtziger Jahre erhoffte offene Gesellschaft mit Aufstiegschancen für alle entstanden,42 noch haben sich die Einkommensverhältnisse angeglichen. Und während die Achtundsechziger in jungen Jahren gegen imperialistische Kriege demonstrierten, ließen sie als Politiker der SPD-Grünen-Regierung im Jahre 1999 die jugoslawische Hauptstadt Belgrad bombardieren und schickten die Bundeswehr nach den Anschlägen vom 11. September 2001 nach Afghanistan. Das ständig neue Ungleichheit produzierende System kapitalistischer Herrschaft sitzt fest im Sattel. Von einem demokratischen Sozialismus scheint die Bundesrepublik 50 Jahre danach weiter entfernt als je zuvor.

Das Pendel schlägt zurück

Das ist der Hintergrund, vor dem sich derzeit erneut eine Kulturrevolution abzeichnet. Wieder geht es gegen das liberale Establishment. Diesmal kommt der Impuls jedoch nicht von links, sondern von rechts. »Das Anti-1968 ist da«, verkündete Wolfram Weimer, der Verleger des Magazins The European, in einem Artikel über die gegenwärtige konservative Revolte. »Das große Pendel der Geistesgeschichte schlägt schlichtweg zurück – eine Bruchlinie wie 1968, nur eben nicht von links, sondern von rechts tut sich auf. Die Tiefe dieser Bruchlinie erkennt man daran, dass sie alle westlichen Staaten gleichermaßen erfasst, dass sie zum Achsbruch herkömmlicher Volksparteien führt, dass sie alle kulturellen Bereiche erfasst – bis hin zum Retro-Trend unserer Konsumwelten.«43 Die heutigen Rechten, schreibt Matthias Drobinski, seien »kompatibel mit dem Internetzeitalter«44 und könnten »den Vorwurf schnell widerlegen, sie wollten Adolf Hitler zurück«. Auch haben sie die Ideen von 1968 nicht unberührt gelassen. Wer heute nach mehr direkter Demokratie ruft, auf die Meinungsmacht von Presse, Funk und Fernsehen schimpft, die Kriege des Westens verurteilt, das politische Establishment verdammt, sich religionskritisch äußert (gegenüber dem Islam) oder die Durchsetzung von Frauenrechten fordert, gibt sich nicht selten als Anhänger von Pegida oder AfD zu erkennen. Auch die Gestalt des engagierten Schriftstellers, die vom Feuilleton – zu Unrecht – für gänzlich tot erklärt worden war,45 wurde von rechts vereinnahmt. Seine Kollegen sollten künftig gegen die Political Correctness kämpfen und für die Freiheit eintreten, »die Dinge anders zu sehen«,46 forderte der Schriftsteller Thor Kunkel bereits 2009.

Wer sich politisch rechts verortete, stilisierte sich zum Nonkonformisten. Was für die radikalen Studenten die »Springer-Presse« war, dass seien die »Mainstream-Medien« für die Wutbürger von Dresden und anderswo, kommentierte Alan Posener am 17.1.2015 in der Welt. Ein halbes Jahrhundert später wird deutlich, dass 1968 auch für das konservative Lager einen Bruch bedeutete, der bis heute nachwirkt. Ein rechter Historiker wertet die Kulturrevolution sogar als »Hauptaktivator« für sein Milieu. In der Zeit vor 1968 habe dieses sich kaum entfalten können, »weil der konservativ-autoritäre Regierungsstil Konrad Adenauers einen politischen und gesellschaftlichen Rahmen schuf, der derartigen Bestrebungen den Wind aus den Segeln nahm«, schreibt Sebastian Maaß. »Es ist deshalb nicht falsch, die Studentenrevolte als Geburtsstunde einer nun öffentlich wahrnehmbaren Neuen Rechten zu interpretieren.«47

Als die Neue Linke ihren Marsch durch die Institutionen begann, wollte man ihr etwas Vergleichbares entgegensetzen.48 Dass von Seiten der AfD Bezüge auf die Achtundsechziger stärker sind, als es die demonstrative Abwehr durch die Parteiführung zunächst Glauben macht, meint der Historiker Michael Wildt.49 Er macht darauf aufmerksam, dass die vom APO-Theoretiker Johannes Agnoli in seiner 1967 gemeinsam mit Peter Brückner publizierten Schrift »Die Transformation der Demokratie« formulierte Kritik am Repräsentationsprinzip des Parlamentarismus viel mit dem in der Rechten breit rezipierten Schrift »Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus« (Carl Schmitt) aus dem Jahr 1923 gemeinsam hat. Zum Erstaunen vieler Linker, so Wildt, lautet die Antwort der AfD auf die Krise der Repräsentation: mehr direkte Demokratie. Dass die Parallelen der linken Bewegung von 1968 und die heutige Revolte von rechts mit ähnlichen Strukturen der politischen Landschaft zusammenhängen könnten, macht der Politikwissenschaftler David Bebnowski plausibel. Jeweils formierte sich die oppositionelle Bewegung gegen eine Große Koalition in der Bundesregierung. In den sechziger Jahren war es die SPD, die sich von einer Arbeiterpartei in eine Volkspartei verwandelt und in diesem Zuge linkes Terrain freigegeben hatte. Heute ist es die CDU, die spätestens mit der Kanzlerschaft Angela Merkels vielen Konservativen keine Heimat mehr bietet und Raum für die Entstehung einer Partei rechts von ihr gelassen hat.50 Auch der linke Historiker Volker Weiß sieht Parallelen, die eine Interpretation der Neuen Rechten als ein »68 von rechts« nahelegen. Der linke Zeitgeist habe sich besonders in der nationalrevolutionären Strömung niedergeschlagen, die von den gleichen Geburtsjahrgängen getragen wurde.

Allerdings betont er, dass es »immer auch inhaltliche und personelle Brücken zur alten Rechten und insbesondere zum Kanon der Zwischenkriegszeit«51 gab. Das stimmt. Fehl geht er jedoch, wenn er behauptet, die These von der Neuen Rechten als einem »68 von rechts« könne bestenfalls »den jugendlichen Elan und einige Veränderungen im Auftreten erklären«, sonst aber »keine tiefere Erkenntnis«52 liefern. Das Gegenteil ist der Fall. Auf das veränderte Auftreten kommt es gerade an. Denn das sorgt dafür, dass bewährte Kampfmittel »gegen rechts« zunehmend ins Leere laufen. Leute, die sich als Nazi-Gegner darzustellen wissen und nach mehr Bürgerbeteiligung rufen, lassen sich schwerlich als Anhänger einer faschistischen Diktatur stigmatisieren. Wer das versucht, beschädigt die eigene Glaubwürdigkeit. Umgekehrt verfügen die Rechten mittlerweile über eine Reihe von intelligenten, taktisch versierten und strategisch klugen Köpfen, die das politische Instrumentarium der Linken zu bedienen verstehen, um ihre eigenen Ziele durchzusetzen. Selbst ein bieder auftretender AfD-Politiker wie der Berliner Landesvorsitzende Georg Pazderski scheut nicht davor zurück, seiner Partei Provokationen und Tabubrüche als probate Wahlkampfmittel zu empfehlen. Die anderen Parteien sollten dadurch zu nervösen und unfairen Reaktionen verleitet werden. »Die AfD muss – selbstverständlich im Rahmen und unter Betonung der freiheitlich demokratischen Grundordnung unseres Landes – ganz bewusst und ganz gezielt immer wieder politisch inkorrekt sein, zu klaren Worten greifen und auch vor sorgfältig geplanten Provokationen nicht zurückschrecken«, zitierte die Frankfurter Allgemeine Zeitung am 24. 1. 2017 aus dem 33-seitigen »AfD Manifest 2017«, das unter Pazderkis Federführung entstand.

Im Verlaufe meiner Recherche zu diesem Buch habe ich exklusive Gespräche mit Vertretern verschiedener Generationen der Neuen Rechten geführt. Darunter sind der am 22. April 2017 verstorbene Kultursoziologe Henning Eichberg, der Verleger Götz Kubitschek, die Publizistin Ellen Kositza, der Wiener Identitären-Sprecher Martin Sellner sowie der französische Vordenker Alain de Benoist. Ich unterhielt mich mit dem Schriftsteller und früheren APO-Aktivisten Frank Böckelmann über seinen Weg von links nach rechts. Darüber hinaus sprach ich mit Künstlern und Wissenschaftlern über ihre Erfahrungen und Strategien im Umgang mit der Neuen Rechten. Deren Aktivisten bedienen sich theatralischer Mittel, um Aufmerksamkeit für sich und ihre Anliegen zu erzeugen. Sie sehen sich als Protagonisten einer Kulturrevolution von rechts. Aufschlussreich sind daher Überlegungen, die Theaterleute wie der Dramaturg Bernd Stegemann und der Dramatiker Falk Richter im Gespräch mit mir entfalteten. Dabei stellte ich mir die Frage, ob es tatsächlich eine gute Idee sei, rechte Intellektuelle vom politischen Diskurs auszuschließen, wie es immer wieder geschieht. Ist der offen geführte Streit nicht der viel bessere Weg, mit ihnen umzugehen? Diejenigen, die eine solche Auseinandersetzung in der Vergangenheit suchten, wurden dafür von links meist scharf kritisiert. So erging es dem Anarchisten und Umweltaktivisten Horst Blume, als er in den achtziger Jahren einen Gedankenaustausch mit Vertretern des nationalrevolutionären Zweigs der Neuen Rechten begann.

Im Zuge meiner Arbeit kristallisierte sich immer mehr heraus, wie wichtig 1968 für das sich aus vielen ideologischen Strömungen zusammensetzende rechte Lager tatsächlich war. Das historische Datum markiert den Beginn eines in sich widersprüchlichen Erneuerungsprozesses, der bis heute anhält. Die Revolte der linken Studenten löste eine tiefe Erschütterung aus, auf die das rechte Milieu auf zweifache Weise reagierte. Zum einen liegen hier die Wurzeln des heute in der AfD gepflegten Feindbilds des »links-grün-versifften Gutmenschen« oder des »Achtundsechzigers«. Zum anderen begannen junge Rechtsintellektuelle von den Aktionsformen und Themen der Neuen Linken zu lernen. Auch in ihren Reihen gab es nun antiautoritäre Positionen, begann man sich – in unterschiedlicher Intensität und Ernsthaftigkeit – für marxistische Analysen und antiimperialistische Strategien zu interessieren und sich ihrer zu bedienen. Einige ihrer Vertreter verstehen es heute, eine im neoliberalen Geist gefangene Sozialdemokratie mit linken Argumenten zu kritisieren.

Ohne Kenntnis dieses widersprüchlichen Verhältnisses der Rechten zur Studentenbewegung und ihren gesellschaftlichen Folgen lässt sich das Denken und das Handeln der heute in der Identitären Bewegung oder im Umfeld der AfD wirkenden Vertreter der Neuen Rechten nicht adäquat verstehen. Nur wer begreift, wie die Akteure wirklich denken, ist in der Lage, angemessen auf ihre Provokationen zu reagieren. Fest steht: 1968 ist nicht nur die Geburtsstunde einer neuen Linken jenseits der Sozialdemokratie, sondern auch die einer Neuen Rechten. Dieses Buch erzählt, wie es dazu gekommen ist.

Konservatismus in der Defensive:
Arnold Gehlen

In der Kaiserstadt Aachen kam der Studentenprotest erst spät an. Es war schon 1969, als sich fünf junge Leute, drei Männer und zwei Frauen, in das Seminar des Soziologen Arnold Gehlen begaben. Die Räumlichkeiten befanden sich gegenüber dem Hauptgebäude der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule (RWTH), im fünften Stock. Sie setzten sich auf die freien Plätze der vorderen Tischreihe. In dem Moment, als der Professor ansetzte, mit seinen Ausführungen zu beginnen, meldeten sie sich zu Wort. Sie kämen aus Frankfurt am Main und wollten über Gehlens Buch »Der Mensch« sprechen. Genauer: über die erste Auflage der Schrift, die als Standardwerk der Philosophischen Anthropologie in der Wissenschaft noch heute hoch gehandelt wird.

Das Buch war 1940 bei Junker und Dünnhaupt erschienen, einem Verlag, der 1945 aufgrund seiner Nähe zum Naziregime von den Alliierten verboten wurde. Sein Autor war NSDAP-Mitglied seit dem 1. Mai 1933. Begeistert vom nationalistischen Aufbruch – aber auch aus Karrieregründen – betätigte er sich in Parteigliederungen und beabsichtigte sogar eine Philosophie des Nationalsozialismus zu schreiben. In einem Bericht des NS-Sicherheitsdienstes wurde Gehlen, wie auch sein Freund und Schüler Helmut Schelsky, als einer der wenigen überzeugten Nationalsozialisten geführt. Die Loyalität zum Regime hielt bei ihm bis zum Kriegsende an. Das werden die angereisten jungen Leute im Detail nicht gewusst haben. Dennoch waren sie gut vorbereitet. Sie referierten jene Passagen, in denen Gehlen der Diktion des rassenideologischen Nazi-Vordenkers Alfred Rosenberg (1893 bis 1946) folgte. Es fielen Begriffe wie »Zuchtbild«, von der »Durchsetzung germanischer Charakterwerte«53 war die Rede, von »obersten Führungssystemen«. Gehlen hörte sich den Vortrag dem Augenschein nach ungerührt an.

Als er sein Buch überarbeitete, er tat es mehrfach, entfernte er solche Stellen stillschweigend. »Die Grundformel von Gehlens Ordnungstheorie war ganz eindeutig an das damals herrschende System adressiert gewesen«, erläutert mir Karl-Siegbert Rehberg.54 Ich sitze mit dem Herausgeber der Gehlen-Gesamtausgabe an einem mit Büchern und Schreibmaterialien beladenen Tisch in seinem Büro an der Technischen Universität Dresden. Damals gehörte der heutige Seniorprofessor für Soziologie zu den Aachener Studenten, die atemlos lauschten, als ihre engagierten Kommilitonen den konservativen Hochschullehrer mit seiner faschistischen Vergangenheit konfrontierten.

Rehberg, der sich zu dieser Zeit vor allem für die Schriften von Karl Marx und Theodor W. Adorno begeisterte, war zugleich von der geistigen Substanz Gehlens fasziniert. »So hatte ich mir einen Professor vorgestellt, so scharfsinnig, vor einem solchen Bildungshintergrund. Politisch war ich aber von Anfang an ganz entsetzt von dem Mann«, erläutert er. Er habe gedacht: »Wie kann der solche Meinungen haben, wenn er doch so scharfsinnig ist.«

In »Der Mensch« stellt Gehlen die grundlegende Frage nach der Stellung des Menschen in der Welt. Die Kurzfassung lautet: Arm an Instinkten, ist der Mensch von Geburt an auf Institutionen angewiesen, die ihm dabei helfen, die chaotisch auf ihn einströmende Flut von Eindrücken und Anforderungen zu ordnen. Sie entlasten ihn von der Aufgabe, immer wieder neue, reflektierte Entscheidungen treffen zu müssen. Der in der DDR ansässige Philosoph Wolfgang Harich war begeistert. Er hoffte, Gehlens Theorie in den Marxismus integrieren zu können. Ihn verband über die ideologischen Grenzen hinweg viele Jahre lang eine Art Brieffreundschaft mit Gehlen.55

Der Spiegel-Herausgeber Rudolf Augstein hielt den Konservativen »für den interessantesten Demokratieverächter in Deutschland.« (Der Spiegel 16/2016, S. 118) Sein Versuch, mit Gehlen ein Gespräch für sein Magazin zu führen, schlug aber fehl. Auch einen Essay wollte der Hochschullehrer nicht beisteuern. »Mein Einwand gegen die Spiegel-Linie überhaupt lässt sich in die Worte fassen: Ferment der Dekomposition«,56 brachte er seine Ablehnung gegen das zu dieser Zeit außerordentlich einflussreiche Blatt zum Ausdruck. Legendär sind die Streitgespräche, die Gehlen mit Adorno führte. Dieser ging immer wieder auf Gehlen zu, der nicht viel, und wenn, dann eher abschätzig von Adorno geredet habe. In seinen Seminaren kam er nicht vor. Er habe seinen linken Opponenten privat gelesen und das auch nicht besonders gründlich, erinnert sich Rehberg. Im Grunde habe er dessen Theorie nur oberflächlich gekannt. »Was er über Adorno sagte, war ohne Verständnis für dessen Werk. Gehlen kannte die wichtigen Arbeiten Adornos gar nicht richtig. Umgekehrt war es genauso. Die Sensibilität und Ängstlichkeit von Adorno, auch seine Hinterhältigkeit und Intriganz – dieser hatte die Berufung des rechten Hochschullehrers auf eine Professur in Heidelberg hintertrieben – sind Gehlen vollständig verschlossen geblieben.« Verbunden habe die beiden »ihr Hochmut gegenüber den Massen, den Angepassten in einer vom Sinnverlust geprägten, nur noch funktionalen Gesichtspunkten folgenden, verwalteten Welt«, so Rehberg. Dass er zuletzt auf Distanz zu seinem linken Kontrahenten ging, habe sicher mit der Studentenbewegung zu tun gehabt, von der Gehlen abgestoßen war. Er führte sie auf das Wirken Adornos und seinen Kollegen von der Frankfurter Schule zurück.

Nun erreichte der Aufruhr also auch die Aachener Provinz. Rehberg fand die Ausführungen seiner Frankfurter Kommilitonen über die nachträglichen Eingriffe seines Professors in sein Hauptwerk hochspannend. Er sei sich zuvor gar nicht darüber im Klaren gewesen, dass wissenschaftliche Bücher mehrere, inhaltlich voneinander abweichende Auflagen haben können, erinnert er sich. Als die Studenten zum Ende ihrer Ausführungen gekommen waren, stand eine Frage im Raum: Was würde Gehlen nun tun? Weggehen? Die Gruppe hinausschmeißen? Die Polizei rufen? Oder mit ihnen einen moralischen Diskurs führen? All das wäre denkbar gewesen, meint Rehberg. Gehlen aber tat etwas anderes. »Er schaute aus dem Fenster in Richtung des Lousberges und hüstelte. In einem kurzen, scharfen, militärischen Ton, der typisch für ihn war. Dann richtete er sich an die Vortragenden: ›Meine Herren. Das würde ich heute nicht mehr erfinden.‹ Daraufhin waren sie so platt, dass sie nichts mehr erwiderten. Das hatten sie offenbar nicht erwartet. Sie schlugen ihre Bücher zu und gingen. Gehlen setzte das Seminar fort, ohne mit einem einzigen Wort auf das gerade Geschehene einzugehen. Und alle machten mit.« Ihm selbst sei damals auch nicht mehr dazu eingefallen.

Gegen die »Hypermoral«

Die Achtundsechziger und Arnold Gehlen: Da stießen zwei Welten aufeinander. Befreiungseuphorie traf auf ein Pathos des Dienens, das noch aus einer vordemokratischen Zeit stammte. Der konservative Philosoph antwortete der Studentenbewegung 1969 mit einem Buch. »Moral und Hypermoral«. Menschliches Handeln, so lautet die Hauptthese, lasse sich nicht auf ein einziges moralisches Prinzip zurückführen. Vielmehr gründe es in vier verschiedenen Ethosformen: dem Prinzip der Gegenseitigkeit, instinktiven Regulationen (etwa das Kindchenschema), einer familienbezogenen Moral, die auf größere Gruppen erweitert werden könne, sowie einem Ethos der Institutionen. Verbunden ist die systematische Betrachtung moralischer Handlungsimpulse und -gründe mit einer ressentimentgeladenen Polemik gegen die Erscheinungen der sich vor Gehlens