BINDUNG UND SEELISCHE
ENTWICKLUNGSWEGE

Grundlagen, Prävention und klinische Praxis

Herausgegeben von
Karl Heinz Brisch,
Klaus E. Grossmann,
Karin Grossmann,
Lotte Köhler

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Klett-Cotta

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Umschlaggestaltung: heffedesign, Rodgau

Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Printausgabe: ISBN 978-3-608-94353-5

E-Book: ISBN 978-3-608-10125-6

PDF-E-Book: ISBN 978-3-608-20325-7

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

INHALT

Vorwort

Einleitung

Inge Bretherton
Konstrukt des inneren Arbeitsmodells
Bindungsbeziehungen und Bindungsrepräsentationen in der frühen Kindheit und im Vorschulalter

Beatrice Beebe, Joseph Jaffe, Frank Lachmann, Stanley Feldstein, Cynthia Crown, Michael Jasnow
Koordination von Sprachrhythmus und Bindung
Systemtheoretische Modelle

Gisela Klann-Delius
Bindung und Sprache in der Entwicklung

Mary Target, Yael Shmueli-Goetz, Peter Fonagy
Bindungsrepräsentanzen bei Schulkindern
Entwicklung des Bindungsinterviews für Kinder

Klaus E. Grossmann, Karin Grossmann, Monika Winter, Peter Zimmermann
Bindungsbeziehungen und Bewertung von Partnerschaft
Von früher Erfahrung feinfühliger Unterstützung zu späterer Partnerschaftsrepräsentation

Mary Main
Organisierte Bindungskategorien von Säugling, Kind und Erwachsenem
Flexible bzw. unflexible Aufmerksamkeit unter bindungsrelevantem Streß

Erik Hesse, Mary Main
Desorganisiertes Bindungsverhalten bei Kleinkindern, Kindern und Erwachsenen
Zusammenbruch von Strategien des Verhaltens und der Aufmerksamkeit

Karlen Lyons-Ruth, Sharon Melnick, Elisa Bronfman
Desorganisierte Kinder und ihre Mütter
Modelle feindselig-hilfloser Beziehungen

Peter Fonagy
Ist Bindungssicherheit angeboren?
Befunde aus der Zwillingsforschung

Martha Farrell Erickson
Bindungstheorie bei präventiven Interventionen

Byron Egeland
Ergebnisse einer Langzeitstudie an Hoch-Risiko-Familien
Implikationen für Prävention und Intervention

Lynne Murray, Maret Dymond, Peter J. Cooper
Psychotherapeutische Intervention, mütterlicher Bindungsstil und Bindung des Kindes

Miriam Steele, Jill Hodges, Jeanne Kaniuk, Kay Henderson, Saul Hillman, Paul Bennett
Weitererzählungen von Geschichten als Methode zur Erfassung der inneren Welt des Kindes
Implikationen für die Adoption

Karl Heinz Brisch
Bindungsstörungen
Theorie, Psychotherapie, Interventionsprogramme und Prävention

Quellenverweise

Adressen der Autoren

Die Herausgeber

VORWORT

John Bowlby, ein englischer Psychiater und Psychoanalytiker, hat auf der Grundlage seiner klinischen Erfahrungen und Beobachtungen die Bindungstheorie entwickelt. Seitdem wird die Ausbildung der emotionalen Bindung, die ein Kind im Laufe des ersten Lebensjahres an seine Hauptbezugsperson entwickelt, nicht nur als eigenständiges, sondern als grundlegendes Motivationssystem eines jeden Menschen von der Geburt an betrachtet. Bowlby zeigte, daß Trennungen von der primären Bindungsperson, Verlust und andere Bindungstraumata im frühen Lebensalter zu Abweichungen von einer adaptiven Bindungsentwicklung und damit oft zu vielfältigen schwerwiegenden psychischen und psychosomatischen Störungen und Symptomen führen können. Diese Erkenntnisse werden seither zunehmend in bindungsorientierten Diagnosen, Präventionen, Interventionen und in der Psychotherapie umgesetzt.

Das vorliegende Buch enthält die Beiträge einer internationalen Konferenz, die vom 12. bis 14. Juli 2000 in München an der Kinderklinik und Kinderpoliklinik im Dr. von Haunerschen Kinderspital stattfand. Sie trug den Titel Attachment from Infancy to Adulthood. New Perspectives in Attachment Theory and Developmental Pathways: Applications in Prevention, Intervention and Clinical Practice. Die Konferenz versammelte international führende Bindungsforscher aus dem Bereich der Grundlagenforschung und klinische Praktiker, die sich bei ihren klinischen Anwendungen in der Prävention und in der Psychotherapie auf die Bindungstheorie stützen, zu einem fruchtbaren Dialog. Im Mittelpunkt stand der Austausch, wie sich die neuen Erkenntnisse der Grundlagenforschung zur Behandlung von Kindern und Familien, die besonderen seelischen und körperlichen Belastungen ausgesetzt sind, anwenden lassen, damit Bindungsstörungen verstanden, behoben oder vermieden werden können, und wie klinische Erfahrungen die theoretischen Fragen klären und auch in ihrer Bedeutung verändern können.

Die Bedeutung der Bindung im Lebenslauf und die Veränderungen und Entwicklungen von Bindungsmustern aus der Kindheit bis ins Erwachsenenalter waren folglich die zentralen Themen aus theoretischer und klinischer Perspektive.

Die Konferenz war aus Anlaß des »zehnten Geburtstags« der internationalen Förderung von Bindungsforschung durch die Köhler-Stiftung, Darmstadt, organisiert worden. Zahlreiche Forschungsprojekte der Referenten waren gefördert worden, und es konnten Ergebnisse aus den geförderten Projekten dargestellt werden.

Das überaus große Interesse an dieser Tagung ermutigte die Organisatoren, die Beiträge der Konferenz einer größeren deutschsprachigen Leserschaft mit der Herausgabe dieses Buches zugänglich zu machen. Wir danken allen Autorinnen und Autoren, daß sie ihre Beiträge zur Verfügung gestellt haben. Einige der englischsprachigen Kollegen werden hier erstmals in einem deutschsprachigen Werk erscheinen, so daß viele führende Bindungsforscher in diesem Werk vereint sind. Es gibt dem Leser die Möglichkeit, aktuelle Diskussionen auf internationalem Niveau in der Grundlagenforschung und der klinischen Bindungsforschung in ihrer wechselseitigen Befruchtung betrachten zu können.

Wir danken der Köhler-Stiftung, daß sie durch ihre finanzielle Unterstützung die Übersetzung der Beiträge ins Deutsche ermöglichte, die Marisa Medina Veiltl, Eva Aralikatti und Thomas Bihler mit großem Engagement geleistet haben. Wir sind ihnen hierfür zu großem Dank verpflichtet. Ohne ihre intensive Arbeit hätten die Herausgeber das Buch nie in so kurzer Zeit fertigstellen können.

Rainer Ungermann von der Fa. ViaMac und Birgit Vogel haben in mühevoller, geduldiger Kleinarbeit die einzelnen Beiträge in ein einheitliches Format gebracht. Ihnen sei an dieser Stelle für ihre lange und verläßliche Zusammenarbeit herzlicher Dank ausgesprochen.

Herrn Dr. Heinz Beyer vom Verlag Klett-Cotta sei herzlich gedankt, daß das Thema der Tagung auf seine Begeisterung stieß und er die Herausgeber des Buches immer wieder während der Entstehungsphase ermutigt und sich für die zeitlich zügige Herstellung des Buches eingesetzt hat.

Damit reiht sich das Buch in die Gruppe der »Bindungsbücher« beim Verlag Klett-Cotta ein. Wir hoffen, daß es zu einem weiteren Baustein im Verständnis der Bedeutung der Bindung für die menschliche Entwicklung wird.

Karl Heinz Brisch, Klaus E. Grossmann,
Karin Grossmann und Lotte Köhler

EINLEITUNG

Das vorliegende Buch gliedert sich in einen Grundlagen- und einen klinischen Praxisteil. Im Grundlagenteil werden die neueren bindungstheoretischen Überlegungen in der aktuellen Bindungsforschung beschrieben. Viele davon sind für klinische Betrachtungen und Anwendung von Bedeutung. Im klinischen Teil werden wichtige Anwendungen in der Durchführung von Präventionsprogrammen und in der Psychotherapie von Bindungsstörungen dargestellt. In jedem Teil werden auch Ergebnisse von Längsschnitt-Untersuchungen berichtet, die das Rückgrat bindungstheoretisch orientierter Forschung sind. Nur sie sind imstande, den Einfluß früher Bindungserfahrungen bis ins junge Erwachsenenalter prospektiv aufzuzeigen. Hieraus ergeben sich wiederum neue Fragen für die Grundlagenforschung und damit auch für die klinische Bindungsforschung. Sie sind notwendig und äußerst fruchtbar aufeinander bezogen.

Im Grundlagenteil beschreibt Inge Bretherton spezifische Ergebnisse der Erforschung der Bindungsrepräsentation und des »inneren Arbeitsmodells« von Bindung, das sie vor allem mit Vorschulkindern durch ihr erfolgreiches Geschichten-Ergänzungs-Verfahren untersucht hat. Mary Target führt aus, wie sich die verinnerlichte mentale Repräsentation von Bindungserfahrungen bei Schulkindern mit Hilfe eines neu entwickelten »Kinder-Bindungs-Interviews« erfassen läßt. Beatrice Beebe berichtet aus ihrer aufregenden Forschung über die Bedeutung des Rhythmus und der zeitlichen Abfolge von Interaktionsverläufen zwischen Müttern und ihren vorsprachlichen Säuglingen für die Entwicklung der Bindung, und Gisela Klann-Delius führt uns aus dem vorsprachlichen Alter in die Zeit des Sprechens und zeigt, wie sich unterschiedliche Bindungsmuster als Ausdruck mentaler Prozesse von Reflexion und Abwehr sprachlich widerspiegeln.

Der Beitrag von Klaus und Karin Grossmann, Monika Winter und Peter Zimmermann, eine längsschnittliche Grundlagenuntersuchung, spannt einen großen Bogen von der frühen Zeit der Mutter-Säuglings-Interaktion und späteren sprachlichen Repräsentationen von Bindungen bis hin zur Qualität gegenseitiger Wertschätzung und kohärenter Darstellungen von Partnerschaft im jungen Erwachsenenalter. Sie belegt die zentrale Bedeutung früher Bindungserfahrungen für die Art und Weise, wie neue Bindungen gefühlt, erlebt und in ihrer Bedeutung dargestellt werden.

Die Beiträge von Mary Main, Erik Hesse und Karlen Lyons-Ruth berichten aus dem für die klinische Arbeit so bedeutungsvollen Feld der Erforschung von organisiertem und desorganisiertem Verhalten und Denken im Umgang mit Bindungen. Sie zeigen, wie sich organisierte Strategien von desorganisierten und desorientierten mentalen Prozessen unterscheiden und mit welchen Bedingungen in der Eltern-Kind-Interaktion und im sozialen Umfeld Desorganisation zusammenhängt.

Der Beitrag von Peter Fonagy ist ein Ausblick auf das Wechselspiel zwischen genetischen und umweltbedingten Einflüssen für die Bindungsentwicklung, die John Bowlby »umweltstabil« und »umweltlabil« genannt hat. Er diskutiert kritisch Ergebnisse aus der Zwillingsforschung, die nahelegen, daß individuelle Bindungserfahrungen entscheidend sind.

Im klinischen Praxisteil wird die Brauchbarkeit der Bindungstheorie für die psychotherapeutische Praxis dargestellt. Byron Egeland berichtet aus einer der größten und einflußreichsten Längsschnittstudien in den USA über die sozioemotionale Entwicklung von Kindern aus sozialen Risikofamilien bis ins Erwachsenenalter und über die Risiko- und Schutzfaktoren, die auf die Entwicklung der Kinder einwirkten. Martha Erickson, die daran entscheidend mitgewirkt hat, verbindet verschiedene bindungsorientierte Ansätze in ihren Interventionen bei Risikofamilien miteinander und diskutiert ihre Erfahrungen mit Problemen und Schwierigkeiten bei der Planung und Durchführung von Interventionsprogrammen. Lynne Murray hat seit vielen Jahren die Folgen der postpartalen Depression erforscht und verschiedene psychotherapeutische Interventionsstudien durchgeführt. Zusammen mit Maret Dymond und Peter J. Cooper referiert sie aus ihren Längsschnittstudien über die Zusammenhänge zwischen Bindungsstilen von depressiven Müttern und dem Einfluß der psychotherapeutischen Intervention auf die Bindungsentwicklung der Kinder. Alle Interventionen, über die in diesem Buch berichtet werden, haben zum Ziel, durch Anwendung bindungstheoretischen Wissens fehlangepaßte Entwicklungsverläufe in adaptivere Richtungen umzulenken und durch Prävention der Entwicklung von Bindungsstörungen vorzubeugen.

Miriam Steele, Howard Steele und ihre Forschungsgruppe haben seit vielen Jahren zusammen das Londoner Parent-Infant-Project geleitet. Sie haben viele Erfahrungen in der Anwendung der Methoden der Bindungsforschung gesammelt. Miriam Steele setzte das Geschichten-Ergänzungs-Verfahren in der Adoptionsvermittlung ein und nutzte auf diese Weise die Bindungsrepräsentationen der Kinder und ihrer potentiellen Adoptiveltern, um die neuen Bindungen zu unterstützen.

Karl Heinz Brisch zeigt, wie psychopathologische Entwicklungen als Bindungsstörungen diagnostiziert und behandelt werden können. Er stellt ein Modell der bindungsorientierten Intervention für Eltern von Frühgeborenen vor und berichtet aus der primären Präventionsarbeit mit erstgebärenden Eltern von Säuglingen mit Risiken für ihre Entwicklung.

Der Reichtum und die Stimmigkeit der hier vorgestellten Erfahrungen in der Forschung und in der klinischen Arbeit spiegelt die grundlegende Bedeutung von Bindungen während des ganzen Lebens wider. Bindungen sind nicht nur als eigenständiges Motivationssystem anzusehen, sondern als biologische und kulturelle Notwendigkeit zu akzeptieren. Die Bindungstheorie schafft neue und der Natur des Menschen angemessene Perspektiven in der Entwicklungspsychologie und in der klinischen Arbeit mit belasteten Familien und mit Individuen, deren unerfülltes Bindungsbedürfnis zu eingeschränkten, hilflosen und fehlangepaßten Entwicklungen führt.

Inge Bretherton KONSTRUKT DES INNEREN ARBEITSMODELLS Bindungsbeziehungen und Bindungsrepräsentationen in der frühen Kindheit und im Vorschulalter

Für Bowlby (1969/1982; 1973; 1980) spielten Bindungsbeziehungen und ihre inneren Repräsentationen eine entscheidende Rolle in der menschlichen Entwicklung. Angeregt von Erkenntnissen aus der Evolutionsbiologie, Ethologie, Kontrollsystem-Theorie und Entwicklungspsychologie stellte er die These auf, daß menschliche Bindungsbeziehungen durch ein Verhaltens- und Motivationssystem reguliert werden, das sich in der frühen Kindheit entwickelt und das der Mensch mit anderen Primaten teilt. Unter normalen Umständen fördert die bloße Anwesenheit einer Person, an das ein kleines Kind gebunden ist, die Exploration, das Spiel und das soziale Engagement. Spürt es jedoch Gefahr, so sucht es die Nähe dieser Person auf, um von ihr Schutz und Vergewisserung zu erhalten. Bindung an eine oder einige spezifische Personen wird deshalb besonders augenfällig, wenn sich ein Kind bedroht fühlt, aber ihre regulierende Wirkung ist ununterbrochen vorhanden. Allerdings bestimmt die Qualität der Interaktionen zwischen Kind und Bindungspersonen, inwieweit die Bindung dem Kind psychische Sicherheit gewähren kann.

Individuelle Unterschiede zwischen Eltern-Kind-Transaktionsmustern, die in den ersten Lebensmonaten entstehen, bilden nach Bowlby die Grundlage für die sogenannten inneren oder mentalen Arbeitsmodelle des Selbst mit der Bindungsperson. Diese Modelle dienen dazu, das Verhalten der Bindungsperson zu interpretieren und ihr Verhalten vorherzusagen. Weiterhin ermöglichen sie auch die Regulierung des eigenen Bindungsverhaltens sowie von Gedanken und Gefühlen (Bowlby, 1969). Darüber hinaus wird angenommen, daß diese Modelle die späteren Beziehungen gegenüber Gleichaltrigen und anderen für das Kind sorgenden Erwachsenen beeinflussen.

Bei präverbalen Kindern können innere Arbeitsmodelle lediglich durch Beobachtung der Interaktion mit Bindungsfiguren erschlossen werden. Durch den Erwerb der Sprache sind Kinder jedoch zunehmend in der Lage, Aspekte ihrer inneren Arbeitsmodelle im sprachlichen Dialog über bindungsbezogene Gedanken und Gefühle darzustellen und weiter auszuarbeiten. Eine wachsende Forschungsaktivität zeigt, daß sogar Geschichten über hypothetische Bindungssituationen, die Vorschulkinder einem freundlichen Beobachter erzählen, regelmäßig mit Beobachtungen der Eltern-Kind-Bindungsqualität übereinstimmten. Diese Untersuchungen wurden mit Hilfe von Bildern über bindungsrelevante Situationen oder durch Vorspielen von Geschichtenanfängen mit kleinen Familienfiguren durchgeführt.

Das Hauptziel dieses Beitrags besteht darin, einen Überblick über die inzwischen zahlreichen Forschungsergebnisse zu bieten, die signifikante Zusammenhänge zwischen der beobachteten Bindungsqualität und repräsentationalen Bindungserfassungen im Vorschulalter belegen. Bevor wir uns aber mit den Forschungsdetails, den Erhebungsinstrumenten, Vorgehensweisen, Kodierungsmethoden und Ergebnissen befassen, möchte ich den Ursprung und die Bedeutung des Konstrukts »Arbeitsmodell« in John Bowlbys theoretischem Rahmen erläutern. Der Beitrag endet mit Vorschlägen zu mehreren möglichen Erweiterungen des Konstrukts »Arbeitsmodell«.

Die Ursprünge des Konstrukts »Arbeitsmodell«

Es ist nicht besonders erstaunlich, daß John Bowlby betonte, wie bedeutsam Repräsentationen bei der Regulierung von Bindungsbeziehungen sind. Als Mitglied der Britischen Gesellschaft für Psychoanalyse war ihm das Gedankengut Freuds (1940) über die innere oder repräsentationale Welt als Ort des »Probehandelns« geläufig. Bowlby kannte auch die Arbeiten von Melanie Klein (1932), Winnicott (1958) und Fairbairn (1952) und ihre Ideen über die Rolle, die internalisierte Beziehungen oder »innere Objekte« bei aktuellen Beziehungen spielen. Allerdings wich Bowlby in seinen Ansichten hierüber stark von diesen Vertretern der britischen psychoanalytischen Schule der »Objektbeziehungen« ab. Vor allem gegen Melanie Kleins Sichtweise hatte er Vorbehalte, weil sie hauptsächlich den Einfluß von Phantasien betonte, die sich aus dem inneren Triebleben entwickeln. Bowlby dagegen war der Ansicht, daß Bindungsrepräsentationen (inklusive Phantasien) auf tatsächlichen Beziehungen zu den Eltern beruhen. Aus diesem Grund befaßte sich sein Neuentwurf von Freuds Ideen über die Entwicklung menschlicher Beziehungen nicht nur mit Bindungsverhalten, sondern brachte auch neuere, zeitgemäßere Erkenntnisse in die psychoanalytische Sichtweise von Repräsentationsprozessen ein. Dabei suchte er nach einer allgemeinen Theorie, die aber auch auf die Repräsentation des Selbst in seinen Bindungsbeziehungen angewendet werden konnte.

Leider verfügte die akademische Psychologie der sechziger Jahre kaum über theoretische Konzepte, mit deren Hilfe Bowlby neue Anschauungen über Entwicklung, Organisation und Funktion der »inneren Welt« erarbeiten konnte. Statt dessen fand er, was er suchte, in den Arbeiten des Neurobiologen Young (1964), der Ideen von Kenneth Craik, einem brillanten jungen Pionier der späteren Künstlichen Intelligenz, übernommen hatte (Craik, 1943). Seine Hypothese besagte, daß Organismen, die über komplexe »innere Arbeitsmodelle« ihrer Umwelt und des Selbst verfügen, diese Modelle nutzen können, um alternative Verhaltensweisen und Strategien erst einmal mental ablaufen zu lassen. Dadurch können sie besser abwägen, welches Verhalten am wahrscheinlichsten zu dem gewünschten Ziel führt, was ihnen ein flexibleres und angepaßteres Verhalten ermöglicht.

Das Besondere an diesem Repräsentationsansatz ist, daß er einen gewissen Grad an Isomorphie oder Entsprechung zwischen inneren Arbeitsmodellen und der »Relationsstruktur« dessen, was sie darstellen, voraussetzt. Dies kann vielleicht am besten durch das Beispiel einer Landkarte illustriert werden. Auch Landkarten enthalten eine Relationsstruktur, durch die Flüsse und Straßen im Bezug zu anderen Merkmalen, wie etwa Städten, dargestellt werden. Nur sind aber echte Flüsse nicht blau, Hauptstraßen nicht rot und Städte keine runden Punkte. Landkarten ähneln Arbeitsmodellen nicht nur darin, daß sie eine Relationsstruktur besitzen, sondern daß sie auch ziemlich vereinfacht sein können und in vielen Aspekten nicht einmal besonders genau zu sein brauchen, sich aber doch als tauglicher Wegweiser eignen können.

Trotzdem bevorzugte Bowlby die dynamische Bezeichnung »inneres Arbeitsmodell« gegenüber statischen Begriffen wie Landkarte, obwohl sie ebenfalls eine Relationsstruktur andeuten. Er wies darauf hin, daß sowohl »Arbeiten« als auch »Modell« Repräsentationen nahelegen, die man mental »betätigen« (arbeiten lassen) kann und die es daher ermöglichen, die Bedeutung aktueller Ereignisse zu erkennen, weitere Handlungen zu steuern und Erwartungen über die Zukunft zu bilden. Eine neuere philosophische Abhandlung über innere Arbeitsmodelle, die auch auf Craik beruht, findet sich bei Metzinger (1999).

Entwicklung von inneren Arbeitsmodellen

Um sich eine Vorstellung zu machen, wie mentale Modelle aufgebaut werden und sich später weiterentwickeln können, berief sich Bowlby auf Piaget (1952; 1954), dessen Theorie der sensumotorischen Entwicklung des Kindes neue Gedanken über die Repräsentation vorstellte. Nach Piaget sind selbst Säuglinge aktive Gestalter ihrer eigenen Entwicklung, indem sie die Welt durch Aktionen mit Objekten und Interaktionen mit Personen in sich aufnehmen. Mit Hilfe von Assimilations- und Akkommodationsprozessen organisieren sie ein zunehmend komplexeres System von Schemata, das sie im Laufe des zweiten Lebensjahres »verinnerlichen« und mit dem sie dann mental operieren können. Während der ganz frühen Kindheit stehen nach dieser Auffassung nur »sensumotorische« oder, um einen heute geläufigeren Begriff zu verwenden, prozedurale innere Arbeitsmodelle zur Verfügung, die sich nur zum Wiedererkennen und kurzfristigen Vorhersagen eignen (siehe auch Stern, 1985). Später aber, wenn das intentionale Erinnerungsvermögen und die Sprachfähigkeiten zunehmen, entwickeln sich komplexere innere Arbeitsmodelle, die langfristigeres mentales Planen, Ideenaustausch und Unterhandlungen mit der Bindungsperson ermöglichen.

Bowlby folgte auch Piagets Vorschlägen über die Entwicklung der Perspektivenübernahme. Er ging dabei davon aus, daß die im Vorschulalter wachsende Fähigkeit, die Sichtweise anderer Personen in Arbeitsmodelle über die Welt einzubeziehen, eine verständnisvollere Art von Eltern-Kind-Beziehung möglich macht. Dies ist die sogenannte zielkorrigierte Partnerschaft. Bowlby (1969/1982) nahm allerdings in Übereinstimmung mit neueren Forschungsergebnissen an, daß sich Perspektivenübernahme früher entwickelt, als Piaget meinte (z. B. Wellman, 1990). Piagets Arbeiten über formal-logische Operationen schienen dagegen weniger unmittelbar zum Verständnis der Entwicklung von inneren Arbeitsmodellen über die Kindheit hinaus beizutragen.

Während Bowlbys Konzept von Repräsentation als Aufbau und Anwendung von Arbeitsmodellen allgemein zutrifft, entwickelte er die Idee vor allem im Zusammenhang mit Arbeitsmodellen des Selbst in Beziehung zu Bindungspersonen.

Arbeitsmodelle von Selbst und Bindungsperson

Da laut Bowlby inneren Arbeitsmodellen des Selbst und der Bindungsperson aktuelle Verhaltensmuster der Partner zugrunde liegen, sind sie immer auch komplementär. Bowlby stellte deshalb fest:

In dem Arbeitsmodell über die Welt, das jeder von uns erstellt, spielt die Vorstellung darüber, wer die eigenen Bindungspersonen sind, wo sie zu finden sind und wie sie sich verhalten werden, eine Schlüsselrolle. Ebenso spielt beim Arbeitsmodell des Selbst, das wir aufbauen, das Wissen, wie akzeptabel oder inakzeptabel man selbst in den Augen der eigenen Bindungspersonen ist, eine vergleichbare Schlüsselrolle. Auf der Struktur dieser komplementären Modelle beruhen die Annahmen und Vorhersagen der Person darüber, wie verfügbar und empfänglich ihre Bindungspersonen wahrscheinlich sein werden, wenn sie sich um Unterstützung und Hilfe suchend an sie wendet. Und, folgt man der Theorie in diesem Sinne weiter, dann ist es genau die Struktur dieser Modelle, von der es abhängt, ob man sich sicher fühlt, daß die eigenen Bindungspersonen im allgemeinen bereitwillig zur Verfügung stehen, oder ob man mehr oder weniger befürchten muß, daß sie nicht verfügbar sind – manchmal, häufig oder fast immer (Bowlby, 1973, S. 203).

Ein inneres Arbeitsmodell des Selbst als geschätzter und kompetenter Mensch entsteht nach dieser Sicht zusammen mit einem komplementären Arbeitsmodell von Eltern, die als emotional verfügbar und gleichzeitig als explorationsunterstützend repräsentiert werden. Derartige Beziehungen werden in der Bindungstheorie »sicher« genannt, doch darf der Begriff »sicher« nicht so mißverstanden werden, als unterlägen Arbeitsmodelle keiner entwicklungsbedingten Veränderung. Das Gegenteil ist der Fall: Bowlby warnte wiederholt vor dem pathogenen Potential von Arbeitsmodellen, die nicht auf dem laufenden gehalten werden. Ebenso soll auch nicht angenommen werden, daß sich ein sicher gebundenes Kind nie ängstlich oder unsicher fühlt. »Sichere Bindung« heißt, sich auf die Hilfe, die Unterstützung und das Mitgefühl einer Bindungsperson verlassen zu können.

Wenn aber die Eltern das Bindungsverhalten eines Kindes konsistent ablehnen, lächerlich machen oder absichtlich ignorieren, verläuft laut Bowlby die Entwicklung von Arbeitsmodellen entschieden anders. In solchen Fällen geht er davon aus, daß Abwehrprozesse den Aufbau adäquater Arbeitsmodelle behindern. Um die Prozesse zu erklären, die sich in solchen Bindungsbeziehungen abspielen, wandte sich Bowlby (1980) der Literatur aus dem Bereich Informationsverarbeitung zu. Er bezog sich besonders auf den immer wieder belegten Befund, daß Informationsverarbeitungsprozesse unumgänglich selektiv sein müssen, weil die verfügbare Informationsmenge die menschliche Verarbeitungskapazität weit übertrifft (siehe Dixon, 1971). In Anlehnung an den selektiven Informationsausschluß, der im Laufe der normalen Informationsverarbeitung eintritt, führte Bowlby als Sonderfall den Begriff »abwehrbedingter Ausschluß« ein. Abwehrbedingter Informationsausschluß kann beobachtet werden, wenn ein Kind angsterregende Erinnerungen an elterliche Abweisung oder Vernachlässigung aus dem Bewußtsein verdrängt. Aufgrund klinischer Fallstudien (z. B. Cain und Fast, 1972) kam Bowlby zu dem Schluß, daß Kinder in solchen Beziehungen zwei widersprüchliche Arbeitsmodelle des Selbst mit den Eltern entwickeln. Eines dieser Modelle bewahren sie im Bewußtsein, während sie das andere durch abwehrenden Ausschluß verdrängen. Das bewußt zugängliche Modell repräsentiert das ablehnende Verhalten der Bindungsperson als vom Selbst verdient und das Selbst als unwürdig, geliebt zu werden. Von dem durch Abwehr unzugänglich gemachten Modell nahm Bowlby dagegen an, daß es die ursprünglichen Erfahrungen des Kindes repräsentiere (d. h. die Bindungsperson als lieblos und das Selbst als vernachlässigt). Durch diese abwehrbedingte Verdrängung können kleine Kinder zwar die unerträgliche Erkenntnis vermeiden, daß ihre Eltern sie nicht lieben, doch wirkt sich das unbewußte Modell in manchmal rätselhafter Weise weiterhin auf ihr Verhalten aus. Bowlby vermutete, daß solche Abwehrprozesse besonders häufig bei Kindern auftreten, die traumatische Bindungssituationen erlebt hatten (wie z. B. Tod oder sogar Selbstmord eines Elternteils oder sexuellen Mißbrauch), denen jedoch verboten wurde, bei dem anderen Elternteil Trost und Beistand zu suchen oder über ihre Erlebnisse und Gefühle zu sprechen. Fairbairn (1952) vertrat ähnliche Thesen.

Die Untersuchung von Bindungsrepräsentationen

Empirische Studien über Bindungsbeziehungen befaßten sich in den siebziger Jahren und bis zur Mitte der achtziger Jahre hauptsächlich mit Beobachtungen von sicheren, vermeidenden und ambivalenten Bindungsmustern in der Fremden Situation (Ainsworth u. a., 1978). Sie dokumentierten sowohl ihre Vorgeschichte im ersten Lebensjahr als auch ihre Folgen im Vorschulalter.

In den achtziger Jahren wurde deutlich, daß bei Vorschulkindern die Fähigkeit, Beziehungen zu verstehen und über sie zu sprechen, weitaus besser ausgebildet ist, als ursprünglich von Piaget (1951) angenommen wurde. Sogar die intentionalen kommunikativen Gesten von Krabbelkindern (Bates u. a., 1979; Bretherton und Bates, 1979; Bruner, 1975), das Als-ob-Spiel im zweiten und dritten Lebensjahr (Bretherton, 1984; Nelson und Seidman, 1984; Wolf u. a., 1984) und die früh auftretende Fähigkeit, über die inneren Zustände und Gefühle anderer zu sprechen (Bretherton und Beeghly, 1982) ließen eine aufkeimende Fähigkeit für Intersubjektivität und Perspektivenübernahme erkennen. Andere Studien zeigten, daß sich Zweijährige bereits ko-konstruktiv an Geschichten-Erzählungen mit ihren Eltern beteiligten (Miller u. a., 1993). Außerdem entdeckten Nelson und ihre Mitarbeiter (Nelson und Gruendel, 1981; Nelson, 1986), daß Kinder schon mit 3 Jahren Routine-Ereignisse wie etwa den täglichen Gang zum Kinderhort in üblicher Reihenfolge beschreiben können. Ältere Kinder unterschieden sich hauptsächlich darin, daß sie mehr Einzelheiten und Alternativen in solche Routine-»Skripts« einfügten. Darüber hinaus stellte Fivush (1993) fest, daß sich dreijährige Kinder bereits sinnvoll mit ihren Eltern über Erinnerungen unterhalten konnten, in denen es um starke Gefühle ging. Diese Berichte, zusammen mit den klinischen Schriften über Spieltherapie (z. B. Anna Freud, 1946; Erikson, 1950) regten einige Bindungsforscher zu dem Versuch an, Bindungsrepräsentationen von Vorschulkindern empirisch zu erfassen. Zu diesem Zweck verwendeten sie Trennungsbilder oder das Vorspielen von Bindungsszenen mit kleinen Familienfiguren.

Untersuchungen mit Trennungsbildern

Die erste Studie, die den Zusammenhang zwischen der Bindungsqualität im Krabbelalter und Bindungsrepräsentationen im Vorschulalter offenlegte, stammt von Main, Kaplan und Cassidy (1985). Sie untersuchten eine Gruppe von sechsjährigen Kindern, die sie zuvor im Alter von 12 Monaten in der Fremden Situation mit der Mutter und im Alter von 18 Monaten mit dem Vater beobachtet hatten. Um Bindung auf der Repräsentationsebene zu untersuchen, entwickelten sie eine neue Fassung des Trennungsangst-Tests für Vorschulkinder (Separation Anxiety Test, SAT), den Klagsbrun und Bowlby (1976) von Hansburgs (1972) ähnlichem Test für Jugendliche adaptiert hatten. Kaplans Version bestand aus sechs Zeichnungen, die sowohl schwerwiegende als auch weniger einschneidende Trennungen von Eltern und Kind darstellten (z. B.: Die Eltern verreisen zwei Wochen lang; die Eltern wünschen dem Kind am Bett »Gute Nacht«). Ein Interviewer lieferte eine Standardbeschreibung jeder abgebildeten Szene und fragte dann, wie sich das Kind auf dem Bild fühle und was es wohl als nächstes täte. Mit den Eltern wurde das inzwischen bekannte Adult Attachment Interview (Erwachsenen-Bindungsinterview AAI, George u. a., 1985) durchgeführt, um die elterlichen Repräsentationen von Kindheits-Bindungserlebnissen in ihren Herkunftsfamilien zu erheben.

Die Entdeckung eines signifikanten Zusammenhangs zwischen Klassifikationen der Bindungsqualität im Kleinkindalter (Fremde Situation) und der Bewertung der elterlichen AAI-Transkripte (Main u. a., 1985, s. a. Main in diesem Band) veranlaßte Kaplan (1987) dazu, ähnliche Ideen für die Kodierung des SAT anzuwenden.

Was das AAI der Eltern mit sicher eingestuften Kindern auszeichnete, war die Offenheit und die Kohärenz, mit der sie über ihre Bindungserfahrungen in der eigenen Kindheit berichten konnten. Dies Ergebnis war unabhängig davon, ob die von den Eltern beschriebene Kindheit als fürsorglich und unterstützend (der Großteil der Fälle) oder als unglücklich (ein geringerer Anteil von Fällen, die »earned-secure« oder erworben/sicher genannt wurden) dargestellt wurde. Diese offene, kollaborative, glaubwürdige und lebendige Art und Weise der Eltern im AAI wurde als »autonom-sicher« bzw. als »Freiheit für reflektierende Bewertungen« (free to evaluate) bezeichnet. Im Gegensatz hierzu neigten Eltern von Kindern, die in der Fremden Situation als unsicher-vermeidend eingestuft worden waren, im AAI dazu, ihre eigenen Eltern zu idealisieren oder andererseits sehr abwertend über sie zu sprechen, ohne aber dabei ihre Erinnerungen an Bindungserlebnisse genauer beschreiben zu können. Des weiteren stritten sie auch den Einfluß von Bindungsbeziehungen auf ihre eigene Entwicklung ab und wurden daher als »abwertend« bezeichnet. Dagegen lieferten Eltern, deren Kinder sich mit ihnen in der Fremden Situation unsicher-ambivalent verhielten, lange, weitschweifige, widersprüchliche Beschreibungen ihrer kindlichen Bindungsbeziehungen im AAI. Die Interview-Transkripte dieser »ambivalent« oder »verstrickt« eingestuften Eltern waren schwer nachzuvollziehen, nicht nur weil sie wütend auf ihre Eltern zu sein schienen, während sie ihnen gleichzeitig noch immer gefallen wollten, sondern auch, weil sich ihre Antworten oft nicht direkt auf die Interviewfragen bezogen, sondern sie nur am Rande berührten. Die Eltern der Kinder, die die neuere Klassifikation der Fremden Situation »desorientiert-desorganisiert« (D) erhielten (Main und Hesse, 1990; Main und Solomon, 1990, s. a. Hesse und Main in diesem Band), wurden anhand des AAI als »ungelöst« bezeichnet, weil verschiedene Merkmale darauf verwiesen, daß sie traumatische Verluste oder andere Bindungstraumata noch nicht verarbeitet hatten. Diese Eltern neigten zu plötzlichen, merkwürdigen »Entgleisungen« in ihren Antworten im AAI, sobald der Tod eines Elternteils oder andere traumatische Kindheitserinnerungen zur Sprache kamen.

Beeinflußt von der Kodierung des AAI, stellte Kaplan (1987) fest, daß sechsjährige Kinder, die kohärente und konstruktive Lösungen für die Trennungsszenen im SAT erfinden konnten und fähig waren, über Trennungen mit emotionaler Offenheit zu sprechen, im Kleinkindalter mit ihren Müttern meist als sicher gebunden eingestuft worden waren (die Befunde mit Vätern waren ähnlich, aber weniger signifikant). Diese »ressourcenreichen« Kinder leugneten die Trennungsgefühle der abgebildeten Kinder im SAT nicht ab und hatten keine Schwierigkeiten, sich vorzustellen, was ein Kind in der dargestellten Situation unternehmen könnte. Sie sprachen auch oft freiwillig über ihre eigenen Trennungserlebnisse. Im Gegensatz dazu waren Kinder, die im Kleinkindalter mit der Mutter als vermeidend gebunden eingestuft worden waren, zwar in der Lage, die Kinder in den Trennungsbildern als traurig zu bezeichnen, konnten aber nichts darüber sagen, was die abgebildeten Kinder in dieser Lage als nächstes tun könnten. Diese Kinder wurden deshalb von Kaplan als »inaktiv« bezeichnet. Kinder, die in der Fremden Situation mit einem Jahr als ambivalent an die Mutter gebunden eingestuft worden waren, beschrieben auch das Verhalten der abgebildeten Eltern im SAT als ambivalent, während Kinder, die im Kleinkindalter als desorganisiert gebunden galten, entweder oft völlig stumm blieben oder bizarre Antworten gaben, in denen sie den abgebildeten Kindern überwältigende Ängste zuschrieben oder andere desorganisierte Denkprozesse erkennen ließen. Kaplan bezeichnete diese Kinder als »verängstigt«.

Zusammengenommen zeigte sich bei 68 Prozent der Kinder eine eindeutige Übereinstimmung zwischen den vier Klassifikationen in der Fremden Situation im Kleinkindalter (sicher, vermeidend, ambivalent und desorganisiert) und den vier entsprechenden SAT-Klassifikationen im Vorschulalter (ressourcenreich, inaktiv, ambivalent und verängstigt).

Jacobsen, Edelstein und Hoffmann (1994) adaptierten das SAT-Klassifikationssystem von Kaplan, um es mit Bildern von Langzeit-Trennungen bei einer in Island durchgeführten Studie anzuwenden. Die SAT-Klassifikationen stimmten auch hier mit den gleichzeitig erhobenen Verhaltensweisen bei Trennungen und Wiedervereinigungen mit der Mutter gut überein. Diese Verhaltensweisen wurden mit Hilfe des von Main und Cassidy (1988) entworfenen Kodierungssystems für Sechsjährige vorgenommen. Außerdem stimmten die SAT-Einstufungen auch mit den Klassifikationen der Kinder in der Fremden Situation im Krabbelalter überein. Besonders die »verängstigte« SAT-Kategorie erwies sich als höchst vorhersagekräftig gegenüber Einschätzungen von Lehrern über die Aufmerksamkeit und Teilnahme der Kinder am Unterricht im Alter von 7 und 15 Jahren. Schließlich waren Kohärenz, konstruktive Lösungen und emotionale Offenheit auch ausgezeichnete Prädiktoren für Beziehungen zu Gleichaltrigen.

Weitere Fassungen des SAT, die einen Standardsatz von Fotografien verwendeten, wurden in anderen Studien mit Vorschulkindern angewandt (Slough und Greenberg, 1990; Shouldice und Stevenson-Hinde, 1992). Diese bestätigten großteils die Ergebnisse der Kaplan-Studie (Kaplan, 1987; Main u. a., 1985). Zusätzlich entdeckte Cho (1994), daß Kinder, die anhand des SAT als sicher bewertet wurden, von ihren Müttern als freundlicher, antwortbereiter und aufgeschlossener und weniger distanziert beurteilt wurden. Insgesamt unterstützen diese SAT-Studien die Annahme, daß Erzählungen über Trennungsbilder wichtige Aspekte der tatsächlichen Beziehungserfahrungen wiedergeben, die ein Kind mit den Eltern, besonders der Mutter, in der Vergangenheit erlebt hat und in der Gegenwart noch erlebt.

Geschichtenergänzungsverfahren mit Familienfiguren

In der Annahme, daß Aufgaben, die rein sprachliche Antworten erfordern, für jüngere Vorschulkinder zu schwierig sein könnten, selbst wenn sie von Bildern begleitet sind, entwickelten Bretherton und Ridgeway ein alternatives Vorgehen, das Handeln und Erzählen verband. Sie erfanden eine Reihe von Geschichtenanfängen oder -stämmen, die anhand kleiner Familienfiguren und anderen Requisiten in Szene gesetzt werden konnten (Bretherton u. a., 1990a, Anhang). Diese Geschichtenstämme (siehe Tabelle 1) enthielten fünf bindungsrelevante Szenen: Dem Kind passiert ein Mißgeschick (Saft über den Eßtisch verschütten), es erleidet Schmerzen (im Park von einem Felsen fallen), es hat Angst (stellt sich vor, ein Ungeheuer sei in seinem Schlafzimmer) und erlebt eine Trennung und Wiedervereinigung mit den Eltern (die Eltern bleiben über Nacht weg, während die Großmutter auf die Kinder aufpaßt).

Die Familienfiguren (zwei Eltern, ein größeres und ein kleineres Kind und eine Großmutter) und die Requisiten wurden laut diesem Verfahren so aufgestellt und gehandhabt, daß es den Kindern das Verständnis der vorgespielten Situationen erleichterte. Es wurde auch darauf geachtet, daß die Requisiten zwar real genug waren, um sie ohne weiteres zu erkennen, aber nicht so »verführerisch« real, daß sie das Kind von der Aufgabe ablenkten. Nach der Darbietung jedes Geschichten-Anfangs wurden die Kinder durch die Interviewerin freundlich dazu aufgefordert, ihr zu »zeigen und zu erzählen, was nun passieren wird«, um das interviewte Kind anzuregen, die Geschichte durch Handeln und Erzählen zu Ende zu führen.

Die von Bretherton und Ridgeway angewandte Beurteilung der ASCT-Ergebnisse (Attachment Story Completion Tasks; siehe Tabelle 1) stützte sich teilweise auf Kaplans SAT-Kodierungssystem (1987). Die globale ASCT-Geschichtensicherheitsskala (von 4 »sehr sicher« bis 1 »sehr unsicher«) beruhte auf einem Gesamturteil, das sowohl die konstruktive Qualität der angebotenen Lösungen und die emotionale Offenheit/Kohärenz als auch die Tendenz, vermeidende oder bizarr/chaotische Antworten zu geben, einschloß.

Tabelle 1    Kurzbeschreibung der zu ergänzenden Bindungsgeschichten (nach Bretherton und Ridgeway im Anhang zu Bretherton u. a., 1990, S. 300-305)

Geschichte

Kurzbeschreibung

Akteure

Bindungsrelevanz

1. Verschütteter Saft

Eines der Kinder verschüttet zufällig Saft aus dem Krug auf den Eßtisch und der Interviewer sagt: »Oh je, sie (er) hat den Saft verschüttet.«

Mutter, Vater, 2 Geschwister

Eltern als Bindungs- und/oder Autoritätspersonen; Schaden beheben

2. Das verletzte Knie

Im Park klettert das jüngere Geschwister auf die Spitze eines hohen Felsens, fällt herunter und schreit »Au, mein Knie tut weh.«

Mutter, Vater, 2 Geschwister

Eltern als tröstende Personen bei Schmerz (bringt auch Themen kompetenter Bewältigung hervor)

3. Ungeheuer

Die Eltern schicken das jüngere Kind ins Bett. Das Kind geht in sein Zimmer und schreit: »Da ist ein Ungeheuer in meinem Zimmer!«

Mutter, Vater, 2 Geschwister

Eltern als beschützende Personen bei Angst

4. Abreise

Die Eltern stehen bei ihrem Auto und sagen, daß sie über Nacht verreisen und die Großmutter bei den Kindern bleibt

Mutter, Vater, 2 Geschwister, Großmutter

Trennungsverhalten, bzw. -angst

5. Wiedervereinigung

Die Großmutter sagt: »Kinder, ich glaube, eure Eltern kommen zurück.« (Das Auto mit den Eltern wird auf der anderen Seite des Tisches gegenüber von Großmutter und Kindern aufgestellt.)

Mutter, Vater, 2 Geschwister, Großmutter

Qualität der Wiedervereinigung

Für jede der fünf Situationen (Mißgeschick, Schmerz, Furcht, Trennung und Wiedervereinigung) wurden separate Bewertungskriterien entwickelt. Es stellte sich heraus, daß Kinder, die auf der geschichtenbezogenen Sicherheitsskala höhere Werte erhielten, in der Regel auch anhand ihres im selben Alter beobachteten Wiedervereinigungs-Verhaltens mit der Mutter als sicherer eingestuft wurden. Diese Wiedervereinigungsbewertung stützte sich auf einen Vorläufer des Cassidy-Marvin-Systems (1992) für Bindungsklassifikationen im Vorschulalter. Zusätzlich korrelierten die Beurteilungen der geschichtenbezogenen Bindungssicherheit signifikant mit Bindungssicherheit im Alter von 25 Monaten, die anhand des Bindungs-Q-Sortierungs-Verfahrens (Waters und Deane, 1985) durch die Mütter erhoben wurden. Die geschichtenbezogene Sicherheit korrelierte weiterhin, wenn auch nur mäßig, mit den Ergebnissen der Fremden Situation mit der Mutter im Alter von 18 Monaten. Eine Einsichts-/Feinfühligkeitsskala, die zur Bewertung eines einstündigen Interviews über die Mutter-Kind-Bindungsbeziehung (PAI, Parent Attachment Interview) entwickelt wurde, war ebenfalls ein signifikanter Prädiktor der Geschichtensicherheitsskala. Dasselbe galt für von der Mutter ausgefüllte Fragebögen über Familienzusammenhalt, Familienanpassungsfähigkeit und Qualität der elterlichen Ehebeziehung (Bretherton u. a., 1989). Auch mütterliche Beurteilungen des kindlichen Temperaments und Einschätzung des kindlichen Wortschatzes mit 25 Monaten korrelierten mit den Geschichtenergänzungen, doch blieben die Bindungskorrelationen signifikant, wenn die Temperament- und Sprachmessungen statistisch kontrolliert wurden. Eine spätere, unabhängige Analyse von Längsschnitt-Daten aus der Studie von Bretherton et al. wurde von Waters, Rodrigues und Ridgeway (1998) unternommen. Sie beurteilten die Geschichtenergänzungen der Kinder in bezug auf ihre Ähnlichkeit mit einem »optimalen sicher-gebundenen Skript«, das sie für jeden Geschichtenstamm einzeln entwickelt hatten. Es ergaben sich sowohl signifikante Längsschnitt-Korrelationen zwischen Geschichtenergänzungen im Alter von 3 und 4,5 Jahren als auch Korrelationen der im Alter von 4,5 Jahren erzählten Geschichten mit den früheren Bindungsmessungen (25-Monate-Bindungs-Q-Sortierung, 37-Monate-Trennung-Wiedervereinigung).

Solomon, George und DeJong (1995) adaptierten die ASCT für sechsjährige Kinder, veröffentlichten allerdings nur die Ergebnisse der Trennungs- und Wiedervereinigungsgeschichte. Sie konnten vier Reaktionsmuster auf diese Geschichtenstämme feststellen: zuversichtlich, lässig, geschäftig und verängstigt. »Zuversichtliche« Kinder erfanden kohärente Geschichten, in denen auf das Thema »Gefahr« »Rettung« folgte. »Lässige« Kinder spielten stereotype Szenen vor, in denen sowohl die Besorgnis um die Trennung also auch die Verfügbarkeit von Bindungspersonen minimiert wurden. »Geschäftige« Kinder erzählten Geschichten, in denen man in Abwesenheit der Eltern Spaß hatte, in denen die Wiedervereinigung aber unterbrochen oder verzögert wurde. Außerdem gingen die Geschichten dieser Kinder oft am Thema vorbei. »Verängstigte« Kinder inszenierten eher chaotische und destruktive Geschichten, oder sie waren extrem gehemmt (siehe das Kodierungsmanual von George und Solomon, 1994). Die Übereinstimmung zwischen zuverlässigen, lässigen, geschäftigen und verängstigten Geschichtenergänzungen einerseits und entsprechender sicherer, vermeidender, ambivalenter oder kontrollierender Klassifikation bei Trennung und Wiedervereinigung mit der Mutter im Alter von 6 Jahren andererseits betrug 79 Prozent. Die kontrollierende Trennungs-Wiedervereinigungs-Klassifikation mit 6 Jahren entspricht der desorganisiert gebundenen Klassifikation in der Fremden Situation von Kleinkindern (Main und Cassidy, 1988).

Cassidy (1988) entwarf mehrere weitere Spielgeschichtenanfänge für eine Gruppe von Sechsjährigen. Bei ihren Geschichten standen die mütterliche Unterstützung des Selbstwertgefühls, der mütterliche Schutz und Trost bei Leid und Gehorsamskonflikt im Mittelpunkt. Die Geschichtenergänzungen wurden als sicher klassifiziert, wenn die Kindfigur als wertgeschätzt und die Mutterfigur als schützend und tröstend dargestellt wurden. Unsichere Geschichten wurden entweder als »vermeidend« charakterisiert (das Selbst erschien isoliert, abgelehnt, oder der Konflikt wurde verleugnet) oder als »feindselig-negativ« (Darstellung von gewalttätigen und bizarren Verhaltensweisen). Cassidy konnte kein rein ambivalentes Muster der Geschichtenergänzung feststellen. Eine globale Sicherheits-Skala, die Cassidy für die Geschichtenergänzungen entwickelte, korrelierte signifikant mit Sicherheit während der Wiedervereinigungssituation mit der Mutter, die mit dem Main-Cassidy-System für Sechsjährige (1988) bestimmt wurde. Weiterhin zeigten die Sicherheitsbeurteilungen der Geschichten einen signifikanten Zusammenhang mit den Selbstbeschreibungen der Kinder, die durch Antworten auf die Fragen bewertet wurden, die dem Kind durch eine Handpuppe gestellt worden waren.

Ebenfalls von der Bindungsstudie von Main u. a. (1985) beeinflußt, entwickelte Oppenheim einen Spiel-Trennungstest, der dem SAT ähnelte, denn seine in den späten achtziger Jahren an der Universität Utah entwickelten Geschichtenanfänge drehten sich alle um Trennungs- und Wiedervereinigungsszenen. Nach jedem Abschnitt der Geschichte (d. h. nach jeder Trennung und jeder Wiedervereinigung) wurde das interviewte Kind gebeten zu erklären, was das Kind in der Geschichte nun wohl tun würde und wie es sich wohl fühlen mochte, ähnlich wie bei dem ursprünglichen SAT-Verfahren von Klagsbrun und Bowlby (1976). Die Ergebnisse bei Kindern, deren Narrative höhere Werte für emotionale Offenheit, konstruktive Lösungen und Qualität der dargestellten Mutter-Kind-Interaktionen erhielten, korrelierten mit den Beurteilungen von Lehrern über das Selbstwertgefühl der Kinder und mit dem beobachteten Explorationsverhalten im Klassenzimmer (Oppenheim, 1997).

In einer neueren Studie verwendete Oppenheim die MacArthur Story Stem Battery MSSB (Bretherton u. a., 1990a), die zusätzlich zu einigen Geschichten-Anfängen der ASCT und einer Geschichte von Oppenheim auch andere enthalten, die auf moralische Themen und Familienkonflikte abzielen (Buchsbaum und Emde, 1990). Die Geschichten-Analyse wurde anhand einer themenbezogenen Kodierung von Robinson, Mantz-Simmons, MacFie und der MacArthur Narrative Working Group (1992) vorgenommen. Oppenheim und Kollegen fanden negative Korrelationen zwischen positiven Darstellungen der Mutter in den Geschichten und Verhaltensstörungen des Kindes, die von der Mutter berichtet wurden.

Weitere Validierungen: Alternative Kodierungsmethoden und Korrelationen mit AAI, SAT und anderen narrativen Methoden

Die Ergebnisse, die mit dem SAT und den Geschichtenergänzungsverfahren (Brethertons und Ridgeways ASCT, Cassidys unvollständigen Puppengeschichten, Oppenheims Trennungsgeschichten sowie der MacArthur Story Stem Battery) gewonnen wurden, konnten auch durch anschließende Studien bestätigt werden. Einige dieser Studien umfaßten auch neue oder weiter ausgearbeitete Kodierungs- oder Klassifikationsverfahren, fügten Geschichten-Anfänge hinzu, ließen andere weg oder adaptierten sie für bestimmte Zwecke. In einigen Studien wurden auch verschiedene repräsentationale und narrative Erhebungsmethoden wie die ASCT, der SAT und das AAI miteinander verglichen.

Verschueren, Marcoen und Schoefs (1996) verwendeten bei 80 fünfjährigen Kindern sowohl den SAT als auch ausgewählte Puppengeschichten von Cassidy (1988) und die ASCT von Bretherton et al. (1990c) in flämischer Übersetzung. Die Geschichten wurden jeweils zweimal durchgespielt, einmal mit der Vaterfigur und einmal mit der Mutterfigur. Zusätzlich verwendeten Ver