Coverbild

Ruth Gogoll

L WIE LIEBE

Staffel 6

© 2016

édition el!es

www.elles.de
info@elles.de

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-95609-168-1

1. Kapitel

   Neues Jahr, neues Glück   

Melly ließ ihre Blicke über das Sappho schweifen. Es war so viel geschehen im letzten Jahr, und doch wirkte das Lokal unverändert. Auf eine Art beständig, wie es die Beziehungen der Frauen, die hier ein und aus gingen, meistens nicht waren.

Sie hatte gerade aufgeschlossen, und schon stürmten eine nach der anderen Frauen herein, die sich schnell einen Kaffee greifen wollten, bevor sie ins Büro oder sonstwo zur Arbeit gingen. Es war ein ziemliches Gewimmel.

Für diesen morgendlichen Ansturm hatte Melly zwei Kellnerinnen hinter der Bar. Früher hatte sie es allein gemacht, aber das war mittlerweile nicht mehr zu schaffen. Sie sah, dass selbst die beiden einige Mühe hatten. Heute war es besonders schlimm. Oder besonders gut – je nachdem, wie man es betrachtete.

Jeden Morgen, wenn sie aufschloss, war sie neugierig, was der neue Tag bringen würde. Das hieß: Jetzt war sie neugierig. Es hatte eine Zeit gegeben, als sie eher Angst davor gehabt hatte. Sie begab sich von der Tür zur Theke. Es schien fast, als hätte diese Zeit nie existiert. Und wenn Rick nicht gewesen wäre . . .

Sie lächelte. Rick. Wie lange hatte sie sich dagegen gewehrt zu akzeptieren, was sie doch immer schon gewusst hatte?

»Stephanie.« Sie fuhr mit einer Hand über die Schulter der Frau, die an der Theke saß. Die einzige. Alle anderen standen nur und warteten darauf, ihre Becher zu bekommen, um wieder hinausstürzen zu können. »Was machst du denn so früh schon hier?«

Stephanie verzog das Gesicht. »Céline ist eine extreme Frühaufsteherin.«

»Und da ist dir nichts eingefallen, womit du sie im Bett halten könntest?«, fragte Melly schmunzelnd.

»Doch.« Stephanie schmunzelte auch. »Aber leider hatte sie eine Patientin und musste los. Und nachdem ich erst einmal wach war, konnte ich nicht wieder einschlafen. Also dachte ich, ich gehe dahin, wo es den besten Kaffee der Stadt gibt.«

»Danke für das Kompliment.« Melly lächelte. »Es freut mich, dass es dir mit Céline so gut geht. Sie war ja sehr misstrauisch, als sie das erste Mal ins Sappho kam.«

Stephanie zuckte die Schultern. »Es war ungewohnt für sie. Für sie ist es nicht so wie für . . . uns.« Sie zögerte ein wenig vor dem letzten Wort.

»Für dich ist das anscheinend auch immer noch ungewohnt.« Melly ging um die Theke herum und stellte sich auf die andere Seite.

»Sie ist meine erste . . .«, Stephanie hob etwas ratlos eine Hand, »Bi-Frau«, fuhr sie dann fort.

»Ist das ein Problem für dich?« Melly holte ein paar Pappbecher unter der Theke hervor und stellte sie aufgereiht neben die Kaffeemaschine, damit ihre Angestellten sich nicht um den Nachschub kümmern mussten.

»N-nein.« Stephanie schien nicht ganz sicher zu sein. »Ich meine, ich liebe sie. Sie ist die absolute Traumfrau für mich.«

»Aber sie ist immer noch mit ihrem Mann verheiratet.«

»So lange kennen wir uns noch nicht«, erklärte Stephanie fast entschuldigend. »Das ändert sich nicht von jetzt auf gleich.«

»Du bist geduldiger als Rick es war.« Melly lächelte liebevoll. »Sie hat immer erwartet, dass sich alles von jetzt auf gleich ändert.«

»Und trotzdem hat es eine ganze Weile gedauert.« Stephanie seufzte. »Ich will sie ja auch gar nicht drängen. Ich bin so glücklich, dass sie jetzt bei mir ist.«

»Aber du hast Angst, dass sich das wieder ändern könnte«, vermutete Melly. »Dass sie bei dir ist.«

»Ich versuche nicht darüber nachzudenken.« Stephanies Blick starrte ins Leere.

Melly schaute sie verständnisvoll an. »Du denkst an sie.«

»Immer«, sagte Stephanie. »Ununterbrochen.«

Mit einem leichten Lachen tätschelte Melly ihre Hand. »Wenn ihr euch wirklich liebt, wird es schon gutgehen. Glaub mir.«

Stephanie begann selig zu lächeln. »Es ist einfach himmlisch. Wenn sie da ist, fühle ich mich jedes Mal wie im siebten Himmel.«

»Genieß es«, sagte Melly. »Es ist das schönste Gefühl, das es gibt.« Ihr Blick glitt zur Tür, und die junge Frau, die sich gerade dort hineinschob, blieb im selben Moment stehen, als hätte Mellys Blick sie aufgehalten.

Melly runzelte die Stirn. Irgendwie kam ihr die junge Frau bekannt vor – und dann doch wieder nicht. Sie stand jedoch so verloren dort an der Tür, dass Melly hinter der Theke hervortrat und auf sie zuging. »Kann ich dir irgendwie helfen?«

Je näher sie gekommen war, desto mehr hatte sie festgestellt, dass es keine junge Frau war, sondern ein junges Mädchen, höchstens vierzehn oder fünfzehn Jahre alt.

Das Mädchen wirkte ebenso verunsichert wie Melly. Sie starrte in ihr Gesicht, als ob sie etwas Vertrautes darin suchte. »Tante . . . Melanie?«, äußerte sie dann fragend.

Mellys Stirn runzelte sich noch mehr. »Melanie ist richtig«, bestätigte sie, »aber wie kommst du darauf –?« Sie brach ab und musterte das Mädchen eingehender.

Die senkte den Kopf, dann hob sie ihn wieder. »Ich bin Kirsty«, sagte sie leise.

Melly brauchte ein paar Sekunden, bis sie etwas mit dem Namen verbinden konnte. »Corinnas Tochter?«, fragte sie dann erstaunt.

Kirsty nickte stumm.

»Wo ist deine Mutter?«, fragte Melly, während sie einen Blick hinter Kirsty auf die Straße warf. Aber da war nichts von ihrer Cousine Corinna zu sehen.

»Zu Hause . . . nehme ich an.« Kirstys Stimme zitterte leicht.

»Du bist allein hier?« Melly runzelte die Stirn.

»Ich bin –« Kirsty schluckte. »Ich konnte nicht mehr zu Hause bleiben.«

Melly schüttelte noch mehr stirnrunzelnd den Kopf. »Wieso nicht?« Sie sah, dass Kirsty noch blasser wurde, als sie ohnehin schon war, deshalb nahm sie ihren Arm. »Komm erst mal und trink einen Kaffee. Oder lieber eine Cola?«

»Cola.« Kirstys Kopf blieb gesenkt, während Melly sie zur Theke führte.

Sie setzte Kirsty neben Stephanie und ging um die Theke herum, nahm eine Büchse aus dem Kühlschrank und stellte sie zusammen mit einem Glas vor Kirsty hin. »Hast du überhaupt schon was gegessen?«

Kirsty schüttelte den Kopf.

Melly drehte sich um und ging in die Küche. »Kannst du mal irgendetwas machen, was ein Teenager gern isst?«

Evelyn hob die Augenbrauen.

»Die Tochter meiner Cousine ist gerade gekommen. Sie hat noch nicht gefrühstückt. Ich glaube, sie ist vierzehn.« Melly seufzte. »Keine Ahnung, was sie mag.«

»Müsli?«, fragte Evelyn. »Oder lieber Pfannkuchen? Ein Omelette? Gekochte Eier? Die Brötchen sind noch nicht fertig.«

Melly zuckte die Schultern. »Mach einfach alles. Wenn sie Hunger hat, wird sie schon essen.« Sie verließ die Küche und ging wieder an die Theke zurück.

Dort sah sie, wie Stephanie die Dose für Kirsty öffnete und ihr einschenkte. Kirsty selbst schien der ganzen Aktion eher gleichgültig gegenüberzustehen. Sie wirkte völlig apathisch.

»Trink einen Schluck«, sagte Stephanie. »Dann geht es dir besser.«

Als ob sie es nicht gehört hätte, blieb Kirsty genauso wie zuvor mit gesenktem Kopf sitzen.

Stephanie warf einen fragenden Blick auf Melly, und die zuckte die Achseln. Sie ging zu Kirsty und legte ihr von hinten die Hände auf die Schultern. »Frühstück kommt gleich.«

Kirsty zuckte zusammen und schien endlich zu erwachen. »Ich habe keinen Hunger«, flüsterte sie.

»Du bist furchtbar dünn.« Mellys Blick glitt kurz an den schmalen Hüften hinunter. »Essen schadet dir bestimmt nicht.«

Kirstys kurzer Ausflug in die Welt des Sprechens war anscheinend schon wieder beendet, denn sie antwortete nicht.

Melly atmete tief durch, ließ Kirstys Schultern los und ging hinter die Theke zurück. Sie erinnerte sich noch sehr gut an ihre eigene Teenagerzeit. Sie war genauso wie Kirsty gewesen, verschloss sich, wenn man sie ansprach. Deshalb wollte sie Kirsty nicht drängen. Sie hatte das immer furchtbar gefunden. Kirsty musste von selbst zu ihr kommen.

Was sie ja auch schon getan hatte. »Kommt Corinna . . . deine Mutter nach?«, fragte sie.

Zuerst rührte Kirsty sich nicht, aber dann begann sich ihr Kopf seltsam zögernd von einer Seite zur anderen zu bewegen.

»Du bist allein hier?«, wiederholte Melly die Frage, die sie schon einmal gestellt hatte, diesmal jedoch wesentlich erstaunter. »Ganz allein?« Sie hatte zwar schon lange nichts mehr mit ihrer Cousine zu tun gehabt, aber sie wusste, dass sie äußerst besitzergreifend war. Sie hatte Kirsty nie aus den Augen gelassen.

Natürlich war Kirsty da noch klein gewesen. Jetzt war sie schon erheblich älter. Vielleicht hatte Corinna die Zügel etwas gelockert. Obwohl Melly sich das nicht wirklich vorstellen konnte. Sie kannte Corinna zwar nicht gut, aber sie hatte sie immer sehr unangenehm gefunden. Selbstbezogen. Egoistisch. Sie duldete keine andere Meinung als ihre eigene.

Kirsty schien unentschlossen, doch dann nickte sie sehr langsam.

Melly blickte zur Seite und überlegte, ob sie sie direkt fragen sollte. Wie hätte sie in Kirstys Alter auf so eine Frage reagiert?

»Hat deine Mutter dich hergeschickt?«, fragte Stephanie in diesem Moment. »Zu deiner Tante Melly?« Sie grinste Melly an. »Gefällt mir irgendwie. Du hast auf einmal so was Mütterliches.«

Melly warf einen strafenden Blick auf Stephanie. »Hör bloß auf.« Sie hatte eine andere Vermutung, aber sie sprach sie nicht aus.

Mir schwungvollem Schritt kam Evelyn aus der Küche und stellte einen Teller auf die Theke. »Einmal Spezialfrühstück.« Sie lächelte Kirsty an, aber die sah sie gar nicht. Anscheinend auch nicht das Essen.

Melly legte eine Hand auf Evelyns Arm. »Ich glaube, es geht ihr nicht gut«, flüsterte sie nah an Evelyns Ohr. »Gar nicht gut.«

»So sieht sie aus«, bestätigte Evelyn. »Vielleicht steigt ihr ja irgendein Duft in die Nase, der sie aufweckt.« Sie ging wieder in die Küche zurück.

Stephanie schnupperte leicht. »Mhm, riecht gut. Willst du nicht essen?« Sie schaute Kirsty an.

Kirstys abwesender Gesichtsausdruck änderte sich nicht.

»Wie lange bist du denn schon unterwegs?«, fragte Melly. »Kommst du direkt von zu Hause?« Das wäre ein weiter Weg. Corinna wohnte in der Nähe von München. Da müsste Kirsty die ganze Nacht unterwegs gewesen sein. Oder vielleicht sogar schon länger?

Wieder nickte Kirsty fast nur angedeutet. »Gestern«, sagte sie leise.

»Dann hast du nicht geschlafen?« Melly hob die Augenbrauen. »Ich glaube, du legst dich am besten erst mal hin. Essen kannst du später.« Sie trat hinter der Theke hervor und blickte Kirsty auffordernd an.

Stephanie sah, dass Kirsty die Aufforderung gar nicht mitbekam und stupste sie leicht. »Geh ins Bett. Melly hat recht.«

Kirsty zuckte zusammen, als Stephanie ihren Arm berührte, und blickte hoch.

Mit einem Lächeln wies Stephanie auf Melly. »Sie wartet auf dich.«

Kirsty zögerte, dann jedoch rutschte sie vom Barhocker und ging zu Melly hinüber.

»Komm«, sagte Melly. »Ich bringe dich nach oben.«

Stephanie runzelte die Stirn, während sie den beiden hinterherblickte. Dann schaute sie auf den Teller vor sich, nahm ihn und brachte ihn in die Küche. »Ich glaube, die Kleine isst jetzt doch nichts.«

Evelyn schaute sie an. »Hast du vielleicht Hunger? Wird doch nur kalt, und ich kann es wegwerfen.«

Stephanies Lippen verzogen sich angenehm berührt. »Ja, langsam bekomme ich wirklich Hunger. Und das sieht ja wieder köstlich aus, was du da gezaubert hast.«

»Du willst mir nur schmeicheln, um mich ins Bett zu kriegen«, erwiderte Evelyn schmunzelnd.

»Nie im Leben würde ich mich mit Fran anlegen.« Stephanie legte eine Hand auf ihr Herz und grinste. »Okay, dann esse ich es. Danke.« Sie ging zurück in die Gaststube und setzte sich an einen Tisch.

Das war ja eine komische Sache mit Mellys Nichte. Die Kleine strahlte etwas . . . Verlorenes aus. Sie hatte das Gefühl, das wäre ein Fall für Céline.

Sie schüttelte den Kopf. Ach was. Wahrscheinlich war sie nur übermüdet. Wenn sie sich in Mellys Wohnung ausgeschlafen hatte, würde sie die Welt schon ganz anders sehen.

Mit Genuss machte sie sich über Evelyns köstliches Frühstück her.

7. Kapitel

   Die Bretter, die die Welt bedeuten   

»Mein Alles hängt, mein Leben, mein Geschick

An meiner Worte, meiner Tränen Kraft:

Löst mir das Herz, dass ich das Eure rühre!«

»Ja, danke! Wir melden uns dann bei Ihnen.«

Saskia hörte es wie durch einen Nebel. Eben war sie noch Maria Stuart gewesen, die unglückliche Königin von Schottland, hier auf der Bühne des Stadttheaters, aber eigentlich im Park von Schloss Fotheringhay in Schillers Stück, und nun fiel sie herunter in den Alltag, die Realität eines Vorsprechens als kleine, unbekannte Schauspielerin, die sich für eine Rolle bewarb.

»Ich hätte da noch etwas Modernes«, versuchte sie vorzuschlagen, aber es war längst zu spät.

»Wir suchen keine jugendliche Liebhaberin, kein Gretchen und auch keine Ophelia.« Die Regisseurin beugte sich vor. »Sie sind einfach kein moderner Typ, egal, was Sie sprechen. Tut mir leid. Wenn wir mal wieder Goethe machen, kommen wir auf Sie zurück.«

Saskia wusste, dass das nur ein leeres Versprechen war. Niemand machte heute noch Goethe oder Schiller. Und für alles andere schien sie nicht geeignet. Ihre Enttäuschung so professionell wie möglich verbergend raffte sie ihren Rock zusammen und verließ die Bühne.

Sie hatte sich so wohlgefühlt in diesen paar Minuten. Das Kostüm, die Vorstellung, in einem Schloss zu sein, die wunderbaren Worte von Schiller . . . Sie seufzte. Warum war die Welt nicht mehr so? Warum wurden diese Stücke nicht mehr gespielt?

Während sie den langen Rock auszog, den sie nur über ihre Jeans gestreift hatte, knurrte ihr Magen. Sie hatte nichts gegessen, bevor sie hergekommen war, denn von der Anspannung auf der Bühne wurde ihr schlecht. Aber nun, da alles vorbei war, konnte es ja nicht mehr schaden. Sie würde in die Kantine gehen. Auch wenn sie kein Mitglied des Ensembles war, aber wer sollte das merken. Hier gingen so viele Leute ein und aus.

Sie saß kaum am Tisch, als sich jemand zu ihr setzte. »Du warst großartig.«

Saskia blickte auf, denn sie hatte ungesellig vor sich hingestarrt. Auch wenn sie sonst ein durchaus geselliger Mensch war, aber heute wollten sich keine fröhlichen Gedanken einstellen. Im Moment jedenfalls nicht. »Ach ja?«, fragte sie spitz zurück. »Deshalb waren ja auch alle so begeistert von mir. Hab gleich einen Zehnjahresvertrag gekriegt.«

Die Frau mit den dunklen Haaren lachte. »Den bekommt niemand. Ein Jahr wäre das höchste, aber meistens laufen die Verträge nur eine Spielzeit.«

»Hätte mir auch gereicht«, murmelte Saskia. »Aber nicht mal das –«

»Maria Stuart hätte sich für die beeindruckende Darstellung ihrer Person bedankt, davon bin ich überzeugt«, sagte die Dunkelhaarige. »Das kann heute kaum noch jemand. Leiden, Verzweiflung, Todesangst – wer kennt das schon? Aber was du da gespielt hast, das war ungeheuer authentisch. Als hättest du es selbst erlebt.«

Saskia lachte auf. »Authentisch. Ja, genau. Maria Stuart als Reality Soap.«

»Sollte ein Kompliment sein.« Die andere hob etwas entschuldigend die Hände. »Reality Soaps zahlen übrigens gut. Solltest du mal versuchen.«

»Nein, danke.« Saskia stand auf. »Dafür bin ich nicht auf die Schauspielschule gegangen. Und das wäre bei einer Soap wohl auch ein Ablehnungsgrund. Die nehmen doch nur Laiendarsteller direkt von der Straße.« Sie lachte geringschätzig auf. »So authentisch wie möglich. Will heißen: so unbegabt wie möglich.«

»Ah, deshalb warst du so gegen den Begriff authentisch.« Die andere stand ebenfalls auf und verbeugte sich galant. »Dann nehme ich meine Einschätzung zurück. Du warst großartig, aber vollkommen unauthentisch.«

Saskia musste lachen. Diesmal jedoch war es ein fröhlicheres Lachen als das erste Mal. Sie knickste, als hätte sie immer noch den Rock an. »Dann bedanke ich mich, edle Dame.« Unvermutet merkte sie, dass ihre Stimmung sich ein ganzes Stück gehoben hatte. »Es ändert zwar nichts am Ergebnis, dass sie mich nicht brauchen können, aber so bleibt doch wenigstens ein Hauch von Hoffnung.«

»Da hake ich gleich mal ein mit meiner eigenen Hoffnung.« Die große Frau lächelte. »Darf ich dich zu irgendetwas einladen? Einem Kaffee, einem Bier, einem Abendessen?«

»Bei dir zu Hause?« Saskia schüttelte den Kopf. »So verzweifelt bin ich noch nicht. Ich finde schon einen Job. Bis jetzt konnte ich mein Essen immer noch selbst bezahlen.«

»Autsch«, sagte die andere und machte ein betretenes Gesicht. »So war es nicht gemeint. Selbstverständlich kannst du den Ort bestimmen.«

Saskia musste über so viel Hartnäckigkeit schmunzeln. »Ich kenne noch nicht mal deinen Namen.«

»Oh. Ja. Das sind wirklich schlechte Manieren.« Wieder begleitete eine kleine Verbeugung diese Aussage, als ob eine richtig gute Erziehung ihr keine andere Wahl ließe. »Ist Reggie in Ordnung? Ich hasse Regula.«

»Das ist dein Taufname? Klingt aber gut«, sagte Saskia. »Reggie ist auch in Ordnung, aber es hat so oder so keine Bedeutung, weil wir uns nicht wiedersehen werden.« Sie packte ihr Tablett in den Ständer an der Tür.

»Mein Alles hängt, mein Leben, mein Geschick an deiner Worte Kraft.« Reggie legte eine Hand auf ihr Herz. »Wie kann ich Euch erweichen, meine Königin?«

»Du bist Schauspielerin?«, fragte Saskia.

»Nein«, erwiderte Reggie. »Aber ich habe schon viele Schauspielerinnen gesehen.«

»Davon bin ich überzeugt.« Saskias Mundwinkel zuckten.

»Ich studiere Theaterwissenschaften«, sagte Reggie. Sie lachte. »Schon eine ganze Weile. Normalerweise müsste ich längst fertig sein, aber wahrscheinlich hänge ich dafür einfach zu viel am Theater rum.«

»Wegen der Schauspielerinnen«, schmunzelte Saskia, während sie nebeneinander einen Gang entlangschlenderten.

»Wegen der Dramaturgie«, behauptete Reggie. »Keuners beispielsweise ist eine brillante Regisseurin.« Sie lächelte. »Sie macht nur nicht die richtigen Stücke für dich.«

»Tja.« Saskia beschrieb mit den Händen eine ratlose Geste. »Nun, da sie mich abgelehnt hat, werde ich wohl nie erfahren, was für eine Regisseurin sie ist.«

»Ich könnte sie dir vorstellen«, schlug Reggie vor. »Ich war letzte Spielzeit ihre Assistentin.«

»Schön für dich«, sagte Saskia. »Aber deshalb wird sie mich auch nicht besetzen.«

»Es ist immer gut, einen Fuß in der Tür zu haben. Und Kontakte sind in der Theaterwelt alles.« Reggie blickte zu Saskia herunter. »Am Samstag gibt es einen inoffiziellen Empfang hinter der Bühne, weil die Autorin des Stückes kommt. Ich könnte dich mitnehmen.«

»Statt Kaffee oder Abendessen?«, fragte Saskia amüsiert. »So sparst du die Kosten, hm?«

Reggies Mundwinkel verzogen sich zu einem charmanten Lächeln mit zwei fast unwiderstehlichen Grübchen auf den Wangen. »Ich bin eine arme Studentin.«

Saskia musste zugeben, dass Reggie anziehend auf sie wirkte. Sie war groß und dunkel, während Saskia zierlich und blond war. Sie hatte schon immer für das Gegensätzliche geschwärmt. »Reizen würde es mich schon«, sagte sie.

»Dann komm einfach zum Bühneneingang. Ich hole dich dort ab.« Reggie zog ihr Handy heraus. »Ich schicke dir gerade meine Nummer. Wie ist deine? Falls etwas ist.«

Da ist auf jeden Fall etwas, dachte Saskia. Sie überlegte kurz, aber dann gab sie Reggie ihre Handynummer. Wie blöd bist du eigentlich? dachte sie noch. Du kennst sie doch überhaupt nicht.

»Da hast du also so ganz nebenbei eine Eroberung gemacht«, grinste Dennis. Er fläzte lässig auf dem Sofa, während Saskia sich einen Saft aus dem Kühlschrank nahm.

»Quatsch«, sagte sie. »Ich wette, die ist hinter allem her, was zwei Beine hat und sich Schauspielerin nennt.«

»Passt doch auf dich«, sagte er.

»Du . . .!« Sie hätte fast das Glas nach ihm geworfen. »Ich nenne mich nicht nur so, ich bin eine.«

»Weiß ich doch.« Er grinste wieder. »Aber ich finde, du könntest jetzt langsam mal deine Nonnentracht ablegen. Wie lange hast du seit Jennifer nichts mehr zwischen den Beinen gehabt außer deinem Vibrator?«

»Woher willst du das wissen?« Saskia gab sich locker. Sie kannte Dennis zu lange, um sich über ihn aufzuregen. »Du bist doch ständig auf Tour. Ich muss dir ja nicht alles erzählen.«

»Ich kenne meine Schwester«, behauptete er. »Ich hätte es dir angesehen.«

»Soso.« Saskia schmunzelte. »Was du dir alles einbildest.«

»Nun komm schon.« Er stützte sich auf den Ellbogen. »Hast du wirklich keine Lust, sie flachzulegen?«

Saskia lachte auf. »Das wäre glaube ich gar nicht so einfach. Sie ist ziemlich groß.«

»Also hast du Lust«, bemerkte er zufrieden.

Mit ihrem Glas in der Hand schob sie seine Beine weg und setzte sich auf die Couch. »Ich weiß nicht«, sagte sie. »Es geht nicht nur um Sex. Dagegen hätte sie sicher nichts.«

»Die große Liebe!« Er hob theatralisch die Arme. »Hast du davon nicht langsam mal genug? Was ist gegen ein bisschen Sex zu sagen und keine Verpflichtungen? Genieß es doch einfach.«

»Für dich ist das alles so einfach.« Sie runzelte die Stirn. »Du machst dir keine Gedanken, wenn du hinter der Bühne ein Groupie vernaschst. Dann geht es ab in die nächste Stadt, das nächste Konzert, und ihr seht euch nie wieder.«

»Vielleicht gehst du irgendwann auch mal auf Tournee«, grinste er. »Dann wirst du das zu schätzen wissen.« Er zuckte die Schultern. »Das Musikbusiness ist nun mal so. Gerade, wenn man das halbe Jahr auf Tour ist, wären feste Bindungen nur lästig.«

Saskia verzog das Gesicht. »Ich hätte Gitarristin werden sollen. Du machst es dir wirklich leicht.«

»Die Mädels stehen auf Gitarristen.« Dennis grinste. »Kann ich doch nichts für.« Er richtete sich auf und legte eine Hand auf den Arm seiner Schwester. »Sie steht auf Schauspielerinnen. Na und? Was macht das schon? Sieht sie gut aus? Ist sie gut im Bett? Dann nimm sie dir. Ist ja nicht so, dass sie nicht will.«

Mit einem letzten Schluck leerte Saskia ihr Glas und stand auf. »Du bist ein Quell der Weisheit, großer Bruder.«

»Erfahrung.« Er streckte die Arme über den Kopf. »Frauen sind keine Wissenschaft. Auch wenn du eine daraus machst. Vielleicht weil du selbst eine Frau bist. Aber letztendlich geht es doch immer nur um das Eine.«

2. Kapitel

   Stephanie und Céline   

Als Stephanie später am Tag ihre Wohnung betrat, empfing sie ein berauschender Duft, den sie überall erkannt hätte. »Céline, Schatz«, rief sie. »Du bist schon da?«

»Ja«, hörte sie Célines Stimme etwas entfernt. »Ich hatte doch gesagt, dass ich komme.«

»Hattest du, aber ich dachte –« Stephanie blieb mitten im Satz stecken. Sie war dem Klang von Célines Stimme gefolgt und stand nun in der Schlafzimmertür. Ihr blieb die Luft weg.

»Ich war einkaufen«, sagte Céline harmlos, »und da lief mir das über den Weg.«

Mit einer gewaltigen Anstrengung holte Stephanie sich ihren Atem wieder in die Lungen zurück. Es keuchte beängstigend.

»Hast du irgendwelche Probleme?«, fragte Céline neckend. »Kann ich etwas für dich tun?«

Langsam fing Stephanie an zu grinsen. »Ich glaube schon«, sagte sie. Sie betrachtete Céline, die in diesem Nichts von einem Negligé auf ihrem Bett lag. »Aber ich würde das Ding vorher ausziehen. Es könnte leiden.«

Céline drehte sich leicht um, so dass sie mehr auf dem Rücken lag. Ihre Beine öffneten sich nur ein wenig, aber es traf Stephanie wie ein Schlag. »Willst du mir nicht dabei helfen?«

Stephanie hatte das Gefühl, ihr Herz würde gleich irgendwo an der Decke landen, weil sie es nicht mehr in ihrer Brust halten konnte, so sehr raste es.

»Es tut mir leid«, sagte Céline, »dass ich heute morgen so schnell gehen musste. Ich dachte, du hast eine Entschädigung verdient.«

»Wie aufmerksam von dir.« Stephanie lächelte, trat auf das Bett zu, beugte sich über Céline und küsste sie. Der Kuss schmeckte süß wie Manna vom Himmel, und sie hätte ihn am liebsten gar nicht enden lassen, aber sie riss sich noch einmal los, um Céline zärtlich anzuschauen. »Ich wusste, dass ich mit einer Psychologin nichts falschmachen kann.«

»Ich hoffe, das wirst du danach immer noch denken«, hauchte Céline, legte ihre Arme um Stephanies Hals und zog sie zu sich herunter. »Du weißt, ich mache das noch nicht lange.«

»Dafür bist du aber schon ziemlich gut«, zog Stephanie sie auf, während ihre Hand bereits unter das Negligé glitt und ihr Atem sich beschleunigte. »Du bist ein Naturtalent.«

»Ich habe den ganzen Tag an dich gedacht.« Célines Lippen wanderten über Stephanies Hals. »Ich konnte mich gar nicht richtig auf meine Patientinnen konzentrieren.«

»Ging mir genauso«, flüsterte Stephanie zurück. »Ich glaube, der Quellcode, den ich heute geschrieben habe, ist unbrauchbar.« Ihr Hals kribbelte, wo immer Céline ihn mit ihren Lippen berührt hatte, und auch darüber hinaus. »Mmhm«, murmelte sie hingerissen, wandte ihren Kopf und begann nun ihrerseits mit ihren Lippen Célines Hals zu liebkosen, glitt hinunter zu der verführerischen Kuhle auf der Schulter, dann weiter nach vorn zu Célines Dekolleté, das vom hauchzarten Stoff des Negligés begrenzt wurde. »Du bist so unglaublich süß. Wie das süßeste Dessert, das man sich nur vorstellen kann.«

Céline lachte leise. »Dann hoffe ich, dass du nicht auf die Kalorien achtest.«

»Kalorien?« Stephanie hob den Kopf. »Bei all dem, was wir mit unseren . . . hm . . . Aktivitäten verbrauchen? Da bleibt wohl kaum was übrig.« Sie bemerkte, wie eine leichte Röte Célines Dekolleté überzog. »Du wirst rot?« Sie schaute in Célines Gesicht. »Ist dir das peinlich?«

Céline lächelte verlegen. »Es ist dir vielleicht nicht klar, aber ich bin . . . war eine brave Ehefrau. Viele Leute haben wesentlich mehr Erfahrung in diesen Dingen als ich. Ich hatte vor dir nur zwei verschiedene Partner. Für die letzten fünfzehn Jahre immer denselben.«

»Deinen Mann«, sagte Stephanie. Ein wenig dämpfte das ihre Erregung. Sie dachte nicht gern daran, dass Céline verheiratet war.

»Tut mir leid«, sagte Céline. »Ich hätte das nicht erwähnen sollen.«

»Ist schon gut.« Stephanie glitt von ihr herunter neben sie aufs Bett. »Es ist eben, wie es ist. Das habe ich ja gewusst.«

»Du musst nicht mehr daran denken.« Céline beugte sich über sie. Ihre Augen leuchteten warm. »Jetzt gibt es nur noch uns. Dich und mich.« Ihre Lippen verzogen sich zu einem leichten Schmunzeln. »Besonders in diesem Moment.« Sie küsste Stephanie sanft und liebevoll. »Darüber bin ich sehr, sehr froh.«

Mit einem unsicheren Lächeln sah Stephanie sie an. »Wirklich?«

Statt einer Antwort küsste Céline sie erneut. »Glaubst du es nicht?« Sie lächelte zärtlich, aber auch ein wenig neckend. »Ich weiß ja nicht, was du von mir hältst, aber so küsse ich ganz sicher nicht jeden.«

»Ich halte große Stücke auf dich.« Nun lächelte Stephanie zuversichtlicher. »Aber wir kennen uns noch nicht so lange, deshalb –«

»Deshalb«, setzte Céline fort, »ist es ganz wichtig, dass wir uns besser kennenlernen.« Sie schob sich auf Stephanie. »In jeder Beziehung.« Forschend schaute sie auf Stephanie hinunter. »Ich liebe dich«, sagte sie ernst. »Das nehme ich nicht zurück. Da brauchst du keine Angst zu haben. Wenn ich es nicht gemeint hätte, hätte ich es gar nicht erst gesagt.«

Stephanie versuchte es zu verhindern, aber Céline bemerkte das erleichterte Ausatmen doch. »Ich weiß, ich bin dumm«, sie schluckte, »aber ich . . . liebe dich so, ich möchte nicht, dass irgendetwas passiert.«

»Es wird nichts passieren.« Céline strich ihr sanft eine Haarsträhne aus der Stirn. »Wenn, dann ist es schon passiert. Du bist das Beste, was mir passieren konnte.« Sie hauchte einen Kuss auf Stephanies Lippen, der wie die Berührung eines Engels war. »Glaub mir, so leicht wirst du mich nicht los.«

Stephanie atmete tief durch, legte ihre Arme um Céline und zog sie noch näher an sich. »Ich wünschte, wir würden uns nie mehr trennen, nicht mal für eine Minute.«

Céline lachte leise. »Und wovon sollen wir dann leben? Ich fürchte, arbeiten gehen müssen wir schon.«

»Ja, leider.« Stephanie seufzte. Dann runzelte sie die Stirn. »Apropos Arbeit. Behandelst du eigentlich auch Jugendliche?«, fragte sie plötzlich.

»Wie kommst du denn jetzt darauf?« Céline hob erstaunt den Kopf.

»Heute . . . im Sappho . . . das war ein bisschen komisch.« Stephanie grinste schelmisch. »Weil du mich heute morgen so früh geweckt hast und ich nicht mehr einschlafen konnte, bin ich zu Melly gegangen.«

»Das fängt ja gut an«, scherzte Céline. »Wenn ich nicht da bin, gehst du gleich zu einer anderen Frau?«

»Melly ist in festen Händen«, erwiderte Stephanie im selben scherzhaften Ton. »Früher wäre es vielleicht anders gewesen, aber jetzt – Na, jedenfalls, da kam dieses junge Mädchen herein, fast noch ein Kind, ein Teenager. Sie ist Mellys Nichte oder so was. Und sie sah nicht gut aus.«

»Inwiefern?«, fragte Céline.

»Sie war kaum ansprechbar.« Wieder bildeten sich nachdenkliche Falten auf Stephanies Stirn. »Sie wollte nichts essen, hat praktisch nichts gesagt. Ich hatte das Gefühl, sie steht total neben sich.«

»Kommt bei Teenagern öfter vor«, bemerkte Céline mit professionellem Gesichtsausdruck. »Das ist nichts Besonderes.«

»Vielleicht nicht.« Stephanie zuckte die Schultern. »Ich bin ja keine Psychologin. Du hättest wahrscheinlich mehr aus ihrem Verhalten schließen können.«

»Hatte sie Verletzungen?«, fragte Céline. »Eventuell Schnittwunden an den Armen?«

Stephanie schüttelte langsam den Kopf. »Habe ich nicht gesehen. Ihre Jacke verdeckte sogar noch halb ihre Hände.« Sie blickte an die Decke. »Wie gesagt, war nur so ein Gefühl. Melly hat sie dann nach oben gebracht, damit sie sich erst einmal ausschläft.«

»Das war eine gute Idee.« Céline nickte. »Wenn sie aufwacht, geht es ihr bestimmt besser.«

»Das hoffe ich«, sagte Stephanie. »Ich hatte ja als Teenager auch so meine Probleme – wir alle wahrscheinlich –, aber so, wie sie aussah . . . so habe ich mich nie gefühlt.«

»Meine Teenagerzeit war auch nicht gerade rosig«, stimmte Céline zu. »Mein Vater –« Sie brach ab. »Aber ich glaube, wir waren bei etwas anderem stehengeblieben. Ich kann mich gar nicht mehr so richtig erinnern, was das war . . .« Sie machte ein Gesicht, als würde sie angestrengt nachdenken.

Mit einem liebevollen Lachen drehte Stephanie sie um, so dass Céline wieder unter ihr lag. »Vielleicht kann ich deine Erinnerung auffrischen . . .« Sie küsste Céline sehr innig. »War es das?«

»Ich weiß nicht genau«, sagte Céline und runzelte die Stirn. »Kannst du das noch mal machen? Damit ich sicher bin?«

Stephanie lachte. »Ich liebe dich.« Sie beugte sich erneut hinunter, und diesmal war der Kuss nicht nur innig, sondern begann leidenschaftlich zu werden. Als sie sich von Célines Mund löste, glänzten ihre Augen. »War das besser?«

»Das war sehr gut«, bestätigte Céline ernst, als ob sie eine Lehrerin wäre, die eine Schülerin prüft. »Aber ich glaube, wir müssen das noch sehr, sehr viel üben.« Sie öffnete ihre Schenkel unter Stephanie und ließ sie dazwischensinken. »Die ganze Nacht.« Auf einmal war ihre Stimme nur noch ein Hauch, und das Glänzen in ihren Augen stand dem in denen von Stephanie in nichts nach.

Stephanies Stimme klang rau. »Ich glaube, die Zeit haben wir.« Diesmal war ihr Kuss nur die Einleitung dazu, dass sie an Céline hinabglitt.

Céline stöhnte auf und wand sich unter ihr. »Ich brauche dich«, flüsterte sie atemlos. »Ich brauche dich so sehr.«

Stephanie antwortete nicht mehr.

Sie war an ihrem Ziel angekommen, und nun waren es andere Lippen, die sie küsste.

9. Kapitel

   Protokoll   

Julia ging zur Kaffeemaschine, die in ihrem Büro auf der Fensterbank stand. Sie schaute für einen Moment hinaus auf die Straße. Kein besonders tolles Wetter. Es nieselte die ganze Zeit, und das Kopfsteinpflaster glänzte in einem dunklen Grau.

Sie legte eine Kapsel für Latte Macchiato in den Kapselhalter, schloss ihn und drückte auf einen Knopf. Während der Kaffee durchlief, schweifte ihr Blick ziellos über die Straße, die umstehenden Gebäude.

Plötzlich erstarrte sie. Ihre Augen schienen sich an einer Stelle zu verhaken, als wären sie auf einen Schlag eingefroren und könnten sich nicht mehr bewegen. Sie begann heftig zu atmen. Eine hektische Röte stieg ihren Hals hinauf.

Abrupt drehte sie sich um und rannte auf die Toilette. Dort schaffte sie es gerade noch bis zum Waschbecken, um sich daran festzuhalten. Sie keuchte, und die Knöchel, die sich um den Keramikrand krampften, traten weiß hervor, während sie gleichzeitig zitterten.

Sie hob den Kopf und schaute in den Spiegel. Verzweiflung stand ihr ins Gesicht geschrieben. Endlich ließ sie das Waschbecken los, drehte den Wasserhahn auf und schöpfte sich das Wasser ins Gesicht. Sie schnappte nach Luft, weil sie dazwischen kaum mehr atmen konnte.

Nach einer Weile zog sie ein Papierhandtuch aus dem Spender und tupfte sich die Tropfen ab, die sich noch nicht bis in ihre Bluse verirrt hatten. Sie atmete gewaltsam durch, versuchte immer tiefere und längere Atemzüge, bis sie fast normal waren und ihr Herz nicht mehr so raste.

Dann lehnte sie sich gegen die Wand und starrte in die Luft. »Nein«, flüsterte sie. »Nein.«

Es dauerte eine ganze Weile, bis sie sich gefasst hatte. Sie schaute erneut in den Spiegel, ging ins Büro zurück, holte ihre Kosmetiktasche, schminkte sich dann im Waschraum der Toilette, so dass nichts mehr von den Ereignissen zu sehen war.

Als sie endgültig an ihren Arbeitsplatz zurückkehrte, warf sie einen Blick auf die Kaffeemaschine. Mittlerweile war die hellbraune Flüssigkeit in dem Glas, das sie unter den Auslauf gestellt hatte, sicherlich kalt. Sie zögerte. Dann jedoch straffte sie ihre Schultern, ging hinüber und goss den Kaffee in den Auffangbehälter. Sie versuchte den Blick nach draußen zu vermeiden, aber irgendwie verirrte er sich doch, und sie sah, dass die Straße leer war.

Erleichtert atmete sie aus, legte eine neue Kapsel ein und bereitete sich einen heiß dampfenden Kaffee zu.

»Frau Schewski?« Ihr Chef öffnete die Tür. »Ich habe Sie schon gesucht.«

Julia zuckte zusammen. »Ja, ich war . . .« Sie machte eine vage Handbewegung.

»Schon gut«, sagte er. »Können Sie bitte mal kommen? Ich muss etwas mit Ihnen besprechen.«

»Natürlich. Sofort.« Sie warf noch einen Blick auf das mittlerweile volle Kaffeeglas. Der würde wohl auch kalt werden.

Julia arbeitete als Justizfachangestellte bei Gericht und musste für eine Sitzung des Amtsgerichts die Protokollführung übernehmen, wir ihr Chef ihr mitteilte. Bei einer solchen Sitzung hatte sie auch Sam kennengelernt, die als Polizistin als Zeugin in einem Fall aussagte.

Sofort war Julia diese große, etwas herbe Frau aufgefallen. Sie strahlte Selbstbewusstsein aus, Sicherheit, und in ihrer Zeugenaussage hielt sie sich kompetent an die Tatsachen, ohne auch nur einmal abzuschweifen. Sie wirkte konzentriert und so fokussiert, als ob sie noch nicht einmal mit der Wimper zucken würde, wenn eine Bombe neben ihr einschlug.

Obwohl Julia Protokoll führen musste, war ihr Blick immer wieder von ihrem Laptopbildschirm zu dieser strengen Polizistin abgeschweift, die nicht ein einziges Mal lächelte.

Sie hatte sich gewünscht, dass sie einmal zu ihr herüberschauen würde, aber das tat sie nicht. Sie beantwortete alle Fragen des Staatsanwalts und der Rechtsanwältin knapp, aber genau und sah nur diese beiden an. Als ihre Zeugenaussage beendet war, verließ sie den Gerichtssaal, ohne auch nur einmal zurückzuschauen.

Julias Blick war ihr gefolgt, bis die Tür sich hinter ihr schloss. Fast hätte sie geseufzt.

Als die Sitzung beendet war, ging sie hinaus, hinüber ins Justizzentrum, wo sie das Protokoll endgültig fertigstellen, ausdrucken und ablegen musste. Sie saß gerade an ihrem Computer, als sich die Tür öffnete.

Als sie zum Eingang blickte, fiel sie fast in Ohnmacht.

»Dies ist doch die Stelle, wo Bürgerinnen und Bürger Auskunft erhalten, nicht wahr?«, fragte Sam ohne den Anflug eines Lächelns.

Julia versuchte unauffällig zu schlucken, wusste aber nicht, ob es ihr gelungen war. »Ja«, sagte sie. »Was für eine Auskunft hätten Sie denn gern, Kommissarin Murrhardt?« Da sie Protokoll geführt hatte, wusste sie natürlich genau, wie Sam hieß, ohne sie je vorher getroffen zu haben.

»Würden Sie vielleicht heute Abend mit mir ausgehen?«, fragte Sam, immer noch ernst.

Julia saß wie festgenagelt auf ihrem Stuhl und war sprachlos. Sie spürte, wie ihr Körper reagierte, wie sie am liebsten in Sams Arme gesprungen wäre. Mit einer fast übermenschlichen Anstrengung bekam sie sich wieder in den Griff. »Das ist ein bisschen kurzfristig«, antwortete sie, um eine möglichst kühle Fassade bemüht.

»Okay.« Sam zog ihren Kopf aus der Tür und machte sie von außen hinter sich zu.

Erneut war Julia fassungslos. Sie sprang hoch und riss die Tür auf.

Draußen stand Sam, und diesmal lächelte sie. »Ich wusste, dass du kommst«, sagte sie.

Überrumpelt stammelte Julia: »Ich muss nur . . . mal schnell . . .«, sie wies den Gang hinunter, »dahinten in das Büro.«

»Sicher«, sagte Sam. »Ich warte hier auf dich.«

Julias Mundwinkel zuckten. Sie lehnte sich rückwärts gegen den Türrahmen. »Gut, du hast gewonnen. Aber denk nur nicht, dass es immer so leicht mit mir ist. Wir können ein Bier zusammen trinken, mehr nicht.«

Sams Lächeln ließ ihr herbes Gesicht auf einmal weich erscheinen. »Das ist mehr als ich gehofft habe.«

Julia musste lächeln, als sie an dieses Gesicht dachte, dass sie so sehr liebte. Sam war ein wunderbarer Mensch, freundlich, liebevoll, zuverlässig. Und sie wusste immer, was zu tun war. Nur selten hatte sie Zweifel. Julia fühlte sich sicher und geborgen bei ihr, in ihren starken Armen kam sie sich vor wie in einem uneinnehmbaren Zufluchtsort.

Sie nahm ihre Robe vom Haken der Garderobe und warf sie über. Ebenso wie Richter und Anwälte musste sie sie im Gericht tragen, wenn sie neben dem Richter saß, um Protokoll zu führen.

Während sie weiterhin zärtlich an Sam dachte, ging sie hinüber zum Sitzungssaal.

»Ich fand dich schon immer geil in dem Ding, vor allem, wenn du nichts darunter anhast.«

Julia zuckte zusammen, fühlte wieder die Panik in sich aufsteigen, zwang sich aber weiterzugehen.

Bliss passte sich ihrem Schritt an. Sie schaute von ihrer beeindruckenden Größe auf Julia hinunter, während sie neben ihr herschlenderte. »Nicht sehr gesprächig heute?«

»Ich arbeite«, entgegnete Julia kühl.

»Ja, sicher, sonst hättest du ja auch nicht die Robe an«, grinste Bliss. »Kann ich zugucken?«

»Die Sitzung ist nicht öffentlich«, wies Julia sie zurück.

»Ach?« Bliss hob die Augenbrauen. »Wieso das denn nicht? Normalerweise sind doch alle Gerichtsverhandlungen öffentlich.«

Julia antwortete nicht.

Bliss grinste noch mehr. »Natürlich ist sie öffentlich.«

»Ja.« Julia blieb stehen und schaute zu Bliss hoch. »Aber ich möchte nicht, dass du daran teilnimmst.«

»Ich habe dich ewig nicht gesehen«, sagte Bliss, »und da willst du mir deinen Anblick selbst im Gerichtssaal verwehren? Hast du Angst vor mir?«

Julia schloss kurz die Augen und presste den Laptop, den sie in ihren Armen trug, gegen ihre Brust. »Was willst du, Bliss?«

»Mit dir reden«, sagte Bliss. »Nur mit dir reden.«

»Du hättest mit mir reden können. Die ganzen Jahre«, gab Julia bitter zurück. »Du hast nicht ein Mal angerufen.«

Bliss’ Augen wanderten über Julias Gesicht. »Du siehst so schön aus, wenn du wütend bist.«

»Hör auf!« Julia setzte mit entschlossenem Schritt ihren Weg fort.

Selbstverständlich hatte Bliss keinerlei Mühe, ihr mit ihren langen Beinen zu folgen. »Wie ist sie, deine Frau?«, fragte sie beiläufig. »Behandelt sie dich gut?«

Julia lachte trocken auf. »Jede Frau würde mich besser behandeln als du.«

Für einen Moment blieb Bliss stumm. Dann sagte sie: »Das stimmt wohl, aber ich –«

»– konnte nicht anders«, setzte Julia sarkastisch fort. »Das sagtest du schon mal.« Sie wandte ihren Kopf zu Bliss, ohne ihren Schritt zu verlangsamen. »Du kannst nicht einfach zurückkommen und so tun, als wäre nichts gewesen. Dich nicht zu melden, kein Zeichen von dir zu geben. Du hättest tot sein können, und ich hätte es nicht gewusst.«

Bliss verzog die Lippen. »Dachtest du, ich wäre tot?«

»Nein.« Julia schüttelte den Kopf. »Das wäre zu viel Glück gewesen.«

Es schien, als ob Bliss tatsächlich etwas getroffen wäre. Sie hob entschuldigend eine Hand. »Ich kann nicht mehr sagen, als dass es mir leid tut.«

»Erstens«, Julia blieb erneut stehen, und ihre Augen funkelten Bliss an, »glaube ich das nicht, und zweitens ist das auch völlig egal. Es ist so einfach, tut mir leid zu sagen, aber es ändert nichts.« Sie legte ihre Hand auf die Klinke der Tür des Sitzungssaals. »Ich möchte nicht, dass du mit hineinkommst. Bitte.«

Sie drückte die Klinke herunter und betrat den Saal. Innerlich hatte sie erwartet, dass Bliss ihr folgen würde, aber als sie sich auf die Richterbank setzte und zum Eingang schaute, sah sie niemanden.

Einmal in ihrem Leben hatte Bliss sich an ihre Wünsche gehalten.

5. Kapitel

   Tanz um das Goldene Kalb   

Wie immer war es im Sappho voll, wenn Tanzen angesagt war. Heute spielte eine Liveband, und die Frauen wiegten sich auf der Tanzfläche, dicht an dicht.