Karl Heinz Brisch

Safe.eps

Sichere Ausbildung für Eltern

Sichere Bindung zwischen Eltern und Kind

Für Schwangerschaft und erste Lebensjahre

Klett-Cotta

Impressum

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„SAFE“ ein internationaler Erfolg:

Italienische Ausgabe: Giovanni Fioriti 2012

Russische Ausgabe: Terevinf 2014

Slowakische Ausgabe: Vydavatelstvo F 2011

Tschechische Ausgabe: Portál 2012

Türkische Ausgabe: Zahrad Yayinlari / imprint of Zula Medya Yayincilik 2018

Klett-Cotta

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SAFE – Sichere Ausbildung für Eltern ® ist eine eingetragene Marke.

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Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Printausgabe: ISBN 978-3-608-94601-7

E-Book: ISBN 978-3-608-10107-2

Dieses E-Book entspricht der aktuellen Auflage der Printausgabe

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Vorwort

Einleitung

Die Entwicklung einer sicheren Eltern-Kind-Bindung

Lebenswichtige Bedürfnisse eines Säuglings und Kleinkindes

Die sichere Bindung – das stabile Fundament der Persönlichkeit

Bindung fürs Überleben • Bindungsbedürfnis bei Angst und Trennung • Verschiedene Bindungspersonen • Hierarchie der Bindungspersonen: die »Bindungspyramide« • Bindung und Welterkundung • Bindung vor Bildung • Die grundlegenden Voraussetzungen zur Entwicklung einer sicheren Bindung • Die unterschiedlichen Arten der Bindung • Die Weitergabe der Bindungsmuster • Die Vorteile einer sicheren Bindung • Nachteile einer unsicheren Bindung • Wenn die Bindung nicht gelingt

Schwangerschaft und Bindung

Phasen der Schwangerschaft • Die Entwicklung des Kindes in der Gebärmutter • Die vorgeburtliche Diagnostik • Die Bedeutung von Idealen • Veränderungen bei den werdenden Eltern während der Schwangerschaft • Wir zu dritt • Entspannungsmöglichkeiten

Der Säugling und seine Eltern

Wache Aufmerksamkeit und Spiel • Die Ammensprache • Das gemeinsame Spiel • Weinen – die Überlebensgarantie • Beruhigung des Babys • Angemessene Anregung und Stimulation • Rhythmus zwischen Beständigkeit und häufiger Veränderung • Füttern • Schlafen und nächtliche Trennung • Gewöhnung an die Trennung zum Einschlafen • Die Schlafsituation des Babys • »Wetterkarte« • Das Baby stellt sich vor • Glückliche Momente • »Unglückliche« Momente • Das Gefühl, eine Mutter zu sein • Das Gefühl, ein Vater zu sein • Müttergruppen und Vätergruppen • Die Klein- und die Großfamilie • Aufnahme der Familie in weitere Gruppen

Eltern und ihr Baby – Idealvorstellungen und reale Probleme

Bindungsentwicklung des Kindes im ersten Lebensjahr • Babys »triggern« Eltern • Wiederholungen der Geistergeschichten aus der eigenen Kindheit • Verarbeitung des Geburtserlebens • Das reale Baby und die realen Eltern

Partnerschaft

Partnerschaft vor der Geburt • Partnerschaft nach der Geburt

Fremdbetreuung des Babys und die Bedeutung von Trennungen

Fremdbetreuung • Babysitter • Tagesmutter • Krippe • Au-pair • Trennungen

Der »Sicherheitskreis« und Hilfe für Kinder mit Bindungsproblemen

Der vollständige Sicherheitskreis bei bindungssicheren Kindern • Begrenzter Sicherheitskreis • Bindungsunsicherheit entgegenwirken • Probleme mit Trennung, Wut, Schreien, Schlafen und Füttern

Der SAFE®-Kurs zur Förderung einer sicheren Eltern-Kind-Bindung

Zielgruppe • Inhalte des Programms SAFE® • SAFE®-Mentorenausbildung • Forschung zum Programm SAFE® • SAFE®-Spezialprogramme • Zusammenfassung

Weiterführende Literatur

Danksagung

Über den Autor

Vorwort

Statt eines Vorwortes möchte ich Ihnen eine Anekdote erzählen. Diese soll verdeutlichen, warum es höchste Zeit wird, dass Eltern eine Hilfestellung bekommen, um die grundlegenden Bedürfnisse ihres Babys verstehen und so darauf antworten zu können, dass sich ihr Kind gesund entwickeln wird: Eine sichere Bindungsentwicklung und das damit verbundene Urvertrauen wirken wie ein großer Schatz auf seiner anstehenden Weltreise.

Als meine eigenen drei Kinder in die Pubertät kamen, entschieden wir uns in der Familie – nach vielen Diskussionen über die Vor- und Nachteile – für einen Hund. Es sollte ein bindungsorientierter Hund sein, also kam nur ein Hütehund in Frage. Schließlich waren wir alle sehr aufgeregt, als wir Mira, eine Australian Shepherd-Hündin, erstmals bei uns zu Hause hatten. Obwohl uns die Züchterin eine Menge an guten und ganz wichtigen Ratschlägen für die erste Zeit mitgegeben hatte, waren wir alle so begeistert, dass jeder vor lauter Glück so ziemlich alles mit dem kleinen Welpen machte, was ihm und dem Tier Freude bereitete. Als meine Frau und ich zum ersten Mal ganz stolz mit unserem Welpen spazieren gingen, trafen wir viele andere Hundebesitzer mit ihren Hunden. Wir wurden freundlich und mit Neugier in die Gemeinschaft der Hundebesitzer aufgenommen und mussten viele Fragen zur Rasse beantworten. Schließlich wurden wir mit der Frage konfrontiert, in welche Hundeschule wir mit unserem Welpen gehen wollten. Meine Frau und ich schauten uns etwas verlegen an, weil wir uns darüber noch keine Gedanken gemacht hatten. Kritisch wurden wir von den anderen Hundebesitzern darauf aufmerksam gemacht, dass der Besuch einer Hundeschule für die Erziehung des Welpen absolut notwendig sei. Man könne – nur aufgrund fehlenden Wissens – bei einem Welpen so viel verkehrt machen, dass man später zeitlebens mit einem Hund zu kämpfen habe, der sich nur wegen falscher Erziehung und Verhaltensweisen seiner Besitzer alle möglichen Macken angeeignet habe; diese könne man womöglich nie mehr verändern. Meine Frau und ich waren sehr betroffen und dachten daran, dass uns bei unseren ersten Spaziergängen mit unserem ersten Baby niemand gefragt hatte, in welche Eltern-Baby-Schule wir gingen.

Wir lernten schließlich in der Hundeschule, die wir mit der ganzen Familie jeden Sonntag regelmäßig besuchten, eine ganze Menge über die Signale unseres Hundes, die richtigen Antworten und Verhaltensweisen und über Hunde und ihre grundlegenden Bedürfnisse allgemein. Wir waren hierfür sehr dankbar, denn diese Anleitungen erleichterten uns den Umgang mit unserem Welpen sehr und gaben uns auch Sicherheit, denn wir konnten in der Schule jederzeit auch Fragen stellen und fühlten uns sehr gut begleitet.

Im Nachhinein fragten sich meine Frau und ich, warum wir vor der Geburt und während der ersten Lebensjahre unseres ersten Kindes nicht auch eine solche Schulung erhalten hatten – sie hätte uns, rückblickend, sehr geholfen, manches mit unserem ersten Baby nicht per »Versuch und Irrtum« auszuprobieren und schließlich zu Antworten zu kommen, von denen wir damals nicht wussten, ob sie wirklich entwicklungsfördernd für unser Kind sein würden.

Babys sind keine Welpen, dennoch wird von Eltern ganz ähnlich erwartet – und es ist noch wichtiger –, dass sie etwa lernen, die Signale ihres Kindes richtig zu deuten und die angemessenen Antworten hierauf zu wissen, und dass sie die lebenswichtigen Entwicklungsbedürfnisse eines Babys kennen und verwirklichen. Hierzu gehört ganz grundlegend das Bedürfnis des Babys nach einer sicheren Bindung. Wie diese entsteht, wie Eltern diese gezielt fördern können und wie sie auf diesem Hintergrund Signale des Babys, etwa sein Weinen, verstehen und beantworten, davon berichte ich in diesem Buch.

Einleitung

Für viele Eltern ist es eine sehr aufregende Erfahrung, wenn sie ihr erstes Baby erwarten oder es nach der Geburt dann erstmals in ihren eigenen Händen halten können. Da Babys nicht mit einer Gebrauchsanweisung nach neun Monaten nach Hause geliefert werden, schon gar nicht mit einer individuellen Anweisung, wie gerade dieses spezifische Baby zu pflegen wäre, ist es nicht verwunderlich, dass viele Eltern sehr verunsichert sind. Sie probieren, sich mit eigenen Ideen, aber auch mit Wissen und Ratschlägen von allen möglichen Seiten, einschließlich Büchern, letztlich aber über »Versuch und Irrtum« mit ihrem ersten Baby durchzuschlagen. Dabei hoffen sie, dass das Baby mit den unterschiedlichen, manchmal einander widersprechenden Verhaltensweisen der Eltern, etwa auch noch der Großeltern, Babysitter und Tagesmütter oder Krippenerzieherinnen, schon irgendwie zurechtkommen und sich trotzdem gesund entwickeln werde.

Für die meisten Eltern ist das Baby, das sie auf dem Arm halten, das Kostbarste und Wertvollste, was sie je in Empfang nehmen durften. Sie sind glücklich und dankbar und wollen nur das Allerbeste für ihr Kind und seine Entwicklung. Aber was ist eine gute Grundlage für eine glückliche Entwicklung des Säuglings? Was sollten Eltern ihrem Kind unbedingt mit auf den Weg geben? Wodurch könnte seine Persönlichkeit schon sehr früh Schaden leiden? Wie kann man sich ihm gegenüber feinfühlig verhalten und seine Signale verstehen?

Bei einer kleinen Befragung in der Innenstadt betonen Mütter und Väter mit Säuglingen, dass ein Säugling unbedingt eine gesunde Ernährung, frei von Schadstoffen und Giften, frische Luft und viel Bewegung und, für eine frühzeitige Bildung des Gehirns, anregendes Spielzeug brauche. Eine Mutter sagt einfach nur, dass ihr Kind »viel Liebe« erfahren soll. Mit dem Wunsch der Mutter, ihr Kind solle möglichst umfassend und bedingungslos geliebt werden, sind wir schon ganz nah an dem grundlegenden Bedürfnis des Säuglings nach einer sicheren Bindung an seine Eltern. Weil eine sichere Eltern-Kind-Bindung ein so absolut notwendiges und ganz stabiles Fundament für die Persönlichkeit von Kindern ist, entwickelte ich einen speziellen Elternkurs mit dem Namen SAFE®, eine Abkürzung, die für »Sichere Ausbildung für Eltern« steht. Ziel dieses Kurses ist es, den Eltern schon ab Beginn der Schwangerschaft zu helfen, dass sie mit ihrem Kind bis zum Ende des ersten Lebensjahres eine sichere Eltern-Kind-Bindung aufbauen und damit das Fundament für eine gesunde Persönlichkeitsentwicklung ihres Kindes legen können. Die Themen und Probleme, die in diesem Buch dargestellt werden, sind die Inhalte, die im SAFE®-Kurs vermittelt werden.

Im Folgenden werden zunächst in einem sehr umfassenden Teil (die ersten zwei Kapitel) die Grundlagen einer sicheren Bindungsentwicklung beschrieben. Am Ende wird aufgezeigt, wie Störungen der Bindungsentwicklung aussehen, wie ihre Entstehung verstanden werden kann und wie sie behandelt werden können. Anschließend beschreibe ich die Phasen der Bindungsentwicklung in der Schwangerschaft und nach der Geburt sowie die Entwicklung der Eltern-Kind-Beziehung im ersten Lebensjahr. Ich gehe auch besonders auf Schwierigkeiten und bindungsorientierte Lösungen mit dem weinenden Baby, auf Füttern, Schlafen, Trennung und den »Erforschergeist« von kleinen Kindern ein. Ideale Wunschvorstellungen über die ideale Mutter, den idealen Vater und das ideale Baby werden genauso betrachtet wie die realen Probleme der Familienmitglieder. Ich zeige auf, welche Bedeutung eine lebendige Partnerschaft für eine gesunde Entwicklung des Babys hat. Besonders wird auch auf die Möglichkeit der Wiederholung eigener Kindheitserfahrungen mit dem Baby eingegangen und es werden mögliche Hilfestellungen aufgezeigt, wie Teufelskreise, die seit Generationen Familien beherrschen, unterbrochen werden können. Verschiedene Formen der Fremdbetreuung von Babysitter bis Krippe und ihr Einfluss auf die Bindungsentwicklung werden diskutiert.

Der von mir beschriebene »Sicherheitskreis« ermöglicht ein besseres Verstehen der Loslösung und Selbständigkeitsentwicklung des Säuglings. Bindungsorientierte Hilfestellungen für Probleme mit Trennung, Ablösung und Wutanfällen werden aufgezeigt. Abschließend gebe ich einen Überblick über den Aufbau und die Inhalte eines SAFE®-Kurses, der speziell dabei helfen soll, die sichere Bindungsentwicklung zu fördern und Störungen in der kindlichen Entwicklung zu verhindern. Diese Informationen sollen den Eltern helfen, sich für die Teilnahme an einem SAFE®-Kurs zu entscheiden.

Alle Beispiele im Buch – ebenso die Namen – sind frei erfunden, sie beruhen aber auf langjähriger klinischer Erfahrung; sie sollen die theoretischen Ausführungen veranschaulichen.

Dieses Buch sei allen Schwangeren, Müttern und ihren Partnern empfohlen, wenn sie sich auf die Ankunft ihres Babys und die ersten Lebensjahre gut vorbereiten möchten und erfahren wollen, wie sie ihrem Kind durch eine sichere Bindungsentwicklung die grundlegende Erfahrung von Urvertrauen, Sicherheit und Geliebtwerden mit auf seinen Entwicklungsweg geben können. Es kann auch von Eltern, die einen SAFE®-Kurs besuchen, als ein Begleittext zum Kurs gelesen werden. Auch Fachleute unterschiedlicher Berufsgruppen, die mit der Betreuung von Schwangeren, Eltern und Säuglingen beschäftigt sind, können von den Inhalten dieses Buches für ihre Arbeit profitieren.

Karl Heinz Brisch

München, im Januar 2010

Die Entwicklung einer sicheren Eltern-Kind-Bindung

Bindung ist nach John Bowlby, dem Begründer der Bindungstheorie, ein unsichtbares emotionales Band, das zwei Menschen über Raum und Zeit sehr spezifisch miteinander verbindet. Ein Säugling kommt mit der genetisch angeborenen Bereitschaft auf die Welt, sich eine sichere Bindungsperson zu suchen, die ihm Schutz, Pflege und Unterstützung zukommen lässt. Im Laufe des ersten Lebensjahres entwickelt er eine solche spezifische emotionale Bindung an eine sogenannte Hauptbindungsperson. Diese emotionale Bindung sichert das Überleben des Säuglings und kann auch als sein »sicherer emotionaler Hafen« bezeichnet werden.

Wir alle haben hoffentlich solche Bindungsbeziehungen, in denen wir uns mit anderen Menschen über Raum und Zeit verbunden fühlen, obwohl diese gar nicht bei uns in der Nähe sind. Hören wir einen solchen Menschen am Telefon oder lesen einen Brief von ihm, sehen ihn sogar im Videotelefon, so entsteht ein Gefühl von Sehnsucht. Wir wünschen uns den anderen Menschen jetzt ganz in unserer Nähe und würden ihn am liebsten in unsere Arme schließen. Diese Reaktionen sind sehr typisch, wenn unser Bindungsbedürfnis in uns ausgelöst wird oder – wie die Forscher sagen – unser Bindungssystem aktiviert wird. Auch das Heimwehgefühl von Kindern und Erwachsenen kann so gut erklärt werden. Das starke emotionale Band zur Bindungsperson wird durch eine Trennung »gespannt«, der emotionale Schmerz der Trennung ist so groß wie körperlicher Schmerz und mit ihm vergleichbar. Nur kann der seelische Schmerz des Bindungsbedürfnisses kaum durch Schmerzmittel beruhigt werden, sondern in der Regel nur durch die Bindungsperson selbst. Alkohol und Drogen können zwar die Wahrnehmung des Bindungsschmerzes überdecken, aber damit ist das Bedürfnis selbst nicht weg. Wichtig ist, dass diese emotionalen Bindungsbeziehungen spezifisch sind. Dies bedeutet, dass die Bindungsperson nicht durch irgendwelche anderen Personen beliebig zu ersetzen ist.

BEISPIEL Eine erwachsene Frau, Isabel, vermisst ihren geliebten Partner Florian sehr, weil dieser für mehrere Wochen berufsbedingt im Ausland weilt. In ihrem Schmerz weint sie sich bei ihrer besten Freundin aus und jammert, dass sie sich ihren Partner so sehr herbeiwünsche. In einer solchen Situation hilft es in der Regel nicht, wenn die Freundin mit dem Ratschlag kommt, ihre beste Freundin solle sich doch an den Nachbarn nebenan wenden, der sei auch nett und könne sie vielleicht ein wenig über den Verlust hinwegtrösten. Wenn es sich wirklich um eine Bindungsbeziehung handelt, wie wir sie auch in guten Partnerschaften finden, würde die Freundin erschreckt aufschauen, ihre ratgebende Freundin womöglich zurechtweisen und sagen, dass ihre partnerschaftliche Bindungsbeziehung eben spezifisch und daher auch der vermisste Partner nicht so einfach wahllos durch den fremden Nachbarn zu ersetzen sei. Manchmal versuchen wir in solchen Situationen, uns mit anderen Menschen zu trösten, wohl wissend, dass dieser Trost letztendlich doch nicht den vermissten Partner ersetzen kann.

Ähnlich ergeht es schon Säuglingen im ersten Lebensjahr und Kindern: Wenn sie ihre Bindungsperson vermissen, lassen sie sich nicht einfach trösten, indem man sie einer noch so netten, aber fremden Babysitterin in den Arm drückt. Wenn diese Babysitterin keine Bindungsperson ist, werden die Kinder erbost den Kontakt ablehnen, ärgerlich werden und auch ohne Worte durch ihre Körpersignale deutlich machen, dass sie eine spezifische Bindungsbeziehung zu ihren Eltern, etwa der Mutter oder dem Vater, haben und dass diese nicht durch eine beliebige, fremde Babysitterin zu ersetzen seien. Dies ist auch dann der Fall, wenn die Babysitterin hochqualifiziert und pädagogisch ausgebildet ist, denn das emotionale Band kommt durch die spezifischen emotionalen Erfahrungen mit der Bindungsperson zustande und beruht nicht auf pädagogischen Ausbildungen und Wissen um die Erziehung eines Babys.

Wenn die Bindungsperson, die vermisst wurde, endlich erscheint, sei es der Partner oder die Mutter oder der Vater, gibt es in der Regel eine große Freude – auf beiden Seiten, weil sich die Getrennten endlich in die Arme schließen können. Es wird für alle deutlich sichtbar, dass sich das über die Trennung so heftig gespannte emotionale Band der Bindung jetzt wieder langsam »entspannen« kann. Für alle Beobachter werden die Entspannung und das Glück, mit der Bindungsperson wieder zusammen zu sein, erlebbar.

BEISPIEL Max ist zweieinhalb Jahre alt. Er möchte unbedingt mit den Großeltern in die Ferien fahren. Er packt schon selbst sein kleines Köfferchen und wartet mit Hochspannung darauf, endlich ins Auto klettern zu dürfen, um mit den Großeltern loszufahren. Kaum sind die Großeltern mit Max losgefahren, fragt er schon ganz erwartungsvoll: »Sind wir bald da?« Er kann es kaum erwarten, endlich anzukommen, und fragt unmittelbar später: »Wann fahren wir wieder zurück?« Je länger die Reise dauert, desto häufiger fragt Max, wann er wieder zurück zur Mama dürfe, wann die Reise zu Ende sei, denn er vermisse seine Mama so sehr, dass er ganz schnell wieder nach Hause wolle. Es wird deutlich, wie das emotionale Band bei ihm mit zunehmender räumlicher und zeitlicher Distanz von zu Hause »gespannt« wird und er sich in Gedanken ständig damit beschäftigt, dass er seine Bindungsperson vermisst und sich diese wieder zurückwünscht. Es hilft ihm, dass er seinen Teddybär dabeihat, den er die ganze Zeit im Arm hält und der symbolisch für seine Mama steht, die er vermisst. Er erzählt seinem Teddy von der großen Reise, die er mit den Großeltern unternimmt. Gleichzeitig tröstet er den Teddybär und erzählt ihm, dass er – der Teddybär – bald wieder zu Hause bei seiner geliebten Mama sein werde.

Lebenswichtige Bedürfnisse eines Säuglings und Kleinkindes

Es gibt einige grundlegende Bedürfnisse, die unbedingt erfüllt sein müssen, damit sich Säuglinge – vielleicht Menschen überhaupt – entwickeln können.

Physiologische Bedürfnisse

Damit Säuglinge gesund aufwachsen können, müssen einige physiologische Grundbedürfnisse befriedigt werden. Hierzu gehören ausreichend Nahrung und genug zum Trinken, aber auch ausreichend Schlaf, ein Dach über dem Kopf sowie frische Luft zum Atmen. Die Erfüllung dieser Bedürfnisse ist so grundlegend, dass auf sie in gar keiner Weise verzichtet werden kann. Sobald die Luft zum Atmen fehlt oder die richtige Ernährung oder auch der Schlaf, geraten Säuglinge bzw. Menschen im Allgemeinen in einen zunehmend stressvolleren Erregungszustand, der schließlich zu entsprechenden Symptomen führt. Im schlimmsten Fall sterben wir Menschen, wenn wir diese physiologischen Bedürfnisse nicht in ausreichender Weise befriedigen können.

Das Bindungsbedürfnis

Von Geburt an bringt der Säugling ein genetisch bedingtes Bedürfnis mit, sich an eine Person zu binden, die größer, weiser, klüger ist und ihm Schutz und Sicherheit gewähren kann. Dieses Bedürfnis ist in der Evolutionsgeschichte offensichtlich schon sehr früh angelegt worden, denn wir finden es selbst bei Vögeln sowie bei allen Säugetieren und natürlich auch bei unseren nächsten Verwandten, den Menschenaffen. Wichtig ist, dass dieses Bedürfnis ein grundlegendes Bedürfnis ist und dem Überleben dient. Das Bedürfnis selbst muss aber nicht durch die Elternpersonen befriedigt werden. Der Säugling orientiert sich nach der Geburt an anderen Menschen und sucht seine Bindungspersonen, die ihm diesen Schutz zur Verfügung stellen können. Diese müssen nicht seine biologisch mit ihm verwandten Eltern sein. In der Regel werden die Eltern zwar die Bindungspersonen des Kindes, aber es könnten auch Pflegeeltern, Adoptiveltern oder Erzieherinnen in einer Heimeinrichtung sein. Im weiteren Verlauf des Buches wird noch ausführlicher dargestellt, wie dieses Bindungsbedürfnis entsteht und welche großen Vorteile es hat.

Der neugierige Erkundungsdrang

Säuglinge und Menschenkinder insgesamt sind von Natur aus sehr neugierig. Sie sind kleine Welterkunder. Ihr Interesse an den kleinen Dingen sowie an allem, was sie entdecken und beobachten können, ist schier unstillbar. Daher ist es absolut notwendig, dass die Bindungspersonen dem Säugling auch entsprechende Möglichkeiten zur Erkundung der Welt anbieten und ihn nicht in einem Raum ohne Anregungen einsperren oder ihn nur in sein Bettchen legen. Die Möglichkeiten zur Erkundung, zum Beispiel im Spiel – am liebsten gemeinsam mit den Bindungspersonen –, entsprechen einem absolut überlebenswichtigen Bedürfnis des Kindes. Kinder können besonders gut erkunden und sich auf Neues einlassen, wenn sie sich in ihrem Bindungsbedürfnis sicher fühlen. Ohne sichere Bindungserfahrung ist die Fähigkeit zur Erkundung der Welt sehr eingeschränkt oder gar nicht möglich. Solange die Kinder Angst haben, weil sie keine Sicherheit und kein Urvertrauen entwickeln konnten, ist ihre Neugier gehemmt, obwohl sie grundsätzlich vorhanden ist.

BEISPIEL Jens (18 Monate alt) ist heute das zweite Mal bei seiner Tagesmutter. Nach wenigen Minuten hat die Mutter den Raum verlassen, um auszuprobieren, ob Jens nun schon einige Minuten alleine bei der Tagesmutter sein kann. Diese hat sich jetzt Zeit genommen und will ihm viele neue Spielsachen zeigen. Obwohl Jens total begeistert ist von der neuen Spielkiste und den vielen bunten Spielsachen, die er dort mit strahlenden Augen sehen kann, lässt er alles Spielzeug unmittelbar stehen und läuft zur Tür, wo gerade seine Mutter verschwunden ist. Er kann die neuen Spielsachen trotz großer Neugier jetzt gar nicht mehr erkunden und entdecken, weil er mit seiner Angst – aufgrund der Trennung von seiner Mutter – und somit mit seinem Bindungsbedürfnis so sehr beschäftigt ist. Die Eingewöhnungszeit bei der Tagesmutter war noch bei Weitem nicht lang genug, um sich bei ihr schon bindungssicher zu fühlen und auf diesem Hintergrund auch die vielen neuen Spielsachen in aller Ruhe erkunden zu können. Erst als die Mutter unmittelbar darauf die Tür wieder öffnet und mit hereinkommt, nimmt Jens seine Mutter an der Hand, führt sie zu den interessanten Spielsachen, fordert sie deutlich auf, dort Platz zu nehmen. Gemeinsam mit ihr möchte er die schönen neuen Dinge entdecken. Sie soll sich zu ihm setzen, während er die Spielsachen erkundet und sie ihr sowie auch der Tagesmutter freudig zeigt. Später will er mit ihr und der Tagesmutter zusammen spielen.

Wahrnehmung mit allen Sinnesorganen

Säuglinge wollen fühlen, riechen, schmecken, hören, sehen, und zwar mit allen ihren Sinnen. Sie wollen die Welt möglichst umfassend erleben, deswegen müssen sie neue Spielzeuge sehen, sie betasten und sie sowohl beschnuppern als auch länger an ihnen riechen, sie belecken, in den Mund nehmen. Sie wollen auf ihnen herumbeißen, manchmal besteht die Gefahr, dass sie diese sogar herunterschlucken wollen. Wenn Kinder älter werden, wollen sie auch Gefühle aus ihrer Innenwelt, die sie wahrnehmen, benennen; sie sprechen etwa über Kopfschmerzen, Bauchschmerzen, nehmen ihre Darmbewegungen wahr; schließlich können sie unterscheiden, wann sie einen solch großen Drang verspüren, dass sie zur Toilette gehen müssen. Kinder, die von solchen Wahrnehmungen abgeschnitten sind, können nicht gesund aufwachsen, ihre Sinne verkümmern in jeder Hinsicht. Für bestimmte Fertigkeiten wie etwa das Erlernen der Lautsprache und das spezifische Hören gibt es bestimmte kritische Zeitfenster, in denen diese Fertigkeiten ganz besonders angeregt werden müssen. Geschieht dies nicht innerhalb des Zeitfensters, so entwickeln sich die entsprechenden Nervenzellen im Gehirn und deren Fähigkeit nicht ausreichend, verzögert oder gar nicht.

Selbstwirksamkeit

Alle Kinder möchten selbstwirksam sein. Dies bedeutet, dass sie Aktivitäten »alleine«, also selbständig, durchführen möchten. Dabei ist es ganz wichtig, dass sie das Gefühl erleben, etwas selbst bewirkt und auf den Weg gebracht zu haben. Den letzten Bauklotz beim Turmbau selbst an der Turmspitze hinzugefügt zu haben und voller Stolz auf das gelungene Werk zu schauen, den Stolz und das Strahlen im Glanz der Augen der Mutter oder des Vaters zu sehen, das ist für die Entwicklung eines gesunden Selbstwertgefühls von ganz großer Bedeutung.

BEISPIEL Lisa (eineinhalb Jahre) möchte gemeinsam mit ihrem Vater mit den Bauklötzen spielen. Sie kennt das Spiel schon ganz genau und weiß, wie man Bauklötze aufeinanderstapelt, so dass ein möglichst hoher Turm entsteht, den man schließlich mit großer Freude gemeinsam wieder zum Einstürzen bringen kann. Es ist ihr ganz wichtig, dass der Vater dabeisitzt, ihr die Bauklötze reicht und sie diese voller Stolz aufeinanderstapeln kann. Der Vater gibt eine kleine Hilfestellung und unterstützt den Turm an seiner Basis etwas; als er immer höher wird, will der Vater helfen und ihn mit eigenen Bauklötzen noch etwas verlängern, weil er sich vorstellt, dass es dann noch mehr Spaß macht, zu beobachten, wie dieser zusammenbricht. Lisa möchte dies aber nicht, sie nimmt dem Vater die Bauklötze aus der Hand und bedeutet ihm sehr eindrücklich mit dem Wort »ich«, dass sie diejenige sein möchte, die den Turm baut und die Bauklötze aufeinanderstapelt. Schließlich sind alle Bauklötze zu einem hohen Turm aufgebaut. Lisa strahlt und ist voller Stolz; sie ist noch glücklicher, als sie sieht, dass auch ihr Vater strahlt und sich über den hohen Turm aus Bauklötzen freuen kann. Der Vater lobt sie für den hohen Turmbau. Lisa legt wiederum Wert darauf, dass sie selbst mit einem Freudenschrei den Turm schließlich umwerfen kann, so dass die Bauklötze mit Krach umeinander purzeln. Dann beginnt das ganze Spiel von Neuem.

Vermeidung von unangenehmen Reizen

Schon ungeborene Babys in der Gebärmutter schützen sich gegen unangenehme Reize, etwa gegen große Lautstärken oder auch unangenehme Geschmacksstoffe, die man ihnen experimentell anbietet. Sind Säuglinge erst einmal geboren, so wird dies zu einem ganz wichtigen Schutz- und Lebensprinzip. Unangenehme Reize wie Geräusche, Kälte, aber auch zu große Wärme oder jegliche Art von Schmerz führen zu heftigen Abwehrbewegungen, indem Kinder sich wegwenden, weglaufen, weinen, protestieren, laut demonstrativ toben oder auch nur einfach sehr klar den Kopf abwenden, sich die Ohren zuhalten oder den Körper wegdrehen, um sich zu schützen. Manchmal können Schmerzreize, wie etwa der Nadelpieks beim Impfen, nicht verhindert werden, weil die Eltern ihr Kind zum Schutz vor Kinderkrankheiten impfen lassen. Unter diesen Umständen ist es notwendig, dass eine Mutter bzw. eine Bindungsperson da ist, die das Kind mit Körperkontakt über seinen Schmerz hinwegtröstet und ihm hilft, den Schmerz zu bewältigen.

Dies trifft auch dann zu, wenn Kinder unbeabsichtigt Schmerzen erleiden, wenn sie etwa hinfallen, sich den Kopf anschlagen. Auch in solchen Situationen braucht es eine Bindungsperson, die das Kind mit Körperkontakt tröstet, weil eine solche Erfahrung von Schmerz sehr unangenehm ist und einen großen Stress für das Kind darstellt.

Voraussetzung für ein gutes Leben

FAZIT Alle diese grundlegenden, überlebenswichtigen Bedürfnisse sind für die Entwicklung von Säuglingen ganz entscheidend. Sie sind so grundlegend, dass ihre Erfüllung für Menschen aller Altersstufen überlebenswichtig ist. Die gleichen Prinzipien gelten also genauso für die Eltern.

Dabei sind die physiologischen Bedürfnisse und auch Bindung und Erkundung grundlegend. Auf sie bzw. darauf, dass sie erfüllt werden, kann man nicht sehr lange verzichten, ohne Stress- bzw. verschiedene Krankheitssymptome zu entwickeln. Eine zeitlich begrenzte Einschränkung der Selbstwirksamkeit und auch von sensorischen Reizen ist eher zu verkraften, führt auf lange Sicht aber ebenso zu Symptomen, wie wir bei Kindern, die unter Vernachlässigung aufwachsen, sehr deutlich sehen.

Alle diese überlebenswichtigen Bedürfnisse – und dass sie befriedigt werden – sind auch die Grundvoraussetzung dafür, dass Menschen die Fähigkeit entwickeln, sich in Beziehungen auf andere einzulassen, mit anderen zusammenzuleben und sich mit ihnen zu verständigen. Wenn die Erfüllung dieser grundlegenden Bedürfnisse einem Säugling sehr früh versagt wird, entwickelt er die Fähigkeit, sich auf Beziehung einzulassen, nicht in ausreichendem Maße. Er wird dann zeitlebens große Schwierigkeiten haben im Kontakt sowohl mit Gleichaltrigen als auch mit späteren Lebenspartnern und auch dabei, diese überlebenswichtigen Bedürfnisse bei eigenen Kindern gut zu erkennen und zu befriedigen.

Die sichere Bindung – das stabile Fundament der Persönlichkeit

Wenn wir im Deutschen von Bindung sprechen, müssen wir unterscheiden, ob wir etwa die Bindung der Eltern an ihr Kind oder die Bindung des Kindes an die Eltern meinen. Im Amerikanischen gibt es hierfür zwei verschiedene Begriffe: Die Bindung der Eltern an ihr Kind (»Bonding«) umfasst die Bereitschaft der Eltern, sich emotional auf ihr Kind und seine Bindungssignale einzulassen, es entsprechend seinen Bedürfnissen zu pflegen und ihm Schutz und Sicherheit zu geben. Die Bindung des Kindes an seine Bindungsperson (»Attachment«), in der Regel an die Eltern, bedeutet, dass das Kind sich in seiner Suche nach Schutz und Sicherheit an seine Bindungspersonen wendet. Bindung ist aufseiten des Kindes also eher ein Sicherheitssystem, während sie aufseiten der Bindungspersonen eher ein Pflege- und Schutzsystem ist. Auf diese Weise entwickelt sich schon beim Säugling ein Gefühl von Urvertrauen, dass er zeitlebens als stabiles Fundament seiner Persönlichkeit zur Verfügung hat.

Bindung fürs Überleben

Die sichere Bindung des Kindes ist für sein Überleben so grundlegend wie die Luft zum Atmen und die Ernährung. Man kann auch sagen, dass die emotionale Bindung das Überleben und die Entwicklung des Säuglings sichert.

Stellt man sich einmal vor, dass die Menschen in der Steinzeit in großen Horden durch das Land gezogen sind, so war es für einen Säugling extrem wichtig, Bindungsverhalten mit Hilfe von Weinen, Rufen, Nachlaufen, Anklammern zu zeigen, um von seiner Bindungsperson mitgenommen zu werden,