Bindung und frühe Störungen der Entwicklung

HERAUSGEGEBEN VON KARL HEINZ BRISCH

Impressum

Die Beiträge dieses Bandes wurden – bis auf die beiden letzten, deutschsprachigen – von Ulrike Stopfel aus dem Englischen übersetzt.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Klett-Cotta

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Printausgabe: ISBN 978-3-608-94792-2

E-Book: ISBN 978-3-608-10201-7

PDF-E-Book: ISBN 978-3-608-20292-2

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Vorwort

Einleitung

KERSTIN UVNÄS-MOBERG
Die Funktion von Oxytocin in der frühen Entwicklung und die mögliche Bedeutung eines Ocytocinmangels für Bindung und frühe Störungen der Entwicklung

MIRI KEREN
Depression in der frühen Kindheit: Gibt es sie, wie zeigt sie sich, wie ist sie zu behandeln?

LYNNE MURRAY
Die Entwicklung von Kindern postpartal depressiver Mütter: Befunde der Cambridge-Längsschnittstudie

SUZI TORTORA
Trauma, Stress und postpartale Depression: Das implizite Wissen und seine Auswirkungen auf die Mutter-Kind-Bindung

MARTIN H. TEICHER
Frühe Misshandlungs- und Missbrauchserfahrungen: Gene, Gehirn, Zeit und Pathologie

KARLEN LYONS-RUTH, JEAN-FRANÇOIS BUREAU, ZSOFIA NEMODA UND MARIA SASVARI-SZEKELY
Qualität der frühen Zuwendung, Trauma und genetische Vulnerabilität als Prädiktoren von Merkmalen einer Borderline-Persönlichkeitsstörung: Eine prospektive Längsschnittanalyse

ELIZABETH A. SHIRTCLIFF UND PAULA RUTTLE
Immunologische und neuroendokrine Dysregulation in der Folge früher Deprivations- und Stresserfahrungen

DAVID OPPENHEIM, NINA KOREN-KARIE, NURIT YIRMIYA UND SMADAR DOLEV
Welchen Einfluss haben die Einfühlsamkeit der Mutter und ihre Fähigkeit zur Verarbeitung der Diagnose auf die Bindungssicherheit autistisch gestörter Kinder?

ANAT SCHER
Trennungsangst der Mutter als Regulator des kindlichen Schlafs

ROBERT N. EMDE
Bindung, frühe Moralentwicklung und wechselseitige Regulationsprozesse

CARMEN PINTO
Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitäts-Störung (ADHS) und frühe Bindungsdesorganisation
Eine prospektive Studie mit Kindern, die nach einer Totgeburt geboren wurden

GOTTFRIED SPANGLER
Bindung und Gene: Bio-psycho-soziale Grundlagen emotionaler (Dys-) Regulation und ihre Bedeutung für die Entwicklung von Verhaltensauffälligkeiten

KARL HEINZ BRISCH
Die Therapie von frühen Störungen der Entwicklung

Adressen der Autorinnen und Autoren

Vorwort

Frühe Störungen der Entwicklung entstehen oftmals durch frühe traumatische Erfahrungen des Säuglings und Kleinkindes sowie durch verschiedenste Formen der frühkindlichen Vernachlässigung. Sie beginnen in der Schwangerschaft und im Säuglingsalter und stehen dann in einem Zusammenhang mit Schwierigkeiten in der Bindungsentwicklung zwischen Eltern und Kind. Zu den frühen Störungen der Entwicklung gehören etwa Störungen aus dem autistischen Spektrum, Bindungsstörungen, frühe Ängste, depressive Symptome und kognitive Entwicklungsschwierigkeiten mit Störungen des Gedächtnisses. Ebenso finden sich eine verminderte Stresstoleranz, eine eingeschränkte Fähigkeit zur Affektregulation, Störungen der Aufmerksamkeit und der Motorik (ADHS) sowie der Immunregulation. Viele dieser frühen Störungen beeinflussen entscheidend die Entwicklung des Kindes und haben langfristige Auswirkungen auf alle körperlichen, psychischen und sozialen Funktionen. Aus Längsschnittstudien wissen wir, dass frühe Störungen im Laufe der kindlichen Entwicklung oftmals nicht einfach wieder verschwinden, sondern besonders im Jugendalter zu schwerwiegenden emotionalen und sozialen Störungen mit aggressiven Verhaltensweisen führen können. Im Erwachsenenalter treten sie als spätere schwerwiegende psychosomatische und psychische Erkrankungen in Erscheinung, etwa als Borderline-Persönlichkeitsstörung.

Am 24. und 25. Oktober 2009 wurde an der Kinderklinik und Poliklinik des Dr. von Haunerschen Kinderspitals der Ludwig-Maximilians-Universität München von der Abteilung für Pädiatrische Psychosomatik und Psychotherapie ein Internationaler Kongress mit dem Titel Bindung und frühe Störungen der Entwicklung (Attachment and Early Disorders of Development) durchgeführt. Die überwältigende Resonanz der Konferenz ermutigte die Veranstalter, die Beiträge mit der Herausgabe dieses Buches einer größeren Leserschaft zugänglich zu machen.

Ich danke allen Autoren und Autorinnen, dass sie ihre Beiträge für die Publikation zur Verfügung gestellt haben. Mein besonderer Dank gilt Frau Ulrike Stopfel, die sehr engagiert und zuverlässig alle englischsprachigen Beiträge übersetzt hat. Dank der ausgezeichneten Arbeit von Herrn Thomas Reichert konnten die einzelnen Manuskripte rasch editiert werden. Wir danken Herrn Dr. Heinz Beyer sowie Frau Christel Beck vom Verlag Klett-Cotta, dass sie sich mit großem Engagement für die Herausgabe dieses Buches und die rasche Herstellung beim Verlag eingesetzt haben.

Wir hoffen, dass dieses Buch allen, die Eltern mit ihren Kindern, Jugendliche sowie Erwachsene in Therapie, Beratung, Pädagogik, Sozialer Arbeit sowie bei der Prävention von frühen Störungen begleiten – wie etwa Geburtshelfer, Hebammen, Kinderärzte, Krankenschwestern, Psychiater, Psychologen, Sozialarbeiter, Pädagogen, Heilpädagogen, Krankengymnasten, Ergotherapeuten, Kinder- und Jugendpsychiater, Psychotherapeuten, Richter und Politiker –, zahlreiche Anregungen gibt, die sie in ihrer täglichen Arbeit fruchtbar umsetzen können.

Karl Heinz Brisch

Einleitung

Das vorliegende Buch fasst verschiedene Beiträge aus den Bereichen Forschung, Klinik und Prävention zusammen, die das Thema Bindung und frühe Störungen der Entwicklung mit unterschiedlichen Schwerpunkten behandeln. Es werden sowohl Ergebnisse aus der Grundlagenforschung als auch solche von Längsschnittstudien dargestellt sowie anhand von Beispielen Erfahrungen aus der klinischen Arbeit mit früh gestörten Kindern veranschaulicht, um die therapeutischen Möglichkeiten und Voraussetzungen aufzuzeigen.

Kerstin Uvnäs-Moberg, die international renommierte Oxytocin-Forscherin, erklärt anhand ihrer Forschungen, welche Bedeutung das Hormon Oxytocin für die frühen Bindungsprozesse hat und auf welche Weise ein Mangel an Oxytocin aufgrund früher Störungen die Bindungsentwicklung negativ beeinflussen kann.

Miri Keren berichtet, wie sich schon im Säuglingsalter depressive Symptome äußern können, wie sie diagnostiziert und behandelt werden können. Angesichts der weltweiten Zunahme von depressiven Erkrankungen im Erwachsenenalter haben diese Befunde zur Säuglingsdepression besondere Bedeutung.

Die weltweit umfassendste Längsschnittstudie über die Auswirkungen der postpartalen Depression der Mütter auf die Entwicklung ihrer Kinder wurde von Lynne Murray und ihrem Team durchgeführt. Die Befunde zeigen, dass die postpartale Depression ein früher Risikofaktor ist, der in vielen Bereichen langfristige Auswirkungen auf die Entwicklung der Kinder hat.

Als Tanztherapeutin hat Suzi Tortora einen ganz besonderen Zugang zu Müttern mit Säuglingen, deren Bindungsentwicklung durch frühe Erfahrungen von Trauma, Stress und die postpartale Depression ihrer Mütter beeinträchtigt ist. Über den nicht-sprachlichen Weg von Musik und Tanz kann sie den Eltern und ihren Kindern helfen, eine sichere Bindungsentwicklung aufzubauen.

Erst durch moderne Methoden wurde es möglich, die Gene sowie die Gehirne von sehr früh traumatisierten Kindern in Längsschnittuntersuchungen sehr genau zu analysieren und dabei zu verfolgen, wie frühe Missbrauchs- und Misshandlungserfahrungen Gene und Gehirnregionen aktivieren oder sich blockierend auswirken. Die spektakulären Forschungen von Martin Teicher weisen darauf hin, dass der Zeitpunkt und die Art der Traumatisierung entscheidenden Einfluss auf eine Psychopathologie im späteren Leben haben.

Karlen Lyons-Ruth und ihre Kollegen berichten, dass frühe Traumatisierungen von Säuglingen und Kleinkindern auf die komplexe Form der Borderline-Psychopathologie vorausweisen können. Sie zeigen, wie genetische Vulnerabilität und frühe emotionale Erfahrungen des Säuglings miteinander interagieren.

Frühe traumatische Erfahrungen mit übermäßigem Stress infolge von Vernachlässigung beeinflussen auch das kindliche Immunsystem und die Entwicklung der hormonellen Stressregulation, wie Elizabeth Shirtcliff und Paula Ruttle berichten.

Bisher war wenig bekannt, dass auch autistische Kinder eine sehr differenzierte Bindungsqualität mit ihren Eltern aufbauen können. Wie David Oppenheim und sein Team herausfanden, wird die Art der Bindungsqualität sehr dadurch beeinflusst, wie gut die Eltern die Diagnose ihres Kindes verarbeitet haben und wie sehr sie in der Lage sind, sich einfühlsam gegenüber ihrem Kind zu verhalten und über ihre und die Verhaltensweisen ihres Kindes zu reflektieren.

Schlafprobleme von Säuglingen sind eine häufige Belastung für Eltern in der frühen Zeit. Anat Scher fand heraus, dass die Schlafprobleme des Kindes auch durch Trennungsängste der Mütter beeinflusst werden.

Robert Emde berichtet, wie frühe Störungen in den Regulationsprozessen zwischen Mutter und Säugling nicht nur die Bindungsentwicklung von Kindern beeinflussen, sondern auch langfristige Auswirkungen auf die Moralentwicklung von Kindern haben. Diese Ergebnisse sind von großer gesellschaftlicher Relevanz.

Carmen Pinto untersuchte die Bindungsentwicklung von Kindern, die nach einer vorausgegangenen Totgeburt geboren wurden. Sie konnte zeigen, dass diese Kinder in der Folgezeit häufiger eine desorganisierte Bindung entwickelten und auch häufiger an einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung erkrankten.

Die Forschungen von Gottfried Spangler zeigen das Wechselspiel zwischen genetischen Anlagen und frühen Bindungserfahrungen sowie deren Einfluss auf spätere Verhaltensauffälligkeiten von Kindern. Seine Studien tragen damit zu einem besseren Verständnis eines bio-psycho-sozialen Modells der kindlichen Entwicklung bei.

Karl Heinz Brisch stellt das Modell einer stationären Intensiv-Psychotherapie vor, wie es in der Pädiatrischen Psychosomatik und Psychotherapie im Dr. von Haunerschen Kinderspital realisiert wurde. Anhand von Behandlungsbeispielen wird von ihm verdeutlicht, wie Kinder, die aufgrund von traumatischen Erfahrungen frühe Störungen mit einer ausgeprägten Psychopathologie entwickelt haben, nach dem neuen Modell von einem Team erfolgreich behandelt werden können.

Alle Beiträge zusammen ergeben einen umfassenden Überblick darüber, welchen negativen Einfluss frühe traumatische Erfahrungen auf die Entwicklung von frühen Störungen, die bis ins Erwachsenenalter reichen, haben können. Auf dem Boden der Grundlagenforschung und der verschiedenen Längsschnittstudien wird nachvollziehbar, dass die Gene, das Immunsystem, die Stressregulation, die Affektsteuerung, die Bindungsentwicklung und die Psychopathologie bis ins Erwachsenenalter beeinflusst werden. Auf der Basis dieser Erkenntnisse werden modellhaft neue Wege der psychotherapeutischen Behandlung dieser frühen Störungen aufgezeigt.

KERSTIN UVNÄS-MOBERG
Die Funktion von Oxytocin in der frühen Entwicklung und die mögliche Bedeutung eines Ocytocinmangels für Bindung und frühe Störungen der Entwicklung

Einleitung

Alle Säugetiere einschließlich des Menschen zeigen gewisse elementare Reaktionsmuster wie die Abwehrreaktionen, z. B. die Kampf- oder Flucht-Reaktion, wie sie erstmals von Walter Cannon beschrieben wurde. Innerhalb dieses Reaktionsmusters kommt den hypothalamischen Peptiden Corticotropin-Releasing-Factor (CRF) und Vasopressin eine wichtige Regulierungsfunktion zu. Bei anderen Reaktionsmustern, die dem entgegengesetzten Zweck dienen, stehen Anti-Stress-Mechanismen (als growth and relaxation response bezeichnet) und soziale Fertigkeiten (als calm and connection system bezeichnet) im Vordergrund, und hier kommt dem Oxytocin eine wichtige integrierende Funktion zu.

Oxytocin ist ein Nonapeptid, das ebenfalls im Hypothalamus gebildet wird und sowohl vom Hypophysenhinterlappen als auch von einem Netz oxytocinhaltiger Neuronen im Gehirn in den Blutkreislauf abgegeben werden kann. Oxytocinerge Neuronen projizieren in Hirnareale, die mit der Regulierung von sozialer Interaktion, Furcht, Schmerz, Gelassenheit, Wohlbefinden, Gedächtnis, Lernen, der hormonellen Achse vom Hypothalamus über die Hypophyse bis zur Nebennierenrinde (Hypothalamic-pituitary-adrenocortical axis – HPA-Achse) und des Tonus des autonomen Nervensystems zu tun haben.

In Tierexperimenten konnte gezeigt werden, dass die Verabreichung von Oxytocin viele Formen des sozial-interaktiven Verhaltens stimuliert, Angst reduziert, die Schmerzschwelle erhöht und insofern beruhigend und entspannend wirkt, als es den Kortisolspiegel und den Blutdruck senkt. Oxytocin regt zudem die Tätigkeit des parasympathischen Nervensystems und des Magen-Darm-Trakts an, erhöht so die Nährstoffaufnahme und sorgt für Wiederherstellung und Wachstum. Lern- und Heilprozesse werden durch Oxytocin ebenfalls unterstützt. Die wiederholte Verabreichung von Oxytocin bringt lang anhaltende Wirkungen in Gang. Die Verabreichung von Oxytocin durch die Nase stimuliert beim Menschen erwiesenermaßen die soziale Interaktion, verbessert die Fähigkeit, soziale Stichworte richtig zu deuten, reduziert Angst, erhöht die Schmerzschwelle, senkt den Stresspegel und bewirkt ein Mehr an Vertrauen.

Oxytocin wird nicht nur in Reaktion auf die sensorische Stimulierung während der Wehen und des Stillvorgangs ausgeschüttet, sondern bei Tieren wie bei Menschen auch in Reaktion auf eine Stimulierung der Sinne durch Berührungen, Streichelbewegungen und das Empfinden von Wärme. Bei den Menschen steigt der Oxytocinspiegel z. B. durch den Hautkontakt von Müttern und ihren neugeborenen Kindern, aber auch durch den engen Partnerkontakt unter Erwachsenen.

Bei Kontakt von Haut zu Haut suchen Babys in der postpartalen Phase die Brust der Mutter, wobei an diesem Verhalten taktile, visuelle, auditive und möglicherweise olfaktorische Reize beteiligt sind. In Reaktion auf diesen sensorischen Austausch steigt der Oxytocinspiegel der Mutter. Eltern und Kinder, die in der postpartalen Phase den Hautkontakt miteinander pflegen, kommunizieren mehr miteinander und sind gelassener und entspannter als solche, die diesen Kontakt nicht haben. Zudem gehen sie feinfühliger miteinander um, und die Kinder können im Alter von einem Jahr besser mit Stresserfahrungen umgehen. Das spricht dafür, dass die durch Oxytocin vermittelten Wirkungen, wie sie in der postpartalen Periode eintreten, auf irgendeine Weise enkodiert oder konditioniert werden. Zudem dürfte der während des ganzen ersten Lebensjahres stets sich wiederholende enge Kontakt zwischen Mutter/Vater und dem Kind auch – auf dem Weg über die Stimulierung der Oxytocin-Ausschüttung und der durch Oxytocin vermittelten Wirkungen – von Bedeutung für die Entwicklung einer sicheren Bindung des Kindes sein. Zugleich wird auch die Bindung der Eltern an das Kind gestärkt.

Oxytocin könnte letzten Endes auch bei der stressreduzierenden Wirkung mitmenschlicher Unterstützung, bei der gesundheitsfördernden Wirkung langfristiger positiver Beziehungen unter Erwachsenen und überdies auch dort im Spiel sein, wo sich die Anwesenheit einer hilfreichen Person positiv auf den Verlauf der Wehen und auf die damit zusammenhängenden Anpassungen auswirkt.

Mehrere Studien haben einen möglichen Zusammenhang zwischen einem Oxytocinmangel (bzw. der mangelnden Funktion der Oxytocinrezeptoren) und autistischen Störungen aufgezeigt. Die Verabreichung von Oxytocin erhöht erwiesenermaßen die Fähigkeit mancher Autisten, sich über die emotionale Aussage von Gesichtsausdruck oder Stimmlage ihres Gegenübers klarzuwerden. Das stützt den Gedanken, dass ein Oxytocinmangel oder die mangelnde Funktion der Rezeptoren an manchen Formen autistischer Störungen beteiligt sein könnten. Es könnte also sein, dass Oxytocin in Zukunft zur Behandlung von Personen mit autistischen Störungen eingesetzt wird. Und möglicherweise kann der vor allem in der postpartalen Phase geübte Hautkontakt zwischen Eltern und ihren kleinen Kindern die Manifestation autistischer Symptome reduzieren.

Die Kampf-und-Flucht-Reaktion und ihr durch Anti-Stress-Mechanismen (growth and relaxation response) und soziale Fertigkeiten (calm and connection reaction) gekennzeichnetes Gegenmuster

Säugetiere und Menschen zeichnen sich durch eine Reihe gemeinsamer psychophysiologischer Reaktionsmuster aus, die, evolutionsgeschichtlich gesehen, sehr alt sind und einen Schutz- und Überlebenswert besitzen. Es ist allgemein bekannt, dass Abwehr- oder Stressreaktionen durch eine Gefahr, durch körperliche Schädigung/körperlichen Schmerz und durch Furcht aktiviert werden. Die Kampf- und Flucht-Reaktion, wie Walter Cannon sie beschrieben hat, ist ein Beispiel einer integrierten Stressreaktion, die mit mentalen und physiologischen Anpassungen einhergeht. Angst, Zorn, Erregung, Wut sind Teil dieses Reaktionsmusters. Zudem erreicht mehr Blut die Muskeln, um sie mit Nährstoffen und Sauerstoff zu versorgen, und es kommt zur vermehrten Aktivität des Herzkreislaufsystems und zu einer erhöhten Lungenfunktion. Zugleich wird die Tätigkeit des Verdauungstraktes zurückgefahren, und die Nährstoffe werden von der Leber beansprucht und als Brennstoff, der Aktivität ermöglicht, verwendet. Berührungsempfindlichkeit, Sozialkompetenz und Mitleidensfähigkeit sind gering. Die Kampf- und-Flucht-Reaktion ist durch eine hohe Aktivität der HPA-Achse und des sympathischen Nervensystems und durch eine geringe Aktivität des parasympathischen Nervensystems gekennzeichnet.

Daneben gibt es ein nahezu entgegengesetztes Reaktionsmuster, bei dem die sozialen Fertigkeiten gestärkt, der Stresspegel reduziert und die Nährstoffe für Wachstum und Wiederherstellung genutzt werden. Dieses Reaktionsmuster wird als growth and relaxation response oder auch als calm and connection-System bezeichnet. Es wird durch Berührung, durch Wärme und leichten Druck auf die Haut und auch in Situationen aktiviert, die als ruhig, freundlich und sicher empfunden werden, also etwa in der Gegenwart von Personen, die wir mögen und denen wir vertrauen. In solchen Situationen herrschen Gelassenheit, Wohlbefinden und Entspanntheit vor. Die Empfänglichkeit für erfreuliche und unschädliche Sinnesreize ist hoch, ebenso die Fähigkeit zum Mitleiden und zum sozialen Austausch. Die Aktivität der HPA-Achse und des sympathischen Nervensystems ist gering, die des parasympathischen Systems dagegen hoch. Die Nährstoffe werden für Wachstums- und Wiederherstellungsprozesse genutzt.

Gene, Hormone und die sensorische Interaktion

Die Tendenz, mit Abwehrreaktionen oder aber mit dem calm and connection-System zu reagieren, variiert von Individuum zu Individuum und kann auch innerhalb des gleichen Individuums schwanken. Neben genetischen Unterschieden, die dabei beteiligt sein dürften, können auch hormonelle Faktoren sowie sensorische und emotionale Erfahrungen von Einfluss darauf sein, wie stark sich diese Reaktionsmuster über kürzere oder längere Zeit äußern. Die Neigung, kämpferisch und aggressiv zu reagieren, kann durch Testosteron gefördert werden, aber auch durch erschreckende, schmerzliche und belastende Ereignisse. Analog dazu kann die Äußerung des entgegengesetzten Reaktionsmusters, des calm and connection-Systems, durch den Einfluss weiblicher Sexualhormone wie Östrogen und Progesteron, aber auch durch emotionale und sensorische Erfahrungen nichtschädlicher, erfreulicher und beruhigender Art verstärkt werden. Hormonelle, emotionale und Sinnesreize bringen in der Regel stärkere und länger anhaltende Wirkungen hervor, wenn sie frühzeitig im Leben oder sogar schon in utero erfahren werden (Uvnäs-Moberg 1997, 2004; Uvnäs-Moberg et al. 2005).

Die neuroendokrine Regulierung der Kampf-Flucht-Reaktion und des growth and relaxation- bzw. des calm and connection-Systems

Es ist eine bekannte Tatsache, dass die im paraventrikulären Nukleus (PVN) des Hypothalamus (und in der Amygdala) gebildeten Neuropeptide CRF und Vasopressin gemeinsam mit dem Noradrenalin (NA) aus dem Locus caeruleus (LC) im Hirnstamm die verhaltensspezifischen und endokrinen Aspekte von Abwehr- und Stressreaktionen regulieren. Dagegen integriert das ebenfalls im PVN produzierte Neuropeptid Oxytocin wichtige Aspekte der growth and relaxation/calm and connection-Reaktion. Es folgt ein auf Tierexperimenten basierender Überblick über die Morphologie des oxytocinergen Systems im Gehirn und über die verschiedenen Funktionen von Oxytocin. Dabei werden nur solche Daten erwähnt, die für die hier präsentierten Vorstellungen und Ergebnisse relevant sind.

Oxytocin

Oxytocin ist ein aus 9 Aminosäuren bestehendes Peptidhormon von sehr konservierter Struktur, die bei allen Säugern die gleiche ist. Produziert wird es im PVN und im supraoptischen Kern (supraoptic nucleus, SON) des Hypothalamus. Aus beiden Kernen wird es über den Hypophysenhinterlappen in den Blutkreislauf abgegeben und dient dazu, die Kontraktionen der Gebärmutter und den Milcheinschuss zu stimulieren. Zusätzlich wird es auch aus den Axonen von Nervenzellen abgegeben, die ihren Ursprung im PVN haben und in viele wichtige Steuerungsareale des Gehirns projizieren, wo es als Neurotransmitter fungiert. In Reaktion auf eine intensive Stimulierung der oxytocinproduzierenden Neuronen wird Oxytocin auch von den Zellkörpern und den Dendriten der Neuronen abgegeben und kann damit parakrine Wirkungen nicht nur in der engen Nachbarschaft der oxytocinproduzierenden Zellen, sondern im Wege der Diffusion auch in entfernten Regionen ausüben.

Oxytocinhaltige Neuronen erreichen z. B. die Amygdala (ein wichtiges Steuerzentrum für soziale Interaktion und Sozialangst), den Hippocampus (das Lern- und Gedächtniszentrum), andere Bereiche innerhalb des Hypothalamus (des Steuerbereichs für Stresssreaktionen, Aggression, Nahrungsaufnahme usw.), den Hypophysenvorderlappen (wichtige Hormonproduktion), den Locus caeruleus (LC; Regulierung von Aggression und Wachsein), die Raphe-Kerne (Regulierung der Stimmung), das Striatum und den Nucleus accumbens (NclAcc; Regulierung motorischer Funktionen, von Wohlbefinden und Belohnungsempfinden), das periaquäduktale Grau (PAG und Rückenmark) (Schmerzregulierung) und die motorischen und sensorischen Kerne (DMX und NTS) des Nervus vagus (Zentren der Kontrolle des vegetativen Nervensystems) (Sofroniew 1983; Buijs et al. 1985; Ludwig & Leng 2006).

Die Wirkungen von Oxytocin bei Tieren

Auf der Basis von Tierexperimenten konnte gezeigt werden, dass Oxytocin im Gehirn das sozial-interaktive Verhalten und damit auch das mütterliche Verhalten fördert, die Bindung zwischen der Mutter und ihrem Nachwuchs stärkt und bei manchen Spezies auch die Paarbindung stimuliert. An der letztgenannten Wirkung sind die dopaminergen Mechanismen im NclAcc und das Vasopressin beteiligt. Oxytocin erhöht auch das Gefühl des Wohlbefindens, indem es serotonerge und dopaminerge Mechanismen im NclAcc und den Raphe-Kernen beeinflusst. Oxytocin mindert Angst, indem es auf die Amygdala einwirkt; es mindert das Schmerzempfinden durch eine über endogene opioiderge Mechanismen vermittelte Wirkung auf das PAG und das Rückenmark; es wirkt über Alpha-2-Adrenozeptoren im Locus caeruleus der Aggression und der Erregung entgegen; und es wirkt der Aktivität der HPA-Achse entgegen, indem es die Sekretion von CRF in den PVN und von ACTH (= adrenokortikotropes Hormon) in den Hypophysenvorderlappen blockiert. Auch die Funktion der Glukokortikoidrezeptoren im Hippocampus wird beeinflusst, mit der Folge einer Verminderung der Sekretionsspiegel von Kortikosteron (bei Ratten) oder Kortisol (bei Menschen). Oxytocin mindert auch die Aktivität wichtiger Komponenten des sympathischen Nervensystems, die das Herzkreislaufsystem steuern, was zu einer Verminderung des Blutdrucks und zu erhöhter peripherer Zirkulation und erhöhter Hauttemperatur führt. Dabei spielen oxytocin-induzierte Effekte auf die Alpha-2-Adrenozeptoren eine wichtige Rolle. Oxytocin verstärkt die Funktion gewisser Komponenten des parasympathischen Nervensystems, die ihrerseits die Funktion des endokrinen Systems des Verdauungstrakts steuern, was die Verdauung fördert und zur Speicherung der Nährstoffe bzw. zu ihrer Verwendung im Sinne von Wachstum, Wiederherstellung und Wundheilung führt. Gedächtnis- und Lernleistung verbessern sich möglicherweise ebenfalls. Dabei spielt die oxytocin-vermittelte Aktivierung cholinerger Mechanismen und Wachstumsfaktoren eine wichtige Rolle.

Wenn Oxytocin wiederholt verabreicht wird, halten die Wirkungen lange Zeit (bis zu mehreren Wochen) an, weil die Funktion etwa der opioidergen, (nor)adrenergen, serotonergen, dopaminergen und cholinergen Signalsysteme verstärkt wird (Pedersen et al. 1979: Richard et al. 1991; Keverne & Kendrick 1992; Neumann et al. 2000; Insel 2003; Petersson et al. 1996, 1999; Uvnäs-Moberg 1989, 1994, 1996, 1998; Uvnäs-Moberg & Petersson 2005).

Die Verabreichung von Oxytocin an Menschen mittels Nasenspray oder Infusion

Bei Menschen bringt die Verabreichung von Oxytocin in Form eines Nasensprays ähnliche Wirkmuster hervor, wie sie zuvor schon in Tierexperimenten beobachtet wurden. Selbstverständlich verursacht Oxytocin Uteruskontraktionen und den Milcheinschuss. Darüber hinaus reduziert es Angst, Stress und Schmerz. Es fördert die soziale Interaktion und auch die Sozialkompetenz (die Fähigkeit, sich die emotionale Botschaft des Gesichtsausdrucks oder auch der Stimmlage des Gegenübers zu erklären). Oxytocin wirkt zudem vertrauensfördernd. Alle diese Effekte können bei Männern wie bei Frauen auftreten (Heinrichs et al. 2003; Kirsch et al. 2005; Kosfeld et al. 2005; Domes et al. 2007a, b; Hollander et al. 2007; Jonas et al. 2008b; Guastella et al. 2009a, b).

Oxytocin-Ausschüttung und -Wirkung in Reaktion auf sensorische Stimulierung

Stillen als »menschliches« Beispiel für die wiederholte Oxytocin-Ausschüttung

Das Stillen kann als »menschliches« Beispiel für oxytocin-induzierte Wirkungen auf Verhalten und physiologische Vorgänge betrachtet werden, da Oxytocin in Reaktion auf jeden einzelnen Stillvorgang in den Blutkreislauf abgegeben wird, wo es den Milcheinschuss in Gang setzt. Darüber hinaus wird Oxytocin in das Gehirn abgegeben, wo es eine Vielzahl verhaltensspezifischer und physiologischer Anpassungsfunktionen integriert. Mütter sind jedes Mal, wenn sie ihr Kind stillen, aufgeschlossener für den sozialen Austausch, gelassener und weniger ängstlich. Sie lernen auch rasch, ihr Kind »zu verstehen«, und beginnen eine Bindung zu ihm zu entwickeln. Überdies fühlen sie sich wohl, und ihr Stresshormonpegel sinkt ebenso wie ihr Blutdruck. Gleichzeitig werden die Funktionen ihres Magen-Darm-Trakts und der aufbauende Stoffwechsel gestärkt (Widström et al. 1987; Uvnäs-Moberg 1989, 1996; Nissen et al. 1996; Heinrichs et al. 2002; Jonas et al. 2008a; Guastella et al. 2009a, b).

Die langfristigen Wirkungen von Oxytocin bei stillenden Frauen

Die Anpassungsleistungen von Müttern sind nach einer Periode des Stillens deutlicher ausgeprägt und dauerhafter und halten über die gesamte Stillperiode und vielleicht noch darüber hinaus an. Solange sie stillen, sind Mütter weniger ängstlich und offener für den sozialen Austausch (Jonas et al. 2008b). Ihr Kortisolspiegel sinkt in Reaktion auf physische Tätigkeit, und auch der basale Blutdruck nimmt im Verlauf einer sechsmonatigen Stillperiode ab (Altemus et al. 1995; Jonas et al. 2008a). Zudem haben Frauen, die gestillt haben, sogar ein verringertes Risiko, später im Leben eine Herzkreislauferkrankung, etwa einen Herzinfarkt oder einen Schlaganfall, zu erleiden oder an Diabetes Typ 2 zu erkranken (Lee et al. 2005; Stuebe 2009).

Diese lang anhaltenden Veränderungen in der Folge des Stillens ähneln den langfristigen Wirkungen, wie sie – vermittelt durch Veränderungen in der Funktion anderer Signalsysteme – auch bei Ratten nach wiederholter Verabreichung von Oxytocin auftreten.

Was bewirkt Oxytocin beim saugenden Säugling?

Während des Stillvorgangs kommt bei dem saugenden Kind ein Wirkmuster in Gang, das dem bei stillenden Müttern beobachteten Muster ähnelt und es ergänzt. Anders als bei einer Reihe anderer Säugetiere wie z. B. beim Rind steigt der Spiegel des im Blut zirkulierenden Oxytocins während des Saugvorgangs beim menschlichen Kind nicht an. Das oxytocin-induzierte Wirkmuster setzt aber auch beim menschlichen Baby ein: Das Saugen übt eine beruhigende Wirkung aus, der Kortisolspiegel sinkt, die Hauttemperatur steigt als Zeichen der entspannten Verfassung. Auf dem Weg über die Aktivierung der Vagusnerven kommt es zu einem Anstieg gastrointestinaler Hormone und damit zu einer effizienteren Verwertung der Nährstoffe; in der Tat steigt die Gewichtszunahme pro aufgenommener Kalorie (Uvnäs-Moberg et al. 1987, 1989; Jonas et al. 2007).

Aus der Perspektive des vorliegenden Beitrags können die mit dem Stillen verbundenen kurz- und langfristigen Anpassungen sowohl der Mutter als auch des Kindes, wie sie durch die wiederholte Ausschüttung von Oxytocin in Reaktion auf das Saugen zustande kommen, als Ausdruck einer vermehrten Aktivität des growth and relaxation- bzw. des calm and connection-Systems betrachtet werden.

Oxytocin-Ausschüttung über die Aktivierung der Sinneszellen der Haut

Oxytocin wird nicht nur durch den Saugreiz beim Stillen ausgeschüttet, sondern auch durch das nahe Beieinandersein wie etwa beim Hautkontakt. Das hat seinen Grund darin, dass die Sinneszellen der Haut, die eine Oxytocin-Ausschüttung verursachen, durch Wärme, leichten Druck und Streichelbewegungen, wie sie beim Hautkontakt zustande kommen, aktiviert werden. In Reaktion auf diese Art von »Nähe« wird zwar sehr viel weniger Oxytocin als beim Saugen in den Blutkreislauf abgegeben; vergleichsweise mehr Oxytocin gelangt dafür aber im Dienst zentraler Wirkungen in das Gehirn. Tatsächlich können alle durch das Saugen angeregten verhaltensbezogenen und physiologischen Wirkungen mit Ausnahme des Milcheinschusses und der Prolactin-Sekretion auch durch den Hautkontakt zwischen Mutter und Kind im Verlauf einer Stillepisode zustande kommen (Uvnäs Moberg 1998; Heinrichs et al. 2002; Jobas et al. 2007; Handlin et al. 2009; Uvnäs-Moberg & Petersson 2010).

Oxytocin in der postnatalen Periode

Ein Kind, das seiner Mutter gleich nach der Geburt an die Brust gelegt wird, »übt« ein »brustsuchendes« Verhalten und »massiert« die Brust der Mutter zugleich mit seiner Annäherung. Diese Massage ist dosisabhängig mit einem Anstieg des Oxytocinspiegels der Mutter verknüpft. In der Folge der Oxytocin-Ausschüttung (die auch in Gang kommt, wenn die Mutter ihr kleines Kind sieht, hört und riecht) steigt die Brusttemperatur, und die Mutter beginnt mit dem Kind zu interagieren und zu kommunizieren (Widström et al. 1987; Matthiesen et al. 2001; Bystrova et al. 2007).

Im Hautkontakt beruhigt sich das kleine Kind eher und schreit weniger als ein Kind in einer Kinderkrippe. Dieser »mentalen« Gelassenheit entspricht eine körperliche Entspanntheit, wie sie sich in der höheren Haupttemperatur z. B. an den Füßen des Kindes zeigt. Diese hat mit einer Erweiterung der Blutgefäße zu tun, verursacht wiederum durch eine Blockade des für die Kontraktion der Blutgefäße zuständigen sympathischen Nervensystems. Zudem kommt es durch den veränderten Pegel der Hormone des Magen-Darm-Trakts zu vermehrter Aktivität des Verdauungssystems und des Speicherstoffwechsels beim Kind. Alle diese Wirkungen dürften ebenso wie bei der Mutter durch Oxytocin miteinander integriert werden, das in Reaktion auf die Stimulierung der Sinneszellen durch Berührung, Wärme und leichten Druck in das Gehirn des Kindes abgegeben wird.

Zusätzlich wird die Hauttemperatur des Kindes von derjenigen der Mutter reguliert und dieser angepasst. Je wärmer die Mutter, desto höher ist die Hauttemperatur des Kindes insbesondere an den Füßen. Mit anderen Worten, je wärmer und entspannter die Mutter, desto wärmer und entspannter auch das Kind (Christensson et al. 1992; Törnhage et al. 1998; Bystrova et al. 2003, 2007).

Durch den Hautkontakt vermittelte wechselseitige Vorgänge bei Mutter und Kind – eine primitive Form des Spiegelns

Heute besteht allgemeine Übereinstimmung darüber, dass Kind und Mutter durch Aktivierung der Spiegelneuronen im sensorischen und motorischen Kortex unbewusst den Gesichtsausdruck und die lautlichen Äußerungen der jeweils anderen Person imitieren. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass man die durch den Hautkontakt zustande kommende Anpassung der Hauttemperatur des Kindes an diejenige seiner Mutter als eine primitive Form des Spiegelns betrachten könnte. Tatsächlich lassen sich sogar die bilaterale Aktivierung der Oxytocin-Ausschüttung und die oxytocin-induzierten Wirkmuster, wie sie bei beiden in der Folge des Hautkontaktes zu beobachten sind, als elementare Form des Spiegelns ansehen.

Wenn Oxytocin in Reaktion auf einen gleich nach der Geburt bestehenden Hautkontakt abgegeben wird, dann begünstigt das auch die Äußerung eher klassischer Formen des Spiegelns. Zum Beispiel imitieren Mutter und Kind in dieser Situation die Vokalisierungen der jeweils anderen Person – also ihre »Anliegen« – häufiger (Lepage & Theoret 2007; Velandia et al. 2010).

Eine Oxytocin-Ausschüttung durch Hautkontakt wirkt dem Geburtsstress des Kindes entgegen

Während der Wehen ist der Stresspegel des Kindes sehr hoch. Das ist während der Geburt selbstverständlich notwendig, aber es ist auch von großer Bedeutung für die Entwicklung und Entfaltung gewisser physiologischer Funktionen. Lang anhaltender Stress ist allerdings schädlich für Funktionen, die mit Entwicklung und Wachstum zu tun haben. Da der Hautkontakt beim Kind für Gelassenheit und körperliche Entspanntheit sorgt, ist er zwischen Kind und Mutter in der postpartalen Periode eine natürliche Möglichkeit, dem Geburtsstress entgegenzuwirken (Lagercrantz & Slotkin 1986; Bystrova et al. 2003).

Die Känguru-Pflege

Die Känguru-Pflege, also der direkte Hautkontakt zwischen Mutter/Vater und ihrem zu früh geborenen Kind, ist auch ein Beispiel dafür, dass und wie man sich den Einfluss von Hautkontakt und die oxytocin-vermittelten Wirkungen in einem längerfristigen klinischen Setting zunutze machen kann. Mit der Känguru-Pflege wachsen und gedeihen die Kinder rascher, und die Mutter hat mehr Milch. Zudem werden Zuneigung und Bindung zwischen Eltern und Kind stärker. Diese Wirkungen sind in einer Vielzahl klinischer Studien bestätigt worden (Feldman et al. 2002).

Ein biologisches »Fenster« für die langfristige Stimulierung von Anti-Stress-Wirkungen und sozialen Fertigkeiten unmittelbar nach der Geburt

Sowohl Klaus als auch Kennell haben darauf aufmerksam gemacht, dass Mutter und Kind, denen der Hautkontakt unmittelbar nach der Geburt ermöglicht wurde, mehrere Monate lang besser miteinander interagieren. Zur Beschreibung dieses Phänomens prägten sie den Begriff der frühen sensiblen Phase (Klaus et al. 1972; Kennel et al. 1975).

In einer in Russland durchgeführten randomisierten Studie wurde aufgezeigt, dass Mutter und Kind, denen in den ersten zwei Stunden nach der Geburt Hautkontakt ermöglicht wird, zu dem Zeitpunkt, zu dem das Kind ein Jahr alt ist, vergleichsweise feinfühliger miteinander umgehen und stärker aufeinander bezogen sind. Auch kann ein solches Kind dann besser mit Stresserfahrungen fertig werden. Diese Wirkung ist schwächer entwickelt, wenn das Kind nach der Geburt zwar fest im Arm seiner Mutter liegt, aber bekleidet ist – ein Hinweis auf die besondere Rolle des Hautkontakts an sich und möglicherweise auch auf die isolierende Wirkung von Kleidung.

Wie wichtig die ersten Stunden nach der Geburt sind, zeigte sich daran, dass Mutter-Kind-Dyaden, die in den ersten 90 Minuten nach der Geburt voneinander getrennt und anschließend wiedervereinigt wurden, diese vermehrte soziale Interaktion und geringere Stress-Reaktivität eben nicht zeigten. Insgesamt legen diese Daten es nahe, dass es unmittelbar nach der Geburt ein biologisches »Fenster« gibt, eine Zeit, in der die Entwicklung sozial-interaktiver Verhaltensweisen und die Fähigkeit, mit Stress fertig zu werden, bei menschlichen Mutter-Kind-Dyaden in der gleichen Weise verstärkt werden dürften wie bei anderen Arten von Säugern (Bystrova et al. 2009).

Der Oxytocin-Spiegel als Reflex oxytocin-vermittelter zentraler Wirkungen

Mehrere Studien zeigen, dass Mütter in Schwangerschaft und Stillzeit einen bestimmten, sehr individuellen Oxytocin-Spiegel haben. Manche Studien verweisen auch darauf, dass die Höhe der Oxytocin-Werte im Blutkreislauf gewisse Wirkungen des Oxytocins spiegelt, die in Wahrheit im Gehirn stattfinden. Mütter mit hohen Oxytocin-Spiegeln während Schwangerschaft und Stillzeit haben größere Babys, interagieren mehr mit ihren kleinen Kindern und stillen sie länger. Auch das Ausmaß ihrer sozialen Interaktion und ihrer Gelassenheit, ermittelt durch Personenfragebögen wie die Karolinska Scales of Personality, und die Menge an Milch, die während des Stillvorgangs ausfließt, korrelieren mit den Oxytocin-Spiegeln während des Stillens. Zusammengenommen sprechen diese Daten für die wichtige regulierende Rolle des Oxytocins bei diesen Anpassungsleistungen von Müttern (Uvnäs-Moberg et al. 1990a, b; Silber et al. 1991; Nissen et al. 1996, 1998; Feldman et al. 2007).

Die Bedeutung der durch engen Kontakt vermittelten Oxytocin-Ausschüttung für die Entwicklung einer sicheren Bindung

John Bowlby erdachte das Bindungskonzept, um beschreiben zu können, dass und wie das ängstliche oder erschrockene kleine Kind sich um Hilfe an die Mutter wendet, um sich beschützt zu fühlen und wieder zur Ruhe zu kommen. Gemeinsam mit Mary Ainsworth definierte er verschiedene Arten von Bindungsstilen, wie das Kind sie entwickeln kann. Sicher gebundene Kinder reagieren auf eine kurze Trennung von der Mutter üblicherweise gestresst, aber sie gewinnen ihre Sicherheit nach der Rückkehr der Mutter relativ rasch wieder und beginnen ihr Spiel von neuem. Unsicher gebundene Kinder reagieren anders, etwa mit Vermeidung oder Kummer. Sicher gebundene Kinder reagieren auf den Trennungstest (die »Fremde Situation«) auch mit einem geringeren Kortisolausstoß als unsicher gebundene Kinder (Ainsworth & Wittig 1969; Spangler & Grossmann 1993).

Die oben beschriebenen Mutter-Kind-Dyaden, denen Hautkontakt unmittelbar nach der Geburt ermöglicht wurde, pflegten einen lebhafteren Austausch miteinander und zeigten eine höhere Stresstoleranz. Das Entstehen einer sicheren Bindung könnte also etwas mit dem häufigen engen Kontakt mit der Mutter (oder mit anderen erwachsenen Personen) zu tun haben. In solchen Augenblicken des engen Kontakts kommt es beim Kind (und übrigens auch bei der Mutter) zu einer Aktivierung der für die Oxytocin-Ausschüttung in das Gehirn zuständigen Nervenzellen, mit der Folge, dass der wechselseitige Austausch, die Bindung und übrigens auch die stressregulierenden Systeme stimuliert werden. Im Laufe der Zeit brauchen Kind und Mutter die tatsächliche Berührung oder Nähe vielleicht gar nicht mehr, um das Gefühl der Gelassenheit und des Verbundenseins zu spüren. Lautliche Äußerungen oder die Anwesenheit der Mutter reichen dem Kind dann, ja vielleicht reicht ihm sogar das innere Bild der Mutter, zumindest wenn es keinen Anlass hat, sich zu ängstigen. Man kann also annehmen, dass Gelassenheit, Wohlbefinden und ein verminderter Stresspegel in einem konditionierten oder »pawlowschen« Zusammenhang mit den Eltern stehen. Tatsächlich gibt es einen Bezug zwischen den Oxytocin-Spiegeln und dem Kontaktverhalten junger »ungebundener« Erwachsener (Gordon et al. 2008). Auch die Mutter reagiert unter Umständen ängstlich, wenn sie von ihrem Kind getrennt ist, und beruhigt sich, wenn beide wieder beisammen sind (Uvnäs-Moberg 2007).

Die positiven Wirkungen einer sicheren Bindung

Der Zusammenhang mit Nähe und Berührung lässt vermuten, dass sichere Bindung vielleicht nicht nur mit verringerter Angst, mit Gelassenheit und einer reduzierten Aktivität der HPA-Achse zu tun hat, sondern auch mit anderen oxytocin-vermittelten Wirkungen wie Wohlbefinden, einem verminderten Schmerzempfinden, einer abgeschwächten Entzündungsreaktion und einer geringeren Aktivität des sympathischen Nervensystems sowie einer erhöhten Aktivität des parasympathischen/vagalen Systems. Das bedeutet, dass das Eingehen von Bindungen mit Eltern und Freunden nicht nur der Sicherheit und der Stressreduzierung dient, sondern auch gesundheitsfördernd und heilend wirkt (Uvnäs Moberg 1998; Uvnäs Moberg & Petersson 2005, 2010).

Im Gegensatz dazu könnte eine unsichere Bindung mit Vermeidungs- und Abwehrreaktionen in Gegenwart anderer Menschen einhergehen, und unsicher gebundene Individuen könnten eher als andere in Gefahr sein, Depressionen und Angststörungen, aber auch stress-induzierte Störungen wie eine Hyperaktivität der HPA-Achse und des sympathischen Nervensystems zu entwickeln.

Die positiven Wirkungen von Nähe und Vertrautheit und die Oxytocin-Ausschüttung im weiteren Verlauf des Lebens

Oxytocin wird in Situationen des engen Kontaktes zwischen erwachsenen Menschen ausgeschüttet, und enger Kontakt wirkt weiterhin beruhigend auf Menschen jeden Alters. Er sorgt dafür, dass Blutdruck und Kortisolspiegel sinken. Das lässt sich am Beispiel positiver Beziehungen und des Echos auf Hilfe und Unterstützung beobachten. Auch wenn diesem Umstand noch nicht im Einzelnen nachgegangen worden ist, kann man annehmen, dass unter dem Einfluss engen Kontaktes die Schmerzempfindlichkeit geringer ist, Kortisolspiegel und Blutdruck abfallen und die Aktivität jener Systeme unterstützt wird, die mit der Aufnahme und Speicherung von Nährstoffen, mit Wachstum und Wiederherstellung befasst sind. Zudem erhöht sich die Fähigkeit zum sozialen Engagement und zur Bindung an andere. Alles in allem kommt es zur erhöhten Aktivität des growth and relaxation- bzw. des calm and connection-Systems. In Reaktion auf wiederholte Erfahrungen des engen Kontaktes »schleifen sich« die oben erwähnten Wirkungen »ein« und können als gesundheitsfördernde Wirkungen in lang anhaltenden Beziehungen beobachtet werden (Grewen et al. 2005; Heinrichs et al. 2003; Rosengren et al. 2004; Wang et al. 2005).

Unterstützung während der Entbindung ist eine besondere Form der mitmenschlichen Unterstützung

Nähe, Berührung und Wärme, verbunden mit mentaler Unterstützung, lassen sich in klinischen Situationen vielfach einsetzen. Klaus und Kennel haben gezeigt, dass Geburten rascher und mit weniger Komplikationen vor sich gehen, wenn eine hilfreiche Person (eine doula oder Geburtshelferin) anwesend ist. Ihre Präsenz kann die Dauer der Wehen erwiesenermaßen verkürzen und in manchen Fällen sowohl einen Kaiserschnitt als auch die Verabreichung von Schmerzmitteln und die zusätzliche Oxytocingabe während der Wehen unnötig machen. Dank der Anwesenheit der Geburtshelferin erlebt und erinnert die Mutter die Geburt ihres Kindes positiver und entwickelt eine bessere und positivere Beziehung zu ihm. Diese positiven Wirkungen halten mehrere Wochen lang an. Offensichtlich hat also der physische und mentale Austausch mit der doula die Oxytocinausschüttung in das Gehirn stimuliert und/oder die Funktion des Oxytocins verstärkt (Klaus et al. 1972; Kennell et al. 1975; Campbell et al. 2007).

Oxytocin, Sozialangst und Autismus

Manche Menschen scheinen besonders anfällig für Kommunikations- und Interaktionsschwierigkeiten zu sein, z. B. Personen mit Angststörungen oder Störungen, die dem autistischen Spektrum zugerechnet werden. Menschen, die an einer Sozialphobie leiden, empfinden bei Begegnungen mit anderen unter Umständen Angst, während Individuen mit autistischen Störungen zusätzlich Probleme mit der Kognition, mit der emotionalen Äußerung und mit dem Verständnis für die Emotionen anderer haben. Häufig meiden sie den nahen Kontakt, etwa den Augenkontakt und den engen körperlichen Kontakt.

In mehreren Studien klingt der Gedanke an, dass die Funktion des Oxytocinsystems bei Menschen, die an Sozialangst oder an Autismus und Schizophrenie leiden, aus dem Ruder gelaufen sein könnte, und zwar aufgrund anomaler Oxytocin-Spiegel (Hoge et al. 2008; Modahl et al. 1998; Goldman et al. 2008). Unlängst hat man festgestellt, das bei Autisten eine Störung der Funktion des Oxytocinrezeptors vorliegen könnte, die ihrerseits auf einer fehlerhaften Struktur des Rezeptorgens beruhen könnte (Wu et al. 2005; Lerer et al. 2008). Zusätzlich zu diesen genomischen Abweichungen ist auch eine epigenetische Dysregulierung dieses Gens aufgezeigt worden (Gregory et a. 2009; Gurrieri & Neri 2009).

Behandlung mit Oxytocin

Da hinter manchen Formen von Störungen der sozialen Interaktion und Kommunikation eine beeinträchtigte Oxytocinfunktion liegen könnte, bietet sich der Gedanke an, dass die Schwierigkeiten sich durch eine Behandlung mit Oxytocin beheben lassen könnten. In der Tat gibt es Studien, die zeigen, dass die Verabreichung von Oxytocin die Sozialkompetenz von Menschen mit autistischen Störungen stärkt. So hat man festgestellt, das Oxytocininfusionen (in Mengen, wie sie üblicherweise während der Wehen gegeben werden) die Fähigkeit autistischer Personen erhöhen, sich die Bedeutung der Stimmlage eines Gegenübers zu erklären, und dass die intranasale Verabreichung von Oxytocin die Fähigkeit stärkte, Gesichtsausdrücke junger Männer zu »lesen« (Hollander et al. 2007; Guastella et al. 2009). Intranasale Oxytocingaben scheinen auch bei Menschen mit Sozialphobien positive Effekte zu haben (Guastalla et al. 2009).

Fazit

Ohne allen Zweifel ist aufgezeigt worden, dass das Oxytocinsystem von großer Bedeutung für die soziale Interaktion und für die Beziehungen von Menschen – und übrigens auch anderen Säugern – untereinander ist. Die Oxytocinausschüttung/-Funktion wird durch alle möglichen Arten der nicht-schädlichen sensorischen Stimulierung und durch analoge sensorische und mentale »Signale« erhöht, so durch Menschen, denen wir verbunden sind oder die wir ganz einfach als freundlich und sympathisch betrachten. Wenn solche Stimuli frühzeitig im Leben empfangen werden, nämlich gleich nach der Geburt, dann werden die Wirkungen länger anhalten, als wenn sie erst später empfangen werden. Die frühe Aktivierung des Oxytocinsystems kann sich später als sichere Bindung, als gesteigertes Wohlbefinden, als die Fähigkeit, mit Belastungen fertig zu werden, und vielleicht auch als gesteigerte Fähigkeit zu restaurativen Prozessen äußern. Da die Fähigkeit zur positiven sozialen Interaktion, beispielsweise zur elterlichen Fürsorge, gesteigert wird, könnten diese Wirkungen auf die nächste Generation übertragen werden.

Es ist von höchster Wichtigkeit, dass die Gesellschaft insgesamt das Vorhandensein und die Bedeutung des Oxytocinsystems begreift und sich darüber klar ist, dass man seine Funktion beeinflussen kann. Unterstützung während der Wehen und enger Kontakt zwischen Eltern und Kind insbesondere am Anfang des Lebens sind starke Stimulatoren der Oxytocinausschüttung und -Funktion. Medizinische Eingriffe im Zusammenhang mit einer Geburt oder die Trennung von Mutter und Neugeborenem können den Oxytocin-Spiegel senken und die oxytocin-vermittelten Wirkungen schwächen (Nissen et al. 1996, 1998; Jonas et al. 2007, 2008b, 2009). Es ist vielleicht nicht möglich, Individuen mit genetischen Abweichungen im Oxytocinsystem – wie etwa mit autistischen Störungen – zu »normalisieren«, aber die Folgen dieser Abweichungen lassen sich möglicherweise mildern. Und darüber hinaus dürfte die oyxytocin-vermittelte Stimulierung des sozialen Austauschs und der Stressbewältigung von Bedeutung für die zukünftige Gesundheit von Müttern und Kindern sein.

growth and relaxationcalm and connection