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Ruth Gogoll

WIE EIN STERN, DER VOM HIMMEL FÄLLT

Roman

Originalausgabe:
© 2007
ebook-Edition:
© 2013

édition el!es

www.elles.de
info@elles.de

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-95609-062-2

Coverillustration:
© senoldo – Fotolia.com

»Wirst du wohl loslassen! Das ist meins!«

Bumms lag ich flach, weil mein Hund Otto meine Worte ernstgenommen hatte.

»Du Biest!« schimpfte ich ihn aus – und er saß gemütlich da und lächelte. Das heißt, er lächelte nicht, er hechelte, aber es sah genauso aus.

»Ja, jetzt lach mich auch noch aus!« schimpfte ich weiter und erhob mich vom Boden. Als er meinen Schal losgelassen hatte, an dem wir von beiden Seiten zogen, war ich ziemlich schmerzhaft mit dem festen Untergrund in Berührung gekommen. Ich stöhnte.

Prompt kam er an und leckte meine Hand.

»Meinst du, dadurch wird es wieder gut?« fragte ich ihn, immer noch ärgerlich. Er hob seine treuen braunen Augen zu mir auf. »Ja, das denkst du, nicht wahr?« Ich musste lachen und wuschelte ihm über den Kopf. Ich konnte ihm nicht länger böse sein. So hatte er es ja auch nicht gemeint. Ich hatte ihn einfach zu sehr vernachlässigt in letzter Zeit, und er wollte spielen. Das war sein gutes Recht.

»Also dann, komm«, sagte ich.

»Wuff! Wuff!« Die Freude, dass ich nun endlich mit ihm spazierenging, war ihm am Gesicht abzulesen.

Ich nahm die Leine, öffnete die Tür, und er raste mit einem Affenzahn die Treppe hinunter. Unten hörte ich eine Stimme laut fluchen. Verdammt, das war bestimmt wieder die neue Nachbarin! Die konnte Hunde nicht leiden – und Otto noch weniger als alle anderen.

Ich seufzte. Ich musste mich bei ihr entschuldigen.

Als ich unten ankam, sah ich die Bescherung sofort. Eine Keksdose war auf der Steintreppe zerschellt, der Inhalt lag überall verteilt, die Nachbarin kroch auf dem Boden herum und versuchte zu retten, was zu retten war – und Otto stand daneben und wedelte, wenn er nicht gerade seine Nase in die Kekse steckte und versuchte sie zu klauen und zu fressen.

»Das . . . das tut mir schrecklich leid«, sagte ich bedripst, als ich endlich meine Bestürzung überwinden konnte. »Ich werde die Kekse natürlich ersetzen.«

Sie hob den Kopf. »Die sind selbstgebacken«, sagte sie mürrisch. »Die kann man nicht ersetzen.«

»Ich . . . ich . . . dann backe ich Ihnen eben welche. Ich meine, ich kann das nicht besonders gut . . .« Ich lachte verlegen. »Um die Wahrheit zu sagen, habe ich das noch nie gemacht – aber ich werde es schon schaffen.«

»Lassen Sie nur.« Sie stand auf und überließ Otto den Rest der zertrümmerten Keksherrlichkeit. »Ich werde neue backen.« Sie schaute noch einmal auf die Krümel, die unter Ottos flinker Zunge immer weniger wurden. »Wenigstens der Hund hat etwas davon.«

»Otto, komm her!« rief ich scharf.

Otto blickte auf, wedelte kurz und widmete sich dann wieder den Keksen.

»Besonders gut erzogen ist er nicht«, sagte die Nachbarin mit tadelndem Blick.

»Doch . . . doch, eigentlich schon«, stammelte ich verwirrt. »Ich war sogar mit ihm in der Hundeschule, und da war er einer der besten. Ich verstehe auch nicht, was los ist. Das muss an den Keksen liegen.«

Weshalb ich so stammelte, das lag allerdings nicht an den Keksen. Es lag an ihrem Blick. Ich hatte bislang noch nie ihre Augen gesehen, schon gar nicht so aus der Nähe, und so war mir auch nicht aufgefallen, wie außergewöhnlich . . . schön sie waren.

»Dann sollte ich die nächste Ladung vielleicht als Hundekuchen verkaufen«, sagte sie mit trockenem Humor.

Ich musste lachen. »Das wäre eine Geschäftsidee: Hundekekse der besonderen Art.«

Sie drehte sich um und wollte die Treppe hinaufsteigen.

»Warten Sie!« Ich wollte den Blick dieser Augen nicht verlieren. »Ich muss Ihnen doch wenigstens den Wert der Kekse ersetzen, wenn ich Ihnen schon keine backen darf.«

»Den kann man nicht ersetzen«, sagte sie. »Der Wert ist . . . unbezahlbar.«

O Gott! Wie sie das sagte . . . das klang ja, als ob . . . es klang traurig. Als ob Otto mehr zerstört hätte als eine Mischung aus Zucker, Mehl und Eiern.

»Das . . . das wusste ich nicht«, murmelte ich betreten. »Es tut mir leid. Kann ich denn gar nichts tun, um den Verlust auszugleichen?«

»Halten Sie Ihre Töle von mir fern«, sagte sie, drehte sich um und ging.

Ich setzte mich entgeistert auf die unterste Treppenstufe. »Da hast du ja was Schönes angerichtet«, sagte ich vorwurfsvoll zu Otto.

Er kam zu mir herüber, immer noch mit Krümeln auf der Nase, und sah mich aufmerksam an. Seine Rute machte einen vorsichtigen Versuch zu wedeln, abwartend, was Frauchen denn nun tun würde.

Ich sah ihn an. »Sie mag keine Hunde, verstehst du? Zu solchen Leuten muss man immer besonders nett und höflich sein und darf sie nicht über den Haufen rennen. Dann werden sie nämlich stocksauer. Wirst du dir das hinter die Ohren schreiben?« Ich zog ihn leicht an einem derselben.

»Wuff!« machte er.

Ich seufzte. »Ja, das sagst du immer . . . und dann?« Ich stand auf und öffnete die Haustür. »Jetzt tob dich gefälligst draußen aus, damit du wenigstens beim Zurückkommen kein Unheil mehr anrichten kannst.«

Er schoss davon. Er hatte das schon alles wieder vergessen.

Aber ich nicht.

Ich sah ihre Augen vor mir, und sie konnte sein, wie sie wollte – sie interessierte mich. Da hatte etwas in ihrem Blick gelegen . . . ich wusste auch nicht, was. Aber eines wusste ich: Was auch immer sie war, sie war kein schlechter Mensch. Sie war traurig und distanziert, aber weder das eine noch das andere hatte der Vorfall mit den Keksen ausgelöst.

Sie wollte aus einem ganz anderen Grund nichts mit den Menschen zu tun haben.

Ich trat vor die Tür und sah mich nach Otto um. Wie immer fegte er am Waldrand entlang. Direkt vor dem Haus begann der Stadtforst, deshalb hatte ich die Wohnung genommen. Damit Otto genügend Auslauf hatte. Ein Schäferhund ist kein Schoßhündchen, der braucht Bewegung.

Ich pfiff nach ihm. Mit wehenden Ohren kam er über die Wiese galoppiert. »Komm«, sagte ich. »Wir fahren runter zum Weiher.« Ich griff nach dem kleinen Hundeschlitten, der neben der Tür stand.

Otto sprang aufgeregt hin und her.

»Nun steh schon still«, sagte ich lachend, »sonst kann ich dich doch nicht anschirren. Und dann können wir nicht losfahren.«

Also ob er mich verstanden hätte, stand er plötzlich ganz ruhig und ließ sich das Geschirr anlegen.

Ich streichelte seinen großen, freundlichen Kopf. »Du bist ein verkleideter Husky, könnte man meinen. Kein anderer Hund zieht so gern einen Schlitten wie du.«

»Wuff! Wuff!« machte er bestätigend.

Ich setzte mich auf den Schlitten, und sofort zog Otto an und lief los. Es war seine größte Freude, wenn dabei auch noch Schnee lag. Im Sommer montierte ich Räder unter die Kufen, damit er nicht auf sein Vergnügen verzichten musste, aber richtig originalgetreu war es nur im Winter. Mit Glöckchen und der kalten, weißen Pracht ringsum.

Am Weiher angekommen schirrte ich ihn ab, und er stürzte auf seine schon anwesenden Hundefreunde los. Sie spielten miteinander, während einige ihrer Herrchen und Frauchen auf dem Weiher in Schlittschuhen ihre Kreise zogen. Es war ein knackig kalter Winter, und der Weiher war vollständig zugefroren.

Nach einer Weile kam einer der Schlittschuhläufer an den Rand. »Na, so nachdenklich heute?« Er stapfte über den Schnee und setzte sich neben mich auf die Bank.

»Was macht man mit einer Frau, die keine Hunde mag?« sagte ich, legte meine Stirn in Falten und mein Kinn in die Hand.

»In Ruhe lassen?« fragte er.

Ich sah ihn an.

»Ah, ich sehe schon, das willst du nicht. Aber du weißt, Leute, die keine Tiere mögen, sind meistens keine angenehmen Zeitgenossen. Also besser auf Abstand bleiben, würde ich sagen.«

»Ach, Timo, was sollen denn diese Alltagsweisheiten? Von dir hätte ich mehr Phantasie erwartet.« Ich schaute ihn verärgert an.

»Ich bin Schauspieler«, sagte er und zuckte mit den Schultern. »Die Phantasie haben die anderen. Die, die die Geschichten schreiben. Ich setze das nur in Bilder um.«

»Das machst du aber toll«, sagte ich und lächelte. »Und dazu gehört schließlich auch einiges.« Er war selbst ein Bild von einem Mann . . . groß, dunkel, breitschultrig – und schwul.

»Nicht sehr viel«, sagte er. »Es liegt mir im Blut.« Er sah mich an. »Und dir liegt diese Frau im Blut?«

Ich schüttelte verständnislos gegenüber mir selbst den Kopf. »Eigentlich gar nicht. Bis heute kannte ich sie so gut wie überhaupt nicht. Sie hat sich ein paarmal über Otto beklagt, seit sie eingezogen ist. Das allein hat uns schon voneinander ferngehalten. Und sie wohnt ja auch noch gar nicht lange in unserem Haus.«

»Eine neue Nachbarin?« Er lachte. »Die nimmst du doch sonst immer ganz besonders genau unter die Lupe!«

Ich boxte ihn heftig in die Seite. »Spinner! Die meisten sind hetero und kommen sowieso nicht in Frage. Die sind uninteressant. Das dachte ich von ihr auch.«

»Jetzt nicht mehr?« Seine Augen konnten so mitfühlend blicken, dass jede Frau, die nicht wusste, dass er schwul war, sofort dahinschmolz. Das machte den größten Teil seines Erfolges aus. Er war ein Frauenschwarm. Wenn die wüssten . . .

»Ich weiß nicht. Da war etwas, als sie mich angesehen hat . . .« Ich winkte ab. »Ach, wahrscheinlich nur Einbildung. Warum sollte sie lesbisch sein? Sie backt Plätzchen!« Ich lachte ein wenig.

»Das tue ich auch«, sagte Timo etwas beleidigt.

Ich blickte ihn an. »Eben«, sagte ich.

Als ich mit Otto zurückkehrte, war alles still im Haus. Doch den Flur durchzog ein süßer Duft.

Sie backt, dachte ich lächelnd. Und es war mir, als käme ich nach Hause – zu ihr, in die Küche, wo sie in einer mehlbestäubten Schürze stand und ein Blech in den Ofen schob.

Albern, dachte ich. »Albern!« wiederholte ich laut. So laut, dass Otto mich fragend ansah. »Hast du nicht ein dummes Frauchen?« sagte ich zu ihm. »Ein dummes, dummes, dummes Frauchen!«

»Wuff?« machte Otto.

»Ach du . . .« Ich strich ihm liebevoll über den kantigen Schädel. »Wenn ich dich nicht hätte . . .«

Otto richtete sich auf und legte mir die Pfoten auf die Schultern, sein Kopf überragte meinen. Seine Zunge näherte sich gefährlich meinem Gesicht.

»Nicht!« Ich lachte und sprang zur Seite, so dass Otto wieder auf allen Vieren vor mir stand. »Du sollst mich doch nicht abschlecken!« Otto wedelte mit einem schelmischen Seitenblick, weil er seine Chancen abschätzte, vielleicht doch noch zu einem kleinen Schlecker zu kommen. Ich strich ihm erneut über den Kopf. »Aber es ist nett, dass du mich trösten willst. Komm!« Ich lief schnell die Treppe hinauf. »Oder willst du gar nicht sehen, was gleich in deinem Napf ist?«

»Wuff, wuff, wuff!« Otto sprang neben mir her, vor mir hoch bis zur Wohnungstür, kam wieder zurück und feuerte mich begeistert hechelnd an, weil ich die Stufen nicht so schnell bewältigen konnte wie er. Erneut erschallte sein »Wuff, wuff, wuff!«

»O Gott, Otto, sei leise!« Ich verharrte auf der Treppe, während Otto mich etwas verständnislos ansah. »Gleich beschwert sie sich wieder über dich«, flüsterte ich ihm zu, was ihn aber nicht zu erschüttern schien. Während ich erstarrt wartete, dass sich über mir die Tür öffnete und ein ärgerlicher Kommentar mir den Tag verderben würde, geschah . . . nichts. Ich hörte keine Schritte, die sich der Tür näherten, keinen Schlüssel, der klapperte, während sie die Ketten ihrer Festung löste.

Meine Muskeln fingen an sich zu verkrampfen, weil ich in einer sehr unbequemen Position stehengeblieben war. Ich richtete mich auf und nahm vorsichtig die nächste Treppenstufe, immer noch in der Erwartung, dass der Sturm gleich losbrechen würde. Es waren nur noch ein paar Stufen bis zu meiner Wohnung.

Als ich angekommen war und aufschloss, horchte ich noch einmal hinauf. Sie hatte die Wohnung direkt über mir. Aber kein Laut. Alles war still.

Aufseufzend öffnete ich die Tür, Otto sprang hinein, und ich folgte ihm.

Otto kam bereits das zweite Mal aus der Küche zurück und lief immer wieder wegweisend um die Ecke, während ich noch meinen Mantel aufhängte.

»Ich weiß, wo die Küche ist, Otto!« sagte ich lachend. Er meinte immer, wenn ich so lange brauchte, den Raum zu finden, hätte ich es wohl vergessen. »Du wirst schon nicht verhungern!«

Er bezweifelte das eindeutig, denn er kam an und schob mich in die gewünschte Richtung.

»Otto!« Er interpretierte den Klang meiner Stimme richtig und hörte auf zu schieben.

Ich füllte seinen Napf, und endlich konnte er sicher sein, dass ich ihn nicht verhungern ließ, und begann zu fressen.

Ich ging ins Wohnzimmer hinüber, setzte mich in einen Sessel und blickte zur Decke. Manchmal hörte ich die Schritte meiner Nachbarin über mir, aber im Moment war alles still. Trotz Ottos Gebell schien die Wohnung oben wie ausgestorben.

Dass es dort so ruhig war, war nichts Besonderes. Meine Nachbarin empfing nie Besuch und sie ging auch sehr wenig aus. Seit zwei Monaten wohnte sie nun hier, und obwohl ich nicht immer zu Hause war, hatte ich den Verdacht, dass in den gesamten zwei Monaten niemand außer ihr diese Wohnung betreten hatte.

Es gab sechs Parteien im Haus, und da es ein so kleines Haus war, hatte eigentlich bisher jeder Nachbar, zumindest aber jede Nachbarin, die neu einzog, die Runde durchs Haus gemacht und sich vorgestellt oder die anderen Hausbewohner zum Kaffeeklatsch eingeladen. Sie nicht. Wenn auf dem Klingelschild nicht ihr Name gestanden hätte, hätte ich nicht einmal gewusst, wie sie hieß.

Der einzige Kontakt war Otto. Wahrscheinlich hatte ich durch ihn mehr mit der neuen Nachbarin zu tun gehabt als jeder andere im Haus. Leider nicht zu meinem Vergnügen.

Wenn man einmal von heute absah . . . Heute war es irgendwie anders gewesen. Heute hatte ich in ihre Augen gesehen . . .

Das Telefon klingelte und riss mich aus meinen Gedanken. »Ah, Timo«, sagte ich, nachdem ich abgenommen hatte.

»Du hast doch sicher gerade nichts zu tun«, sagte er. Seine Stimme hatte diesen verführerischen Soap-Opera-Schmelz, für den er berühmt war.

»Woraus schließt du das?« fragte ich. Ich musste grinsen. Er war so leicht zu durchschauen. Für mich. Heterofrauen schien das entsprechende Gen zu fehlen, wenn ich deren Reaktionen auf seinen Charme manchmal so beobachtete.

»Oder hast du deine Nachbarin inzwischen näher kennengelernt?« fragte er spitzbübisch.

»Wann? In der letzten Viertelstunde, seit wir uns am Weiher verabschiedet haben?« Das konnte er kaum ernsthaft annehmen. Obwohl – er war ein Mann . . . ein schwuler Mann zudem. Bei denen gingen solche Dinge manchmal wahnsinnig schnell.

»Zeit genug«, erwiderte er. »Mehr als Zeit genug.« Ich hörte sein Grinsen.

»Also – was willst du?« fragte ich, bevor er das Thema vertiefen konnte. »Wofür soll ich Zeit haben?«

»Das Drehbuch . . .«, begann er vorsichtig.

»Sag es nicht!« Ich sprang mit einem Satz aus dem Sessel auf. »Sag nicht, dass sie es schon wieder geändert haben will!«

»Doch, will sie.« Er machte eine kleine, wirkungsvolle Pause. »Sie findet die Folge zu lahm.«

»Zu lahm?« Ich holte tief Luft. »Zu lahm?« Worte konnten meiner Empörung nur schwach Ausdruck verleihen.

»Du weißt, wie sie ist«, sagte er seufzend.

»Ich weiß, wie sie zu mir ist«, wandelte ich seine Aussage ab, »und warum.«

»Ihr solltet eure Beziehung noch einmal überdenken«, schlug er sanft vor. »Damit die Zusammenarbeit besser klappt.«

»Unsere Beziehung? Welche Beziehung?« fragte ich ärgerlich. »Wir haben keine mehr.«

»Irgendwie scheint sie das noch nicht mitbekommen zu haben«, meinte er trocken.

»Ich habe wie eine Blöde an den letzten Änderungen gearbeitet, die sie wollte«, sagte ich. »Otto wusste schon kaum mehr, wie ich aussehe. Erst heute konnte ich einmal wieder länger mit ihm spazierengehen. Ich hatte nicht die Absicht, das zum Dauerzustand werden zu lassen.«

Otto tapste herein und legte mir seinen großen Kopf in den Schoß. Ich streichelte ihn automatisch.

»Dann solltest du nicht für eine Soap schreiben«, sagte Timo. »Das ist nun mal der härteste Job, den es gibt.«

»Ich sollte nicht für eine Soap schreiben, bei der eine Ex von mir Regie führt«, sagte ich, während meine Backenzähne wütend mahlten. »Sie fand die Folge zu stressig, zu schnell, zu actionreich, also habe ich alles rausgeschmissen, was auch nur entfernt an Action erinnert, und jetzt wagt sie zu behaupten, es wäre . . . lahm!« Ich konnte das Wort kaum aussprechen. Meine Empörung wuchs.

»Leg ihr doch einfach die alte Fassung wieder vor«, sagte Timo. »Sie hat mich angerufen, um mir zu sagen, ich soll mir mit dem Textlernen noch Zeit lassen, du würdest das alles neu schreiben.«

»Diese . . .!« Ich sprach es lieber nicht aus.

»Ich weiß«, sagte Timo. »Entspann dich doch vorher ein bisschen mit deiner Nachbarin, bevor du anfängst, alles noch einmal umzuschreiben.« Er lachte leicht. »Dann fällt es dir vielleicht leichter. Vor allem die Liebesszenen.«

»Liebesszenen? Mit meiner Nachbarin? Du spinnst!« Ich musste selbst lachen. »Diese Nachbarin ist nicht die geeignete Person dafür.«

»Bist du da ganz sicher?« fragte Timo. Er klang belustigt.

»Ich glaube, die längste Zeit, die ich sie am Stück gesehen habe, waren ungefähr zwei Minuten«, sagte ich. »Ein bisschen wenig, um überhaupt darüber nachzudenken.«

»Ihr Frauen seid echt kompliziert«, sagte Timo. »Bei uns reichen zwei Minuten für –«

»Ich weiß, wofür das bei euch reicht«, unterbrach ich ihn, »aber bei uns geht das eben nicht so schnell.«

»Da Marika dich noch nicht angerufen hat, sondern nur mich, weißt du ja eigentlich noch nichts von den Drehbuchänderungen«, sagte er, »also könnten wir heute Abend doch noch einmal die Stadt unsicher machen. Was meinst du?«

»Ich weiß nicht«, sagte ich. »Sie hat bestimmt damit gerechnet, dass du mich anrufst und dass ich gleich anfange.«

»Damit kann sie ja rechnen«, sagte Timo, »aber verlangen kann sie es nicht. Dann müsste sie dich selbst anrufen.«

»Was sie seit unserer Trennung tunlichst vermeidet«, ergänzte ich.

»Eben. Dann ist sie doch selbst schuld, oder nicht?« sagte Timo. »Also komm, lass mich nicht im Stich. So ganz allein im Pimpernel, das ist einfach zuviel für mich. All die Jungs . . .«

»Was meinst du, wie allein ich mich dort fühle unter all den Jungs?« fragte ich zurück. »Wann verirrt sich schon einmal eine Frau dorthin? Und wenn ja, was für eine?«

»Bring doch deine Nachbarin mit«, lachte er.

»Du Affe!« schimpfte ich gutmütig und legte auf. »Ach Otto . . .« Ich schaute meinem nun schon seit Jahren ständigen Begleiter in die treuen braunen Augen. »Warum können wir kein Paar sein?«

Otto nickte begeistert.

»Wäre schön, nicht?« fragte ich ihn.

Er richtete sich auf und legte eine Pfote in meinen Schoß.

»Dass wir nicht derselben Art angehören, darüber könnte ich ja noch hinwegsehen«, sagte ich, »aber über eins leider nicht: Du hast entschieden das falsche Geschlecht.«

»Wuff!« bestätigte Otto fröhlich schwanzwedelnd.

In der Wohnung über mir schien sich etwas zu rühren. »Das war ein Wuff zuviel«, sagte ich seufzend zu Otto und zog schicksalsergeben die Stirn kraus.

Es hatte keinen Sinn, sich noch länger um die Sache herumzudrücken. Angriff ist die beste Verteidigung. Ich verwies Otto auf seine Decke, was er mit einem traurigen Gesichtsausdruck quittierte, aber es musste sein. Sonst war er immer der Sympathieträger, von dem ich profitierte, aber in diesem Fall nun einmal nicht. Ich verließ meine Wohnung und stieg den Absatz bis zum nächsten Stock hinauf.

Ich überlegte noch, ob ich lieber klingeln oder klopfen sollte, da öffnete sich die Tür. Meine Nachbarin schaute mich an. Kein Muskel in ihrem Gesicht zuckte. Sie wirkte wie eine Statue.

»Ich . . .« Ich räusperte mich. »Ich kann Otto leider nicht die Stimmbänder herausoperieren lassen«, sagte ich entschuldigend. »Ich weiß, dass Sie sein Bellen stört, aber er ist eben ein Hund. Weil ich das nicht ändern kann, würde ich Sie gern zum Kaffee einladen. Wann immer Sie wollen . . . Wann Sie Zeit haben.«

Meiner Auffassung nach hatte sie die immer, aber das hieß ja noch lange nicht, dass sie sie mit mir verbringen wollte.

»Das ist nicht nötig«, sagte sie, immer noch mit diesem starren Gesichtsausdruck.

»Sehen Sie . . .« Ich knetete meine Hände. »Ich bin ein etwas harmoniesüchtiger Mensch. Ich möchte mit allen Menschen in Einklang leben, zumindest nicht im Streit.« Ich lachte verlegen. »Ich weiß, das ist mein Fehler, aber ich kann es nun einmal nicht ändern. Ich möchte nicht das Gefühl haben, dass Sie sich ständig über mich ärgern . . . oder über Otto. Er ist noch harmoniesüchtiger als ich«, fügte ich mit einem treuherzigen Augenaufschlag hinzu.

Es schien, als ob ihr Gesicht etwas von seiner Starrheit verlöre, oder war das nur Einbildung?

»So schlimm ist es auch wieder nicht«, sagte sie.

Ich atmete erleichtert aus. »Da bin ich aber froh. Sie sind nicht böse auf mich?«

»Böse.« Sie wiederholte das Wort, als käme ihr seine Bedeutung erst jetzt zu Bewusstsein. »Sie meinen, ich wäre böse auf Sie?«

»Na ja, Sie haben sich schon öfter über Otto beschwert, und ich kann verstehen, dass –«

»Ich bin nicht böse auf Sie«, unterbrach sie mich. »Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte.« Sie wollte die Tür schließen.

»Der Kaffee . . .«, warf ich schnell ein. »Wollen Sie nachher nicht für ein Viertelstündchen runterkommen? Ich habe eine sehr begabte Kaffeemaschine, so ein italienisches Modell, das Kaffeevariationen herstellen kann, von denen ich nicht einmal den Namen kenne.«

»Sie scheinen zu all Ihren Mitbewohnern ein inniges Verhältnis zu haben«, sagte sie, »zu Ihrem Hund, zu Ihrer Kaffeemaschine . . .« Wenn das ein Witz sein sollte, hätte sie eigentlich lächeln müssen. Tat sie aber nicht.

»Wie gesagt: harmoniesüchtig.« Ich musste lachen. »Bisher ist mir noch nie aufgefallen, dass sich das nicht nur auf lebende Wesen bezieht, aber Sie haben recht.« Ich versuchte ihre schönen Augen einzufangen, die immer noch etwas starr blickten. »Bitte, tun Sie mir doch den Gefallen«, flehte ich. »Ich kann schon nicht mehr schlafen, weil ich immer das Gefühl habe, Sie zu stören. Ich möchte das aus der Welt schaffen. Wir hatten in diesem Haus immer ein gutes Verhältnis zueinander, man hilft sich gegenseitig aus, wenn es nötig ist, das ist sehr angenehm. Wenn Sie einmal Hilfe brauchen, können Sie sich an jeden hier wenden. Es ist ein nettes Haus.«

Sie schwieg, aber sie schloss die Tür nicht. Ich betrachtete sie, soweit es mir nicht aufdringlich erschien, und bemerkte, dass nicht nur ihre Augen schön waren. Manche Leute meinen, sie machen einer Frau ein Kompliment, wenn sie behaupten, sie hätte ein Gesicht wie eine Madonna. Ich finde Madonnengesichter im allgemeinen hässlich und uninteressant, deshalb würde ich einer Frau so etwas nie sagen.

Ihr Gesicht war das absolute Gegenteil von dem einer Madonna: Es war interessant und schön. Aber es lag auch ein Schmerz darin, der es wie ein Schleier ungreifbar erscheinen ließ. Schon merkwürdig. Sie schien versunken, und doch meinte ich, eine gewisse Ahnung zu spüren, dass diese Versunkenheit nicht ihr Normalzustand war.

»Ich will Sie nicht drängen«, sagte ich. »Ich gehe nach unten und schalte die Kaffeemaschine ein. Wenn Sie Lust haben, kommen Sie einfach, wenn nicht, ist es auch nicht schlimm.« Ich lächelte sie an. »Es freut mich, dass wir einmal ein paar Worte wechseln konnten.«

Sie nickte, und ich wandte mich zur Treppe. Als ich hinunterging, hörte ich sie die Tür schließen.

»Puh, Otto, das war nicht leicht!« erstattete ich Bericht, als ich meine Wohnung wieder betrat.

Otto stand wedelnd vor mir, als ob er den Rest der Geschichte hören wollte, aber wahrscheinlich war er nur froh, dass ich wieder da war.

»Ich habe sie zum Kaffee eingeladen, aber ich glaube nicht, dass sie kommt.« Dennoch ging ich in die Küche und schaltete die Kaffeemaschine ein. Man konnte ja nie wissen. Bei Frauen schon gar nicht. Und außerdem konnte ich jederzeit einen guten Kaffee vertragen.

Otto blieb vor seinem Napf stehen und schaute mich an.

»Willst du als Kugel enden?« fragte ich ihn. Er tat harmlos. »Na gut.« Ich ließ mich überreden. »Aber das bedeutet eine Extratour mit dem Schlitten.«

»Wuff!« Damit war Otto sehr einverstanden.

Ich gab ihm sein Leckerli, und er schleckte den Napf so leer, dass er aussah wie frisch gespült.

»Wenn sie kommt, musst du dich aber benehmen«, sagte ich zu ihm. »Wahrscheinlich hat sie überhaupt keine Erfahrung mit Hunden, und du bist ja nicht gerade ein kleiner. Manchen Leuten macht das Angst.«

Otto legte den Kopf schief. Das konnte er sich beim besten Willen nicht vorstellen. Er war doch der harmloseste Hund der Welt.

»Ich wünschte, davon könnte ich sie überzeugen«, kommentierte ich seine unausgesprochene Meinung. »Aber du weißt, wie es ist. Kein Hund kann so schlimm sein wie ein Mensch, aber wenn er beißt, meist mit gutem Grund, ist er gleich eine Bestie. Obwohl man das von den meisten Menschen eher behaupten könnte.«

Dem konnte Otto nur beipflichten. Er trottete mir ins Wohnzimmer hinterher und legte sich zu meinen Füßen, nachdem ich mich gesetzt hatte.

»Hattest du jemals solchen Stress mit irgendwelchen Hundedamen?« fragte ich ihn.

Otto schaute mich mit schelmisch funkelnden Casanova-Augen an.

»Nein, natürlich nicht.« Ich seufzte. »Nur Menschen sind so kompliziert. Frauen. Die werde ich nie verstehen.« Ich schüttelte den Kopf. »Warum muss man sich nur immer den schwierigsten Teil aussuchen? Männer sind so anspruchslos, mit denen kann man jederzeit ohne großen Aufwand klarkommen.«

Otto wedelte zustimmend. Mit ihm war wirklich leicht klarzukommen, das konnte er anstandslos unterschreiben.

»Aber Frauen . . .« Ich seufzte wieder. »Warum machen Frauen es einem immer so schwer? Warum sind sie so . . .«, ich begann zu lächeln, »schön . . . charmant . . . bezaubernd . . .« Jetzt musste ich noch einmal über mich den Kopf schütteln. »Wahrscheinlich ist das der Preis, den man dafür zahlen muss«, sagte ich. »Wenn man so viel geboten bekommt, muss es ja auch etwas Negatives geben. Sonst wäre das Leben einfach zu schön.«

Ich wusste, dass ich eigentlich hätte anfangen sollen, das Drehbuch umzuschreiben. Meine Nachbarin würde ohnehin nicht kommen, und Marika würde mich in der Luft zerreißen, wenn ich morgen ohne ein überarbeitetes Script ankam. Aber sie würde mich ebenso anfauchen, wenn ich das Buch überarbeitete. Sie würde niemals wieder ein Drehbuch von mir akzeptieren, ohne mich zur Schnecke zu machen.

Ich stöhnte auf. Marika und ich hatten nur eine kurze Affäre gehabt, Marika hatte immer nur kurze Affären, aber das hatte ich nicht gewusst, als ich sie kennenlernte. Sie war sehr überzeugend gewesen bei dem Versuch, mir ihre Liebe zu versichern. Ich hatte ihr geglaubt.

Leider war das ein Fehler gewesen.

Ich war vielleicht kein Kind von Traurigkeit, aber eine Beziehung nicht nur zu dritt, sondern gleich zu viert, zu fünft oder zu sechst, das war mir einfach zuviel. Der Begriff Treue stand nicht in Marikas Wörterbuch. Sie entschuldigte sich noch nicht einmal dafür, wenn sie mich betrog, sie fand es einfach normal. In der Filmbranche herrschten eben nicht diese spießigen Vorstellungen wie in der sonstigen Welt, erklärte sie mir bereits nach drei Wochen. »Wir sind anders, etwas Besonderes. Wir müssen uns nicht an Regeln halten, die Dummköpfe aufgestellt haben.«

Ich hatte das unangenehme Gefühl, dass ich auch zu diesen Dummköpfen gehörte. Für Marika war ich nur eine von ihren vielen gleichzeitigen Liebhaberinnen. Ich war so dumm gewesen, mich für die einzige zu halten. Eindeutig meine Schuld.

Da ich die Sache nicht so locker sehen konnte, beendete ich die Affäre, aber das war nun gar nicht in Marikas Sinne. Wenigstens so lange, wie wir gemeinsam in der Produktion der Soap arbeiteten, erwartete sie, dass ich zur Verfügung stand. In jeder Beziehung. Als ich ihr sagte, dass das nicht ging, bekam sie einen Wutanfall, der das Set einen Teil der Kulisse kostete.

Und seither konnte ich es ihr in nichts rechtmachen. Sie kritisierte mich, wo sie nur konnte. Wahrscheinlich hoffte sie, dass ich einlenken oder den Job schmeißen würde. Das hatte ich aber nicht vor. Also musste ich mich mit unserem angespannten Verhältnis abfinden. Wenigstens solange meine Nerven den Stress aushielten.

»Ist das nicht klasse, Otto?« sagte ich. »Ich habe es nicht weit zur Arbeit, und schlecht bezahlt ist der Job auch nicht. Alles könnte in Ordnung sein, wenn da nicht . . . wenn da nicht eine Frau wäre, die alles wieder in Unordnung bringt.«

Aber was verlangte ich? Frauen verkörperten nun einmal das Gegenteil von Ordnung – jedenfalls die, die ich bislang kennengelernt hatte. Da brauchte ich mich nicht zu beklagen. Würde ich je eine treffen, die nicht so war?

Es klingelte an der Tür.

Mein Herz schlug spontan schneller. Sie hatte es sich doch noch anders überlegt! Hektisch sprang ich auf – Otto jaulte, denn ich hatte ihm dabei auf den Schwanz getreten, wofür ich mich hastig bei ihm entschuldigte – und rannte zur Tür. Drei Schritte davor stoppte ich und beruhigte meinen Atem . . . oder versuchte es zumindest. Was sollte sie von mir denken, wenn ich sie dermaßen keuchend empfing?

Ich atmete einmal tief durch . . . und noch einmal . . . und ging zur Tür. Als ich sie öffnete, war ich für einen Moment irritiert. Hatte sich meine Nachbarin auf einmal verdoppelt?

Nein, hatte sie nicht. Vor mir standen zwei sehr junge Frauen, beide in Faltenröcken und flachen Schuhen und mit bis zum Hals zugeknöpften Blusen, darüber ein Strickjäckchen, das von meiner Oma hätte stammen können.

Nachdem ich dieses Outfit blitzschnell in meinem Kopf analysiert hatte, war es keine Überraschung mehr für mich, dass die beiden jungen Damen mich mit einem unschuldigen Lächeln fragten, ob ich denn nicht auch für mehr Gerechtigkeit in der Welt wäre.

Zeugen Jehovas, du meine Güte, die hatten mir gerade noch gefehlt! Wie immer in solchen Situationen fühlte ich mich überfordert. Ich wusste, dass es keinen Sinn hatte, mit diesen Kriegerinnen Gottes, die so harmlos aussahen, zu diskutieren oder sich überhaupt mit ihnen zu unterhalten. Ein einfaches »Nein, danke« mit darauffolgendem Schließen der Tür wäre also ausreichend gewesen.

Aber ich konnte diesen unschuldig blickenden Mädchen so etwas einfach nicht antun. Das war schon immer mein Problem gewesen: Ich konnte keiner Frau etwas abschlagen. Keine gute Voraussetzung für eine Begegnung mit Missionarinnen, und wenn sie noch so jung waren. Die waren wesentlich besser geschult als ich.

»Ich . . . nun ja . . .«

»Haben Sie sich schon einmal Gedanken darüber gemacht, wo sich das Königreich Gottes befindet?« Weiße Zähne. Strahlend weiße Zähne, die freundlich lächelnd funkelten.

»Öh . . . ähm . . . nicht wirklich . . .«

»Es wurde im Himmel aufgerichtet und wird über die ganze Erde regieren«, verkündeten die weißen Zähne. »1914 setzte Jehova Jesus im Himmel als König des Königreichs Gottes ein.«

1914? Wieso ausgerechnet 1914? War da nicht irgend etwas gewesen? Erster Weltkrieg oder so? Hatte es damit etwas zu tun?

Ich öffnete den Mund, um zu fragen, und wusste schon, dass das ein Fehler war. »Tatsächlich«, versuchte ich das Unheil mit einer neutralen Bemerkung abzuwenden.

»Bald wird Jesus die Menschen richten«, fuhr die zweite Zeugin fort. Langsam kamen sie richtig in Fahrt, so ganz ohne Widerstand meinerseits kein Wunder. »Nur denen, die sich als seine treuen Untertanen erwiesen haben, wird ein ewiges Leben auf der Erde beschieden sein.«

Ewiges Leben? Auf der Erde? Musste das sein? Irgendwie hatte ich das anders in Erinnerung. So mit grünen Wiesen im Himmel und gebratenen Tauben, die einem in den Mund flogen. Ach nein, das war eine andere Geschichte.

»Äh . . .«, versuchte ich einen Einwand.

Hoffnungslos.

»Alle anderen wird Jesus vernichten«, erreichte mich die deprimierende Botschaft. »Aber wenn wir uns heute besinnen, können wir uns noch retten. Wollen Sie gerettet werden?« Ihre Augen waren nicht blau, aber dennoch traf mich ein blauäugiger Blick. »Gottes Diener müssen in jeder Hinsicht rein sein, geistig, körperlich und sittlich.«

Hm. Mir kam plötzlich ein Gedanke, wie ich sie loswerden könnte. Ich brauchte sie nur in meine Arme zu reißen und zu fragen, ob ich ihr den Weg in mein Schlafzimmer zeigen sollte, um ihre Reinheit zu überprüfen.

»Das Ende der Welt ist nahe«, verkündete nun wieder die erste der beiden Missionsstrateginnen.

»War es das nicht schon öfter?« meldete sich eine körperlose Stimme aus dem Off, sprich aus dem Treppenhaus hinter den faltenberockten Damen.

Die beiden drehten sich ruckartig um und wandten sich der neuen Herausforderung zu.

»Ich kann mich erinnern, dass die Welt spätestens bei der Jahrtausendwende untergehen sollte«, fügte die Stimme, die ich natürlich längst erkannt hatte, hinzu. »Das ist schon ein paar Jahre her.«

»Das ist falsch berechnet worden«, sagte eine der beiden, von hinten konnte ich nicht erkennen, welche. Sie sahen aus wie Zwillinge.

»Und es war nicht die erste falsche Berechnung«, sagte meine Nachbarin, die nun auf meine Tür zutrat. »Vielleicht wäre ein bisschen Nachhilfe in Mathematik nicht schlecht, das könnte helfen.« Meine Nachbarin blieb neben mir an der Tür stehen.

Ich vergaß die karierten Blusen und hatte nur noch Augen für meine Nachbarin. »Schön, dass Sie gekommen sind«, sagte ich leise. Meine Stimme kratzte ein wenig.

»Ist der Kaffee schon fertig?« fragte meine Nachbarin, eindeutig mit Blick auf die beiden nun stummen Zeuginnen eines ihnen unbekannten Vorganges. »Dann lassen Sie uns doch hineingehen.«

»Ja. Ja sicher.« Ich brauchte etwas länger, um beiseitezutreten, damit meine Nachbarin den letzten Schritt – oder den ersten? – in meine Wohnung machen konnte.

Sie ging an mir vorbei, und ich schloss die Tür hinter ihr.

Als ich ihr mit unsicheren Schritten folgte, sah ich eine schwarze Nasenspitze sich um die Wohnzimmertür herumschieben. Otto! Ich hatte Otto vergessen, verdammt, und vor allem die Tatsache, dass meine Nachbarin keine Hunde mochte!

»Ent- . . . Entschuldigung.« Ich schob sie fast beiseite, um vor ihr bei Otto zu sein. »Otto, geh auf deine Decke!« befahl ich ihm.

Otto schaute sehr enttäuscht zu mir auf, drehte sich um und trottete mit hängender Rute zu seinem Platz. Dort ließ er sich mit einem Plumps! und einem großen Seufzer nieder.

»Er kann ja tatsächlich gehorchen«, sagte meine Nachbarin mit so etwas wie einem Hauch von Anerkennung in der Stimme.

»Ja, er –« Ich räusperte mich. »Ich sagte ja: Hundeschule.«

»Ich dachte, das wäre ein Scherz«, sagte meine Nachbarin.

»Nein.« Ich räusperte mich erneut. Mein Hals würde zum Reibeisen werden, wenn ich das nicht in den Griff bekam. »Es war Ernst. Er ist sehr gelehrig. Aber anscheinend . . . na ja, verliert er bei Keksen all seine Hemmungen und seine gute Erziehung. Das wusste ich noch nicht. Aber ich werde es in Zukunft berücksichtigen.«

»Apropos Kekse«, sagte meine Nachbarin und hielt mir eine kleine Dose hin, die ich bisher vor lauter Aufregung noch gar nicht bemerkt hatte. »Die sind für Sie. Damit Sie sich mit Ihrem Hund über den Geschmack austauschen können.«

Ich merkte, wie mein Gesicht heiß wurde. Es war das erste Mal, dass sie nett zu mir war, und es überraschte mich so sehr, dass es mich verlegen machte. »Danke, Frau Rohland«, sagte ich.

»Gern geschehen, Frau Meitner«, sagte sie. Lag da ein Hauch von Ironie in ihrer Stimme? War sie dessen überhaupt fähig?

»Ähm . . . Kaffee«, murmelte ich. »Was hätten Sie gern? Deshalb sind Sie ja gekommen.«

»Ja, deshalb bin ich gekommen«, sagte sie.

»Und um mich vor den Zeuginnen Jehovas zu bewahren, die fast meine Seele gerettet hätten!« Ich lachte.

»Wäre Ihnen das lieber gewesen? Hätte ich nicht kommen sollen?« fragte sie.

»O nein, nein!« Bloß das nicht! »Sie kamen gerade im richtigen Moment. Ich bin immer überfordert von solchen Seelenfängern. Da weiß ich nie, was ich sagen soll.«

»Ja, Sie sahen etwas hilflos aus«, bestätigte sie. »Am besten sagt man wohl gar nichts.«

Damit hatte sie bestimmt keine Probleme. »Frau Rohland«, sagte ich. »Setzen Sie sich doch.« Ich wies auf einen Sessel neben dem Couchtisch. »Oder möchten Sie erst die Kaffeemaschine inspizieren?« Ich schmunzelte. »Wahrscheinlich sind Sie von der auch nicht so überfordert wie ich.«

»Espresso reicht mir«, sagte sie, »das kann wohl jede Maschine«, und setzte sich.

»Ist gut.« Ich nickte. »Dann mache ich das mal schnell.« Ich warf einen Blick auf Otto, der immer noch brav, wenn auch zutiefst leidend, auf seiner Decke lag. »Komm, Otto«, sagte ich. »Du gehst in die Küche.« Ich wollte ihn nicht mir ihr alleinlassen. Wer wusste, auf was für Ideen er vielleicht kam, um ihr seine Sympathie zu bezeugen?

Otto sprang auf und kam zu mir. Frau Rohland verfolgte seinen Gang durch den Raum mit den Augen. Es war wohl gut, dass ich Otto aus ihrer Nähe entfernte.

»Er ist wirklich ganz harmlos«, versicherte ich ihr. »Wie ein großes Kind. Sie brauchen keine Angst vor ihm zu haben.«

»Ich habe keine Angst vor ihm«, sagte sie. »Aber auch Kinder sind manchmal nicht so harmlos, wie man denkt.«

Eine äußerst pessimistische Weltsicht, die sie da hatte. Ich seufzte. »Wahrscheinlich haben Sie recht.« Ich drehte mich um, und Otto bei Fuß verzog ich mich in die Küche. Er schaute sofort wieder in seinen Napf und warf mir einen vorwurfsvollen Blick zu. »Nein, Otto«, sagte ich streng. »Wirklich nicht. So viele Schlittenfahrten können wir gar nicht machen, um das wieder abzutrainieren, auch wenn du das gern hättest.«

Otto hörte Schlitten und wedelte.

»Du bist ein Schlawiner!« lachte ich. Ich konnte seinen flehenden braunen Augen einfach nicht widerstehen. Ich öffnete die Keksdose und verteilte die Kekse auf einem Teller. »Die sind ausnahmsweise nicht für dich«, sagte ich zu Otto. »Wehe, du rührst sie an.«

Otto wedelte, als ob er gar nicht wüsste, wie ich je auf so einen Gedanken kommen könnte.

Ich stellte zwei Espressotassen unter die Maschine und drückte auf den Knopf.

Otto schlich sich an die Kekse heran.

»Otto . . .«, sagte ich warnend.

Otto blieb stehen, schielte aber mit einem Auge weiter auf die Kekse.

Ich ließ mich vor ihm auf ein Knie nieder. »Frau Rohland mag das gar nicht«, erklärte ich ihm. »Das habe ich dir doch schon mal gesagt. Kannst du dir das denn nicht merken?«

Ottos Nase schoss vor, und seine Zunge leckte über mein Gesicht.

»Otto!« Ich sprang auf. »Ich bin kein Keks!«

»Wuff!« machte Otto. Das wusste er, aber ich war die, die ihm die Kekse geben konnte, wenn sie wollte.

»Otto, Platz!« befahl ich.

Otto ließ sich auf der Stelle fallen.

»Guter Hund.« Ich streichelte seinen Kopf. »Und jetzt bleibst du hier, verstehst du? Warte.«

Otto hob in gespielter Verzweiflung die Augenbrauen.

»Das hilft jetzt alles nichts.« Ich seufzte. »Frau Rohland und du – ihr passt einfach nicht zusammen.«

Otto ließ seinen schweren Kopf auf die Pfoten plumpsen. Er war jetzt in tiefdepressiver Stimmung, und er hob eine einzelne Augenbraue, um zu überprüfen, ob ich das auch mitbekam.

»Ich habe es gesehen«, sagte ich. »Aber es ändert nichts.« Ich nahm die Kekse und die beiden Espressotassen und ging ins Wohnzimmer hinüber. »Otto ist traurig, weil er nicht dabei sein kann«, sagte ich. »Ich musste ihn ein bisschen trösten.« Ich stellte die Kekse auf den Tisch und teilte die Espressotassen zwischen Frau Rohland und mir auf. »Einen Moment, ich bin gleich wieder da.«

Ich ging schnell ins Bad und wusch mir das Gesicht. Dabei warf ich einen Blick in den Spiegel und erschrak. Ich sah erhitzt aus, als ob ich eine Stunde Sport betrieben hätte. Das war nicht sehr gut. Ich versuchte es mit noch mehr kaltem Wasser.

Danach ging ich in die Küche und holte den Zucker. Otto blickte mich erwartungsvoll an und wedelte kurz. Ich schüttelte den Kopf. Er seufzte tief auf und ließ seinen Kopf noch theatralischer auf die Pfoten sinken.

Mit dem Zucker kehrte ich ins Wohnzimmer zurück. »Den hatte ich vergessen«, sagte ich und stellte ihn auf den Tisch.

Frau Rohland nahm einen kleinen Löffel Zucker und rührte ihren Espresso um. »Sie hängen sehr an Ihrem Hund«, sagte sie.

»Ja. Na ja . . .« Ich gab es schulterzuckend zu. »Ich habe ihn schon ein paar Jahre.«

»Ein sehr großer Hund für so eine kleine Wohnung«, sagte Frau Rohland.

»Am Anfang war er noch ganz klein«, sagte ich lächelnd. »Und die Wohnung ist sehr nah am Stadtforst. Ich habe sie genommen, damit Otto genug Auslauf hat. Und deshalb, weil ich es von hier nicht weit zur Arbeit habe.«

»Wo arbeiten Sie denn?« fragte sie und leerte ihre Espressotasse in einem Zug.

»In den Studios«, sagte ich. »Ich bin Drehbuchautorin.«

»Drehbuchautorin.« Frau Rohland schaute mich seltsam an.

»Ja, ist ein etwas merkwürdiger Beruf, ich weiß.« Ich lachte albern. In ihrer Gegenwart kam ich mir einfach albern vor. »Aber ich habe keinen anderen. Und so schlecht ist er auch nicht. Ganz gut bezahlt, und die Soap, an der ich momentan mitarbeite, ist ziemlich lustig.«

»Eine Soap?« Mir schien, ich war noch mehr in ihrer Achtung gesunken als ohnehin schon.

Ich hob entschuldigend die Hände. »Das meiste, was heute gedreht wird, ist so etwas. Und es ist immerhin besser als eine Nachmittagstalkshow. Haben Sie Die Geheimnisse des Lebens schon mal gesehen?«

»Die Geheimnisse des Lebens?« Sie runzelte die Stirn.

»Die Soap. Die Serie, für die ich arbeite.«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich besitze keinen Fernseher«, sagte sie.

»Oh.« Das war ja ein schöner Schlamassel. Die meisten Leute fanden meinen Job ganz interessant, fragten mich nach den Stars aus, die sie jeden Tag im Fernsehen sahen, und es ergab sich so gut wie immer ein angeregtes Gespräch. Mit Frau Rohland konnte ich mir das wohl abschminken. Sie interessierte sich nicht für Hunde, sie interessierte sich nicht fürs Fernsehen, und für Frauen – ich warf einen kurzen Blick aus dem Augenwinkel auf sie – interessierte sie sich wohl auch nicht. Wir hatten absolut nichts gemeinsam.

»Sie haben die Kekse noch gar nicht probiert«, sagte sie. »Hätte ich sie lieber dem Hund geben sollen?«

Ich merkte, wie ich erneut rot anlief. »Er hätte sie sofort genommen.« Ich versuchte das Ganze ins Lustige zu ziehen. In meinen Drehbüchern konnte ich das so gut, warum mit ihr nicht? »Er hat schon in der Küche, als ich sie aus der Dose nahm, nur auf seine Chance gewartet.«

»Hat er sie –?« Sie schaute misstrauisch auf die Kekse.

»O nein, nein!« Ich riss die Augen auf. »Er hat sie nicht berührt, nicht mal von weitem.«

Sie glaubte mir nicht. Sie würde keinen von den Keksen essen. »Vielen Dank für den Kaffee«, sagte sie und stand auf. »Ich werde dann wieder gehen.«

»Schon?« Meine Enttäuschung war mir sicherlich anzusehen. Ich stand ebenfalls auf.

»Der Espresso war gut«, sagte sie. »Richten Sie Ihrer Maschine ein Kompliment aus.« Sie ging zur Tür. »Und ich bedanke mich bei Ihrem Hund, weil er so geduldig war.«

»Das wird ihn freuen.« Ich trat zu ihr und versuchte ihre Augen festzuhalten. »Es würde ihn bestimmt auch freuen, wenn Sie wiederkommen.«

Ihre Augen wichen mir aus. »Das glaube ich nicht«, sagte sie. »Er möchte sein Lager wohl kaum auf Dauer in der Küche aufschlagen.«

»Das macht ihm nichts«, sagte ich. »Da hat er als kleiner Hund immer am liebsten geschlafen.«

»Jetzt ist er aber nicht mehr so klein«, sagte Frau Rohland. »Und ich auch nicht.« Sie ging zur Wohnungstür.

Ich war für einen Moment verdattert, dann folgte ich ihr. »Gut, ich würde mich freuen«, sagte ich. »Otto hat nichts damit zu tun.« Wir standen in dem engen Flur so nah voreinander, dass ich ihr Parfüm riechen konnte. Es war ein wunderbarer Duft. Ich hätte am liebsten die Augen geschlossen.

»Ich glaube kaum«, sagte sie, »dass ich wiederkomme. Danke für die Einladung.« Sie öffnete die Tür.

Ich weiß nicht, was über mich kam. Es war alles zuviel für mich. Ich zog sie an mich und küsste sie.

Sie küsste mich nicht zurück. Sie lag steif in meinem Arm und rührte sich nicht.

»Entschuldigung.« Ich ließ sie los. »Ich bitte vielmals um Entschuldigung.« Ich fuhr mir mit der Hand durch die Haare. »Verzeihen Sie, ich weiß nicht, was –«

»Kann ich jetzt gehen?« fragte sie kühl. »Oder möchten Sie noch etwas tun, wofür Sie sich danach entschuldigen können?«

Mein Kopf explodierte fast, so heiß hatte er sich noch nie angefühlt, nicht mal bei 40 Grad Fieber. »Nein, natürlich nicht.« Ich öffnete ihr die Tür und trat zurück. »Entschuldigen Sie, ich –«

Sie ging an mir vorbei, ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen.

Ich hörte ihre Absätze auf jeder Stufe, die sie zu ihrer Wohnung hinaufstieg, und stand da, ohne die Tür zu schließen.

Erst Minuten später – zumindest kam es mir so vor – erwachte ich aus meiner Erstarrung, drehte mich um und ging ins Wohnzimmer zurück.

Verdammt, so etwas war mir ja noch nie passiert! Ich ließ mich in einen Sessel fallen und raufte mir die Haare. Was war nur mit mir los? Ja, ich fand diese Frau attraktiv. Ja, ich fühlte mich von ihr angezogen. Ja, sie roch . . . wunderbar . . .

Aber das war doch alles kein Grund. So etwas hatte ich auch schon bei anderen Frauen festgestellt und hatte sie nicht gleich –

Ich stöhnte auf. Wie sollte sie mir das jemals verzeihen? Sie würde nie wieder ein Wort mit mir sprechen.