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Bernd Mannhardt

Schlussakkord

Ein Moabit-Krimi

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Personen und Handlung dieses Romans sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind nicht beabsichtigt und wären rein zufällig. Die Orte der Handlung existieren zwar, dienen jedoch lediglich als Kulissen. Kurz, alles ist erstunken und erlogen. Und der echte Bezirksbürgermeister ist beliebt wie George Clooney.

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ebook im be.bra verlag, 2015

© der Originalausgabe:

berlin.krimi.verlag im be.bra verlag GmbH

Berlin-Brandenburg, 2015

KulturBrauerei Haus 2

Schönhauser Allee 37, 10435 Berlin

post@bebraverlag.de

Lektorat: Gabriele Dietz, Berlin

Umschlaggestaltung: Ansichtssache, Berlin

ISBN 978-3-8393-6143-6 (epub)

ISBN 978-3-89809-538-9 (print)

www.bebraverlag.de

Inhalt

Heißhunger

Warten

Schlussakkord

Kekse

Johanniskraut

Polka

Duell

Fischbrötchen

Weichzeichner

Impresario

Nala

Stau

Frühburgunder

Gilde

Stiernacken

High Heels

Künstlerpech

Rucola

Lauschangriff

Westhafen

Zugriff

JoyBoy

Gedächtnis

Indizien

Zeuge

Anmerkungen

Mensch: ein Lebewesen, das klopft, schlechte Musik macht
und seinen Hund bellen lässt
.

Manchmal gibt er auch Ruhe,
aber dann ist er tot
.

Kurt Tucholsky

Heißhunger

Am frühen Mittag, als Hauptkommissar Hajo Freisal im Kriminalgericht gebeten war, als Zeuge in einer, wie er es empfand, »unappetitlichen Angelegenheit«, Mordsache Badesee, als Zeuge Auskunft zu geben, drohte Heißhunger seinen ersten zarten Versuch, abzuspecken, zu sabotieren. Er hatte sich um elf Uhr in der Kantine des Präsidiums Rinderroulade mit Kartoffeln und Rotkohl genehmigt.

Just in diesem Moment hatte eine andere Person an anderem Ort, nämlich in der Lobby des Park Inn, auf etwas ganz anderes Appetit: auf einen »Quickie mit Ausblick« – auf der Dachterrasse des Hotels.

Eine prickelnde Location, war sich die Mitdreißigerin sicher. Sie hatte vorab natürlich gegoogelt, wohin sie ihr PSP – Insider wussten, dass das Akronym für Publicsexpartner stand – dieses Mal eingeladen hatte. Dem Stadtportal berlin.de nach zählte das Park Inn mit seinen 37 Stockwerken und 150 Metern Höhe zu den »aufregendsten Aussichtspunkten Berlins«, weil »direkt am Alexanderplatz gelegen«. Für überzeugte Freiluftliebende, wie die Mittdreißigerin eine war, mochte folgender Satz besonders inspirierend sein: Der Lift fährt in die oberste Etage des Hotels und von da aus kommt man durchs Treppenhaus zur Dachterrasse, wo im Sommer Liegestühle bereitgestellt sind. Zudem bietet das Hotel Park Inn immer wieder neue Attraktionen für Abenteuerlustige und auch für diejenigen, die lieber nur zugucken.

Zugucken, hatte sie gedacht, no way! Dass sie jemand beim Publicsex beobachtete, hätte ihr gar nicht geschmeckt, zählte sie sich doch zu jenen, denen es ganz und gar nicht schnuppe war, ob sie erwischt wurde oder nicht. Beim Publicsex ging es ihr ausschließlich um den Thrill des Risikos, entdeckt zu werden – nicht mehr, nicht weniger. Sie spürte, wie ihr Mordsappetit, sich auf dem Hoteldach mit ihrem stattlich gebauten PSP zu amüsieren, ihr feuchte Hände bescherte.

Sie war früher als verabredet am Treffpunkt erschienen, um sich, wie sie es nannte, »mental einzuschwingen«. Auf den Ort als solchen. Der PSP würde sicherlich alle notwendigen Vorkehrungen getroffen haben, was auch und nicht zuletzt das Gewährleisten des Zugangs zum Dach der Lust meinte. Bisher war immer alles glatt gelaufen. Kein Wunder, ihr PSP war ein von einer Agentur vermittelter Profi.

Hajo Freisals aktueller Auftritt vor dem Kadi stand im Übrigen noch nicht mit dem Ereignis in Berlin-Mitte, genauer gesagt im Ortsteil Moabit, in Zusammenhang, das ihn an diesem und den folgenden Tagen auf Trab halten sollte. Obwohl er den Badesee-Täter seinerzeit überführt hatte, waren seine Gedanken abgedriftet. Ihm war urplötzlich Wasser im Munde zusammengelaufen. Klarer Fall: Heißhunger. Nach seinem Auftritt vor Justitia wollte er in der Moabiter Markthalle vorbeischauen. Auf ein Eisbein – mit Salzkartoffeln, ein Novum – und Sauerkraut.

Esslust hatte den Kommissar übermannt. Mal wieder. Dagegen half auch der Vorsatz noch nicht, den er, Mitte fünfzig, 165 Zentimeter groß (Mindestkörperlänge für den Polizeidienst) und mit einem stattlichen Kampfgewicht von 96 Kilo, im Herzen trug: Abspecken! Das war nicht bloß so dahin gedacht; er hatte immerhin schon eine erste Sitzung bei Frau Dr. Maria-Hildegard Balsam hinter sich gebracht. Dr. Balsam war eine promovierte Lebensmittelchemikerin, die schon vor längerer Zeit auf Ernährungs-Coaching inklusive psychologische Beratung umgesattelt hatte. Das Leben rund um die Reagenzgläser war ihr, wie sie Freisal bei ihrem ersten Treffen verriet, »auf Dauer zu steril« vorgekommen.

Das war letzte Woche gewesen. Davor hatte Freisal versucht – kann doch nicht so schwierig sein, hatte er gedacht –, sich auf eigene Faust schlau zu machen. Übers Internet. Denn als erfahrener Kriminalist wusste er, dass es kaum einen anderen Fund- oder gar Tatort gab, der mehr Spuren hinterließ. Warum sollte es sich mit brauchbaren Informationen zum Thema Abnehmen anders verhalten? Aber die Quantität an Informationen hatte auf Freisal schon nach relativ kurzer Zeit der Recherche erdrückend gewirkt. Von Trennkost-Diät war da die Rede, bei der Kohlenhydrate und Eiweiß separiert werden, was ihm immerhin noch nachvollziehbar schien. Dann jedoch wurde es spezieller: Mittelmeer-Diät. Der Verzehr von Obst, Gemüse, Fisch und Olivenöl stand dabei im Mittelpunkt. Als nicht wirklich schmackhaft stellte sich für Freisal die Mono-Diät dar, die den alleinigen Verzehr von Kohlsuppe, Ananas oder Eiern als der Weisheit letzten Schluss anpries. Seine Mundwinkel hatten sich endgültig nach unten verzogen, als er von der Hollywood-Diät las, bei der als Zaubermittel das Schwangerschaftshormon HCG eine wesentliche Abspeckrolle spielen sollte. Der Kriminalhauptkommissar hatte fluchtartig den virtuellen Raum verlassen und war an der nächstbesten Currywurstbude aufgeschlagen, um sich eine doppelte Portion Pommes rot-weiß erst zu bestellen, dann einzuverleiben.

Dr. Balsam hatte ihr Domizil in der Kreuzberger Bergmannstraße, ums Eck vom Chamissoplatz, wo Freisal wohnte. An der Praxis, ein kleines Ladenlokal, war er eher zufällig vorbeigekommen, nämlich just in dem Moment, als er, ein bekennender wie begeisterter Autofahrer, sich ausnahmsweise zu Fuß durch den Kiez bewegte. Er hatte einen arbeitsfreien Tag – dies, obwohl Fernsehkrimis, wie Freisal erst letzten Sonntag kopfschüttelnd festgestellt hatte, den Eindruck erweckten, dass Kripobeamte rund um die Uhr im Einsatz seien und nicht die Bohne Privatleben hätten, ja genau besehen nicht einmal aufs Klo gingen. Freisal war also durch das Kreuzberger Quartier der etwas feineren Art mit seinen mehrgeschossigen Gründerzeithäusern geschlendert. Nachdem er Dr. Balsams Büro wahrgenommen und ihre Offerte »Werden Sie weniger!« auf einem Plakat im Schaufenster gesehen hatte, war er einem spontanen Impuls gefolgt: Er öffnete die Ladentür und trat über die Schwelle. In Folge dessen kündete das kleine Glöckchen am Türrahmen von neuer Kundschaft.

Dr. Balsam kam freundlich lächelnd aus einem hinteren Teil des Ladens herbei. Sie begrüßte den Besucher und bot ihm Platz an in der mit einem rustikalen Tisch und ebensolchen Stühlen ausgestatteten Sitzecke. Die Dutzend Sitzkissen und Yoga-Matten, die in der Mitte des Raumes im Kreis lagen, aber auch die großformatigen Schautafeln an den Wänden, die den Aufbau des menschlichen Körpers und seinen Bewegungsapparat abbildeten, legten die Vermutung nahe, dass hier auch Gruppen betreut wurden.

Hajo Freisal redete ganz seinem Naturell entsprechend nicht um den heißen Brei herum. Er wolle abnehmen, sagte er, und benötige dafür Beratung.

»Da sind Sie hier richtig!«, ermunterte ihn Dr. Balsam und schob nach: »Wenn Sie zunehmen wollten, wäre Curry-King am Mehringdamm die bessere Adresse.«

Dr. Balsams Launigkeit schien speziell zu sein. Aber das schreckte Freisal, dem auch ein gewisser schräger Witz nachgesagt wurde, nicht. Im Gegenteil, er konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen.

»Schön«, sagte Dr. Balsam, »Sie haben Humor. Damit wäre die erste Hürde genommen. Ich sage meinen Klienten immer: Wenn in den ersten drei Minuten einer Sitzung nicht gelacht wird, können wir das Meeting vergessen.«

»Verstehe«, sagte Freisal. »In meinem Job liegt das etwas anders.« Er berichtete von seinem letzten Verhör. »Unlustig – in jeder Hinsicht!«

Dr. Balsam registrierte die Botschaft genau; weil sie den Besucher noch kennenlernen musste, bot sie an: »Ich neige zur Leichtigkeit im Umgang mit Schwergewichten. Sollte ich da Ihnen gegenüber einmal über die Stränge schlagen, sagen Sie mir das bitte gleich.«

»Mach ich«, erwiderte Freisal. »Nur nichts auf die lange Bank schieben, nicht wahr.«

»Ja – verursacht nur Gefühlsstau.« Dr. Balsam lächelte empathisch. »Sind wir da möglicherweise schon dicht dran an Ihrem Problem? Verraten Sie mir bitte Ihr Alter, Ihre Größe, Ihr Gewicht.«

Auf Dr. Balsams Frage, warum er, die bekannten gesundheitlichen Aspekten mal außen vor lassend, abnehmen wolle, hatte Freisal mehrere Antworten parat. Einer seiner Gründe sei, wie er sagte, ein »Schüsselerlebnis«.

»Sie meinen Schlüsselerlebnis?«

»Ja, auch.« Hajo Freisal berichtete frei von der Leber weg, dass er eines Morgens, kurz nach dem Aufstehen vorm Klobecken hektischer als sonst am Eingriff seiner Schlafanzugshose herumgenestelt habe. Zudem habe er an seinem Oberkörper hinuntergeblickt. »Reine Gewohnheit.« Ein kontrollierender Blick, ob er auch alles zielführend im Griff habe, sei nicht möglich gewesen. »Mein Bauch war im Weg.« Nachdem er dem Druck nachgegeben habe, musste er feststellen, dass er nicht nur den Rand der Klobrille samt Innenseite des aufgeklappten Klodeckels beschmutzt, sondern sich selbst bepinkelt hatte. »Ich spürte, wie der Stoff von warmem Nass durchsuppte, dann Urin an der Innenseite meines rechten Oberschenkels in die Kniekehle lief.« Gott, ist das peinlich, habe er gedacht. Er habe sich regelrecht geschämt – vor sich selbst. »Vielleicht hätte ich mir doch das Pinkeln im Sitzen angewöhnen sollen?«, fragte er Dr. Balsam – eher im Scherz.

»Vielleicht, ja – aber die Mühsal beim Hochkommen von der Klobrille ist für einen Mann Ihres Formats auch nicht zu unterschätzen.«

Schlagfertig, die Dame, dachte Freisal. Das gefällt mir, sinnierte er weiter. Nachdem Dr. Balsam ihm achtundsechzig Euro als Preis für eine Einzelsitzung benannt – das machte zehn Eisbeine bei Paschke in der Moabiter Markthalle, war es ihm spontan durchs Gehirn geflitzt – und den nächsten Termin vereinbart hatte, kam Grundsätzliches zur Sprache.

»Herr Freisal, vergessen Sie alles, was Sie über Wunderdiäten gehört haben. Nachhaltiges Abnehmen ist keine Frage von Hokuspokus oder Selbstkasteiung, sondern von innerer Haltung, äußerer Disziplin und einer Prise Geduld.«

»Also, an meiner Haltung soll’s nicht scheitern«, sagte er. »Nur bei der Disziplin …«

»Kann man auch üben. Es geht im Kern um die Umstellung von Ernährung, also das Ablegen schlechter Gewohnheiten.«

Freisal gefiel die Direktheit; Dr. Balsam, eine Frau um die vierzig mit sportlichem Kurzhaarschnitt, wurde ihm immer sympathischer. Auch das »Ablegen schlechter Gewohnheiten« hatte ihn nicht weiter beunruhigt. Bei einer späteren Sitzung würde er Dr. Balsam darüber informieren, dass er erst vor gut einem halben Jahr mit Saufen und Rauchen aufgehört hatte. »Auch nicht vergnügungssteuerpflichtig«, würde er dazu sagen.

»Abnehmen ist ein Kampf mit Schweinehunden. Sich dünner zu machen heißt, ein vorbestimmtes Gewichtsziel erreichen – ohne sich dümmer zu machen. Vergessen Sie die gängigen Schönheitsideale, die dienen dem Abverkauf von Produkten. Sie müssen sich wohlfühlen, nur darum geht’s.«

»Und wieder sehen können – wo ich hinpinkle, meine ich«, ergänzte Freisal, wohl nicht zuletzt deshalb, um seine »Haltung« zu demonstrieren, dem Fettsuchtgrad von 35 Punkten Paroli zu bieten. Der war während des Gesprächs zwischen ihm und Dr. Balsam von der Beraterin eher nebenbei via BMIRechner im Internet ermittelt worden. »Der Body-Mass-Index ist umstritten«, hatte sie gesagt, »aber einen brauchbaren Anhaltspunkt bietet er schon, vorausgesetzt man gehört keinem Olympiakader an oder schuftet auf dem Bau.« Dem BMI-Index nach schrammte Freisal an der Grenze zur zweiten von drei möglichen Adipositas-Stufen.

»Dreißig Kilo zu viel auf den Rippen«, konstatierte er und gab unumwunden zu: »Beim Treppensteigen schnaufe ich wie die Brockenbahn beim Erklimmen ihres Berges. Dann erst das ewige Schwitzen – am ganzen Körper. Die Kleidung zwickt schon beim Hochtragen eines einzigen Kastens Mineralwasser in den ersten Stock.« Er berichtete auch, dass er über die Jahre versucht habe, dem entgegenzuwirken, in dem er Ober- und Unterwäsche ein paar Nummern größer kaufte.

»Ein Klassiker«, stellte Dr. Balsam fest. »Hilft aber nicht, sich in Zelten zu verstecken, richtig? Andererseits ergibt es auch keinen Sinn, falschen Ehrgeiz zu entwickeln. Wenn es unterm Strich gelingt, dass Sie in einer Woche ein Kilo weniger werden, sind Sie gut dabei.« Dr. Balsam empfahl, gleich ein Zwischenziel abzustecken. »Was halten Sie von zehn Kilo weniger?«

»Klingt überschaubar.«

»Und weniger bedrohlich, nicht wahr?«

Freisal lächelte ermutigt und verabredete sich mit der Beraterin zur ersten regulären Sitzung – in der Woche, in der er als Zeuge vor dem Kriminalgericht geladen wurde. Eine erste praktische Übung hatte ihm Dr. Balsam gleich mit auf den Weg gegeben.

»Esstagebuch anlegen und notieren, wann Sie was zu sich nehmen. Alles aufschreiben, bitte! Versuchen Sie, es bei drei Mahlzeiten zu belassen: Frühstück, Mittagessen, Abendbrot, möglichst nichts nach 20 Uhr essen. Und notieren Sie das eigene Gewicht. Am Morgen netto, also nach dem Stuhlgang und ohne Kleidung.«

Diese Spielregeln schienen Freisal so überschaubar wie einfach. Beim Verabschieden zwinkerte ihm Dr. Balsam zu. »Und warten Sie nicht bis morgen, sich eine Personenwaage zu kaufen.«

»Woher wissen Sie …?«

»Erfahrungswert.« Sie schmunzelte. »Und Ihren großen Spiegel, der mal in Ihrem Wohnungsflur hing und jetzt nutzlos im Keller steht, sollten Sie wieder hochtragen, aufhängen und endlich mal wieder hineinschauen.«

»Mach ich«, sagte Hajo Freisal. Er war verblüfft, mehr aber beglückt. Schier euphorisch von Gemüt, freute er sich darüber, an Dr. Balsam geraten zu sein. Von ihr war keinerlei Vorwurf zu hören gewesen, mit dem er insgeheim gerechnet hatte. Nein, nicht dass er geunkt hätte, eine Beraterin würde ihm auf den Kopf zusagen, dass er »furchtbar fett« sei – aber dass er mit einem »erhöhten Herzinfarkt-Risiko« lebte, schon. Dr. Balsams Gangart war jedoch, wie sie Freisal erläutert hatte, »nicht konfrontativ, sondern klientenorientiert«. Das bedeutete, dass die Befindlichkeiten und Bedürfnisse des Betroffenen im Mittelpunkt der Beratung stünden, alles in allem zum Zwecke einer »positiven Verstärkung«.

Genau genommen wie beim Verhör, hatte er gedacht; auch da sollte nicht das Gegeneinander an erster Stelle stehen, sondern das Aufbauen einer »kooperativen Beziehung«. So hieß es nicht zuletzt in einem Lehrbuch für Kriminalisten. Freisal wusste natürlich darum. Seine Rhetorik bei Verhören ließ diesbezüglich jedoch zu wünschen übrig, wenn er »mit der soften Nummer« nichts erreichte und sein Gegenüber ihn »eh bloß verarschte«. Er bevorzugte dann eine, wie er es nannte, »zwar subtile Methode, die jedoch Gewaltanwendung ausschließt«. Allein die Androhung von Gewalt war untersagt. Kategorisch. Ob er das gut fand, wusste er nicht immer. Es kam ganz auf den Delinquenten an. Mit Kopfschütteln erinnerte er sich dann und wann daran, dass mal ein Kollege seinen Job verloren hatte, weil er einem Kindesentführer beim Verhör das »Zufügen von Schmerzen« angedroht hatte. Der Delinquent hatte partout nicht sagen wollen, wo er das Kind versteckt hielt, obschon er die Tat als solche gestanden hatte. Das Kind war, weil es zu spät gefunden wurde, erstickt im »Versteck«, das sich als ein Erdloch entpuppte.

»Wenn Tatverdächtige nicht kooperieren wollen, spiele ich das Schweigespiel«, hatte Freisal seiner Assistentin verraten. Das hieß, »die Kunden« beim Verhör in Widersprüche zu verwickeln, die nicht verbaler Art waren.

»Nonverbales wird unterschätzt«, hatte er am frühen Mittag in der Kantine gesagt, bevor er sich zum Kriminalgericht aufmachte.

»Inwiefern?«, hatte Gutzeit gefragt.

»Körperliche Reaktionen können verräterisch sein.«

»Vor oder nach Stromschlägen?«

»Kollegin, bitte! Auch indirekte Hinweise sind Hinweise«, hatte Freisal gesagt und angemerkt: »Bei mir sitzen Sie in der ersten Reihe.«

Und tatsächlich, keine zwei Tage später würde Yasmine Gutzeit hinter einer Beobachtungsscheibe im Gefängnis Moabit Platz nehmen, während ihr Chef ins Vernehmungszimmer trat.

Warten

Während Hajo Freisal im Flur auf seinen Zeugenaufruf wartete, tastete er nervös auf seiner Wildlederjacke in Höhe der linken Innentasche herum. Darin steckte sein Esstagebuch – ein kleines Chinanotizbüchlein. Wie auch immer es mit seinem »Kohldampf« weitergehen würde, er wollte sein Essverhalten, wie von Dr. Balsam aufgetragen, dokumentieren. »In brutalstmöglicher Genauigkeit.«

Als Freisal das dachte, wartete besagte Mittdreißigerin an der Bar in der in gediegenen Brauntönen gehaltenen Park-Inn-Hotellounge auf ihren PSP. Sie hatte sich einen Campari-Orangensaft bestellt, legte ihre Lippen um den dazugehörenden Strohhalm, sog einen kleinen Schluck und schwärmte still und leise vor sich hin, wie aufregend das letzte Rendezvous gewesen war – oben auf dem Aussichtsrund der Siegessäule. Ein spannender Ort. Auch für Touristen, die mehrheitlich die rund fünfzig Meter hohe Plattform zu erstürmen pflegten. Um zur Siegessäule zu gelangen, mussten Besucher einen Fußgängertunnel unter der Fahrbahn durchschreiten. Unmittelbar vor dem Ausgang waren an der Tunneldecke künstlerisch gestalte Hinweise auf Wim Wenders’ Spielfilm Der Himmel über Berlin angebracht. Der Filmtitel war Ende der Achtziger in einzelnen Lettern aus silbrig glitzerndem Kunststoff an die Decke geklebt worden. Ein verschmitztes Lächeln legte sich auf das Gesicht der Frau an der Bar. Amüsiert erinnerte sie sich, dass ihr PSP und sie spontan in schallendes wie – der Akustik eines Tunnels geschuldet – hallendes Lachen ausgebrochen waren, als sie sahen, dass da offenbar ein Scherzbold das H des Himmels durch ein P ersetzt hatte.

»Warst du das?«, hatte sie ihrem PSP zugeraunt.

»Meine Liebe, du unterschätzt meinen Humor«, sagte er.

Der Mann war ein Outdoor-Spezialist, der gewusst hatte, dass es auf der Siegessäule »früh am Tag kleine Zeitfensterchen« gab; das ermögliche ihnen einen ungestörten Aufenthalt, so seine Worte, am Saum des Gewandes der in Bronze gegossenen Viktoria. In Wahrheit hatte er die 400-Euro-Kassiererin, zugleich Einlasskontrolle, mit fünfzig Euro bar auf die Hand bestochen sowie mit ihr verabredet, dass nach ihnen höchstens noch zwei, drei Personen hinaufgelassen werden dürften. Vielleicht hielt es der PSP mit einer Aussage Voltaires: »Alles, was du sagst, sollte wahr sein. Aber nicht alles, was wahr ist, solltest du auch sagen.« Jedenfalls war ihnen tatsächlich nur ein Turmerstürmer über die 285 Stiegen der Wendeltreppe gefolgt. Womöglich hätte er mit der Kassiererin auch verabreden können, sich mit der Frau an seiner Seite dort oben in luftiger Höhe ganz alleine bewegen zu dürfen. Aber das, so wusste der PSP, wäre ihr nicht recht gewesen – ein gewisses Restrisiko sollte schon mit von der Partie sein.

»Lästige Angelegenheit«, brummte Hauptkommissar Freisal missgestimmt, während er vor dem Sitzungssaal darauf wartete, aufgerufen zu werden. Übellaunigkeit kroch in ihm hoch – auch deshalb, weil er neben den Sexualstraftätern auch deren Verteidiger nicht ausstehen konnte. Er hatte diesen Schroth überführt, diesen hoffnungslosen Fall, wie er meinte. Seiner Einschätzung nach halfen bei Delinquenten eines solchen Kalibers nur drei Dinge: erstens wegsperren, zweitens wegsperren und drittens wegsperren.

»Keine Sau spricht von den Opfern«, grollte Freisal regelmäßig unter Kollegen beziehungsweise immer mal wieder in der Kantine, im Beisein seiner jungen Assistentin Yasmine Gutzeit sowie seines Vorgesetzten Kriminalrat Jürgen Claus. »Erst reißen wir uns den Arsch auf, um das Gesindel festzutackern, und dann kommt Intensivtäters Liebling daher und drückt das Strafmaß in den Keller!«

Wenn Hajo Freisal so oder ähnlich posaunte, stocherte Claus gelassen im Rucola. Der Kriminalrat hatte es sich abgewöhnt, Freisals verbale Rundumschläge zu kommentieren. Seiner Erfahrung nach wäre das nur Öl im Feuer gewesen. Der Kollege muss sich mal wieder Luft machen, dachte er sich dann. Das nahm zwar zu, seit Freisal die Frau weggelaufen war und er dem Tabak- und Alkoholkonsum abgeschworen hatte, war jedoch kein Problem, solange er sich damit nicht vor die Presse stellte. Vielleicht würde sich Freisal, so dachte Claus auch, eines Tages doch noch der von ihm organisierten Tai-Chi-Chuan-Gruppe anschließen, die sich unter der Leitung eines chinesischen Studenten immer samstags im Lichthof der Technischen Universität traf. Tai-Chi, hatte Claus Freisal einmal in nahezu verschwörerischem Tonfall und wie konspirativ unter vier Augen erläutert, sei ursprünglich eine chinesische Kampfkunst gewesen. In seiner Gruppe würde Tai-Chi aber eher die Funktion von Gymnastik haben. »Klasse Sache für die eigene Persönlichkeitsentwicklung: Meditation wird dabei ebenso geübt wie Atmung, Aufmerksamkeit und Körperspannung.«

»Ach nee, lassen Sie mal, bin genug unter Spannung«, hatte Freisal noch vor einem halben Jahr, unmittelbar vor dem Zerbrechen seiner Beziehung mit Inge, abgewinkt. »Manchmal sogar wie ’n Flitzebogen.«

»Sie sprechen von Anspannung«, hatte Claus ihn belehrt. »Zur Körperspannung, die ich meine, gehört die Entspannung dazu.«

»Ach so – na, vielleicht später mal.«

Bei Lichte betrachtet, war für KHK Freisal die Notwendigkeit von Strafverteidigern unstrittig, insbesondere dann, wenn es um Jugendliche ging. Bei »den Jungs«, wie er sagte, hatte er noch Hoffnung, dass sie auf den »rechten Weg« zurückfänden. Ohne anwaltlichen Beistand würden sie »in den Mühlen Justitias zermahlen«, da war er sich sicher. Was Freisal angesichts der Reibungen von Recht und Gerechtigkeit aber immer wieder aufs Neue auf die Palme brachte, waren Juristen, die sich augenscheinlich wenig bis gar nicht für Wahrheitsfindung, sondern vielmehr ausschließlich für öffentlichkeitswirksame Auftritte interessierten.

Zum Beispiel dieser Schroth: Den Ermittlungen zufolge hatte er sich mit seinen späteren Opfern über Facebook angefreundet. Alle Spuren – erst recht die im virtuellen Raum – hatten zu ihm geführt. Kein Zweifel, war sich Freisal am Ende der Ermittlungen sicher gewesen, und auch die Staatsanwaltschaft hatte das so gesehen.

Dennoch war er jetzt als Zeuge vorgeladen worden und unkte nun, dass irgendein »Winkeladvokat« einen »Strohhalm zur Verkomplizierung eines unkomplizierten Verfahrens« suchte.

Nachdem er aufgerufen worden war, den Saal des Kammergerichts betreten und sich an den Zeugentisch gesetzt hatte, legte Freisal die Hände flach auf die Tischplatte. Er schaute kurz hinüber zu Schroths Verteidiger, Rechtsanwalt Mühle – ein schmales, blasses Gesicht. Etwas viel Pomade im Haar, dachte Freisal, der glänzt ja wie ’ne Olive!

Nachdem RA Mühle das Wort erteilt worden war, pumpte er sich ein wenig auf und sagte: »Herr Freisal, war der Lauschangriff, den Sie gegen meinen Mandanten durchführten, genehmigt?«

Der Kommissar, durchaus ein Freund wortgewandter Konversationen, zeigte sich betont kurz angebunden. »Ja«, sagte er – punktum. Die Falten um seine Augen lagen entspannt. Ach Jungchen, dachte er, mit Fragen auf diesem Niveau wirst du keinen Blumentopf gewinnen.

»Wurde der Beschuldigte bei seiner ersten Vernehmung über seine Rechte belehrt?«

»Ja.«

»Ist der Datenschutz bei der Internet-Überwachung beachtet worden?«

»Ja.«

Und so weiter und so fort. Reine Zeitverschwendung.

Als Freisal aus dem Zeugenstand entlassen wurde, hievte er seinen korpulenten Körper in die Senkrechte. Normalerweise hätte er den Sitzungssaal umgehend verlassen, aber der Richter kündigte einen psychiatrischen Gutachter an, einen gewissen Prof. Dr. Dr. Dietmar Zick von der Charité. Was dieser Professor zu sagen hatte, interessierte Freisal nun doch. Er setzte sich wieder hin – im Zuschauerbereich – und spitzte die Ohren, als der Professor in etwas leierndem Tonfall zu sprechen begann.

»Der Angeklagte weist erhebliche Mängel an Realitätsprüfung, Impulskontrolle und Beziehungsfähigkeit auf.«

Standard, kommentierte Freisal in Gedanken. Zick schlug einen größeren Bogen.

»Kriminogene Risikofaktoren spielten beim Angeklagten von Kindesbeinen an eine wichtige Rolle.«

Ach was, dachte Freisal. Er gähnte diskret.

»… milieugeschädigt.«

Sind wir das nicht letztlich alle?, überlegte der Kommissar. Sich beruflich mit Mord und Totschlag zu beschäftigen, ist ja auch nicht ohne. Aber bringe ich deshalb jemanden um?

»Der Vater ein Schläger, die Mutter abhängig von Medikamenten …«

»Schon klar«, nuschelte Freisal vor sich hin. »Unser Mann ist nicht auf’m Ponyhof groß geworden.« Er kratzte sich ungeduldig am glatt rasierten Kinn. »Nun komm mal auf’n Punkt, Professor«, murmelte er, »mein Eisbein wartet.« Der Sitznachbar des Kommissars – ein Rentner, der gespannt zuhörte und den Eindruck machte, als würde er keinen einzigen Strafprozess versäumen – schaute pikiert, derweil Professor Zicks Blick von der Anklagevertretung hinüber zum Verteidiger und wieder zurück wanderte.

»Trotz emotional wie intellektuell enger Grenzen des Angeklagten ist aus psychiatrischer Sicht zu sagen, dass er in der geistigen Verfassung war, zu wissen, was er tat. Herr Schroth ist zurechnungsfähig.«

»Mann, Mann, Mann, das hast du aber spannend gemacht«, brummte Freisal. Er mochte keine psychiatrischen Gutachter. Nach seiner Einschätzung neigten sie, genau wie die Strafverteidiger, allesamt dazu, unkomplizierte Verfahren zu verkomplizieren. Der Fall Schroth bestätigte für ihn diese Regel aber eher als Ausnahme, das heißt, er war mit Professor Zick relativ zufrieden und sodann auch damit sehr einverstanden, dass der Richter um Punkt 13 Uhr die Mittagspause einläutete.

»Mahlzeit«, sagte Freisal erleichtert und wuchtete sich von der Sitzbank hoch.

Zur gleichen Zeit rutschte im Hotel Park Inn die Mittdreißigerin an der Hotelbar auf ihrem Designerhocker nervös hin und her. Das schlanke Möbelstück aus Chrom, das auf seinem schweren Tellerfuß stabil stand, bot ihr mit seiner ledernen Sitzfläche mehr Bequemlichkeit, als es auf ihren ersten Blick den Anschein hatte. Das Kribbeln im Bauch nahm stetig zu. Sie blickte unruhig über ihre rechte Schulter in die Lounge mit den flachen braunen Sitzgruppen, vor denen quadratische Couchtische standen.

Wie auf Kommando betrat ihr PSP, ein appetitlich solariumgebräunter Blondschopf, tatsächlich das Terrain. Der Gedanke daran, was sie mit ihm – nachdem auch er sich »zum Aufwärmen« einen Drink genehmigt und sie sich mit anzüglicher Plauderei und ebensolchen Blicken auf Touren gebracht hätten – auf dem Hoteldach erleben würde, rechtfertigte ihres Erachtens das kostspielige Vergnügen. Reflexhaft überprüfte sie unauffällig, ob die dreihundert Euro im kleinen Handtäschchen steckten. Die drei Scheine, die bald den Besitzer wechseln würden, waren für sie relativ viel Geld. Aber sich deshalb dem Ausleben der eigenen Lust zu enthalten, wäre in ihren Augen am falschen Ende gespart gewesen.

Bevor der PSP sie mit einem Küsschen links, einem Küsschen rechts begrüßen und neben ihr an der Bar Platz nehmen konnte, huschte es ihr durch den Kopf, dass dieses Treffen, jahreszeitlich bedingt, wohl die letzte Verabredung mit ihm sein würde. Spätestens übernächste Woche würde die meteorologisch begründete Periode der Enthaltsamkeit einsetzen. Der November würde seine grauen, nassen und kalten Tage bringen – und beim Publicsex war es ihrer Erfahrung nach nicht praktikabel, in Wintermontur anzutreten, mal ganz abgesehen von der Gefahr, sich an Ort und Stelle zu verkühlen.

Als Hajo Freisal den Verhandlungssaal verließ, spürte er plötzlich kleine Nadelstiche im linken Knie. Hatte er vor zehn Jahren, als er auch schon achtzig Kilo auf die Waage brachte, noch relativ behände von hier aufbrechen können, schlurfte er nun eher behäbig durch den dunkelbraun gefliesten Gerichtsflur hin zur von einem hohen Klostergewölbe beschirmten Treppenhalle. Die breiten Stiegen aus Stein des ehemaligen Königlichen Criminal Gerichts in der Turmstraße hinab zur Sicherheitsschleuse nahm Freisal bedächtigen Schrittes. Seine rechte Hand umfasste dabei den gusseisernen Handlauf. Für den Fall der Fälle, dachte er. Die meisten Unfälle passieren schließlich in alltäglichen Situationen.

Der Sicherheitsbeamte am Ausgang händigte dem Kommissar seine Dienstwaffe aus, die er beim Betreten des Gebäudes hatte abgeben müssen. Freisal steckte die SIG P225 zurück in den Gürtelhalfter, der hinten am etwas kneifenden Hosenbund befestigt war.

Er durchschritt das mit armdicken Sperrstäben gesicherte Drehkreuz. Unmittelbar zuvor hatte er versucht, den Bauch einzuziehen. Es war ergebnislos geblieben, aber dennoch hatte er natürlich durch die Schleuse gepasst. Wenige Meter weiter fiel dann die schwere Eichentür des Gerichtsgebäudes hinter ihm ins Schloss.

Hajo Freisal blieb auf der obersten Stufe vor dem wilhelminisch anmutenden Eingangsportal stehen und atmete tief durch. Das tat er nicht nur seiner Kurzatmigkeit wegen. Eigentümlicher Gestank da drinnen, dachte er. Er wollte den Geruch von Bohnerwachs gepaart mit Jahrzehnte alten Nikotinrückständen aus der Nase bekommen und atmete ein weiteres Mal tief durch. Dass er auf der obersten Stufe der Treppe verweilte, hatte aber auch damit zu tun, dass er sich so als kleinwüchsige Person einen guten Blick auf die Turmstraße verschaffen konnte.

Freisal runzelte die Stirn ob des Staus vor seiner Nase und sinnierte, warum Stadtplaner in Berlin eigentlich immer noch von »Verkehrsflüssen« sprachen. Er zuckte mit den Schultern, setzte seine dunkelgraue Schiebermütze auf den gescheitelten Kurzhaarschnitt und stapfte die Stufen hinab auf das Trottoir.

Obschon sich der Oktober von seiner goldenen Seite zeigte, pfiff just in dem Moment, als sich eine dicke Wolke vor die Sonne schob, ein eher unangenehmes Lüftchen um die Häuserblocks. Freisal knöpfte sich die um den Bauch sichtlich spannende Wildlederjacke zu – nicht zuletzt deshalb, weil ihm schlagartig klar geworden war, dass er die knapp tausend Meter zur Markthalle wider Willen besser zu Fuß bewältigte. Er ließ seinen Wagen, den er in der Wilsnacker abgestellt hatte, stehen, denn aus Erfahrung wusste er, dass insbesondere zur Mittagszeit die Parkplätze an der Arminiusmarkthalle endlich waren. In der Arminiusstraße hielten LKW der Stadtreinigung in zweiter Spur, auf eine Pause, aber auch Reisebusse trugen ihren Teil zum Infarkt des Fahrdamms bei, dieses schmalen wie kurzen Verbindungsstücks zwischen Bremer und Jonasstraße: Die ausladenden Vehikel zwängten sich durch die Enge und hielten, wo es gerade noch so passte, spuckten Touristen aus, die in Mannschaftsstärke und Trolleys hinter sich herziehend blindlings quer über die Straße marschierten.

Wer hier einen Parkplatz sucht, ist selber schuld, hatte Freisal erst vor vier Wochen gedacht, als er mal wieder vom Gericht »auf ein Eisbein« bei Paschke, der den Kiez-Imbiss in der Markthalle betrieb, vorbeigekommen war. Zuvor hatte er einen Autofahrer dabei beobachtet, wie er sehenden Auges in die von zwei Bussen verstopfte Sackgasse hineinfuhr. Wie bekloppt ist der denn?, hatte er sich gefragt. Der Mann hatte tatsächlich versucht, mit Dauerhupen ein Durchkommen zu erzwingen. Er wurde weitestgehend ignoriert. Einzig ein Passant trat seitlich an seinen Wagen heran und wies darauf hin, dass sich die Busse »aller Wahrscheinlichkeit nach nicht in Luft auflösen« würden und er »von daher das Getöse getrost einstellen« könne. Dem Angesprochenen war daraufhin die Zornesröte ins Gesicht gestiegen. Er legte krachend den Rückwärtsgang ein. Unmittelbar bevor er Gas gab, kübelte er dem Passanten noch seinen Urberliner Charme vor die Füße: »Wat willst’n du, du Jurke? Allet Irre hier! Hopsen eim noch vor ’n Wagen …«

Mein Moabit, wie es singt und lacht, hatte Freisal ungerührt resümiert.

Auf dem Weg zur Markhalle passierte er wie üblich Automaten-Casinos, An- und Verkauf-Läden und Billig-Boutiquen. Den Kleinen Tiergarten, die Grünanlage zwischen Alt-Moabit und Turmstraße, ließ er links liegen; die Männer, die dort standen und es offenbar vorzogen, ihr Bier an der frischen Luft zu trinken, nahm er nur am Rande wahr. Das Bild von Trinkern im öffentlichen Raum war KHK Freisal gewohnt. Es juckte ihn lediglich, wenn er Jugendliche mit geöffneten Bierflaschen in den Händen über die Turmstraße flanieren sah. Ist das die deutsche Leitkultur, von der vor Jahren mal die Rede war?, fragte er sich dann mitunter sarkastisch.

Nach knapp zehn Minuten überquerte Freisal die Stromstraße und war damit seinem Ziel schon recht nahe. Er musste jetzt bloß noch rechts an der Heilandskirche vorbei, um wiederum rechts in die Jonasstraße einzubiegen. Obwohl er den Weg schon viele Male gegangen war – ein bis zwei Gerichtstermine kamen im Monat schon zusammen –, fiel ihm in der Jonasstraße immer wieder wie aufs Neue linkerhand die Seitenfront vom Rathaus Tiergarten auf. Auf ihrer gesamten Länge von siebzig Metern und über alle fünf Etagen hinweg starrte das Gebäude vor rußähnlichem Dreck.

Die gleich links ums Eck liegende Markthalle, 1881 erbaut, war ein vergleichsweise schmuckes und zierliches Gebäude. Es schien beinahe so, als ducke sie sich vor dem ausladenden Verwaltungskomplex ängstlich weg. Wenn dem so war, dann mochte das historisch begründet sein; das wuchtige Rathaus stand der Markthalle ja nicht nur unmittelbar gegenüber, sondern es stammte aus einer Zeit, in der dort braune Bürokraten herrschten. Der Grundriss des 1937 fertiggestellten Zweckbaus war ein H, wenngleich der Saal, der in den Fünfzigern an die Rückseite des Rathauses angesetzt worden war, Adolfs Initiale oberhalb ihrer horizontalen Linie merklich ausfranste.

Schön ist anders, dachte Freisal wieder beim Anblick der schäbigen Front. Aber an diesem Tag war ihm nicht in erster Linie die Schmutzfassade als solche aufgefallen, sondern ein frisch aufgepinseltes Graffito: »Meen Moabit – klasse morbid!«

Der KHK lächelte, auch darüber, dass die Schmiererei den Tatbestand der Sachbeschädigung erfüllte. Er befand jedoch, dass dies in diesem Fall eine kleinliche Betrachtungsweise sei, solange an derselben Fassade immer noch, aus Gründen des Denkmalschutzes, Einschüsse aus letzten Kriegstagen zu sehen waren. Mit Denkmalschutz kannte sich Freisal nicht aus. Aus purer Neugierde hatte er einmal im Internet bei den Berliner Denkmalschützern nachgeschlagen und gelesen, dass »das mächtige Rathaus Tiergarten« den »Stadtraum an der Turmstraße« dominiere und dass »der Baukomplex, der den gesamten Baublock zwischen Bremer Straße und Jonasstraße einnimmt« und, zusammen mit der unmittelbar dahinter liegenden Arminiusmarkthalle, das »städtische Zentrum Moabits« bilde. Zur Turmstraße hin, so unterrichtete die Denkmalschutzbehörde auf ihrer Webseite bei berlin.de, öffne sich »die Anlage raumgreifend mit einem Ehrenhof. Der Haupteingang wird mit einem Portikus hervorgehoben. Das Rathaus des 1920 gebildeten Bezirks Tiergarten, entworfen von Stadtbaudirektor Richard Ermisch, wurde 1936–37 während der nationalsozialistischen Herrschaft ausgeführt.« Nach »der Einführung des ›Führerprinzips‹« habe man nur noch »Verwaltungsräume« benötigt, infolgedessen »Räumlichkeiten für die kommunale Selbstverwaltung entfallen konnten.« Das Gebäude zeige mit dem »steilen Walmdach, der Werksteinrahmung der Fenster in der Mittelachse, der Pfeilerarchitektur des Portikus und nicht zuletzt mit dem darüber liegenden Balkon, der an ›Führerbalkone‹ der Partei- und Staatsbauten erinnert, typische Merkmale der nationalsozialistischen Repräsentationsarchitektur«. Ermisch habe auf »jegliches theatralische Pathos verzichtet«. Seine »ambivalente Baugesinnung« würde die »filigrane Gestalt des schlichten Uhrenturms, der die Mittelachse betont«, dokumentieren.

Aha, filigran, hatte Freisal nach der Lektüre gedacht. Ansichtssache. Aber selbst wenn, was war daran schützenswert? »Was prägt eine Stadt? Wodurch erhält sie ihr unverwechselbares Gesicht? Was vermittelt ihre Identität?«, war als Leitfrage zum Denkmalschutz vorab in den virtuellen Raum gestellt. Soso, Identität, hatte er überlegt. Glaube kaum, dass es für Moabiter identitätsstiftend ist, diesen verwahrlosten Kasten dreihundertfünfundsechzig Tage im Jahr vor Augen zu haben.

Hajo Freisal ging das Herz auf: Der rote Backstein der Markthalle erstrahlte im warmen Oktoberlicht. Rasch ließ er das Café Jonas, American Nails und eine Absatz-Bar hinter sich. Auf Höhe des Lichtzentrums – kein Lampenladen, sondern ein »Treffpunkt für Spirituelles« – suchte er sich im Zickzack-Gang einen Weg vorbei an den parkenden und in zweiter Spur haltenden PKW, LKW und Bussen. Unmittelbar vor dem Bürgersteig der Arminiusstraße blieb er abrupt auf dem Fahrdamm stehen. Eine Geisterradlerin kreuzte seinen Weg. Um der eigenen Unversehrtheit willen pochte er nicht auf die StVO, sondern ließ die schwarz gekleidete und auffallend weiß geschminkte Frau passieren. Angesichts ihres martialischen Nasenschmucks vermutete er, dass sie auf Krawall gebürstet sein könnte. Das musste jetzt nicht sein.

Der Kommissar erreichte den Bürgersteig und spätestens in diesem Moment vernahm er den für diese Straße so typischen Sound: Akkordeonklänge. Es erklang, oder besser gesagt, es erschallte das Lied Rosamunde – was aber nichts Besonderes war, weil hier immer Rosamunde ertönte: tagein, tagaus. Der junge Mann am Balg, der sich vor der Markthalle verdingte – mehr schlecht als recht, musikalisch betrachtet –, war, wie sich später noch herausstellen sollte, vierundzwanzig Jahre alt und stammte aus Słubice – aber viel mehr würde über ihn, den gutaussehenden Dreitagebartträger, nicht in Erfahrung zu bringen sein. Außer: Er beherrschte offenbar nur den Refrain des Liedes, bei den Strophen improvisierte er frei und wild. Die Bässe des Balginstruments röhrten dann wie ein Rudel Hirsche.

Der Akkordeonspieler, der aus Polen stammte, wie Freisal vom Imbiss-Betreiber Paschke wusste, saß, wie immer, links neben dem von Klinkergewölbe überdachten Markthallen-Eingang auf einem mit Schafsfell gepolsterten Holzstuhl. Bei schönem Wetter wie an diesem Tag stand auf dem Bürgersteig ein aufgespannter blauer Sonnenschirm. Der Musiker mit mittellangem schwarzem Haar, Bartstoppeln und sonnenverwöhntem Teint war, dachte Freisal, im Grunde genommen eine sympathische Erscheinung – wäre das Geklimper nicht. Hatte sich das mancher Moabiter im unmittelbaren Wohn- und Arbeitsumfeld der Markthalle ebenso gedacht? Jedenfalls gab es im Rathaus, wie Freisal wenig später aus erster Quelle erfahren sollte, sogar Menschen, die rotsahen, wenn sie nur das Wort Akkordeon hörten.

Auf seinem vorgestellten rechten Bein stützte der junge Mann das schwere Instrument ab, sein linker Fuß stampfte entschlossen im Takt. Manche Leute, die die Markthalle betraten oder verließen, warfen eine Münze in eine Mütze, die gefährlich nahe an dem energisch auf den Boden tretenden Fuß lag. Der Musiker grüßte alle Passanten, die an ihm vorbeigingen, egal ob sie zu ihm hinsahen oder nicht, wie alte Freunde; während er spielte, nickte er oft und gerne mit dem Kopf. Er kannte allem Anschein nach niemanden wirklich persönlich, sondern höchstens, allerhöchstens, vom Sehen. Wenn ihm jemand Kleingeld in die Mütze warf, dienerte er überschwänglich bis devot. Das gefiel dem Publikum anscheinend, dachte Freisal. Oder gaben die Leute ihm etwa nur deswegen Geld, damit er sein Tagessoll raschestmöglichst erfüllen, das heißt mit dem Musizieren vorzeitig aufhören konnte?

Freisal blieb vor dem Akkordeonspieler stehen und warf einen Euro in die Kopfbedeckung. Grausame Musik, dachte er, aber besser, als Autos klauen … Ein Gedanke, der nicht nur politisch unkorrekt, sondern auch insofern voll daneben war, als es sich nicht gehörte, jemanden wegen seiner Herkunft mit Kriminellem in Verbindung zu bringen. »Ich weiß«, hatte Freisal in der Kantine einmal auf einen solchen Einwand hin entgegnet, »Fakt ist dennoch, dass die lieben Nachbarn in Sachen Klau die Nase aber auch so was von weit vorn haben.«

»Ist das nicht Chauvinismus?«, hatte Yasmine Gutzeit nachgehakt.

»Nein«, hatte Freisal geantwortet, »Statistik.«