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THOMAS WIDERIN

Meilenweit
zur Kühlbox

MIT DEM FAHRRAD DURCH AMERIKA

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Delius Klasing Verlag

 

Folgende Ausgaben dieses Werkes sind verfügbar:
ISBN 978-3-7688-5371-2
ISBN 978-3-7688-8284-2 (E-Book)
ISBN 978-3-7688-8461-7 (E-Pub)

Lektorat: Klaus Bartelt, Ute Maack
Schutzumschlaggestaltung: Buchholz.Graphiker, Hamburg
Fotos: vom Autor, mit Ausnahme von S. 19 (Bloch)
Karte: inch3, Bielefeld
Satz: Axel Gerber

Datenkonvertierung E-Book: HGV Hanseatische Gesellschaft für
Verlagsservice, München

Alle Rechte vorbehalten! Ohne ausdrückliche Erlaubnis
des Verlages darf das Werk, auch Teile daraus,
nicht vervielfältigt oder an Dritte weitergegeben werden.

www.delius-klasing.de

Inhalt

Vor dem Start – Einsatz im Helikopter

Aller Anfang ist schwer

Fahrrad verschollen

Verhaftung in New York

Ein rabenschwarzer Tag

»It’s the law!«

Schlacht am Buffet

Tornado in Kansas

Hilfsbereitschaft auf die Probe gestellt

Hundeattacke

Nachts in der Polizeistation

Diebe im Waschsalon oder: der Kampf mit dem Damenslip

Route 66 und Coca Cola

Sandsturm in der Mojave-Wüste

Gefangen auf der Golden Gate Bridge

Angriff der Moskitos

Rettungsaktion in den Rocky Mountains

Eine Kühlbox in der Wüste

Snake Range

»Der Mann mit dem Hammer«

Unheimliche Begegnung auf dem Friedhof

Gefährliche »Tandem«-Fahrt

Max

Mein erster Bär

Chaos auf der Brücke

Schlammschlacht auf dem Dalton Highway

Ein Leben gerettet

Grizzly

»Mein« Wolf – das Ende einer Reise

Epilog: Mein Weg zurück …

Danksagung

Für Jacob:
das Beste in meinem Leben.

Und für Simone:
Du hast mir das Lachen zurückgegeben!

Vor dem Start –
Einsatz im Helikopter

Die Kellnerin im Sushirestaurant nimmt meine Bestellung entgegen. Sie macht einen gestressten Eindruck. Stress pur habe auch ich heute hinter mir. Ich hatte Dienst am Rettungshelikopter und bin Einsätze in den Tiroler Bergen geflogen. Ein Einsatz nach dem anderen. Keine Pause, um zu essen. Es ist das zweite Dezemberwochenende und es wird sehr früh dunkel. Daher ist bereits gegen 18 Uhr Dienstende. Nun freue ich mich auf das Sushi. Plötzlich läutet mein Handy. Ein ganz spezielles Läuten. Auf dem Display steht »Pilot Jochen«. Jochen ist der Chefpilot unseres Rettungshelikopters. Und er ist mein Freund. »Bist du noch einsatzbereit?«, fragt er. Mit meinem »Ja« beginnt ein ganz besonderer Einsatz, der einer jungen Frau das Leben rettet …

Seit vielen Jahren versehe ich nebenberuflich Dienst als Flugretter im Notarzthubschrauber »Christophorus 1« des Österreichischen Automobil-, Motorrad- und Touringclubs ÖAMTC. Unser »Gelber Engel«, wie alle Rettungshelikoper der ÖAMTC-Flotte genannt werden, ist in Innsbruck stationiert. Von dort aus fliegen wir zu den verschiedensten Notfällen. Viele davon in den Tiroler Bergen. Unsere Crew besteht immer aus drei Mann: einem Piloten, einem Notarzt und einem Flugretter. Diese Flugretter haben bei den Einsätzen ganz bestimmte Aufgaben. Im Rettungsheli konzentrieren wir uns auf den Funkverkehr, die Navigation und die Luftraumbeobachtung. Wir unterstützen dabei den Piloten, sodass sich dieser ganz auf das Fliegen konzentrieren kann. Am Unfallort assistieren wir dem Notarzt. Deshalb muss jeder Flugretter eine entsprechende Ausbildung als Notfallsanitäter nachweisen. Und alle Flugretter in Österreich sind auch ausgebildete Bergretter. Im hochalpinen Gelände sind sie für den bergrettungstechnischen Einsatzablauf verantwortlich. Mit dem »Eurocopter 135« verfügt unsere Crew über einen der modernsten Rettungshelikopter weltweit. Ausgerüstet für fast alle Arten von medizinischen Einsätzen auch im Gebirge: seien es schwerste Verletzungen nach Verkehrsunfällen, Reanimationen, abgestürzte Bergsteiger oder im Baum hängende Gleitschirmpiloten. Wenn es das Wetter zulässt, sind wir 365 Tage im Jahr einsatzbereit. Von Sonnenaufgang bis zum Sonnenuntergang.

Ich lasse mein Sushi stehen und zehn Minuten später stehe ich in unserem Einsatzraum in der Nähe des Innsbrucker Flughafens. Mein Freund Jochen und Marc, der Notarzt, mit dem ich heute bereits geflogen bin, warten schon. Wir stellen uns vor die große Landkarte im Einsatzraum und Jochen erklärt uns die Situation. Vor etwa einer Stunde ist eine dreißigjährige Frau in der Nähe von Ehrwald im Tiroler Außerfern mehrere Hundert Meter über steiles Felsengelände abgestürzt und liegt nun schwer verletzt in einer Rinne. Da der Absturz bereits außerhalb unserer Dienstzeit geschehen ist, wurde seitens der Rettungsleitstelle die örtlich zuständige Bergrettung alarmiert. Der Einsatzleiter dieser Bergrettung benötigt nun aber doch einen Hubschrauber. Die Schwerverletzte muss vor der Bergung unbedingt notärztlich versorgt werden. Und eine terrestrische Bergung, das heißt auf dem Landweg, würde viel zu lange dauern.

Grundsätzlich fliegen wir in der Nacht nicht zu Primäreinsätzen. Immer wieder holen wir zwar auch bei Dunkelheit Patienten aus einem kleineren Krankenhaus ab, um sie in ein Schwerpunktkrankenhaus zu überstellen. Jedoch fliegen wir dabei nur von einem beleuchteten Landeplatz zu einem anderen. Es gibt aber vereinzelt Situationen, da müssen wir auch bei Dunkelheit einen Einsatz im Gebirge übernehmen. Bestimmte Grundvoraussetzungen müssen dabei jedoch passen: die besondere Dringlichkeit des Einsatzes, das Wetter und die Sicht, die Einsatzörtlichkeit und vor allem die Einsatzkräfte vor Ort. Sind alle Voraussetzungen erfüllt, dann versucht der Disponent der Leitstelle, noch einmal den Piloten zu erreichen, der den Tag über am Rettungshelikopter Dienst versehen hat. Nur wenn dieser den Einsatz dann tatsächlich übernimmt, wird auch die restliche Crew alarmiert. Immer wieder müssen solche Nachteinsätze aber abgelehnt werden. Vor allem dann, wenn die Situation am Notfallort völlig unklar ist oder das Wetter nicht mitspielt.

Heute passt alles: Es ist eine sternenklare Vollmondnacht. Vor Ort wartet eine erfahrene Bergrettungsmannschaft. Wir sind uns alle drei einig, dass wir den Einsatz übernehmen können …

Jochen telefoniert noch einmal mit dem Einsatzleiter vor Ort. Er lässt sich die Situation so genau wie möglich schildern. Für ihn als Piloten des Rettungshelis ist die Beschreibung der Unfallstelle von großer Bedeutung. Die Geländebeschaffenheit, mögliche Leitungen oder andere gefährliche Hindernisse. Ganz besonders wichtig: Mit wem kann während des Einsatzes auf welchem Funkkanal kommuniziert werden? Dann schauen wir uns zu dritt den Einsatzort auf der großen Landkarte an, die im Hubschrauberhangar an der Wand hängt. Mit einem Maßstab von 1 : 25 000 die ideale »Bergkarte«. Darauf eingezeichnet sind auch alle bekannten und gemeldeten Flughindernisse. Erleichtert stellen wir fest, dass in unmittelbarer Umgebung des Unfallortes keine Hindernisse vermerkt sind. Auf die Karte allein darf man sich trotzdem nicht verlassen. Immer wieder fehlen solche Hinweise, nämlich dann, wenn beispielsweise der Erbauer eines solchen Hindernisses dieses nicht an die vorgesehenen Stellen meldet. Dann kann es zu gefährlichen Situationen kommen, die im schlimmsten Fall zum Absturz eines Helikopter führen.

Wir räumten das notwendige Material in unseren Rettungshelikopter. Jochen arbeitete seine Checkliste an der Maschine ab. Marc kontrollierte den gelben Medizinrucksack. Darin führen wir alle wichtigen medizinischen Utensilien mit, die man an einem Notfallort benötigt, um einen Patienten qualitativ hochwertig zu versorgen. Ich kümmerte mich um das alpine Bergrettungsmaterial. Vor allem um die Rettungsseile. Anschließend schlüpften der Notarzt und ich in unsere Klettergurte. Diese Klettergurte gehören während unseres Rettungsdienstes zur Standardausrüstung. Jeder Notarzt und jeder Flugretter muss den Gurt ständig tragen. Wir fliegen viele Einsätze in hochalpinem Gelände. Da kommt es immer wieder vor, dass der Helikopter nicht direkt am Notfallort landen kann. Dann sucht sich der Pilot in der Nähe einen Zwischenlandeplatz. Auf diesem Platz hängen wir ein Rettungsseil in der notwendigen Länge unten an den Heli. Dann werden Notarzt und Flugretter samt ihrem Einsatzmaterial außen am Rettungshelikopter zur Unfallstelle geflogen. Als alle Vorbereitungen abgeschlossen waren, öffneten wir das Hangartor und schoben die Maschine auf das beleuchtete Vorfeld.

Jochen startet die Turbinen. Ich stehe mit meinem speziell für mich in gelber Farbe lackierten Helm vor dem Hubschrauber und beobachte den Vorgang. Dies ist ein genau festgelegtes Verfahren und dient der Sicherheit. Der Flugretter kontrolliert von außen, ob alle Türen und Klappen geschlossen sind oder sich noch irgendwelche gefährlichen Gegenstände in der Nähe der Maschine befinden. »Außencheck okay!«, spreche ich in mein Funkgerät, und der Pilot gibt mir das Zeichen zum Einsteigen. Mein Platz ist der Copilotensitz vorn in der Maschine.

Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie wir über das Seefelder Hochplateau geflogen sind und weiter durch das Gaistal. Dabei handelt es sich um ein etwa 20 Kilometer langes wunderschönes hochalpines Tal in Richtung Tiroler Außerfern. Rechts und links von uns ragten die Berge in die Höhe. Durch den hellen Vollmond wurden die Felswände gut sichtbar beleuchtet und glänzten in der Sternennacht. Überall lag bereits Schnee. Unter uns eine weiße Landschaft. Jochen machte einen sehr ruhigen, konzentrierten Eindruck. Er hatte die Beleuchtung für Nachteinsätze eingeschaltet. So kann der Pilot die Instrumente besser sehen. Ansonsten war es dunkel im Inneren der Maschine. Es gibt mehrere Piloten, die auf unserer Basis Dienst versehen. Aber mit Jochen fliege ich am liebsten. Er ist nicht nur ein Freund von mir, sondern auch ein ausgezeichneter Pilot. Ich habe ihn noch nie nervös gesehen. Er strahlt immer eine besondere Ruhe aus und weiß ganz genau, wie weit er gehen kann oder wann er einen Einsatz abbrechen muss. Jochen geht kein Risiko ein. Ihm merkt man an, wie sehr er mit seinem Helikopter verbunden ist. Ein gutes Gefühl für die Crew. In dieser Nacht war es nicht anders. Er saß ganz ruhig in seinem Pilotensitz, schaute nach vorn und steuerte den fast fünf Millionen Euro teuren Helikopter.

Die Notärzte haben ihren Platz im hinteren Teil der Maschine. Sie können jederzeit mit uns über Funk kommunizieren und auch alle anderen Gespräche mithören, die wir mit den Einsatzkräften vor Ort führen. Marc gehört ebenfalls zu den Mitgliedern meiner Lieblingscrew. Er ist Anästhesist an der Klinik in Innsbruck und hat schon viele Hundert Flugrettungseinsätze hinter sich. Ein erfahrener, ausgezeichneter Notarzt, der sich auch im hochalpinen Gelände sehr gut zurechtfindet. In dieser Nacht saß eine Crew im Rettungshelikopter, die gut harmonierte und sich aufeinander verlassen konnte.

»›Christophorus 1‹ von Bergrettung Ehrwald.« Das Funkgerät meldet sich. »Christophorus 1« ist der Rufname unseres Rettungshelis. Ich antworte. Alle im Helikopter hören nun mit. Der Einsatzleiter vor Ort erklärt uns seine Position. Er befindet sich nicht am Unfallort, sondern im Tal in Ehrwald auf einem großen beleuchteten Parkplatz. Er bittet uns, dort zu landen, um dann alles weitere in Ruhe zu besprechen. Jochen nickt, und ich bestätige am Funk, dass wir in fünf Minuten vor Ort sein werden. Kurze Zeit später steuert Jochen seine Maschine in einer lang gezogenen Rechtskurve in Richtung Parkplatz. Ich kann den Einweiser unter mir gut erkennen. Er trägt eine deutlich sichtbare Einsatzuniform der Tiroler Bergrettung und eine Warnweste, die den Mann als Einsatzleiter vor Ort kennzeichnet. Der Pilot gibt uns die Anweisung, beim Landeanflug rechts und links hinauszuschauen und die Gegend genau zu beobachten. Marc und ich müssen nun besonders aufmerksam sein. Wir sprechen ruhig unsere Kommandos: »Rechts frei, links frei.« Damit bestätigen wir dem Piloten, dass auf unseren Seiten keine Hindernisse sichtbar sind. Als ob es das Normalste auf der Welt wäre, landet Jochen unseren Rettungshubschrauber sehr behutsam auf dem schneebedeckten Parkplatz. Der Neuschnee wirbelt auf und bedeckt den Einsatzleiter der Bergrettung von unten bis oben mit der weißen Pracht.

Als wir vor ihm stehen, merken wir sofort: Es liegt Nervosität in der Luft. Die Mannschaft, die sich bereits am Unfallort bei der Verletzten befindet, drängt auf eine rasche ärztliche Versorgung. Und auf eine Bergung mittels Hubschrauber. Unser Notarzt lässt sich über Funk den Zustand der abgestürzten Frau schildern. An der Tonlage des Bergrettungssanitäters, der neben der Frau kniet, merkt man, dass die Situation sehr ernst ist. Die deutsche Bergsteigerin hat mehrere massive Verletzungen am gesamten Körper. Neben blutenden Wunden auch diverse Brüche. Vor allem aber hat sie eine schwere Kopfverletzung. Aufgrund dieses Polytraumas und der relativ langen Liegezeit an der Absturzstelle hat sich ihr Zustand mittlerweile dramatisch verschlechtert. Immer wieder wird die Schwerverletzte kurzzeitig bewusstlos. Zusätzlich treten erste Atemprobleme auf. Nachdem unser Notarzt alles gehört hat, entscheidet er, dass wir sofort direkt zur Absturzstelle müssen. Für Marc ist klar: Noch vor der eigentlichen Bergung ist eine notärztliche Erstversorgung vor Ort unbedingt notwendig. Andernfalls würde die Verletzte den Abtransport mit großer Wahrscheinlichkeit nicht überleben. Marc spricht mit unserem Piloten. Aber für Jochen ist ein Hubschrauberflug ins Ungewisse ein zu hohes Risiko. Er möchte vorher genau wissen, wie das Gelände vor Ort ausschaut. Er würde uns mit dem Heli erst abholen, nachdem wir direkt vor Ort die Lage erkundet haben. Also müssen wir zuerst zu Fuß aufsteigen. Wir nehmen den gelben Medizinrucksack aus der Maschine. Ebenso das Monitoring-Gerät, mit dem man alle lebenswichtigen Parameter an einem Notfallpatienten messen kann. Außerdem benötigen wir den roten Bergesack. Dort hinein werden die Verletzten nach ihrer Versorgung gelegt, um sie anschließend an dem am Rettungshelikopter hängenden Seil auszufliegen. Wir wissen jedoch noch nicht, ob eine Seilbergung überhaupt möglich sein wird. Trotzdem nehmen wir das rote Paket mit. Unser Notarzt drängt darauf, endlich aufzubrechen. Mit drei Bergrettungsmännern, die uns beim Tragen helfen, steigen wir in Richtung Unfallstelle auf.

Immer wieder sinken wir im Neuschnee ein. Unser Tempo ist hoch. Die Bergrettungsmänner stapfen durch den Schnee voraus. Zudem müssen wir Material mitschleppen. Eine echte Tortur. Ich schwitze in meinem Flugoverall. Nach etwa 40 Minuten bemerken wir oberhalb von uns die ersten Stirnlampen. Kurze Zeit später haben wir es geschafft. Wir sind da. Am Gesichtsausdruck der Bergrettungsmänner kann ich ihre Erleichterung erkennen. Marc beugt sich zur verletzten Frau hinunter. Der Bergrettungssanitäter hat seine Vorarbeit geleistet. Die Abgestürzte ist notdürftig erstversorgt. Sie wird mit Anoraks und Decken gewärmt. Ruhig und routiniert macht Marc seinen medizinischen Check. Dann stellt er die Diagnose: ein schweres Polytrauma. Zusätzlich liegt bereits eine deutliche Unterkühlung vor. Die Lage ist sehr ernst. Mein Notarzt dreht sich ein wenig von der Frau weg und gibt mir zu verstehen, dass die Zeit drängt. Sie schwebt in absoluter Lebensgefahr. Die einzige mögliche Rettung für sie: eine umgehende notärztliche Mindestversorgung vor Ort und dann eine Bergung mittels Hubschrauber, um so rasch wie möglich in das nächste Krankenhaus zu gelangen.

Nun komme ich ins Spiel. Während der Sanitäter der Bergrettung unseren Notarzt bei der weiteren Versorgung unterstützt, nehme ich Kontakt mit dem Piloten auf. Ich gehe ein Stück auf die Seite, damit mein Gespräch nicht von der Frau und den anderen Rettungskräften mitgehört werden kann. Ich schildere Jochen die dramatische Situation vor Ort. Jochen will daraufhin ganz genau wissen, wie das Gelände am Unfallort aussieht. Ich schaue mich aufmerksam um. Wir haben Glück. Die Unfallstelle befindet sich oberhalb der Baumgrenze. Zudem an einer relativ gut einsehbaren Stelle. Der Hang über uns ist nicht allzu steil und auch nicht von Felsen durchsetzt. Hindernisse in unmittelbarer Nähe kann ich keine ausmachen. In möglichst vielen Einzelheiten beschreibe ich Jochen über mein Funkgerät die Gegend vor Ort. Daraufhin herrscht kurz Stille. Ich weiß, dass der Pilot nun für sich eine Entscheidung treffen wird. Schon kurze Zeit später gibt Jochen sein »Okay«. Er hat sich auf meine Einschätzung verlassen. Das Restrisiko ist für ihn offensichtlich einschätzbar.

Jochen fordert von mir, dass ich noch einmal zu ihm hinunter kommen müsse. Er will nicht mit dem Seil allein zur Unfallstelle fliegen, sondern benötigt meine Funkkommandos, während ich unter seinem Hubschrauber hänge. Also wieder denselben Weg durch den Wald hinunter in Richtung Ehrwald. Während ich zurück zum Hubschrauber laufe, arbeitet Marc oben auf Hochtouren. Eine echte Herausforderung für ihn. Unter diesen erschwerten Bedingungen einen so massiv verletzten Patienten zu versorgen, geht an die Grenzen des Machbaren. Hauptanliegen des Notarztes ist es, den Kreislauf der Frau zu stabilisieren. Um die entsprechenden Medikamente verabreichen zu können, muss er einen venösen Zugang legen. Obwohl die Verletzte bereits deutlich unterkühlt ist, platziert der erfahrene Notarzt die Nadel punktgenau in einer Vene der rechten Hand. Anschließend eine weitere im Halsbereich. Dann folgen Infusionen und nach und nach die benötigten Medikamente. Der Bergrettungssanitäter assistiert dabei, und seine Kollegen kümmern sich um eine möglichst optimale Lagerung der Patientin. Die Frau wird für die Seilbergung vorbereitet.

Als ich den Zwischenlandeplatz im Tal erreiche, hat Jochen bereits sämtliches für die Seilbergung notwendige Material aus der Maschine ausgeräumt. Somit sparen wir Zeit. Ich lege ein 30 Meter langes Seil vor dem Heli am Boden aus. An einem Ende dieses Seils befindet sich ein spezielles Gehänge, in das ich mich anschließend einklinken werde. Zusätzlich bereite ich einen Bergesack vor und hänge ihn ebenfalls ein. In diesen wird dann die verletzte Bergsteigerin gelegt. Ich kontrolliere noch einmal den Sitz meines Klettergurtes. Anschließend machen Jochen und ich eine Funkprobe. Ein besonders wichtiger Check vor jeder Seilbergung, denn es ist die Aufgabe des am Seil hängenden Flugretters, über Funk dem Piloten während des Bergevorgangs die entsprechenden Anweisungen zu geben. Dann startet der Pilot nacheinander beide Turbinen der Maschine. Ich funke hinauf zu unserem Notarzt, um ihm mitzuteilen, dass wir einsatzbereit sind. Marc bestätigt meinen Funkspruch. Die Patientin ist so weit versorgt, dass nun eine Bergung möglich ist. Jochen hebt mit dem Heli ab. Während er seine Maschine knapp oberhalb meines Kopfes schweben lässt, hänge ich das Seil in beide Haken ein, die sich an der Unterseite des Helikopters befinden. Nachdem der Heli so weit hochgestiegen ist, dass sich das Seil spannt, klicke ich meinen Klettergurt in das dafür vorgesehene Gehänge ein. Der Pilot kann diesen Vorgang auch über einen speziellen Spiegel beobachten. Jochen und ich haben schon viele solcher Abläufe hinter uns, wir sind aufeinander eingespielt.

Vorsichtig hebt mich Jochen vom Boden ab. Schnell wird der Parkplatz kleiner und wir fliegen in die Dunkelheit in Richtung Unfallstelle. Mir gefallen solche Seilbergungen. Du hängst weit unter dem Helikopter und der Pilot fliegt dich genau dorthin, wohin du willst. Jochen bekommt von mir über Funk laufend Informationen, wie hoch wir uns über dem Grund befinden. Als wir in die Nähe der Absturzstelle kommen, beginne ich mit den Funkkommandos. Diese dienen dazu, dem Piloten die Richtung, die Entfernung und die Höhe anzugeben. Je näher man dem Ziel kommt, desto exakter werden die Kommandos. Jochen fliegt genau so, wie ich es ihm per Funk angebe. Punktgenau setzt er mich schließlich bei den Kollegen der Bergrettung ab.

Jetzt muss alles sehr schnell gehen. Die verletzte Frau wird in den Bergesack gelegt, während der Hubschrauber über uns schwebt. Landen kann Jochen hier nicht. Die Bergrettung hilft dem Piloten, indem sie mit ihren Stirnlampen den Platz ausleuchtet. Durch seinen Spiegel kann Jochen beobachten, wie die Mannschaft unter ihm die Bergsteigerin im Bergesack versorgt. Als alle Schlaufen und Karabiner geschlossen sind, wird der Bergesack in das Seil eingehängt. Dann klicke ich noch unseren Notarzt dazu. Nun hängen drei Personen am Seil: die schwer verletzte Patientin, Marc und ich. Genauso vorsichtig und ruhig, wie mich Jochen hergeflogen hat, hebt er uns nun wieder vom Boden ab. Ein Bergrettungsmann gibt uns noch einmal ein Handzeichen, dass alles passt. Schnell werden die Lichter der Stirnlampen kleiner, und nur fünf Minuten später sind wir wieder im Tal am Zwischenlandeplatz. Während Marc und ich die Patientin in den Rettungshelikopter legen und das Material versorgen, verständigt Jochen per Funk die Rettungsleitstelle. Über diese lässt er den Schockraum der Klinik in Innsbruck reservieren. Kurze Zeit später sind wir auf dem Weg in Richtung Innsbruck …

Die deutsche Bergsteigerin überlebte ihre schweren Verletzungen. Sie musste mehrere Tage auf der Intensivstation der Innsbrucker Klinik verbringen, wurde jedoch wieder völlig gesund. Am Jahrestag ihres Unfalls, besuchte uns die Frau auf der Helikopterbasis und bedankte sich für ihre Rettung. Eine der ganz wenigen Geretteten, die auch einmal »Danke« sagten.

Der Erfolg von Rettungseinsätzen wie diesem hängt entscheidend von genauer Abstimmung und Planung ab. Jeder Schritt will bedacht, jede Aktion überlegt sein. Nur allzu gern gehe ich auch andere Situationen im Leben ähnlich planvoll an. Auf einer Radreise, erst recht einer quer durch einen ganzen Kontinent, lässt sich aber nicht alles genau im Voraus planen. Oft geschieht Unerwartetes – das macht so eine Reise aus. Dann muss man spontan reagieren können und darf die Nerven nicht verlieren. Es kann auch vorkommen, dass man sich selbst plötzlich in einer sehr bedrohlichen Situation wiederfindet. Etwas Routine im Umgang mit Notfällen ist natürlich hilfreich. Aber selbst dann geht nicht unbedingt alles gut. Auch diese Erfahrung musste ich bei meiner Tour durch Nordamerika machen …

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Aller Anfang ist schwer

Vom Radfahren hatte ich bis vor einigen Jahren in etwa so viel Ahnung wie von der Mondfahrt: nämlich gar keine. Natürlich habe ich als Kind auch hin und wieder auf einem Fahrrad gesessen. Ich kann mich heute aber nicht mehr daran erinnern, ob mir der Weihnachtsmann je eines geschenkt hat. Familienausflüge, bei denen ich als Kind mit einem Fahrrad mitgefahren bin, hat es nie gegeben. Auch gehörte ich bis vor wenigen Jahren nicht zu jenen Männern, die unbedingt eines der supertollen und leider auch superteuren Mountainbikes besitzen müssen, um sich an jedem freien Wochenende im neuesten Raddress auf irgendeine Alpenhütte zu quälen. Mein Erfahrungswert zum Thema Fahrrad war also gleich null.

Ich war viele Jahre Mitglied des Österreichischen Polizei-Nationalteams im Mehrkampf und auch zweifacher Polizeiweltmeister in dieser Disziplin. Jahrelang nahm ich an verschiedenen internationalen Wettkämpfen teil und insgesamt an acht Weltmeisterschaften. Nach dem Ende meiner Wettkampflaufbahn wollte ich jedoch nicht sofort in die »Sportpension« gehen, sondern mit etwas Neuem beginnen. Schon lange vor dem Ende meiner Laufbahn als Leistungssportler dachte ich darüber nach, welchen Sport ich einmal in meiner Freizeit ausüben könnte.

Eines Abends sah ich im Fernsehen einen Bericht über einen besonders verrückten Wettkampf: das »Race Across America«, ein Radrennen quer durch die USA, von der Westküste zur Ostküste. Ich saß wie versteinert vor dem Bildschirm und verfolgte die Fahrt des Österreichers Wolfgang Fasching, der in jenem Jahr das Rennen gewann. Ich erinnere mich noch an mein »Bauchgefühl«. Ich war fasziniert von diesem Bericht: Die Vorstellung, eine solch enorme sportliche Herausforderung, auch deren psychische Belastungen, bewältigen zu können und nicht zuletzt die Bilder von traumhaften Landschaften weckten in mir eine Art Fernweh. Am Ende der Reportage wusste ich, dass mich der Wunsch, mit dem Rad quer durch die USA zu reisen, nicht mehr loslassen würde.

Ohne vorerst viel nachzudenken, besorgte ich mir alle Bücher, die Wolfgang Fasching verfasst hat, stöberte das Internet nach Ratgebern und Reiseberichten durch, hielt mich ständig in Buchläden auf und kaufte mir Straßenkarten der USA. Ich saß stundenlang vor Landkarten und schlief abends selten ein, ohne vorher ein paar Seiten Reiseliteratur gelesen zu haben.

Ziele im Leben zu haben ist wichtig. Mein nächstes Fernziel war diese Radreise in den USA. Alle meine Bekannten belächelten mich, denn jeder wusste, dass ich noch nie länger als eine halbe Stunde auf einem Fahrrad gesessen hatte. Und ich gebe zu, dass sich mein zunächst so positives Bauchgefühl in Skepsis verwandelte, je mehr ich mich mit dem Thema Radreisen auseinandersetzte.

Ich war körperlich zwar noch immer fit, wusste aber nicht, ob ich diese Fitness auch auf einem Fahrrad würde umsetzen können. Das Rennradfahren an sich ist schon eine ganz eigene Sache. Das stunden- und tagelange Fahren mit Gepäck, oft bei schlechtem Wetter oder in verlassenen Gegenden, bedeutet aber noch einmal eine Steigerung. Hier ist nicht nur Fitness, sondern vor allem ein besonders gutes »Sitzfleisch« gefragt. Das Gesäß des Radfahrers und der Sattel des Rennrades müssen gut miteinander auskommen. Die Rücken- und Nackenmuskulatur sollten ebenfalls reisetauglich, also gut trainiert sein, um während der langen Fahrten nicht zu verkrampfen. Auf meinen bisherigen halbstündigen Ausfahrten zum Einkaufen waren diese Probleme für mich kein Thema gewesen. Aber in allen Erfahrungsberichten von Radreisenden, die ich durchforstete, fielen immer wieder die Worte »wundes Gesäß«, »schmerzender Rücken« oder »verkrampfter Nacken«.

Zu den körperlichen Problemen, so erfuhr ich aus meiner Lektüre, kommen die diversen Launen der Natur. Radreisen bedeutet Fahren bei jedem Wetter. Nicht immer besteht die Möglichkeit, einem Gewitter auszuweichen oder eine Hitzeperiode abzuwarten. Gerade beim Durchqueren der USA sind hohe Gebirgszüge ebenso zu bewältigen wie Wüsten und ähnliche völlig einsame Gegenden, ohne Möglichkeit des Nahrungs- und Wassernachschubs. Die Hektik von Millionenstädten muss ebenso ausgehalten werden wie die psychische Belastung der Einsamkeit in der Provinz.

Mit den Berichten über körperliche und klimatische Probleme war es aber noch nicht genug, ich musste mir in diesen Büchern auch noch Fotos von Rahmen- und Speichenbrüchen ansehen, Aufnahmen von ständig reifenwechselnden Radfahrern und verzweifelt dreinblickenden Menschen, die mit einem defekten Fahrrad am Seitenstreifen einer Interstate saßen. Beim Transport von mehreren Gepäcktaschen mit mehr oder weniger sinnvollem Material brechen eben hin und wieder Gepäckträger, oder die Nerven des Tretenden versagen beim Überqueren eines Passes.

Alles in allem musste ich also mit einer Menge Schwierigkeiten rechnen. Vor allem aber hatte ich noch keinen einzigen Kilometer in den Beinen.

Ich dachte ständig an mein Vorhaben, von dem ich mittlerweile gar nicht mehr wusste, ob ich es überhaupt jemals würde realisieren können. Inzwischen hatte ich eine ansehnliche Sammlung von Radreiseberichten zu Hause und mehrere Straßenatlanten der USA. Je mehr ich mich mit meiner Reise beschäftigte, desto konkreter wurde dann doch mein Wunsch. Und eines Tages war es so weit: Ich entschloss mich, mein Ziel umzusetzen. Und das Ziel lautete: eine Durchquerung der USA mit dem Fahrrad. Beginnend in New York, immer Richtung Westen bis nach San Francisco in Kalifornien. Allein und mit allem notwendigen Gepäck …

Für meine Vorbereitungen legte ich einen Zeitraum von drei Jahren fest. Einerseits wollte ich genügend Kilometer auf dem Rennrad sammeln, um eine solch große Strecke bewältigen zu können, andererseits bedurfte es einer möglichst genauen Planung des Streckenverlaufs. Aus verschiedenen Reiseberichten wusste ich, dass schon längere Radreisen mit halb so viel Training und Organisation von Hobbysportlern bewältigt worden waren. Trotzdem wollte ich nichts dem Zufall überlassen. Meine Devise war: »Bereite dich so gut wie möglich vor, dann musst du dich mit weniger Problemen auseinandersetzen!«

Ohne Fahrrad keine Radreise. Daher benötigte ich zuallererst einen geeigneten fahrbaren Untersatz. Über ein örtliches Fachgeschäft, dessen Besitzer ich gut kenne, kaufte ich mir ein genau auf meinen Körper abgestimmtes Rennrad. Ich hatte von Anfang an vor, meine Reise mit einem Rennrad zu unternehmen und nicht mit einem Mountainbike oder einer Trekkingausführung. Ich wählte eines jener Modelle, die man nach der Vorbereitungszeit problemlos umrüsten kann. Für die Reise benötigte ich ja Gepäckträger, um die Gepäcktaschen transportieren zu können. Ebenso musste es möglich sein, die dünnen Reifen gegen breitere und pannensicherere Exemplare auszutauschen. Ein ganz spezielles Thema war die Sattelwahl. Hier ließ ich mich von erfahrenen Radfahrern beraten. Und alle rieten mir zu einem schmalen und etwas härteren Sattel. Auf bequemen Sätteln sitzt man zwar anfangs besser, mit der Zeit sitzen sie sich jedoch durch. Hingegen sind härtere Ausführungen bei den ersten Ausfahrten zwar sehr belastend für das Sitzfleisch, aber ab etwa 1000 Kilometern hat man sich an sie gewöhnt. Ich entschied mich für ein hartes Modell und war damit bestens beraten.

Was die Bekleidung betrifft, kam mir meine sportliche Laufbahn zugute. Ich hatte immer noch Kontakte zu einigen ehemaligen Sponsoren. Einer dieser Sponsoren war die österreichische Firma Löffler, die hochwertige Sportbekleidung für Outdoor- und Ausdauersport herstellt. Ich testete die Radbekleidung dieser Firma auf vielen Trainingsfahrten unter widrigsten Witterungsbedingungen. Das Material hat sich auf allen meinen Radreisen bewährt.

Leider machen ein super Fahrrad und eine tolle Bekleidung noch lange keinen guten Radfahrer. Nach wie vor fehlte mir jede Erfahrung rund um das Rennradfahren, und vor allem fehlten mir für meine geplante Reise einige Tausend Trainingskilometer.

An einem schönen, warmen Sommertag setzte ich mich zum ersten Mal auf mein nagelneues Rennrad, und von Anfang an wusste ich: Dies war der Beginn eines neuen Lebensabschnitts. Ich hatte die richtige Entscheidung getroffen. Meine Zeit als Leistungssportler war vorbei, keine anstrengenden Wettkämpfe mehr und nie wieder Trainingsdruck. Stattdessen stressfreie Ausfahrten mit dem Rennrad und Radreisen um die halbe Welt – so dachte ich zumindest in meiner Unerfahrenheit. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, was ich alles auf meinen Reisen erleben sollte.

Nun hieß es Kilometer sammeln. Je mehr, desto besser. Mit umso ruhigerem Gewissen würde ich eine solch große Radreise antreten. Ich gebe zu, dass ich mich am Anfang ziemlich schwertat. Ich konnte nicht glauben, dass ich von meiner guten körperlichen Verfassung nur so wenig auf das Fahrradfahren übertragen konnte. Von einem »runden Tritt« war ich meilenweit entfernt, bereits bei kleinen Steigungen fuhr ich im Stehen. Nach den Ausfahrten schmerzten mein Gesäß, mein Rücken und mein Nacken. Ich hatte Freude am Radfahren, musste sie mir aber sehr hart erarbeiten.

Es kam dann genau so, wie es mir viele Radfahrer vorausgesagt hatten: Man benötigt als Anfänger mindestens 1000 Kilometer, um sich halbwegs an sein Rad zu gewöhnen. Vor allem aber, um schmerzfrei auf dem Sattel zu sitzen. Es waren tatsächlich nur etwas mehr als diese ominösen 1000 Kilometer. Plötzlich hatte ich keine Sitzprobleme mehr, das Treten wurde leichter, und beim Einklicken der Radschuhe in die Pedalhalterung hatte ich das Gefühl, mit dem Fahrrad eins zu werden.

Etwas unterschied mich aber von fast allen anderen Rennradfahrern: Ich wollte immer nur allein fahren. Ausfahrten in Gruppen gab es für mich nie. Das Wort »Windschattenfahren« kam in meinem Sprachschatz nicht vor. Gruppenfahrten haben den negativen Beigeschmack von Gruppendynamik. Wenn einige anziehen, müssen die anderen mitziehen. Auch dann, wenn sie eigentlich nur eine gemütliche Ausfahrt machen wollten. Pausen einzelner Fahrer gibt es nicht. Gruppenpausen müssen es sein, mit Gruppenpinkeln und Gruppenverpflegung. Außerdem wird ständig vom Radfahren gesprochen. Jeder erzählt dem anderen von seinen letzten Ausfahrten und davon, wie lang und schwer sie gewesen sind. Andere Verkehrsteilnehmer hassen Radfahrergruppen. Schon deshalb, weil sie meist einen kompletten Fahrstreifen für sich in Anspruch nehmen und für Staus und Hupkonzerte sorgen. Dies alles wollte ich nicht. Ich wollte mich einfach durch ruhige und langsame Ausfahrten auf meine Radreise vorbereiten.

Jeden einzelnen Trainingskilometer fuhr ich allein. Und ich fuhr zu jeder noch so unmöglichen Tages- und Nachtzeit. Oft startete ich bereits um drei Uhr früh in stockdunkler Nacht, und um acht Uhr wechselte ich die Radbekleidung mit der Polizeiuniform. Oder ich zog nach Dienstende bei der Flugrettung den Flugoverall aus und streifte die Sportbekleidung über, um noch bis Mitternacht einige Runden zu drehen. Dabei war ich mit rückstrahlendem Material ausgerüstet und verwendete vorschriftsmäßige Beleuchtungen – immerhin bin ich Polizist.

Schlechtes Wetter machte mir nichts aus. Ich radelte bei strömendem Regen ebenso wie bei leichtem Schneefall. Oft schauten mir andere Verkehrsteilnehmer mitleidig nach oder zeigten mir den Vogel. Ausfahrten bei schlechtem Wetter waren jedoch wichtig für mich. Schon allein deshalb, um das Bekleidungsmaterial auszuprobieren. Diesen Testfahrten habe ich es zu verdanken, dass ich auf keiner meiner späteren Radreisen Probleme mit der Bekleidung hatte. Jeder Radfahrer weiß aber, dass man auch mit noch so guter Goretex-Bekleidung nie ganz trocken bleibt. Nasse Füße und Schwitzen unter der Regenbekleidung sind leider an der Tagesordnung. Mit der Zeit habe ich mich daran gewöhnt. Trotzdem hat schlechtes Wetter mich einige Jahre später in Alaska an meine absoluten Grenzen getrieben.

Nach fast drei Jahren Vorbereitung war ich überzeugt, meine Hausaufgaben gemacht zu haben. Ich hatte sämtliches Material durchgetestet und besaß mittlerweile die auf meine Bedürfnisse optimal angepasste Ausrüstung. Körperlich war ich in sehr guter Form und meiner psychischen Belastungsfähigkeit war ich mir ebenfalls gewiss. Die Planungen zu Streckenverlauf, Nächtigungs- und Nachschubmöglichkeiten waren abgeschlossen.

Aber schon bei meiner ersten USA-Durchquerung sollte ich sehen, dass Trainingsfahrten zu Hause nicht zu vergleichen sind mit tagelangem Fahren unter erschwerten Bedingungen.

Fahrrad verschollen

Das Förderband steht still. Alle Gepäckstücke sind angekommen. Nur der Karton mit meinem Fahrrad nicht. Ich stehe ratlos in der Ankunftshalle des New Yorker Flughafens …

Meine erste große Radreise machte ich im Sommer 2006. Da mich Nordamerika schon immer fasziniert hatte, entschied ich mich gleich für eine komplette Durchquerung von Osten nach Westen. Als Startpunkt wählte ich New York, als Ziel San Francisco. Da ich möglichst viele Staaten bereisen wollte, hatte ich nicht den kürzesten Weg geplant. Die Strecke war insgesamt mehr als 11 000 Kilometer lang. Knapp 70 Tage hatte ich dafür eingeplant. Körperlich und konditionell war ich fit, trotzdem war mein Vorhaben gewagt.

In den Reiseberichten, die ich zur Vorbereitung Nacht für Nacht verschlungen hatte, war immer wieder auf ein Problem hingewiesen worden: Auf längeren Flugreisen kommt es offenbar manchmal vor, dass das Gepäck verschwindet oder, schlimmer noch, die Fahrradbox ihr Ziel nicht erreicht. Besonders im Falle eines Zwischenstopps mit Fliegerwechsel kommt es angeblich immer wieder zu Problemen mit dem Gepäck. Dass das Fahrrad auf irgendeinem Flughafen liegen bleiben könnte, ist der absolute Horror für einen Radfahrer. Ohne Fahrrad keine Radreise. In einem solchen Fall ist es auch nicht möglich, einfach in einem fremden Land ein anderes Fahrrad zu kaufen, da man an dieses nicht gewöhnt ist und es vor allem nicht getestet hat.

Mein Reisebüro beruhigte mich. Man riet mir, auf ein größeres einheimisches Flugunternehmen zu vertrauen und möglichst ohne Zwischenstopp zu fliegen. Ich buchte also bei einer großen deutschen Fluglinie. Aber ein Nonstop-Flug war nur von Frankfurt aus möglich. Außerdem hätte ich von Tirol aus mitsamt meinem Gepäck mit dem Zug oder Auto anreisen müssen. Und dies wollte ich nun doch nicht. Als Abflugort kam daher für mich nur München infrage. Von dort aus ging es zuerst nach Frankfurt, dann hieß es umsteigen in einen größeren Flieger für den Überseeflug nach New York.

Ich packte mein Fahrrad besonders sorgfältig in einen eigens dafür vorgesehenen Fahrradkarton ein. Es musste zu diesem Zweck großenteils zerlegt werden. Zum besseren Schutz wickelte ich fast alle Teile in spezielle Schaumgummifolien, wobei das Schaltwerk und alle anderen besonders schadensanfälligen Teile noch zusätzlich geschützt wurden. Dazwischen stopfte ich verschiedene Kleidungsstücke, meinen Schlafsack und die Unterlegmatte. Der Karton wurde außen herum mit einem besonders starken und breiten Klebeband umwickelt, sodass sich die Box beim Ein-, Um- und Ausladen nicht selbstständig öffnen konnte. Nachdem ich auf beide Seiten der Box in riesigen Buchstaben das Wort »Zerbrechlich« geschrieben hatte, glaubte ich, dass jeder besonders gut auf mein Fahrrad achten würde.

In den letzten Nächten vor meiner Abreise in die USA hatte ich Albträume. In diesen Träumen vermisste ich am Zielflughafen mein Gepäck. Ich hatte alles so gut geplant, bis ins kleinste Detail war ich vorbereitet, aber auf den Gepäcktransport hatte ich keinerlei Einfluss. Und gerade das machte mich total unsicher. Immer mehr steigerte ich mich in meine Befürchtungen hinein. In meinen Träumen sah ich das leere Laufband bei der Gepäckausgabe ganz real vor mir. Ich sah mich ungeduldig warten und nach einiger Zeit nur mehr ganz allein in der riesigen Flughafenhalle stehen.

Am Abreisetag war ich bereits drei Stunden vor dem Abflugtermin am Check-in-Schalter der deutschen Fluggesellschaft. Ich wollte früh genug da sein und vorher noch einige Erkundigungen einholen. Aber es herrschte bereits ein kleineres Chaos. Gerade heute waren einige Flüge ausgefallen. Vor allen Schaltern hatten sich lange Schlangen gebildet. Urlauber und Geschäftsleute zeigten alle denselben ungläubigen Gesichtsausdruck. Immer wieder kam es zu kleineren Rempeleien, um die eigene Position in der Reihe zu verbessern. Hinter den Schaltern saß ein ebenso nervös wirkendes Bodenpersonal an den Computern. Die Damen in ihren einheitlichen blauen Uniformen waren sichtlich bemüht, das Chaos ein wenig zu verringern. Meine Abreise begann also nicht so, wie ich es mir erhofft hatte.

Trotzdem hatte ich noch Glück. Ich erwischte genau jene Reihe, in der es am schnellsten voranging. Als ich in die Nähe des Schalters gerückt war, sah ich auch, warum. Die Dame dahinter hatte das Chaos offensichtlich halbwegs im Griff. Sie tippte schnell und professionell auf der Tastatur ihres Computers herum, nahm trotz der allgemeinen Hektik sogar Wünsche der Reisenden entgegen und gab klare Anweisungen, was mit den Gepäckstücken zu tun war. Außerdem war die Dame im Gegensatz zu ihren Kolleginnen freundlich und zudem auch noch hübsch.

Nun war endlich ich an der Reihe. Obwohl ich zusätzlich zu meinen zwei Reisetaschen noch den großen Radkarton als Sondergepäck dabeihatte, veränderte die Frau ihren freundlichen Gesichtsausdruck nicht. Geduldig druckte sie die Gepäckanhänger aus, um sie jeweils an den Tragegurten zu befestigen. Sie erfüllte sogar meinen Sonderwunsch, direkt an einem der Notausgänge sitzen zu können, um mehr Beinfreiheit zu genießen. Meine beiden Taschen durfte ich auf das Förderband heben, den Fahrradkarton jedoch nicht. Da es sich hier um Sondergepäck in Übergröße handelte, gab es dafür einen eigenen Schalter. Dieser war gleich in der Nähe, und in kürzester Zeit befand sich auch mein Fahrrad auf dem Weg zum Flieger. Das glaubte ich zumindest.

Als ich in Frankfurt in den Jumbo für den Überseeflug wechselte, hatte ich wie gewünscht meinen Platz an einem Notausstieg. Durch das kleine Fenster in der Tür konnte ich das rege Treiben vor unserer Maschine beobachten. Genau unter dem Notausstieg befand sich eine der großen Luken für das Gepäck. Ständig kamen Elektrowagen mit Anhängerkolonnen angefahren, auf denen sich unzählige Koffer, Taschen, Kartons und Rucksäcke in allen Größen und Ausführungen türmten. Ein eingespieltes Team von Arbeitern hievte die Fracht in den Flieger. Dabei gingen sie nicht gerade zimperlich zu Werke. Einige Gepäckstücke befanden sich mehr in der Luft als in den Händen der Männer. Man sah, dass es hier um die Einhaltung des Zeitplans ging. Nervös hielt ich Ausschau nach meinem Radkarton. Ich wusste, dass die meisten Gepäckstücke beim Umladen verloren gehen, wenn man umsteigt. Unter den vielen Taschen glaubte ich auch meine beiden entdeckt zu haben. Ich war mir zwar nicht ganz sicher, aber es beruhigte mich ein wenig. Den Fahrradkarton sah ich nicht. Der befand sich vermutlich schon im Bauch des Flugzeuges.

Nach einem kurzweiligen Flug und einer langweiligen Einreiseprozedur am John F. Kennedy Airport in New York ging es zur Gepäckausgabe.

Je näher ich der Ankunftshalle kam, desto aufgeregter wurde ich. Als ich vor dem Förderband stand, war ich ähnlich nervös wie zu früheren Zeiten vor einem meiner vielen Wettkämpfe als Mehrkämpfer. Mit klopfendem Herzen schaute ich auf das Förderband, als dieses sich langsam zu bewegen begann.

Offensichtlich war ich ein Glückspilz. Gleich am Anfang der Gepäckkolonne lagen meine beiden Reisetaschen. Das war also schon die halbe Miete. Zufrieden hielt ich meine gesamte Rad- und Freizeitkleidung in den Händen. Nun hieß es Ausschau halten nach dem großen Radkarton. Ohne Radkarton kein Rad. Und ohne Fahrrad keine Radreise.

Überall nahmen die Reisenden ihre Taschen und Rucksäcke vom Förderband. Dabei kam es immer wieder zu Drängeleien,