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Martin Suter

Alles im Griff

Eine Business Soap

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Erstausgabe erschien 2014 im Diogenes Verlag

Diese in sich abgeschlossene

Kolumnen-Serie wurde im Zeitraum

20. 03. 2004 bis 19. 12. 2004 zuerst

veröffentlicht im Magazin des Tages-Anzeiger,

Zürich, bzw. Tamedia

Covermotiv: Foto von Adie Bush (Ausschnitt)

Copyright © Adie Bush/cultura/

Corbis/Dukas

 

 

 

 

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2016

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 24342 0 (1. Auflage)

ISBN eBook 978 3 257 60449 8

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] Inhalt

Toblers Erster  [7]

Bäriswil revidiert ein Vorurteil  [10]

Ingrid Gartmanns Allergie  [13]

Arbeitsplatzsicherung  [16]

Der Bäriswil-Experte  [19]

Hottinger im Garten  [22]

Bäriswil kompensiert  [25]

In telepathischer Harmonie  [28]

Ein Hierarchieproblem  [31]

Odd Couple  [34]

Tuben und Töpfchen  [37]

Unter Taktikern  [40]

Nicht einfach  [43]

Operation Picknick  [46]

Der schwarze Hauser  [49]

Bäriswils Runder  [52]

Golden Past  [55]

Krisenmanagement  [58]

Worst Case  [61]

Wengers Selbstzweifel  [64]

The Agency  [67]

Heiße Nacht bei Hottingers  [70]

Kleine Karrierepanne  [73]

Toblers Mitreisender  [76]

[6] Nachtschicht  [79]

Eine gezielte Indiskretion  [82]

Anruf in Abwesenheit  [85]

Das Jubiläum  [88]

Toblers Weiterbildung  [91]

Der neue Bäriswil  [94]

Das Projekt Chüderihüsi  [97]

Karriereschritte  [100]

Public Relations  [102]

Toblers Standortbestimmung  [105]

Vertrauensförderung  [108]

Schicksalsblumen  [111]

Business as usual  [114]

Woran Tobler sich erinnern wird  [117]

 

Epilog  [120]

 

Personenverzeichnis  [123]

[7] Toblers Erster

Am ersten Arbeitstag in einer neuen Firma fühlt sich Tobler immer wie ein Hund in einem fremden Revier. Allen, denen er begegnet, könnte er falsch begegnen. Zu freundlich, zu distanziert, zu selbstsicher, zu unterwürfig. Er wird nie vergessen, wie er sich am ersten Tag in seinem allerersten Job beim bestgekleideten, lautesten und autoritärsten Mitarbeiter, der immer überall mit einem Armvoll wichtiger Akten anzutreffen war, eingeschmeichelt hatte. Erst nach dem Nachtessen und der zweiten Flasche Wein, alles auf Toblers Rechnung, kam heraus, dass der Mann für die interne Post zuständig war.

Schon als er den Empfang betritt, fühlt er sich, als trüge er einen Button mit der Aufschrift: »Ich bin neu.« Wie der angegraute, verlegene Kioskverkäufer, bei dem er kürzlich am Bahnhofskiosk seine Zeitung gekauft hat. Tobler ist sich nicht sicher, ob er zur Empfangsdame gehen soll oder ihr einfach zunicken und auf den Lift zusteuern. Er hasst es, nicht sicher zu sein.

Er nimmt also Kurs auf den Lift, und schon taucht aus dem Nichts einer auf, der aussieht wie ein Executive Vice President und sich als Stüdeli, Security, herausstellt.

Stüdeli informiert Frau Gartmann, die Sekretärin von jemandem, dessen Namen er nicht verstanden hat. Sie holt [8] ihn am Empfang ab. Mit einem strahlenden Lächeln, das besagt: »Sie sind neu.«

Tobler ist nicht neu. Weder in der Branche noch im upper Middlemanagement. Er hat die letzten fünf Jahre in wichtiger Funktion bei der TYLCO, einem der Hauptkonkurrenten der CRONSA, verbracht. Deswegen hat ihn die CRONSA ja auch genommen. Und zwar mit Handkuss.

Wenn Bäriswil nicht wäre, säße er noch immer bei der TYLCO. Und zwar an strategisch wichtiger Position. Wenn Bäriswil nicht seit Jahren breitarschig den Stuhl des Bereichsleiters besetzt hielte, ohne die geringste Aussicht auf einen Sitz in der obersten Führungsebene, dann wäre längst Bewegung in die verstopften Beförderungskanäle geraten. Oswald hätte die Bereichsleitung übernommen, und er, Tobler, wäre endlich das geworden, was seine Stärken voll zur Geltung gebracht hätte: Leiter Verkauf und Marketing.

Nun wird er es halt bei der CRONSA. Nicht gleich, aber in sehr absehbarer Zeit. Der Laden gilt als dynamisch. Kein Paradies für Sesselkleber. Tobler hat sogar einen kleinen finanziellen Taucher auf sich genommen und eine sechsmonatige Auszeit, weil ein früherer Eintritt für seinen neuen Arbeitgeber lohnbudgetmäßig nicht dringelegen hätte.

Frau Gartmann führt Tobler durch die Stockwerke wie einen neuen Zögling durch ein altes Internat. Alle, denen er vorgestellt wird, spielen ihre Überlegenheit aus, die darin besteht, dass sie vor ihm hier gewesen sind. Dass sie wissen, wie die Kaffeemaschine funktioniert, was das [9] Kürzel FIP bedeutet und wen man rufen muss bei einem Papierstau im Drucker.

Als Frau Gartmann im Stockwerk der zweitobersten Führungsebene an die letzte Tür klopft, zwinkert sie ihm aufmunternd zu: »Ein Leidensgenosse. Hat auch heute angefangen.«

Ja, Sie haben richtig geraten.

[10] Bäriswil revidiert ein Vorurteil

Bäriswil ist gerade dabei, seinen Hebeisen zu hängen, als es klopft.

»Moment!«, ruft er, klettert vom Besucherstuhl und schiebt diesen wieder an den Schreibtisch, seinem Girsberger Yes gegenüber, in Leder, perforiert, schwarz mit Twinmechanik, Komforttiefenfederung und integrierter Lordosenstütze. Im Prinzip das gleiche Modell, wie er es schon bei der TYLCO besaß, nur mit multifunktionaler Armlehne als weiteres Extra.

Den ersten Hebeisen hat er vor Jahren bei einer Vernissage in den Praxisräumen des Gynäkologen seiner Frau als Investition erstanden und nimmt seither dem Künstler ab und zu ein Werk als kursstützende Maßnahme ab. Das, welches er für sein neues Büro gewählt hat, heißt »pink future«. Ein bisschen viel Rosa, aber dafür nicht so sperrig im Format wie andere Hebeisen.

Bäriswil setzt sich und lehnt den Kopf zurück an die in Höhe und Neigung verstellbare Kopfstütze (auch ein Extra), als säße er seit Stunden hier, tief in Gedanken von nachhaltiger strategischer Bedeutung für die CRONSA und ihre gesamte Belegschaft. Bäriswil hat extra das Wochenende geopfert, um sein Büro einzurichten. Damit er seine neue Stellung antreten kann, als hätte er sie schon immer innegehabt.

[11] »Come in!«

Frau Gartmann streckt ihren Kopf herein. »Dürfen wir schnell?«, fragt sie, und schon ist sie drin, Tobler im Schlepptau.

Tobler ist eine Panne. Seine Anstellung datiert noch aus der Zeit vor Bäriswils ersten informellen Kontakten mit dem Headhunter der CRONSA. Sonst hätte er die Personalfehlentscheidung natürlich verhindert. Er kennt Tobler aus seiner Zeit bei der TYLCO. Nicht gut (er befand sich zwei Hierarchiestufen über diesem), aber gut genug, um zu wissen, dass der Mann als willig, aber überfordert galt.

Jetzt steht dieser Tobler also mit rotem Kopf neben Frau Gartmann – nicht unhübsch, diese Frau Gartmann, sollte nur noch lernen, ihre Besuche anzukündigen, wenigstens die in Herrenbegleitung –, steht Tobler also in seinem Büro und tut überrascht. Als hätte er nichts geahnt. Als hätte Bäriswil seinen Stellenwechsel nicht in einer Pressemeldung an die Wirtschaftsredaktionen eigenhändig gestreut. Als hätte sie Tobler unter »Firmennachrichten« im führenden Branchenblatt übersehen. Leute wie er machten doch den lieben langen Tag nichts anderes als die Firmennachrichten zu durchforsten und davon zu träumen, dass sie eines Tages auch einmal darin vorkamen.

Bäriswil will die Begrüßung kurz halten und schielt immer wieder auf den Bildschirm, als blinke dort eine brandheiße, hochvertrauliche Nachricht aus einer der vielen offenen Flanken der global economy. Aber dann stört ihn die Vertrautheit, die zwischen Tobler und Frau [12] Gartmann während des Firmenrundgangs bereits entstanden ist, doch so, dass er mit ihr noch ein paar Sätze austauschen und etwas frischgelernte Internas durchschimmern lassen muss.

Danach verabschiedet er Tobler mit den aufmunternden Worten: »Ich hoffe, Sie finden sich bald zurecht bei uns.« Und stellt damit die räumliche, zeitliche und hierarchische Distanz für jetzt und alle – für Tobler wohl etwas düstere – Zukunft wieder her.

Doch da fragt Tobler: »Ist das ein Hebeisen?«

Vielleicht doch nicht ganz so ohne, der Mann, denkt Bäriswil.

[13] Ingrid Gartmanns Allergie

Keinen Tag länger hätte es Ingrid Gartmann bei der CRONSA ausgehalten, wenn Hasler geblieben wäre. Er war die Ursache für ihre Hautausschläge. Nicht im übertragenen Sinn. Richtige Hautallergien an wechselnden Körperstellen mit Juckreiz und Kalziumbehandlung und Kamillenkompressen. Ihr Hausarzt bezweifelte zwar, dass sie von Hasler herrührten, aber sie war sich ganz sicher. Der Beweis: Sie flauten zum Wochenende hin ab und blühten montags langsam wieder auf.

Das war nicht die ganzen zwei Jahre, drei Monate und einundzwanzig Tage so gewesen. Die ersten knapp zwei Monate war sie so erleichtert gewesen, Stäuble los zu sein, dass sie nicht bemerkte, gegen was sie ihn eingetauscht hatte. Hasler war ihr vorgekommen wie die meisten ihrer bisherigen Chefs: etwas überfordert von ihrer Aufgabe, etwas zu sehr in Anspruch genommen von ihrer Karriere, unfähig, sich zu organisieren, und nicht in der Lage, selbständig einen Becher mit Automatenkaffee zu füllen oder einen Brief zu schreiben.

Sie war es gewohnt, diese und all die anderen Dinge, die die Qualität eines Managers ausmachen, selbst in die Hand zu nehmen und als zwar unterbezahlt, dafür aber unersetzlich zu gelten. Zwischen ihren Chefs und ihr hatte das stille Einverständnis geherrscht, dass sie ohne [14] sie aufgeschmissen wären. Und alle hatten es im kleinen Kreis auch durchblicken lassen. »Ich wüsste nicht, was ich ohne die Gartmann machen würde«, war ein oft gehörter Satz, von dem zwar nur sie wusste, wie wahr er war, der ihr aber trotzdem guttat.

Doch nach knapp zwei Monaten gab ihr Hasler eines Tages einen Brief zurück – ununterschrieben und mit roten Wellenlinien versehen. »Das klingt nicht nach mir.« Da wusste sie, dass ihr neuer Chef sie in eine andere Kategorie stecken wollte: unterbezahlt, aber ersetzlich.

Dazu beizutragen, dass Hasler dann abserviert wurde, war mit Abstand die größte Herausforderung ihrer bisherigen Karriere gewesen. Das erste Jahr verbrachte sie fast ausschließlich damit, ihren Status von ersetzlich auf lebenswichtig upzugraden. Dazu war sie gezwungen, ihren Briefstil dem anzupassen, der Haslers gewesen wäre, wenn er auch nur einen geraden Satz zuwege gebracht hätte. Auch ihr Ablagesystem musste sie seinen Vorstellungen anpassen, seinen Terminplaner übernehmen und sich nach seinem seltsamen Essensrhythmus richten. In dieser Phase traten die ersten Ausschläge auf.

Im zweiten Jahr war ihre Position dann so gefestigt, dass sie damit beginnen konnte, Hasler systematisch auflaufen zu lassen. Sie ließ ihn Termine vergessen, Briefe nicht beantworten, Aufträge verlieren, kurz: die Dinge tun, die ihm ohne sie schon früher passiert wären. Als die Konzernleitung endlich auf Haslers Unfähigkeit reagierte, waren Ingrid Gartmanns Ausschläge längst chronisch geworden.

[15] Keine zwei Tage nach Haslers Entlassung und sofortiger Freistellung waren die Symptome restlos verschwunden.

Aber vor vierzehn Tagen hat es wieder angefangen. Gleichzeitig mit Bäriswil, ihrem neuen Chef.

[16] Arbeitsplatzsicherung

Ganz oben über der CRONSA schwebt wie eine böse Ahnung Wenger, der Mann, bei dem die Fäden zusammenlaufen. Wo jemand in der Hierarchie steht, erkennt man daran, ob er weiß, dass Wenger gerade im Haus ist, ob er es nur vermutet oder ob er vorsichtshalber so tut, als wäre er.

OG