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Anna Stothard

Isabel & Rocco

Roman

Aus dem Englischen von
Jenny Merling

 

 

 

 

 

 

 

 

Titel der 2003 bei

Arrow Books Ltd, London,

erschienenen Originalausgabe: ›Isabel and Rocco‹

Copyright © 2003 by Anna Stothard

Umschlagfoto: Philipp Keel, ›Below the surface‹, 2007

Copyright © Philipp Keel

 

 

 

 

Alle deutschen Rechte vorbehalten

Copyright © 2014

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 30027 7 (1. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60441 2

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] 1

Das erste Kapitel

Rocco versteht nicht, wieso für mich schöne Dinge nach dem ersten Mal ihren Reiz verlieren. Klar, sie können unter Umständen intensiver werden, aber nicht mehr besser. Bis zur Pubertät ist das eindrücklichste Gefühl körperlicher Schmerz. Wenn man dann das erste Mal unter den warmen Fingern eines Jungen gekommen ist, fühlt man sich auf einmal den Sternen nah. Das nächste Mal ist vielleicht besser, stärker, egal was, aber es hebt nicht mehr wie beim allerersten Mal die Welt aus den Angeln. Als Baby sind erste Male grundlegender Natur: der erste Schmerz, das erste Mal kacken, der erste Schritt, das erste Wort, das erste Mal krank sein. An die meisten davon erinnert man sich später nicht mal. Und dann geht das Ganze mit sechzehn noch mal von vorn los. Der erste Kuss, das erste Mal Sex und tausend andere wundervolle Momente der Vorfreude, diese Momente kurz vor einem neuen Gefühl, wie in Bernstein eingeschlossen.

Erste Male sind die Sammlerstücke unter den schönen Momenten im Leben. Für Rocco zählt bei Schönem nur die Menge, aber ich will jedes einzelne erste Mal in diesem Buch festhalten. Wenn ich sie irgendwann alle aufgebraucht habe wie eine Packung dieser Happy Pills, [6] die man nur in Thailand kriegt, kann ich auf die schönen, die schlimmen und die krassen Momente zurückblicken und weiß wieder, wie es war, sechzehn zu sein.

Ich heiße Isabel. Vor sechs Monaten haben mein Bruder und ich die Stadt verlassen, in der viele unserer ersten Male stattfanden. Wir sind aus dem schicken London hierhergezogen, in ein billiges Hostel im Quartier Latin, in dem man die Zimmer gleich für mehrere Monate mieten kann. Ein halbes Jahr später wohnen wir immer noch in unserem winzigen, verrauchten Zimmer, und hier sitze ich jetzt und katalogisiere meine ersten Male. Rocco findet es nicht gut, dass ich meine Erinnerungen festhalte. Für ihn zählt nur die Gegenwart, und was in London passiert ist, will er hinter sich lassen. Dass ich das alles aufschreibe, macht die ganze Sache seiner Meinung nach nur komplizierter.

Auch ich würde manches gern vergessen, aber es geht mir nie wirklich aus dem Kopf. Doch wenn ich London erst auf diesen Seiten archiviert habe, kann ich die Stadt bestimmt endlich abhaken. Für mich ist dieses Tagebuch so etwas wie eine Sammlung, so wie andere Leute Käfern eine Nadel durch den Panzer bohren und sie auf einem Brett festpinnen. So ein Sammler würde doch auch nicht die Leidenschaft für sein Hobby verlieren, bevor nicht alle Käfer fein säuberlich hinter Glas aufgereiht sind. Erst dann würde er sie vielleicht in den Schrank legen und zugeben, dass dieses Hobby nur eine Phase war. Als ich das zu Rocco gesagt habe, hat er mich nur sehr ernst angesehen und gefragt, und was, wenn dieser Sammler jeden Käfer katalogisieren müsste, den er kennt? Wenn [7] er wirklich jede einzelne Spezies, die ihm unterkommt, erfassen müsste, bis die Käfer irgendwann völlig sein Leben bestimmen? Ich habe nur gelacht.

Vom Fenster aus kann ich die Stadt nicht sehen, nur die Backsteinwand des Wohnhauses gegenüber und eine kleine Seitenstraße voller Müllsäcke, gegen die gerade ein Mann pinkelt. Auf dem Tisch stehen vier Spielzeugsoldaten, auf dem Schrank das Modell eines Auges, und auf dem Bett liegen zwei rote Masken. Alles Überbleibsel aus London. In der Scheibe das verschwommene Spiegelbild von Rocco, der sich gerade zum Schlafen umzieht. Die halbmondförmige Narbe auf seiner rechten Schulter. Ich habe mir die Haare auf Schulterlänge abgeschnitten und dunkelbraun gefärbt. Dadurch sehe ich noch blasser aus als ohnehin schon. Ich trage keine Kontaktlinsen mehr, sondern stattdessen eine schmale Brille mit Metallgestell. Rocco sieht ohne seine dunklen Locken auch anders aus. Seine Gesichtszüge wirken härter, seine Augenbrauen und die Wangenknochen treten ohne die sanfte Umrahmung der Haare deutlicher hervor. Seine Augen sind riesige grüne Untertassen. Wir versuchen beide, ganz anders auszusehen als früher. Aber Rocco ist es viel wichtiger als mir. Er ist geradezu besessen von dem Gedanken, nicht wiedererkennbar zu sein.

Ich muss an den Sonntag im November denken, als Mum und Dad sich so gestritten haben. Es war nicht das erste Mal. Rocco und ich versuchten, Mums wütende Stimme zu ignorieren, die unablässig wie eine gutgeölte Maschine über Dads rostige Raucherstimme hinweg zu [8] hören war. Für Mum und Dad gab es keinen Mittelweg: Entweder hatten sie Sex oder Streit. Dad war ein kleiner, unscheinbarer Mann, der Tweedanzüge, Kaschmirpullover und Manschettenknöpfe mit den Initialen anderer Leute trug. Er sah irgendwie farblos aus, als wäre er zu oft gewaschen worden. Er war schrecklich dürr, sprach gehetzt und stotterte manchmal. Sein Gesicht hatte etwas Koboldhaftes, doch die Augen waren ernst. Mums Züge waren dagegen viel weicher, mit großen Augen und einem breiten Mund, der ihr Gesicht durchschnitt. Wenn sie ausging, trug sie immer knallroten Lippenstift. Rocco und ich fanden, dass sie ziemlich heiß aussah. Die beiden besaßen einen Antiquitätenladen für Kriegsmemorabilia, eine winzige rote Backsteinhöhle in Camden Lock. Gleich um die Ecke war der Fluss, dessen schmutzige Feuchtigkeit alles in der Nähe durchweichte. Sie verkauften allen möglichen Plunder, von alten Waffen, die nicht mehr funktionierten, bis hin zu Zinntellern. Im Laden roch es nach Waffenöl, Staub, Holz, abgestandenem Londoner Wasser und feuchten Backsteinen. Er befand sich in einem schmalen Haus, und wenn man drinstand, erwartete man automatisch eine Totenstille, weil alles so leblos aussah und einen der Anblick der vielen Antiquitäten inmitten der gelben Wände fast erschlug. Leider waren von oben immer Schritte zu hören, die die Stille kaputtmachten.

Als Mum und Dad unten anfingen zu streiten, machte ich gerade einen Handstand. Meine langen braunen Haare fielen auf meine Hände herab, und mir lief das Blut in den Kopf. Rocco lag quer auf seinem Bett, rauchte und [9] beobachtete mich lächelnd über die brennende Glut seiner Zigarette hinweg. Das tat er oft, er benutzte Bleistifte, Zigaretten oder ein Stück Papier, um seine Augen damit auf einen Punkt zu fokussieren. Rauch stieg auf und nahm ihm die Sicht. Er hielt die Zigarette waagerecht vor sich, und sein Blick wanderte darüber hinweg durch den Raum. Ich beendete meinen Handstand. Es war etwa sieben Uhr abends, die Nacht begann gerade, sich sanft wie ein Teewärmer über Camden Town zu legen. Unsere Dachkammer roch nach Haschisch und Parfüm, das Fenster war offen, deshalb war es nicht so stickig wie sonst. Rocco war achtzehn, ich sechzehn, und wir teilten uns immer noch ein Zimmer wie früher. Rocco grinste mich an, seine rechte Hand spielte mit dem Stoff der Bettdecke, die linke führte die Zigarette hin und her. Es ist sehr schwer, nicht zurückzulächeln, wenn Rocco einen so angrinst, selbstsicher und fest und mit diesem Hauch von Sarkasmus. Ich wollte irgendetwas sagen, das nichts mit Mum und Dad zu tun hatte, aber mittlerweile fluchten sie richtig, die Worte laut und abgehackt wie zerplatzende Luftballons.

Mum machte Dad gerade wie immer nach allen Regeln der Kunst fertig, auf einmal wechselte der Streit jedoch seinen Rhythmus, das Tempo veränderte sich, was uns zusammenzucken ließ, wie wenn jemand schief auf einer Geige herumkratzt. Ich stand auf und öffnete die Zimmertür, damit wir die beiden besser verstehen konnten. Inzwischen wurde geschrien, ihre Sätze überdeckten einander. Rocco und ich schlichen uns zur Treppe und [10] verharrten dort zusammengekauert wie früher, als wir noch klein waren, klammerten uns an das Geländer und spähten hinunter in den Flur. Es roch durchdringend nach Mums blumigem Parfüm, als würde sie es ausschwitzen, und der Duft vermischte sich unangenehm mit dem Rauch von Dads Zigarette.

Mum und Dad liebten Gelb, deshalb war der kleine Flur in einem klebrig gelben Ton gestrichen. Oben zierte die Wände ein beigefarbener Fries. Gegenüber der Treppe war die Haustür, links und rechts gingen Küche und Wohnzimmer ab. Mum trug einen seidenen Morgenmantel, der immer wieder aufglitt, mit einem Gürtel, der nicht dazu passte. Unter den Armen hatte sie Schweißflecke. Der Stoff war elektrisch geladen und schmiegte sich an ihre Beine, ihr Haar war wirr, und ein paar Strähnen klebten ihr an den schweißnassen Schläfen. Sie kaute unsicher auf ihrer Oberlippe herum, wodurch ihr Gesicht aus dem Gleichgewicht geriet. Dads weißes Hemd war ebenfalls von Schweiß verfärbt, ein schwarzer Gürtel hielt seine Anzughose fest. Die beiden standen voreinander, ihre Münder fraßen Worte und spuckten Flüche, ihre Gesichter verschwammen und zerbrachen, die Hände drückten Verzweiflung aus, die Körper waren angespannt. Bei ihrem Streit ging es um etwas, das Dad gekauft hatte, aber nicht wieder verkauft bekam. Sie tauschten die Plätze, bewegten sich umeinander herum wie zwei Magnetpole, die sich gegenseitig abstoßen, und dann sagte Mum etwas ein wenig lauter als der Rest dieses schiefen Liedes, und Dad schlug ihr ins Gesicht, dass sie zu Boden fiel. Sie schrie auf, und Rocco und ich rannten die Treppe [11] hinunter. Mums Lippen zitterten, Schweißtropfen standen in der Vertiefung zwischen Nase und Mund. Ich hatte noch nie zuvor erlebt, dass Dad sie geschlagen hatte. Das feuchte Klatschen war mir durch und durch gegangen.

»Keinen Schritt weiter«, sagte Dad. Ich hatte gerade das Ende der Treppe erreicht, aber Dad sah so ernst aus, dass ich mitten in der Bewegung erstarrte. Mein ganzes Gewicht lastete schmerzhaft auf dem vorderen Fuß. Ich wollte doch Mum helfen. Dad war eigentlich nie streng zu uns, deshalb sah dieser Gesichtsausdruck ganz ungewohnt an ihm aus. Die beiden Falten auf seiner Stirn hatten sich tief eingegraben, tief wie Messerschnitte. Ich blieb auf der untersten Stufe stehen. Rocco legte mir die Hand auf die Schulter. Ich fühlte seine schwitzige Handfläche auf meiner trockenen Haut. Trotz des rotleuchtenden Handabdrucks auf ihrer Wange weinte Mum nicht. »Geht wieder rauf«, sagte Dad. »Ihr habt hier nicht rumzuspionieren.«

»Du hast sie geschlagen«, sagte ich.

»Lauschen gehört sich nicht«, gab Dad zurück. Rocco drehte mich herum und zog mich die Treppe hoch. Dad beugte sich über Mum und entschuldigte sich bei ihr, sanft, als würde er mit einem Kind reden.

[12] 2

Zinnsoldaten

Den ganzen nächsten Tag liefen wir im Regen durch Camden. Ich trug einen Kaschmirpullover voller Brandlöcher von Dad, der mir viel zu weit war. Im Sommer bricht die Stadt zusammen, und die alten Backsteinmauern schwitzen ihr Gift aus, aber im Regen geht es London blendend. Der Engländer an sich steht für warme Sachen, nicht für sonnengebräunte Bäuche oder Schweißflecken. Es wirkte anheimelnd, wie die Leute eingewickelt in Pullover und Schals durch die nassen Straßen trabten. Ich hatte meinen langen schwarzen Dufflecoat über den Kaschmirpullover gezogen und sogar die Kapuze aufgesetzt. Rocco hingegen lief nur in seiner schwarzen Hose und im T-Shirt neben mir her, er besaß nämlich die magische Fähigkeit, nicht zu frieren. Früher durfte er deshalb regelmäßig zu Hause bleiben, statt in die Schule zu gehen, weil er immer leicht fiebrig wirkte.

Der Schmutz ist ein fester Bestandteil der Camdener Luft, so wie die Luft am Meer eben Salz enthält. Es ist keine sonderlich starke Verschmutzung, nur so ein leichter Beigeschmack, ein Schlamm, der London vorantreibt und die Menschen aneinander vorbeigleiten lässt.

[13] »Ist dir kalt?«, fragte Rocco. Der Regen war stärker geworden, knallte tausendfach auf die schmutzigen Londoner Gehwegplatten. Ich nickte und ließ die Kälte links und rechts an meinem Kopf vorbei entlang meiner Wirbelsäule hinunterzittern. Rocco und ich sahen uns nicht sehr ähnlich, aber wir hatten die gleichen grünen Augen.

»Bist du schon durchgeweicht?«, fragte ich zurück, und er nickte so heftig, als würde er gerade zum Klang des Regens headbangen, die Tropfen sprühten nur so aus seinem dichten Haar. Wir liefen zwischen den ölig glänzenden Menschen hindurch zu Dads Laden, standen schließlich vor dem beschlagenen Schaufenster und überlegten, wie wir hineinkommen sollten. Auf dem Camden Market, dessen Stände den Kanal säumten, wurden in Windeseile große Plastikschirme aufgestellt und Sachen zusammengepackt. Der Klang von Metall gegen Metall und Stein war ohrenbetäubend. Wie ein Zoo voller Metalltiere, dessen Vögel rostige Schnäbel hatten. London war ein Waschbecken mit verstopftem Abfluss, auf der Straße trieben eklige Sachen dahin, der Fluss gurgelte immer schneller, durchnässte Menschen hetzten aneinander vorbei. Durch die Scheibe konnte man undeutlich das Innere des Ladens erkennen, ein vollgestopftes Stillleben. Rocco zog mir vorsichtig eine Haarnadel aus den Haaren und stocherte eine Weile damit im Schlüsselloch herum, bis ein befriedigendes Klicken zu hören war. Die Tür ging auf, und weiche Dunkelheit umfasste uns. Schlösser knacken konnte Rocco gut.

Drinnen sah es aus wie immer, nur ein bisschen unordentlicher, als ob Dad schon eine Weile nicht mehr hier [14] gewesen wäre. Zu Beginn hatte es im Laden nur ein paar antike Waffen, Helme und dazwischen eine Handvoll Bücher über den Krieg gegeben. Mittlerweile stapelten sich dort Hunderte von Gewehren, Lazarettskalpelle, verschlungene Seile, Metallkisten, in denen Soldaten ihre Kleidung aufbewahrt hatten, und Orden in Schmuckkästchen. Von den Deckenbalken hingen Uniformen. Und im hinteren Teil des Ladens – völlig unpassend – Schirmständer. Dad verkaufte wohl nicht sehr viel, deshalb wuchs seine Sammlung von Jahr zu Jahr. Auf dem Verkaufstresen lag eine Pistole. Ich strich über das kalte Metall und bekam staubige Finger. Früher hatte Dad hier alles viel sauberer gehalten. Wenn er herkam, feilte er immer die Läufe der Waffen nach, so dass überall Metallspäne herumlagen. Heute roch es jedoch nicht nach Metall und Waffenöl, sondern nach Staub und Feuchtigkeit: dicht, klebrig, schwer. Alles war so vollgestellt, dass man sich kaum bewegen konnte. Wir tappten auf Zehenspitzen durch das Chaos.

In einer Ecke lag eine Mülltüte voller antiker Zinnsoldaten. Es waren hübsche kleine Figuren. Ich musste sie einfach anfassen und nahm eine Handvoll heraus, ließ sie durch die Finger gleiten. Die scharfkantigen Figuren fühlten sich trotz der Wärme im Laden kalt an. Auch sie waren staubig. Rocco hockte sich neben die Tüte, mitten in einen Streifen helles Sonnenlicht, das von draußen hereinfiel. Der Regen hörte langsam auf, der Abfluss war anscheinend wieder frei, jetzt, wo wir nicht mehr im Waschbecken saßen.

Dad liebte Zinnsoldaten und alte Gewehre mehr als [15] alles andere auf der Welt. Wenn er im Laden saubermachte oder die Regale aufräumte, war sein Gesichtsausdruck anders als sonst, er sah dann aus wie ein kleiner Junge und lächelte versunken, als könnte er sein Glück gar nicht fassen. Früher hatte er mal größere Zinnsoldaten gehabt, mit viel mehr Details als die kleinen hier. Es gab nur noch zehn davon, sie waren in Tarnfarben bemalt und trugen Hüte aus echtem Filz. Wir durften im Laden spielen, womit wir wollten, und verbrachten Stunden mit diesen Figuren. Manchmal spielte Dad sogar mit und erzählte uns dies und das über Munition und Angriffsstrategien, wer eine bestimmte Waffe abgefeuert hatte, wem ein Helm gehört hatte. Es war von einiger Ironie, dass gerade Dads Faszination für Kriegszubehör das war, was ihn so unschuldig wirken ließ.

Manche der Soldaten trugen Speere. Die winzigen polierten Metallspitzen bohrten sich durch die drei Lagen des dünnen, schwarzen Plastiks und sahen ziemlich gefährlich aus. Rocco spielte gedankenverloren mit den Figuren.

»Meinst du, Dad kriegt mit, wenn wir uns ein paar davon mitnehmen?«, fragte ich. In der Tüte waren bestimmt fünfhundert Soldaten, und anscheinend kam Dad sowieso nicht mehr in den Laden. Rocco und ich gingen in Dads Büro. Dort war es sauber und aufgeräumt. Auf dem Schreibtisch lag ein Stapel Papiere, daneben ein Kuli. Seine Werkzeuge hingen ordentlich an Haken an der Wand. Ich nahm mir eine Plastiktüte aus einem Aktenschrank, und wir füllten etwa zweihundert der kleinen Soldaten hinein. Sie klapperten durcheinander.

[16] »Und was machen wir jetzt damit?« Ich musste lachen. Rocco zuckte mit den Schultern. Er hielt einen Soldaten hoch und drehte ihn kurz im Licht hin und her, nahm sich dann vier Stück aus der Tüte und steckte sie in die Tasche. Draußen vor dem Fenster beschien die Sonne die glattpolierte Straße und den Fluss.

Neben Dads Büro befand sich der Hintereingang zum Laden. Der große Türknauf war angelaufen, und vom Holz blätterte die Farbe ab wie Schorf. Während wir noch mit den Zinnsoldaten beschäftigt waren, hörten wir plötzlich einen Schlüssel im Schloss. Ein großer Mann in Jeans und einem schmutzig weißen Hemd trat ein und schloss die Tür sorgfältig wieder hinter sich. Dann erst drehte er sich um und bemerkte uns. Er hatte eine Hakennase und kleine Augen, die sich hinter einer großen Brille versteckten. Er blinzelte überrascht. Seine Schuhe hatten saubere Narben auf dem schmutzigen Fußboden hinterlassen. Er stand ganz still, als wäre er nicht sicher, ob wir echt waren.

»Hallo«, sagten Rocco und ich gleichzeitig und klärten damit zumindest diese Frage. »Wir sind die Kinder von Jack und Kate«, fügte ich hinzu. Der Mann putzte mit dem Ärmel die Regentropfen von seiner Brille und setzte sie sich wieder auf die große Nase. Unser Haus hatten Mum und Dad zwar gekauft, aber den Laden mieteten sie von diesem Mann.

»Ich bin der Vermieter«, sagte er langsam und machte einen schweren Schritt nach vorn. Ob er sich wohl immer in dieser seltsamen Zeitlupe bewegte? Ich hatte ihn schon ein paarmal gesehen, aber noch nie mit ihm [17] geredet. Er war Unternehmer, der sein Geld mit Immobilien verdiente, und wohnte in der Wohnung über dem Laden. Dad hatte sich oft beschwert, dass man ihm nicht trauen konnte, deshalb war ich neugierig auf ihn.

»Habt ihr einen Schlüssel für den Laden?«

»Nein«, antwortete Rocco.

Der Vermieter hob die schweren Brauen und presste die spröden Lippen zu einem Strich zusammen.

»Wir haben das Schloss geknackt. Entschuldigung. Aber wir haben nichts kaputtgemacht!«

»Könntet ihr das in Zukunft bitte lassen? Das nennt man Einbruch.«

»Dad hat gesagt, wir dürfen die Soldaten hier haben«, log Rocco. »Können wir die mitnehmen?«

Der Mann zuckte wieder mit den Schultern und spähte in das ordentliche Büro, wo Dad die meiste Zeit verbracht hatte. »Die sind überhaupt nichts wert«, sagte er müde und sah uns wieder an. »Geht ihr dann jetzt bitte? Ich habe zu tun.«

»Hier drin?«, fragte ich.

»Ja, hier drin. Und richtet eurem Vater aus, er soll mich anrufen.«

»Klar, sagen wir ihm«, erwiderte Rocco. Wir gingen zur Tür. »War nett, Sie kennenzulernen.«

Der Mann betrat das Büro, schloss gemächlich die Tür hinter sich, und Rocco und ich verschwanden unbehelligt aus dem stickigen Laden nach draußen, wo es inzwischen wieder zu nieseln begonnen hatte.

[18] Pitschnass kamen wir mit den Soldaten zu Hause an. Mum und Dad saßen in der Küche. Auf dem Tisch standen Schinken, Salat und Pitabrot. Mum langte hungrig zu, Dad schob das Essen auf seinem Teller nur hin und her. Sie unterhielten sich und lachten, Dad runzelte beim Reden die Stirn, und Mum zog ihn gerade mit irgendetwas auf. Dad hatte die letzten zwei Wochen Grippe gehabt und sah nicht gut aus. Er hatte dunkle Ringe unter den Augen, und seine Haut hatte die Farbe von Papier, das nass geworden und dann auf der Heizung getrocknet war. Er wirkte ständig müde.

Dads fester, kleiner, trockener Mund presste sich in einer Art Lächeln tiefer in sein Gesicht. Mum drehte sich zu uns herum. Sie hatten das Licht gedimmt, aber selbst in diesem Halbdunkel sah ich einen Nerv an Dads rechtem Augenlid zucken. Mum legte ihre Hand auf seine, hielt seinen Daumen mit den Fingern umschlossen.

»Hattet ihr einen schönen Tag?«, fragte sie, schon wieder mit dem Rücken zu uns.

»Ja, wir waren im Laden«, antwortete ich.

Dads Lächeln erschlaffte zwischen seinen dünnen Wangen.

»Wie seid ihr denn da reingekommen?« Er legte den Kopf schief und sah uns ernst an. Rocco fuhr mit dem Finger über den Rand der Holzverkleidung.

»Mit einer Haarnadel von Isabel.« Rocco lächelte. Er sah so unschuldig und ein bisschen nervös aus, aber Mum und Dad lächelten nicht zurück, und das machte mich ganz traurig. Sie schauten nur noch ernster. »Wir haben Zinnsoldaten gefunden, können wir die behalten?«

[19] »Klar, die sind ja kaum was wert«, erwiderte Mum. »Euer Dad hat letzten Monat ein bisschen Geld dafür zum Fenster rausgeworfen. Ich glaube nicht, dass wir welche verkauft bekommen. Wollt ihr was essen?«

Rocco stellte die Tüte mit den Soldaten klirrend auf den Boden. Ich machte Teewasser. Wir setzten uns rechts und links von Mum an den Tisch. Sie lächelte erst uns an, dann Dad. Ich sah, wie sie seine gelbe Hand sanft mit ihren hübschen Fingern streichelte. Mum hatte helle Haare, auffallend rote Lippen, und wenn sie lächelte, war man oft überrascht. Sie war fröhlich, manchmal übermütig. Für eine Frau, der Ordnung so wichtig war, hatte sie einen ziemlich ausgefallenen Kleidungsstil, sie trug die wildesten Kombinationen.

Nach einem Moment verkrampfter Stille sagte ich: »Wir haben den Vermieter getroffen.« Rocco gab sich wie immer nicht die geringste Mühe, die Unterhaltung mit Mum und Dad aufrechtzuerhalten. Mum betrachtete Dads Hand. Sie schien in Gedanken sehr weit weg. Rocco kam mit den beiden schon eine Weile nicht mehr gut aus. Er war ein sehr stilles, hübsches Kind gewesen, das die Welt um sich herum mit seinen grünen Augen nachdenklich und ohne jegliche Gefühlsäußerungen betrachtete. Je älter er wurde, desto unwohler fühlte sich Mum in seiner Gegenwart. Er hat so eine Aura, es wirkt immer, als sei die Luft um ihn herum dichter als um andere Menschen. Manchmal sah er so hochkonzentriert aus, dass man sich fragen musste, worüber dieser kleine Junge denn nur nachdachte. Außerdem war Rocco stark, stärker als Mum und Dad. Die Vorstellung, sie würden [20] über ihn bestimmen und nicht umgekehrt, war lächerlich.

In ihrer Anwesenheit war Rocco viel stiller, als wenn wir beide allein waren. Früher sind wir immer gemeinsam durch das Haus geschlichen, waren Spione und haben Krieg gespielt. Wir belauschten Mum und Dad, wenn sie sich stritten, und katalogisierten auf kleinen Zetteln, die wir unter Roccos Bett versteckten, wann sie Sex gehabt hatten. Wir sahen ihnen dabei zu, wie sie sich küssten, wie sie miteinander lachten, wie sie sich anschrien. Wir sammelten die toten Käfer ein, die hinter den Gardinen lagen, bewahrten sie eine Weile in Pappkartons auf und zerdrückten sie irgendwann zwischen den leeren Seiten eines Schulhefts. Wir gaben ihnen Feennamen, weil sie mit ihren ausgebreiteten Flügeln und den zerplatzten Körpern ein bisschen so aussahen. Rocco ließ diese Käfersammlungen offen herumliegen und redete mit Mum über ganz normale Jungssachen – Waffen und Insekten, Blut und Metall –, aber auf eine so seltsame Art, dass Mum diese Monologe nervös machten. Ihre sonst so weichen Gesichtszüge waren dann angespannt, und es wirkte, als wüsste sie einfach nicht, wie sie mit ihrem Sohn umgehen sollte.

»Wie habt ihr ihn denn getroffen?« Mum ließ Dads Hand los und tauschte einen besorgten Blick mit ihm aus, den Rocco und ich nicht sehen sollten.

»Er kam durch die Hintertür in den Laden, als wir da waren«, sagte ich. Ich sah Dad an. »Du sollst ihn anrufen.«

[21] »Ihr habt da eigentlich gar nichts zu suchen.« Mum massierte sich mit der linken Hand die Schulter.

»Tut uns leid«, gab ich zurück. »Wir dachten, das wäre okay.«

Mum fing an, Dinge auf dem Tisch hin und her zu schieben, faltete Zeitungsseiten zusammen und legte sie auf einen Stapel. Sie richtete den Salzstreuer und das Olivenöl so aus, dass beides genau in einer Linie mit dem Pfefferstreuer stand, und überprüfte die Deckel einen nach dem anderen, ob sie auch fest saßen. Ihre Hände bewegten sich schnell, ihre Fingernägel klickten. Dad saß nur still da.

»Wir haben ja nicht in Schubladen rumgeschnüffelt oder so.«

»Das hoffe ich«, antwortete Mum streng. Sie legte ihr Besteck auf den Teller, entschied sich dann aber anders und stocherte mit der Gabel in Dads unberührtem Essen. »Du bist doch nicht mehr zehn, Rocco«, sagte sie und sah demonstrativ nur ihn an, nicht mich. »Du kannst nicht einfach tun und lassen, wozu du gerade Lust hast.«

»Aber du schon, ja?«, sagte Rocco zu unserem Vater.

»Wie bitte?« Dad schreckte aus seinen Gedanken hoch.

»Du hast Mum geschlagen«, erinnerte ihn Rocco. Daraufhin bekam Dad einen seiner Hustenanfälle, die immer so klangen, als würde jemand in seiner Lunge ein Stück Leder zerreißen. Er hielt sich die Brust und rang nach Luft, seine Finger krallten sich in den V-Ausschnitt seines Pullovers. Manche Leute haben ein Windspiel vor dem Fenster hängen, das ständig vor sich hin klimpert, wir hatten unseren Vater. Wenn ihn irgendetwas aufregte, [22] hatte er immer für einen Moment diesen angestrengten Gesichtsausdruck, und dann brach der Husten aus ihm heraus. Diese schleimigen, abgehackten Geräusche gehörten zur alltäglichen Kulisse unseres Zuhauses, und Rocco und ich nutzten sie als Verschnaufpause in den Gesprächen mit unseren Eltern. Wir machten uns nie Sorgen deswegen, die Hustenanfälle gehörten einfach zu unserem Leben dazu.

»Ab auf euer Zimmer!«, sagte Dad ein paar Minuten später mit zittriger Stimme. Er bekam immer noch schwer Luft. »Das geht euch nichts an, das geht euch alles überhaupt nichts an. Ihr könnt nicht immer andere Leute belauschen und euch rumtreiben, wo ihr nichts zu suchen habt, merkt euch das endlich.« Seine Pupillen zuckten wie flatternde Insekten. »Ihr seid doch keine kleinen Kinder mehr.«

Rocco bog den Kopf zurück und sah von einem zum anderen. »Dürfen wir die Soldaten trotzdem behalten?« Er grinste herausfordernd.

»Jetzt geht schon auf euer Zimmer.« Dads Stimme klang gepresst.

Rocco schob seinen Stuhl zurück und verließ die Küche, ohne die Tür hinter sich zu schließen. Die Soldaten nahm er mit.

»Sorry.« Ich zögerte einen Moment, dann folgte ich meinem Bruder.

»Mensch, Isabel!«, fauchte Mum. »Musst du ihm immer alles nachmachen?«

Ich merkte, wie ich rot wurde, und starrte angestrengt auf meine Füße, während ich die Treppe nach oben [23] stieg. Gemeinsam standen wir auf dem Treppenabsatz und lauschten Mums und Dads fast unverständlicher Unterhaltung.

»Ich muss hier raus, ich gehe spazieren«, sagte Dad schließlich und schob geräuschvoll seinen Stuhl zurück.

»Du bist doch viel zu müde«, widersprach ihm Mum, als würde sie mit einem Kind reden.

Dad ging hinaus in den Flur. Lange blieb es still.

Dann sagte er mit einer heiseren, beängstigenden Stimme sehr langsam: »Falls ihr Scheißkinder da oben auf dem Treppenabsatz steht und uns belauscht, könnt ihr jetzt damit aufhören. Eure Mutter und ich gehen noch mal weg.«

Rocco und ich sahen einander überrascht an und mussten grinsen. Wir schlichen uns gehorsam hinauf in unsere sichere Dachkammer und überließen unsere Eltern ihren verwirrenden Angelegenheiten.

[24] 3

Verwirrung

Drei Tage bevor Dad uns verließ, kam ich ins Wohnzimmer. Er saß vornübergebeugt auf der Couch und rauchte eine Zigarette. Seine Bewegungen waren langsam und schwimmend, sogar der Rauch schien nur zögerlich aufzusteigen. Im Aschenbecher lag ein Joint, also nehme ich an, er war high. Ich konnte unser Wohnzimmer noch nie leiden, es war vollgestopft mit lauter Dingen, die meine Eltern im Laden nicht losgeworden waren. Zum Beispiel ein Set aus gruseligen ausgeblasenen Eiern, lila bemalt und mit Blattgold verziert wie Märcheneier. An den gelben Wänden hingen glasierte Teller und ein Bild der Jungfrau Maria, und auf dem Kaminsims standen kitschige Tintenfässer herum, in denen sich hundertfach das Licht brach. Auf dem antiken Couchtisch vor dem Sofa lagen Kochbücher, Bücher über Besteck und über Waffen. In der Mitte befanden sich auf einem Tablett zwei Flinten, deren Läufe mit Zement ausgegossen waren, und eine Grünpflanze mit wachsartigen Blättern in einem bunten Blumentopf. Ich glaube nicht, dass er mich in der Tür bemerkt hatte, denn er sah nicht hoch. Die Schatten unter seinen Augen waren wie riesige Blutergüsse, und seine Haut schien vom Lächeln, Blinzeln und Stirnrunzeln Sprünge bekommen zu haben. [25] Wie ein Teenager kiffte er lethargisch vor sich hin, und er hatte sogar an beiden Wangen eine leichte Akne bekommen.

»Dad«, versuchte ich auf mich aufmerksam zu machen, aber er sagte immer noch nichts und rauchte einfach weiter. Als ich zum ersten Mal eine Zigarette probierte, war ich überrascht, dass sie nicht süß schmeckte, und konnte nicht verstehen, wie man nach diesem aschigen Papiergeschmack süchtig werden konnte. Dad drückte die Zigarette im Aschenbecher aus, sah aber auch dann nicht auf. Erst als ich mich direkt vor ihn stellte, hob er langsam den Kopf, als würde ihn eine fremde Hand hochziehen, und auf seinem Gesicht spiegelte sich Erkennen. Ein saurer Schweißgeruch lag in der Luft. Das erste Mal, dass ich Mum und Dad streiten hörte, war an einem warmen Frühlingstag. Sie hatten zusammen ein Kräuterbeet anlegen wollen, konnten sich aber auf nichts einigen, und am Ende stürmte Mum wütend durch das Haus und hinterließ dabei überall schlammige Abdrücke auf dem Teppich. Seitdem habe ich immer den Geruch nach feuchter Erde in der Nase, wenn es zwischen ihnen nicht stimmt. Ich wusste nicht genau, was ich eigentlich von Dad wollte, er sah einfach so müde und erschöpft aus.

»Willst du einen Kaffee?«, fragte ich schließlich. Er schüttelte den Kopf. Nun gab es keinen Grund mehr für mich, noch länger im Wohnzimmer zu bleiben und meinen alternden Vater anzustarren, also ging ich in die Küche. Dort roch es wie in Brighton immer. Mum wickelte gerade fish and chips aus fettigem Papier und hatte ebenfalls keine Lust, sich mit mir zu unterhalten. [26] Sie trug eine schwarze Hose und ein schwarzes Poloshirt, ihre Haare waren offen und umspielten ihr ernstes Gesicht. Mit einem Auge sah sie eine Talkshow im Fernsehen und verbrannte sich immer wieder die Finger. Der Ton war abgestellt, man konnte nur ein paar Mädchen in engen Sachen sehen, die einander gegenüberstanden und mit den Fingern schnipsten. Ihre roten Lippen bildeten riesige, flüssige Ovale. Alles an ihnen war die ganze Zeit in Bewegung, ihre großen Brüste wippten im Takt ihres Streits.

»Was ist das denn für eine Sendung?«

»Ach, ich sehe eigentlich gar nicht richtig hin.« Mum zuckte mit den Schultern. »Ich hab dir und Rocco Pommes mitgebracht.« Sie schob mir ein fettiges Päckchen entgegen.

»Danke.« Ich lächelte. Sie verzog nur das Gesicht.