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Felix Francis

Schwesterherz

Roman

Aus dem Englischen von
Malte Krutzsch

 

 

 

 

 

 

 

 

Titel der 2012 bei

Michael Joseph, London,

erschienenen Originalausgabe: ›Bloodline‹

Copyright © 2012 by Felix Francis

Die deutsche Erstausgabe erschien 2014 im Diogenes Verlag

Der Übersetzer dankt Gabriela Schmidt, Bad Ems

Covermotiv: Foto von Bob Thomas (Ausschnitt)

Copyright © Bob Thomas/The Image Bank/Getty Images

 

 

Ganz besonderen Dank

an Mike Cattermole,

Rennkommentator und Fernsehmoderator,

an meine Freunde bei Channel 4 Racing

und BBC Radio Five Live

für ihre Hilfe und ihren Zuspruch

und wie immer an Debbie

 

 

Alle deutschen Rechte vorbehalten

Copyright © 2016

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 24349 9 (1. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60434 4

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] 1

»Das Rennen ist gestartet!«

Ich blickte auf meinen Monitor und schirmte die Augen gegen die helle Septembersonne ab, um die Pferde besser zu sehen. Zwölf Starter in einem 1600-Meter-Fliegerrennen für sieglose Zweijährige in Lingfield Park – ein Rennen wie jedes andere, eins von über fünfzehnhundert, die ich in diesem Jahr live sehen würde.

Aber es sollte mein Leben ein für alle Mal verändern.

Die Pferde kamen in einer ziemlich geraden Linie aus der Startmaschine, und ich sah auf den handgeschriebenen Zettel mit ihren Startnummern, als sie aus knapp tausendsechshundert Metern auf mich zuhielten.

Da der Start für die sechzehnhundert Meter in Lingfield ein wenig hinter Bäumen versteckt ist, wenn man auf der Tribüne sitzt, verließ ich mich mehr auf den Monitor.

»Wir sehen das Herald Sunshine Limited Maiden Stakes, und Spitfire Boy geht gleich zu Beginn in Führung«, sagte ich, »vor Steeplejack, der ebenfalls früh Tempo macht. Danach Sudoku innen, gefolgt von Radioactive, daneben Troubleatmill. Ihnen folgt Postal Vote, dahinter High Definition und Low Calorie, ganz außen kommt Bangkok [6] Flyer in Grün, dann Tailplane mit der weißen Kappe und Routemaster mit den orangen Ringen. Schlusslicht ist im Augenblick Pink Pashmina, die zu kämpfen hat und an der 1200-Meter-Marke eine Ermahnung bekommt.«

Ich sah vom Monitor hoch und richtete mein Fernglas auf die Pferde. Aus tausendzweihundert Metern waren sie jetzt alle deutlich zu erkennen, optisch verkürzt durch das Glas, mit unnatürlich wippenden Köpfen.

Fliegerrennen auf gerader Bahn, bei denen die Pferde direkt auf einen zustürmen, machen dem Kommentator oft das Leben schwer. So auch diesmal. Die zwölf Starter hatten sich in zwei Gruppen aufgeteilt – acht Pferde liefen innen, die vier anderen in der Bahnmitte.

Die Wetter auf der Tribüne wollten verständlicherweise wissen, welches Pferd führte, aber von meinem Platz aus war das nicht ohne weiteres zu erkennen.

»Der rote Dress von Spitfire Boy führt die größere Gruppe links an, attackiert von Radioactive. In der Bahnmitte laufen Troubleatmill und Bangkok Flyer achthundert Meter vor dem Ziel Kopf an Kopf.«

Ich sah mir das herangaloppierende Feld genau an. Laut Rennprogramm trug Bangkok Flyer Dunkelgrün, aber mir kam das im Sonnenlicht rabenschwarz vor, und ich wollte ihn nicht mit dem Dunkelblau von Postal Vote verwechseln.

Nein, alles klar. Es war Bangkok Flyer mit dem Lammfell-Nasenriemen, und er machte seinem Namen Ehre.

»Rechts kommt jetzt Bangkok Flyer mit dem Lammfell-Nasenriemen. Er lässt Troubleatmill, der die Distanz wohl nicht stehen kann, zwei Längen hinter sich. Und [7] links wird Spitfire Boy von Radioactive eingeholt. Aber Sudoku mit Paul James in Weiß, der sich jetzt erst rührt, ist auch noch da.«

Ich ließ das Fernglas sinken und schaute mit bloßem Auge zu.

»Zweihundert Meter vor dem Ziel geht Sudoku links in Führung, aber er muss noch den als Favoriten gesetzten Bangkok Flyer überwinden. Sudoku und Bangkok Flyer gehen gleichauf in die Schlussphase. Sudoku in Weiß, Bangkok Flyer in Dunkelgrün, es ist ein Direktvergleich.« Meine Stimme wurde immer heller, je näher die Pferdenüstern unter mir der Ziellinie kamen. »Bangkok Flyer und Sudoku Huf an Huf. Sudoku und Bangkok Flyer.« Schriller konnte ich nicht mehr werden. »Sudoku siegt vor Bangkok Flyer, Low Calorie erkämpft Platz drei, Radioactive wird Vierter vor dem lange führenden Spitfire Boy, es folgen Routemaster, High Definition, Troubleatmill, Steeplejack, dann Tailplane und Postal Vote gleichauf und schließlich die Stute Pink Pashmina abgeschlagen auf dem letzten Platz.«

Ich schaltete mein Mikrofon aus.

»Erster, Nummer zehn, Sudoku«, sagte der Zielrichter über die Lautsprecher. »Zweiter, Nummer eins, Dritter, Nummer vier. Vierter ist die Nummer acht. Abstand Hals und zweieinhalb Längen.«

Ende der Ansage.

Das Rennen war vorbei, die Aufregung im Nu verflogen. Die Zuschauer warteten bereits auf den nächsten Lauf in einer halben Stunde.

Ich sah auf die Bahn und war verunsichert.

[8] Irgendwas hatte da nicht gestimmt.

Mein Kommentar schon. Ich hatte weder die Pferde durcheinandergebracht noch das falsche Pferd zum Sieger erklärt – was den besten Sportreportern passiert. Mit dem Rennen selbst hatte etwas nicht gestimmt.

»Danke, Mark. Super gemacht«, sagte mir eine Stimme in die Kopfhörer. »Jedes Pferd genannt und die vollständige Platzierung, danke.«

»Gern geschehen, Derek.«

Derek war Sendeleiter bei Racing TV, dem Satellitensender, der Pferderennen live übertrug. Er saß im Ü-Wagen, einem großen Transporter mit geschwärzten Scheiben, irgendwo hinter den Rennbahnstallungen, vor sich ein halbes Dutzend Fernsehbilder von den Kameras auf der Bahn, und er entschied, welche Bilder die Leute zu Hause oder in den Wettbüros zu sehen bekamen. Da der Sender keinen eigenen Rennkommentator hatte, hielten sie sich an den von der Rennbahn – an mich. Allerdings legten sie Wert darauf, dass jedes Pferd wenigstens einmal namentlich genannt wurde, und wollten unbedingt den kompletten Zieleinlauf im Kommentar. Bei zwölf Startern war das in Ordnung, aber bei dreißig oder mehr wurde es schwierig, erst recht bei so einem Fliegerrennen, das keine anderthalb Minuten dauert.

»Derek?« Ich hielt den Übertragungsknopf gedrückt.

»Rede«, antwortete er mir ins Ohr.

»Könntest du mir eine DVD von dem Rennen machen? Zum Mitnehmen. Alle Einstellungen.«

»Sie hat doch gar nicht gewonnen.«

»Trotzdem«, sagte ich.

[9] »Okay, kannst du haben.«

»Danke. Ich hol sie mir nach dem letzten Rennen.«

»Wir stehen dann noch hier.«

Es klickte, und meine Kopfhörer waren wieder still.

»Sie hat doch gar nicht gewonnen«, hatte Derek gesagt.

»Sie« war meine Schwester – meine Zwillingsschwester, genau gesagt, Clare Shillingford – ein Topjockey mit über sechshundert errittenen Siegen.

Jetzt war keiner dazugekommen. Mit Bangkok Flyer war sie knapp Zweite geworden, und für mich hatte an ihrem Ritt etwas nicht gestimmt.

Ich sah auf die Uhr. Da ich erst in frühestens zwanzig Minuten wieder am Platz sein musste, um das nächste Rennen zu kommentieren, lief ich die fünf Treppen zum Erdgeschoss runter und ging um die Tribüne herum zum Waageraum.

Ich steckte den Kopf in die Medienzentrale der Rennbahn – ein kleiner Raum hinter der Waage mit lauter Elektronik auf der einen Seite.

»Tag, Jack«, begrüßte ich den Mann, der da mit dem Rücken zu mir stand.

Er drehte sich um, sagte: »Hallo, Mark« und strich mit den Händen über seinen grünen Pullover, der mehr aus Löchern als aus Wolle zu bestehen schien. »Alles klar?«

»Alles bestens.«

Jack Laver war der für die Bildübertragung im bahneigenen Videosystem einschließlich des Monitors in der Kommentatorkabine zuständige Techniker. Er wusste [10] vielleicht nicht unbedingt, wie man sich gut anzieht, aber in Sachen Elektrotechnik war er ein Zauberkünstler.

»Tee?«, fragte er.

»Gern«, sagte ich, und er verschwand in einer Nische, aus der er mit zwei weißen Plastikbechern voll dampfendem Tee wiederkam.

»Zucker?«

»Nein, danke.« Ich nahm ihm einen Becher ab.

Waageraumtee war traditionell nichts für den erlesenen Geschmack, aber immer heiß und nass, und beides tat meiner Stimme gut. Ein mit Heiserkeit oder gar Laryngitis geschlagener Rennkommentator war zu nichts zu gebrauchen. Peter Bromley, der legendäre BBC-Sportreporter, hatte immer eine Flasche Stimmbalsam bei sich – eine nach Geheimrezept gebraute Mixtur mit Whisky und Honig. Vor jedem Rennen befeuchtete er seine Kehle damit.

So geregelt lief es bei mir zwar nicht, aber eine Flasche Wasser hatte ich doch immer gern zur Hand. Und Tee war noch besser.

»Jack, kannst du mir das letzte Rennen noch mal vorspielen? Die letzten vierhundert Meter reichen.«

»Klar.« Er ging zu seiner Anlage. »Hast du was durcheinandergebracht?«, fragte er und grinste mich über die Schulter hinweg an.

»Leck mich«, sagte ich. »Natürlich nicht.«

»Und wenn, dann würdest du’s nicht zugeben. Ihr Sprücheklopfer seid doch alle gleich.«

»Gleich gut, meinst du sicher.«

»Dass ich nicht lache!«

[11] Er drückte ein paar Tasten, und das Rennen erschien auf einem der winzigen Bildschirme vor ihm.

»Die letzten vierhundert Meter?«

»Ja, bitte.«

Mit einer großen, kugelförmigen Maus ließ er das Rennen vorlaufen, so dass die Pferde in halsbrecherischem Zeichentricktempo übers Geläuf flitzten.

»Voilà.« Jack brachte sie auf normale Geschwindigkeit runter.

Ich beugte mich vor, um besser folgen zu können.

Hoffentlich irrte ich mich. Das wünschte ich mir von Herzen.

»Kann ich das noch mal sehen?«, fragte ich Jack.

Er spulte mit der Kugelmaus zum Vierhundertmeterpfosten zurück.

Ich sah es mir erneut an, und es gab kein Vertun.

Für mich stand außer Zweifel, dass meine Zwillingsschwester Clare Shillingford soeben gegen Nummer (B)58, (B)59 und (D)45 der Rennordnung verstoßen hatte, die unter anderem festlegen, dass während des gesamten Rennens das Bemühen des Reiters erkennbar sein muss, sein Pferd so zu führen, dass es alle erforderlichen und ihm gegebenen Anstrengungen unternimmt, um die bestmögliche Platzierung zu erreichen.

Einfach ausgedrückt, Clare hatte das Rennen nicht gewonnen, obwohl sie es hätte gewinnen können. Und ich war überzeugt, sie hatte es mit Absicht nicht gewonnen.

Die nächste Stunde verging wie im Nebel, mir fehlte die ausschließliche Konzentration aufs Geschehen, die ein [12] guter Kommentar erfordert. Auch wenn niemand meine Präsentation der beiden Folgerennen bemäkelte, wusste ich, dass sie nicht gerade gelungen war, und Derek träufte mir auch kein Lob mehr ins Ohr.

Zwischen dem dritten und vierten Rennen ging ich noch mal zum Waageraum. Clare trat im vierten an, und ich wollte vorher kurz mit ihr reden, aber nicht über die Sache mit Bangkok Flyer. Wir hatten uns vor längerem schon für diesen Abend zum Essen verabredet.

»Hallo, Clare«, rief ich ihr zu, als sie im leuchtend gelben Dress mit blauen Sternen aus der Waage kam. »Bleibt’s bei heute Abend? Ich hab für acht Uhr einen Tisch im »Haxted Mill« bestellt.«

»Prima.« Sie lächelte mich an, und wir gingen nebeneinander her. »Ich will aber erst noch bei Mum und Dad vorbei, also treffen wir uns da.«

»Okay.«

Ich blieb stehen und sah ihr nach, als sie durch die umstehenden Zuschauer in den Führring ging.

Ich fragte mich, ob ich sie überhaupt noch richtig kannte.

Wir waren mit gerade mal einer halben Minute Abstand per Kaiserschnitt auf die Welt gekommen, sie zuerst, woran sie mich immer wieder gern erinnerte.

Als Kinder waren wir unzertrennlich, zwei in einem Laufstall, einem Zimmer, einer Klasse, bis zur gemeinsamen Mietwohnung am Stadtrand von Edenbridge in Kent, nachdem wir den Mut aufgebracht hatten, unserem herrischen Vater zu sagen, dass wir nicht mehr unter seinem Dach leben wollten.

[13] Das war jetzt zwölf Jahre her, doch aus der gemeinsamen Wohnung hatte sie sich schon nach knapp sechs Monaten verabschiedet, um weiter nördlich nach Newmarket zu gehen.

Beide hatten wir Jockeys werden wollen und uns in Phantasierennen und mitreißenden Endspurts geübt, seit wir denken konnten, zuerst auf dem Schaukelpferd, dann mit Ponys auf den Koppeln hinter unserem Elternhaus in Surrey.

Doch obwohl wir Zwillinge waren, hatten wir nicht ganz dieselben Anlagen.

Clare blieb klein und schmächtig, ich wurde groß und kräftig.

Sie futterte drauflos und blieb empörend dünn, wohingegen ich täglich zunahm, obwohl ich mich fast zu Tode hungerte. Wir wurden zwar beide Jockeys, traten aber nie gegeneinander an wie früher auf den Ponys. Für sie begann ein Leben als federleichter Flachjockey im Zentrum des Galopprennsports in Newmarket, ich hingegen ritt genau fünf Mal als Amateur über die Hindernisse, ehe der aussichtslose Kampf gegen mein Körpergewicht dieser Laufbahn ein Ende setzte.

So verkündete ich etwas großspurig meinen Wunsch, stattdessen Trainer zu werden, und ging kurzzeitig nach Lambourn, um in einem Toprennstall als Assistent des Trainerassistenten das Handwerk zu lernen. Da war ich zwanzig, aber mein Körper hatte immer noch nicht aufgehört zu wachsen.

Als er es schließlich gut sein ließ, war ich einsachtundachtzig mit entsprechend breiten Schultern und trotz [14] chronischer Unterernährung zu schwer, um auch nur im Training mitzureiten.

Reiten war meine Leidenschaft, und ich fand bald heraus, dass die tägliche Fahrt zum Trainingsgelände, um vom Landrover aus den Pferden bei der Arbeit zuzusehen, nicht das war, was ich mir für die Zukunft vorgestellt hatte. Mir fehlte der Adrenalinschub, den man bekommt, wenn man in hohem Tempo mit Wind und Regen im Gesicht einen Vollblüter reitet, und anderen dabei zuzusehen, wie sie sich das holten, machte alles noch schlimmer.

 Merkwürdig also, dass ich ausgerechnet Rennkommentator geworden bin, einer, der ebenfalls nur zuschaute, doch der Adrenalinkick war wieder da, besonders an den großen Renntagen mit einem Millionenpublikum.

»Tag, Mark«, sagte eine Stimme hinter mir. »Bist du da festgewachsen?«

Ich erkannte die Stimme und drehte mich grinsend um. »Tag, Harry. Ich war nur in Gedanken.«

»Gefährliche Sache, Gedanken.«

Soweit ich wusste, war Harry Jacobs ein Lebemann. Nur zweimal hatte ich ihn im Lauf der Jahre gefragt, was er machte, und beide Male hatte er geantwortet: »Nach Möglichkeit gar nichts.« Im Rentenalter war er noch nicht, ich schätzte ihn auf Ende fünfzig, aber für bezahlte Arbeit hätte er kaum Zeit gehabt, da er tagtäglich seiner Rennleidenschaft zu frönen schien.

Ich hatte ihn mit achtzehn als angehender Amateurrennreiter kennengelernt, und er hatte mich in meinem allerersten Rennen auf eins seiner Pferde gesetzt. Nach [15] dem Beginn einer großen Freundschaft sah das nicht aus, zumal ich den Start verschlafen hatte, mich nicht mehr in Position bringen konnte und abgeschlagen als Letzter eingekommen war. Aber Harry schien das nicht zu kümmern, er hatte mir nur tröstend auf die Schulter geklopft. Seitdem waren wir gute »Rennbahn«-Freunde, wenn ich auch keine Ahnung hatte, wo er wohnte, und er umgekehrt wohl auch nicht.

»Was zu trinken?«, fragte er.

»Liebend gern, Harry, aber ich kommentiere, und sie sind gleich aus dem Führring. Ein andermal.«

»Arbeitstiere.« Er lachte. »Ihr habt keinen Sinn für die Prioritäten.«

Tja, wo kam sein Geld her? Er besaß eine stattliche Zahl Rennpferde, Springer wie Flieger, und es reichte immer, um auf diversen Rennbahnen im Land Logengäste zu bewirten.

Ich kehrte rechtzeitig in die Kommentatorkabine zurück, um die Pferde für das vierte Rennen vorzustellen, als sie aufs Geläuf kamen und zum 1600-Meter-Start ritten.

»Als Erster kommt Jetstar im roten Dress mit den weißen Schärpen über Kreuz. Dann Superjumbo in Weiß mit rotem Punkt und schwarzer Kappe.« Ich sah auf meinen Zettel und auf die Grafik mit den Jockeyfarben in der Racing Post. »Es folgt Rogerly, blauweiß gevierteilt mit geringelter Kappe, dann Scusami, der Favorit, in Gelb mit hellblauen Sternen und hellblauer Kappe.« Ich sah zu, wie Clare auf Scusami die Bahn entlanggaloppierte, und fragte mich erneut, was da im Kopf unter dem Helm [16] vorging. »Nächster ist Lounge Lizard, grünweiß gestreift, und Tournado in Pink mit dunkelgrünen Schultern und Kappe vervollständigt das Feld im John Holmes Construction Limited Stakes über sechzehnhundert Meter, dem Hauptrennen des Tages hier in Lingfield.«

Ich schaltete mein Mikro ab.

Sechs Starter über eine Meile auf der Rundbahn. Kinderspiel.

Ein Knopfdruck brachte die aktuellen Wettquoten für das Rennen auf meinen Monitor.

»Scusami ist nach wie vor Favorit und steht jetzt nur noch fünf zu vier. Superjumbo steht wie Rogerly drei zu eins, Tournado fünf zu eins, Lounge Lizard sechs zu eins, und Jetstar als der krasse Außenseiter zahlt fünfundzwanzig zu eins.«

Ich schaltete das Mikro ab und holte die am Start zirkelnden Pferde auf den Schirm.

Für ein Rennen mit sehr großem Teilnehmerfeld wie das Grand National hätte ich mir am Abend zuvor die Farben eingeprägt, aber meistens machte ich das in den letzten Minuten vor dem Start. Wollte ich mir die Farben für sechs oder sieben Rennen vorab einprägen, würde ich sie doch bloß im Kopf durcheinanderwerfen.

Also merkte ich sie mir jeweils vor dem anstehenden Rennen und hatte sie zehn Minuten danach wahrscheinlich schon wieder vergessen. Mit freiem Kopf nannte ich vor jedem Rennen dem Publikum auf der Tribüne die Farben der aufgaloppierenden Pferde. Jetzt sah ich sie auf dem Monitor umhergehen, legte den Finger auf das Abbild der einzelnen Tiere und sagte ihre Namen vor mich [17] hin. Bei mehr Startern hätte ich sie mir vielleicht im Führring angesehen, aber sechs waren eine Kleinigkeit.

»Sie treten hinter die Startboxen«, sagte ich den Zuschauern auf der Bahn. »Scusami bleibt Favorit mit fünf zu vier, Rogerly jetzt klar Zweiter mit drei zu eins, dann Superjumbo sieben zu zwo; die anderen zahlen fünf zu eins.«

Ich schaltete wieder zu den Pferden und nannte mit dem Finger auf ihrem Bild die Namen.

»Es geht in die Boxen«, sagte ich.

Derek sprach mir ins Ohr. »Mark, wir sind in fünf Sekunden bei dir. Vier. Drei. Zwei…« Er zählte bis null, während ich die in die Startmaschine einrückenden Pferde beschrieb. Als er bei null anlangte, hielt ich kurz inne, um nicht zu reden, wenn die Satellitenzuschauer hinzukamen.

»Nur zwei fehlen noch«, sagte ich. Ein letzter Blick auf die Quoten. »Scusami ist weiterhin Favorit, aber leicht hochgegangen auf sechs zu vier, Rogerly wie gehabt drei zu eins. Nur Superjumbo muss jetzt noch einrücken.«

Ich trank einen Schluck Wasser aus der Flasche.

»So, alles drin. Los geht’s. Das Rennen ist gestartet!«

Wirklich ein Klacks. Diesen Lauf hätte sogar meine Großmutter kommentieren können.

Scusami kam zuerst aus der Startmaschine, und als erfahrener Frontläufer gab er die Position nicht mehr ab. Auf der Einlaufgeraden wurde er zwar kurz von Superjumbo attackiert, doch als Clare ihn zu einer Reaktion aufforderte, kam sie prompt und nachhaltig. Ein einziges Mal hob sie die Peitsche, ansonsten holte sie nur mit [18] Händen und Fersen einen mühelosen Dreilängensieg heraus, das übrige Feld folgte in gebührendem Abstand.

»Davon mach ich dir auch eine Kopie«, sagte mir Derek ins Ohr. »Tolles Pferd. Hat doch sicher Chancen im Guineas.«

»Die Konkurrenz hat ihn vielleicht besser aussehen lassen, als er ist«, erwiderte ich. Aber ich gab Derek recht. Eine kleine Vorwette ließ sich in Erwägung ziehen. Das 2000 Guineas lief erst im Mai, und in den acht Monaten bis dahin konnte viel passieren.

Schon in den nächsten acht Stunden passierte viel.

Lingfield war mein Heimkurs, und obwohl das letzte Rennen erst um fünf vor halb sechs startete, war ich um halb sieben zu Hause. Und ich hatte auch daran gedacht, die DVD mit den beiden Aufnahmen bei Derek abzuholen.

Ich setzte mich aufs Sofa und spielte sie immer wieder ab.

Gewichtsmanagement und Timing machen den Hauptunterschied zwischen einem Durchschnittsjockey und einem Könner aus. Alle Jockeys stehen vorgebeugt in den Bügeln, balancieren über den Schultern des Pferdes und verlagern ihr Gewicht mit seinem Gang vor und zurück, aber nur die Großen nutzen diesen Bewegungsablauf, um das Beste aus dem Tier herauszuholen. Sie lenken das Pferd, statt nur mitzugehen.

Ein »mit Händen und Hacken« gerittenes Finish hat viel mehr mit der Gewichtsverteilung zu tun als damit, wie man Hände und Fersen am Pferd einsetzt. Die [19] meisten Jockeys, besonders auf der Flachen, reiten ohnehin viel zu kurz, um dem Tier ordentlich eins mit den Fersen zu geben, und die Hände an den Zügeln gehen mit dem Kopf des Pferdes vor und zurück.

Ich sah mir noch einmal die Aufnahme von Clare bei ihrem Siegritt auf Scusami im vierten Nachmittagsrennen an. Als Superjumbo zweihundert Meter vor dem Ziel angreift, gibt Clare ihrem Pferd einen einzigen Flankenschlag mit der Peitsche und geht dicht über dem Sattel in ein klassisches Finish, indem sie die Hände am Hals des Pferdes vor und zurück bewegt und rhythmisch ihr Gewicht verlagert, um seine Sprünge zu verlängern, womit es dann auch mühelos gewinnt.

Das verglich ich mit ihrem Ritt auf Bangkok Flyer im ersten, bei dem Sudoku sie mit einer Halslänge schlug.

Auf den letzten zweihundert Metern zog sie dem Pferd, wie es schien, dreimal hart die Peitsche über, doch in der Frontaleinstellung sah man, dass diese Schläge fingiert oder bestenfalls symbolisch waren, da ihre Hand eindeutig abbremste, ehe die Peitsche mit dem Pferdeleib in Berührung kam. Wie auf Scusami stand sie tief über dem Sattel, und die Ellbogen waren voll in Bewegung, nur dass sich davon wenig auf die Hände übertrug, da die Ellbogen hoch und runter gingen statt vor und zurück.

Aber das Verräterischste war das, was mich überhaupt erst stutzig gemacht hatte. Clares Körperbewegungen waren völlig daneben. Statt das Pferd zu längeren Sprüngen aufzufordern, hatte sie genau das Gegenteil bewirkt. Man muss sich das vorstellen wie bei einem Automotor – tritt die Verbrennung ein, wenn der Kolben nach oben [20] statt nach unten geht, verlangsamt der Motor, statt zu beschleunigen.

So war Clare geritten, und deshalb hatte Sudoku Bangkok Flyer ohne weiteres eingeholt und bezwungen.

Aber sie hatte es schlau angestellt. Diese Bremserei so hinzukriegen, dass es aussah, als gäbe sie alles auf den letzten Metern, war eine echte Kunst.

Ich hatte überhaupt nur wegen eines Spiels, das wir als Kinder auf unseren Ponys immer gespielt hatten, Verdacht geschöpft.

»Rennskandal« nannten wir das, wenn wir unsere Ponys anhielten, sie dem Anschein nach aber voll ausritten. Tage- und wochenlang hatten wir den Trick geübt, bis nicht mal mehr unser alter Großonkel merkte, was vor sich ging, und der hatte Jahrzehnte auf Englands Rennbahnen als Steward fungiert.

Die Rennleitung in Lingfield ahnte offenbar nichts, denn es hatte keine Untersuchung gegeben, und auch die Presse hatte offensichtlich nichts mitbekommen, sonst hätten mir die Reporter im Presseraum ein paar knifflige Fragen gestellt, als ich nach dem fünften Rennen dort hineinschaute.

Aber für mich stand fest, dass Clare auf Bangkok Flyer eine Runde Rennskandal gespielt hatte.

[21] 2

Ich war Punkt acht im »Haxted Mill« und wählte einen ruhigen Ecktisch im Gastraum, obwohl man auch noch draußen essen konnte, am Ufer des Eden. Es war ein ungewöhnlich warmer Septembertag gewesen, aber jetzt nach Sonnenuntergang kühlte es rasch ab.

Clare kam um zehn nach acht in verwaschener blauer Jeans und einem rosa Poloshirt.

»Tschuldige die Verspätung, Marky.« Sie setzte sich mir gegenüber.

»Macht nichts. Was trinkst du?«

»Bitzelwasser.«

»Du kannst bei mir übernachten, wenn du was trinken willst.«

»Nein, danke. Ich muss zurück. Morgen früh hab ich Training, dann muss ich zur Rennbahn.«

»Newmarket?«, fragte ich.

Sie nickte. »Das Cesarewitch Trial und zwei andere Ritte.«

»Die seh ich mir dann im Fernsehen an, ich muss nach Newbury.«

Eine Kellnerin brachte die Speisekarten, und ich bestellte eine große Flasche Mineralwasser mit Kohlensäure.

[22] »Lass dich durch mich von nichts abhalten«, sagte Clare.

»Keine Sorge. Zum Essen trink ich Wein.«

Wir schauten schweigend in die Speisekarte.

»Wie geht’s Mum und Dad?«, fragte ich

»Gott, grauenhaft wie immer. Die werden alt.«

Die Kellnerin kam mit dem Wasser und schenkte uns ein.

»Haben Sie schon gewählt?«, fragte sie.

»Für mich nur den Schellfisch«, sagte Clare. »Und ohne den Kartoffelbrei.«

»Keine Vorspeise?«, fragte ich.

»Nein, danke. Ich muss morgen fünfzig und ein Viertel Kilo bringen.«

»Wow!«, sagte ich. »Das ist wenig.«

»Verdammt wenig.«

»Ich nehme das Steak«, sagte ich der geduldigen Bedienung. »Halb durch, aber keine Pommes frites.« Ich konnte schlecht Fritten essen, wenn Clare dabei neidisch zuschaute. »Und ein Glas roten Bordeaux bitte.«

Die Kellnerin nahm die Speisekarten an sich und ging.

»Ich fand’s wirklich deprimierend zu Hause«, sagte Clare.

»Warum?«

»Dad hat einfach kein bisschen Schwung mehr, und mit Mum steht’s kaum besser. Ehrlich, Dad wird von Tag zu Tag griesgrämiger.«

»Du sagst ja selbst, sie werden alt. Dad wird nächsten Monat achtundsiebzig, und Mum ist auch nur zwei Jahre jünger.«

[23] Unsere Eltern waren Mitte vierzig gewesen, als sie uns überraschend bekamen. Wir hatten drei wesentlich ältere Geschwister.

»Altern ist wirklich das Letzte«, sagte Clare. »Für mich kommt Altwerden nicht in Frage.«

»Es ist besser als die Alternative.«

»Findest du?«, fragte Clare. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich mal nicht mehr reite. Dann hätte ich auch keine Lust mehr zu leben.«

»Lester Piggott war fast sechzig, als er aufgehört hat.«

»Ich weiß. Und Scobie Breasley war bei seinem zweiten Derbysieg zweiundfünfzig. Das hab ich nachgesehen.«

Gott, dachte ich, sie macht sich wirklich schon Gedanken übers Karriereende, dabei ist sie gerade mal einunddreißig. Wenn Jockeys erst anfangen, an ihren Abgang zu denken, bleiben sie meiner Erfahrung nach nicht mehr lange dabei. Fünf Jahre noch, sagen viele und hören nach knapp fünf Monaten auf, wenn nicht schon nach fünf Wochen oder noch früher.

Die Bedienung brachte mir den Wein und bot uns Brot an, doch wir lehnten beide ab.

»Und das Haus kommt auch in die Jahre«, sagte Clare.

»Das ist wohl nicht zu ändern.« Dem Stein unterm Giebel zufolge stand es seit 1607.

»Du weißt, wie ich das meine«, antwortete sie. »Es braucht ein bisschen liebevolle Pflege.«

»Frische Farbe um die Fenster.« Ich nickte. »Aber das kann Dad nicht mehr selbst machen. Er mag ja noch [24] gesund sein, aber in dem Alter sollte man eher nicht mehr auf eine Leiter steigen.«

»Umziehen sollten sie«, sagte Clare entschieden. »Entweder sich was Kleineres suchen oder in ein Seniorenheim gehen. Das habe ich ihnen auch gesagt.«

»Und sie haben’s bestimmt nicht gern gehört.«

»Nein«, gab sie zu. »Dad war verärgert – wie üblich. Aber sie müssen mal praktisch denken. Das Haus ist zu groß. Ich finde, sie sollten in ein Heim gehen, solange sie noch können.«

»Unsinn«, sagte ich. »Das brauchen sie noch nicht. Wo sollen sie denn auch ihr ganzes Zeug hintun?«

»Meine Sorge ist, wenn einer von ihnen stirbt, was aus dem anderen wird. Das Haus ist für sie beide schon zu groß, erst recht für einen. Der müsste dann umziehen.«

»Das ist hoffentlich noch Jahre hin. Darum können wir uns dann immer noch kümmern.«

»Typisch für dich«, sagte Clare und wies mit ihrem langen linken Zeigefinger auf meine Brust. »Immer den Kopf in den Sand und stillhalten.«

»Das ist nicht fair«, erwiderte ich.

»Doch«, sagte sie trotzig. »Immer schiebst du alles vor dir her. Deshalb hast du auch noch die grässliche Mietwohnung in Edenbridge.«

»Die du mal gut fandest«, begehrte ich auf.

»Mit neunzehn, ja, aber das Leben geht weiter. Du hättest dir längst ein Haus kaufen sollen. Inzwischen verdienst du doch wohl genug.«

Sie hatte recht. Wie meistens.

[25] Unser Essen kam, und wir aßen eine Zeitlang schweigend.

»Was macht die Liebe?«, fragte Clare schließlich.

»Brauchst du nicht zu wissen«, antwortete ich lachend. »Und bei dir?«

»Einfach wunderbar. Ich habe einen Neuen. Drei Monate jetzt. Was für ein Liebhaber!«

Sie grinste und musste lachen. Offensichtlich machte er sie glücklich.

»Wer ist es denn?«, fragte ich und beugte mich vor.

»Das brauchst du nicht zu wissen.«

»Komm schon, Clare. Sag!«

»M-m«, machte sie und strich mit den Fingern über ihren Mund, als zöge sie einen Reißverschluss zu. Allerdings öffnete sie ihn dann, um ein Stück Schellfisch zu verspeisen. »Siehst du Sarah noch?«

»Ja.«

Sie sah auf ihren Teller und schüttelte den Kopf.

»Und was soll das bedeuten?«, fragte ich.

»Mark, es wird höchste Zeit, dass du dir eine richtige Freundin zulegst.«

»Ich hab eine.«

»Sarah ist keine richtige Freundin. Sie ist die Frau eines anderen.«

»Sie arbeitet dran«, verteidigte ich mich.

»Und zwar seit fünf Jahren. Wann begreifst du endlich, dass sie Mitchell niemals verlässt? Sie kann sich das nicht leisten.«

»Lass ihr Zeit.«

»Herrgott, Mark, wie schlapp du bist. Rühr dich doch [26] ausnahmsweise mal. Sag ihr, du bist das Warten leid – jetzt oder nie! Du vergeudest dein Leben.«

»Große Worte«, gab ich zurück. »Dein Liebesleben ist auch nicht gerade beispielhaft.« In den milden Worten meines Vaters ausgedrückt, hatte Clare sich mit einer ganzen Reihe »unpassender junger Männer« abgegeben, und allzu jung waren sie auch nicht immer gewesen. »Was für einen Freak hast du dir denn jetzt ausgesucht?«

»Das geht dich wie gesagt nichts an«, entgegnete sie schroff und ohne den Humor von vorhin. »Aber wenigstens lebe ich keine Lüge.«

»Ach nein?«

»Was soll denn das wieder heißen?«

»Schon gut.«

Wir aßen schweigend weiter.

Wieso stritten wir uns nur noch? Als Kinder waren wir uns so vertraut gewesen, dass wir wussten, was der andere dachte, ohne dass er es aussprach. Aber inzwischen war von dieser Zwillingsintuition kaum noch etwas übrig, jedenfalls bei mir. Ich fragte mich, ob sie meine Gedanken noch lesen konnte. Wenn ja, würden sie ihr wohl nicht gefallen.

Die Bedienung kam wieder und sammelte unsere Teller ein.

»Nachtisch?«, fragte sie.

»Nur Kaffee«, sagte Clare. »Schwarz.«

»Für mich auch, bitte.«

Die Bedienung ging, und wir schwiegen uns wieder verlegen an.

»Guter Sieg auf Scusami«, sagte ich.

[27] »Ja.« Clare hielt den Blick gesenkt.

»Meinst du, er gewinnt auch das Guineas?«

»Das bezweifle ich. Reading Glass, der Hengst von Peter Williams, wird schwer zu schlagen sein. Aber Scusi ist gut, und als erste Reiterin ein Classic zu gewinnen wäre schön.« Sie sah versonnen an die Decke. »Wenigstens irgendwann mal.«

»Und du reitest ihn?«

»Vielleicht«, sagte sie vorsichtig. »Das liegt bei Geoff.« Scusami wurde von Geoffrey Grubb in Newmarket trainiert.

Der Kaffee kam.

»Schade, das mit Bangkok Flyer«, sagte ich.

Clare sah schweigend auf ihren Kaffee.

»Findest du nicht?«, hakte ich nach.

»Ich hatte vergessen, dass du den Kommentar machst.«

»Du streitest es also nicht ab?«, fragte ich.

Sie schwieg wieder.

»Warum, Clare?«

»Das ist kompliziert.«

»Was soll daran kompliziert sein?«, fragte ich ungläubig. »Du hast das Rennen manipuliert.«

»Red keinen Blödsinn.« Sie hob kurz den Kopf. »Ich hab nichts manipuliert, ich hab nur nicht gewonnen.«

»Lass die Haarspalterei«, sagte ich scharf.

»Hu. Dann setz du dich nicht aufs hohe Ross.«

»Sei mal ernst, Clare.«

»Warum sollte ich?«

»Weil es eine ernste Sache ist. Es könnte dich deine Lizenz kosten und deinen Lebensunterhalt.«

[28] »Nur, wenn ich erwischt werde.«

»Ich hab dich erwischt.«

»Ja, und was fängst du damit an?«

Ich sah ihr ins Gesicht. Natürlich kannte sie die Antwort schon.

»Gar nichts. Aber wenn du’s noch mal machst, fällt das auch noch anderen auf.«

»Bis jetzt nicht.«

Ich sah sie ungläubig an. »Soll das heißen, du hast das heute nicht zum ersten Mal gemacht?«

Sie lächelte. »Natürlich nicht.«

»Clare!«

Das Paar am nächsten Tisch sah zu uns herüber. Ich redete leiser, aber noch genauso wütend weiter.

»Willst du damit sagen, du verlierst regelmäßig Rennen, die du gewinnen solltest?«

»Nicht gerade regelmäßig. Aber es ist schon vorgekommen.«

»Wie oft?«

Sie schürzte die Lippen. »Drei- oder viermal. Vielleicht auch fünf.«

»Und wieso?«

»Ich sag doch, es ist kompliziert.«

Mir fehlten die Worte. Sie redete, als wäre nichts dabei. Hätte die britische Rennsportbehörde gewusst, dass sie drei, vier oder fünf Mal Pferde zurückgehalten hatte, wäre ihr wahrscheinlich für immer die Lizenz entzogen worden, und sie dürfte nie mehr eine Rennbahn betreten.

Aber sie hatte die Ruhe weg.

[29] »Mach es jedenfalls nie wieder«, sagte ich in meinem gebieterischsten Tonfall.

»Und wenn doch?« Ihr Spott war nicht zu überhören.

»Bitte, Clare. Lass das. Begreifst du denn nicht? Ich liebe dich und möchte nicht, dass du alles zerstörst, was du dir aufgebaut hast.«

Ich überzeugte mich mit einem Blick, dass wirklich niemand zuhörte.

»Spiel dich nicht so auf«, sagte Clare.

Ich war wie vor den Kopf geschlagen.

»Ich musste mich in meinem Job durchbeißen«, sagte sie grimmig, über den Tisch vorgebeugt. »Man bekommt nichts, aber auch gar nichts geschenkt. Jockeydame – ha! Dass ich nicht lache. Die halbe Rennwelt findet, wir können nichts und sollten das Reiten den Männern überlassen, und die andere Hälfte sind geile alte Böcke, die sich uns mit knallenger Hose und Peitsche in der Hand vorstellen. Vor allen musste ich katzbuckeln, und ich hab Blut geschwitzt, um dahin zu kommen, wo ich heute bin, und jetzt hab ich sie endlich in der Hand.«

»Geht es darum?«, fragte ich. »Die Oberhand zu haben?«

»Und ob. Die Trainer und Besitzer, die muss man im Griff haben.«

Ein Machtspiel also, dachte ich. Wie lautet noch der alte Spruch? Macht korrumpiert, und absolute Macht korrumpiert absolut. Macht über andere war ein gefährliches Konzept.

[30] »Ich dachte, ich kenne dich«, sagte ich langsam. »Das war ein Irrtum.«

»Ich habe mich geändert, und ich bin härter geworden. Ich musste die Rutschstange hochklettern, während man mir in die Fresse getreten hat. Mir ist der Erfolg nicht in den Schoß gefallen.«

Wir wussten beide, was sie meinte.

Ich war zur rechten Zeit am rechten Ort gewesen.

Acht Jahre war es jetzt her, dass der Führringmoderator von Racing TV auf der Rennbahn Fontwell Park unmittelbar vor der Sendung einen Herzanfall erlitten hatte. Seine Co-Moderatorin, die angesehene Frau eines kommenden Jungtrainers, entpuppte sich als die Geliebte des Moderators und bestand darauf, mit ihm zur Klinik zu fahren.

Ich war nur als Gast dort, weil ich mich bei einer Benefizauktion leichtsinnigerweise erboten hatte, einen Tag mit dem Team von Racing TV zu verbringen. Aber ehe ich mich’s versah, erbot ich mich auch noch freiwillig, die Moderation zu übernehmen.

»Kennen Sie sich mit Pferden aus?«, fragte der aufgeregte Regisseur, der sich büschelweise die ohnehin schütteren Haare ausriss.

»Ja.«

Und das stimmte. Meine Schwester hatte zu Recht behauptet, ich ließe mich treiben. Seit meinem kurzen Assistenzgastspiel in Lambourn war ich keiner regulären Arbeit nachgegangen, sondern hatte von Pferdewetten gelebt und entsprechend viel Zeit darauf verwendet, die Formen zu studieren. Mit Pferden kannte ich mich aus.

[31] »Gut. Dann machen Sie das erste Rennen«, hatte der Regisseur gesagt. »Die Vertretung, die ich angefordert habe, kann vor zwei nicht hier sein.«

Ich hatte locker in die Kamera gesprochen, die einzelnen Pferde vorgestellt und sogar den Sieger getippt. Als der Stellvertreter kam, hatte er sich einfach hingesetzt und mir den ganzen Nachmittag zugesehen, und ich sah sogar noch in drei anderen Rennen den Sieger voraus.

»Was haben Sie morgen vor?«, hatte der Regisseur beim Zusammenpacken gefragt.

»Nichts«, antwortete ich wahrheitsgemäß.

»Wir sind in Wincanton. Lust auf einen Job?«

Seitdem hatte ich nicht mehr zurückgeschaut, zumal ich dann auch in Windsor noch für den Rennkommentator einspringen durfte, der durch einen schweren Unfall auf der Schnellstraße aufgehalten worden war.

Inzwischen kommentierte ich auf Rennbahnen, machte Führringmoderation für Racing TV und moderierte die Rennsportübertragungen auf Channel 4, dem britischen Rennsportsender fürs Antennenfernsehen. Drei verschiedene Sachen also, und trotzdem war Clare der Meinung, ich hätte immer noch keine »richtige« Arbeit und würde bald bei etwas anderem landen.

Vielleicht hatte sie recht.

»Früher warst du mir lieber«, sagte ich ihr.

»Ach, du lieber Gott!«, fuhr sie auf. »Fang doch nicht schon wieder damit an. In meiner Welt geht es um Wettbewerb. Es ist mein Beruf. Ich muss kämpfen. Sonst wird auf mir rumgetrampelt.«

»Aber musst du andauernd kämpfen?«

[32] »Was soll das denn heißen?«, fragte sie.

»Ich habe das Gefühl, wenn wir uns unterhalten, geht’s nur noch darum, Punkte zu sammeln.«

»Das ist doch lächerlich.«

Ich widersprach ihr nicht. Es war sinnlos. Egal was ich sagte, sie schmetterte es ab. Verlieren kam für sie nicht in Frage, oder vielmehr nur, wenn sie mit Absicht verlor.

Ich zahlte, und wir gingen zusammen zum Parkplatz.

»Könnte ich dich irgendwie davon abhalten, es noch mal zu machen?«

»Wahrscheinlich nicht.«

»Ich könnte dich anzeigen.«

»Das sagst du nur so.«

»Darauf würde ich mich nicht verlassen.«

»Hör doch mit dem Stuss auf, Mark. Du weißt ganz genau, dass du’s keinem erzählst. Schon, weil es auch auf dich ein schlechtes Licht wirft. Also bist du blind und stumm.«

»In meinem Beruf geht das schlecht.«

»Dann drückst du eben ein Auge zu.«

»Im Ernst, Clare, wenn du das noch mal bei einem Rennen machst, das ich kommentiere, rede ich nie wieder ein Wort mit dir.«

Sie öffnete die Tür ihres silbernen Audi TT.

»Dein Pech, nicht meins.«

Sie stieg ein und schlug die Tür zu.

Wieder war ich sprachlos. Vielleicht hätte ich das nicht so sagen sollen, aber mit einer derart schroffen Antwort hatte ich nicht gerechnet.

[33] Was war aus meiner reizenden Zwillingsschwester geworden?

Sie jagte den Motor hoch und schoss mit auf dem Kies mahlenden Hinterrädern davon, ohne zu winken oder mir auch nur einen Blick zuzuwerfen.

Als ich nach Hause in meine Wohnung kam, klingelte das Telefon im Flur, und die Anruferkennung zeigte mir, dass es Clare war, die von ihrem Handy aus anrief.

Was wollte sie mir wohl jetzt noch an den Kopf werfen? Vielleicht war ihr noch etwas besonders Verletzendes eingefallen.

Ich ließ es klingeln.

Schließlich schaltete sich mein Anrufbeantworter ein, und ich stand im Dunkeln da und wartete auf die Nachricht. Es kam keine. Clare hatte aufgelegt.

Das Handy in meiner Hosentasche vibrierte, aber ich ließ den Anruf auf die Mailbox gehen.

Ich wollte nicht mit ihr reden. Nicht noch mehr gekränkt werden. Auch wenn sie vorhatte, sich zu entschuldigen, was ich nicht annahm, konnte sie warten. Es schadete nichts, wenn sie erst mal ein schlechtes Gewissen bekam.

Ich knipste das Licht an und sah auf die Uhr. Erst zwanzig nach neun. Statt noch beim gemütlichen Abendessen mit meiner lieben Zwillingsschwester Familienklatsch und Neuigkeiten auszutauschen, war ich anderthalb Stunden nach dem Losfahren schon wieder daheim.

Ich war unglücklich und fühlte mich betrogen.

Ich betrat mein kombiniertes Wohn-Ess-Koch-und- Arbeitszimmer.

[34] Vielleicht hatte Clare ja recht mit der Wohnung, und es war Zeit, mir etwas Neues zu suchen.

Wir hatten sie damals über eine studentische Wohnungsvermittlung gefunden, und wenn ich sie mir jetzt ansah, musste ich zugeben, dass ihr das Studentenflair geblieben war.

Einmal hatte ich den Vermieter zum Renovieren überredet, aber das war rund acht Jahre her, und die billige Farbe, die er verwendet hatte, war rissig geworden und verblasst. Ich hätte ihn bitten müssen, es noch mal zu machen, aber die ganze damit verbundene Räumerei schreckte mich ab. Da nahm ich lieber ein paar Narben an der Wand und den Gilb an der Decke in Kauf.

Ich setzte mich an den Tisch und klappte meinen Laptop auf, um mir auf der Homepage der Racing Post das Programm für den morgigen Renntag in Newbury anzusehen, wo ich für Channel 4 moderieren sollte.

Sosehr ich auch versuchte, mich auf die Pferde zu konzentrieren – während ich ihre Form nachschlug und mir Notizen machte, kehrten meine Gedanken immer wieder zu Clare und unserem Gespräch beim Essen zurück.

Wie konnte sie nur so dumm sein? Und wozu? Nahm ich ihr wirklich ab, dass sie Pferde zurückhielt, bloß um mit solchen Spielchen ihre Macht über Trainer und Besitzer auszukosten? Da musste mehr dahinterstecken. Sicher gab es auch eine finanzielle Seite.

»Es ist kompliziert«, hatte sie gesagt.

Sah ganz so aus.

Wieder klingelte mein Telefon, und wieder nahm ich [35] nicht ab. Bestimmt war es Clare, aber ich war wütend und aufgewühlt und wollte nicht mit ihr reden. Es hörte auf zu klingeln, und auch jetzt kam keine Nachricht.

Ich zwang mich, gedanklich zu den Pferden zurückzukehren, die am nächsten Tag in Newbury antraten, und ging eine Stunde lang systematisch alle acht Rennen durch. Zwar wurden nur drei davon auf Channel 4 live übertragen, da ich aber nach wie vor mein Einkommen mit Wettgewinnen aufzustocken suchte, hielt ich nach Pferden Ausschau, für die auf den Wettseiten im Internet besonders günstige Quoten angeboten wurden.

Ein Pferd im dritten Rennen, Raised Heartbeat, war mit sieben Komma fünf zu eins notiert; mit anderen Worten, wenn ich £100 darauf setzte, konnte es mir £750 bringen bzw. £650 plus meinen Einsatz. Im amerikanischen System hieße das 13:2. Ich war mir sicher, dass das Pferd mit 6:1 oder gar 5:1 an den Start gehen würde. Wenn ich jetzt zum höheren Kurs eine Wette anlegte und sie morgen zur niedrigeren Quote »abwarf«, konnte ich praktisch zu null wetten. Siegte das Pferd dann, gewann ich einen kleinen Betrag, aber wenn es verlor, verlor ich nichts.

Diese Methode wandte ich seit einiger Zeit mit beträchtlichem Erfolg an. Aber narrensicher war sie nicht. Das Pferd konnte im Kurs steigen und meine Wette ziemlich unattraktiv machen. Abwerfen könnte ich sie dann zur Sicherheit zwar immer noch, aber ein finanzieller Verlust ließe sich nicht vermeiden, ob das Pferd siegte oder nicht.

Allerdings sah ich von Berufs wegen Woche für Woche, Jahr für Jahr immer wieder dieselben Pferde laufen, [36] und ich kannte sie besser als mancher andere. Meistens schätzte ich die Quotenentwicklung richtig ein.

Wenn die Quote tatsächlich auf etwa fünf zu eins fiel, würde ich die Wette abwerfen, das heißt, ich würde die Wette eines Dritten annehmen, der £100 setzte, um £500 zu gewinnen. Siegte das Pferd dann, würde ich £650 aus meiner Wette gewinnen und dem Drittwetter die £500 auszahlen, hätte also £150 verdient. Verlor das Pferd, wäre ich meine £150 Einsatz los, würde dafür aber die £150 des Drittwetters behalten. Keine Win-Win-Lösung zwar, aber eine verlustfreie.

Das Telefon klingelte noch einmal. Ich sah auf die Uhr. Zehn nach elf. Fast wäre ich rangegangen, aber ich hatte das Essen noch nicht ganz verwunden und wollte nicht noch einen Streit. Wir unterhielten uns besser morgen früh, wenn wir uns beide etwas beruhigt hatten.

Ich klappte den Laptop zu und ging zum Schlafen nach nebenan.

Als Clare ausgezogen war, um nach Newmarket zu gehen, war ich vom kleineren in das größere Schlafzimmer umgezogen, sonst hatte ich in der Wohnung nichts verändert. Jetzt lag ich auf dem Doppelbett im Dunkeln wach und dachte an die Monate, die wir zusammen hier gewohnt hatten.

Es war ohne Zweifel die glücklichste Zeit meines Lebens gewesen. Wir waren dem Alptraum zu Hause entkommen, dem Regiment eines Vaters, der allein darüber bestimmte, was wir durften und was nicht, und uns sogar verboten hatte, zur Neujahrsparty eines Freundes zu [37] gehen, obwohl wir schon über achtzehn waren. Als wir trotzdem hingingen, war bei unserer Rückkehr die Haustür verriegelt gewesen. Umsonst hatten wir geklingelt und an die Tür gewummert, und noch in derselben Nacht, die wir zitternd in Clares Mini verbrachten, planten wir unsere Flucht.

Die Wohnung hier war uns wie ein Palast vorgekommen – niemand, der uns anschrie, wenn wir das Licht anließen, niemand, dem wir über jede wache Minute Rechenschaft ablegen mussten.

Könnte es doch noch einmal so schön sein!

Vielleicht sollte ich Clare doch anrufen.

Ich knipste die Nachttischlampe an und sah auf die Uhr. Viertel vor zwölf. Konnte ich um diese Zeit noch anrufen? Sie hatte es vor gut einer halben Stunde zuletzt versucht. Ob sie schon schlief?

Ich rief trotzdem an; wenn sie nicht gestört werden wollte, konnte sie ihr Handy ja abschalten.

Die Mailbox meldete sich.

»Clare, hier ist Mark«, sagte ich. »Es tut mir leid, dass der Abend so blöd gelaufen ist. Ruf mich morgen früh bitte an. Alles Liebe. Tschüs.«

Ich legte auf und schaltete mein Telefon ab. Ich musste schlafen und wollte nicht, dass sie mich in der Nacht noch anrief.

Ich erwachte davon, dass jemand gegen die Wohnungstür hämmerte.

Auf meinem Wecker war es gerade mal drei Uhr früh.

Das Hämmern ging weiter.

[38] Ich machte Licht und nahm den Bademantel vom Haken an der Schlafzimmertür.

»Schon gut, ich komm ja schon«, rief ich im Flur.

Verdammt, Clare, dachte ich. Geh nach Hause.

Ich öffnete die Tür, aber es war nicht Clare. Jemand leuchtete mir mit der Taschenlampe mitten ins Gesicht und blendete mich.

»Mr. Shillingford?«, fragte er in amtlichem Ton. »Mr. Mark Shillingford?«

»Ja.« Ich beschirmte die Augen und versuchte, an dem Licht vorbeizuschauen. »Was gibt’s?«

»Polizei Kent«, sagte er. »Constable Davis.« Er hielt mir seinen Dienstausweis hin.

Es überlief mich kalt. Polizeibesuch zu einer solchen Zeit konnte kaum etwas Gutes bedeuten.

»Ich habe leider eine sehr schlechte Nachricht für Sie, Sir«, fuhr der Polizist fort. »Es geht um Ihre Schwester, Miss Clare Shillingford.« Er hielt inne. »Sie ist tot.«

[39] 3

»Tot?«, fragte ich, die Stimme wie losgelöst vom Körper.

»Ja, Sir«, sagte Constable Davis. »Leider.«

»Wo ist sie?«, fragte ich krächzend.

Mir war flau, und ich schwankte ein wenig.

»Dürfen wir reinkommen, Sir?« Mit einem Schritt war er bei mir und stützte mich am Ellbogen.

Nach ihm trat eine Polizeibeamtin ein, und gemeinsam führten sie mich zu dem Sofa im Wohnzimmer.

»Mach etwas Tee mit Zucker, Liz«, sagte der Polizist zu seiner Kollegin.

Ich sah zu, wie sie in die Küchenecke ging und in den Schränken nach Tassen suchte.

»Oben rechts«, sagte ich automatisch.

Die Zeit schien stillzustehen, bis das Wasser kochte und mir eine Tasse mit heißem Tee in die Hand gedrückt wurde.

»Trinken Sie mal, Sir«, sagte der Polizist. »Das tut Ihnen gut.«

Beim ersten Schluck verzog ich den Mund. »Ich mag keinen Zucker.«

»Ausnahmsweise, Sir. Trinken Sie bitte.«

Ich trank etwas von dem süßen Gebräu, aber wesentlich besser ging es mir danach auch nicht.

[40] »Wo ist sie?«, fragte ich noch einmal.

»Verzeihung, Sir«, sagte er, »wie meinen Sie das?«

»Wo sie ist, will ich wissen. Ich muss zu ihr.«

»Alles zu seiner Zeit, Sir. Erst müssen wir Ihnen ein paar Fragen stellen.«

Ich sah ihn bloß an.

»Sind Sie Miss Shillingfords nächster Angehöriger?«, fragte die Polizistin.

»Das weiß ich nicht«, antwortete ich. »Ihre Eltern – unsere Eltern – leben noch. Sind sie das dann nicht?«

»Kein Ehemann?«, fragte sie. »Keine Kinder?«

»Nein.«

Ich trank noch etwas Zuckertee.

»Wie haben Sie mich gefunden?«, fragte ich.

Polizist und Polizistin sahen sich an.

»Wir hatten Ihre Adresse«, sagte der Mann.

»Woher?«

»Sie befand sich unter Miss Shillingfords Sachen.«

»Wo ist es passiert?«, fragte ich.

»London Mitte. In der Park Lane.«

Ich sah ihn an. »Das ist ja seltsam.«

»Wieso, Sir?«

»Sie würde von hier nach Newmarket normalerweise nicht über die Park Lane fahren.«

»War sie denn heute Abend hier?«

»Ja«, sagte ich. »Oder vielmehr etwas außerhalb. Wir waren im »Haxted Mill« essen.«

Der Polizist machte sich eine Notiz.

»Sie ist aber nicht unter Alkoholeinfluss gefahren, falls Sie das denken. Sie hat nur Mineralwasser getrunken.«

[41] »Wann ist sie losgefahren?«, fragte er.

»Ungefähr um zehn nach neun«, antwortete ich. Ich dachte an die mahlenden Räder ihres Sportwagens auf dem Parkplatz zurück. »Ich hab ihr schon immer gesagt, dass der Wagen mal ihr Tod ist.«

»Nein, nein, Sir«, fiel die Polizistin ein. »Sie ist nicht bei einem Verkehrsunfall gestorben.«

Ich starrte sie an.

»Sondern?«, fragte ich.

Wieder warfen die beiden Beamten sich einen Blick zu.

»Offenbar ist Miss Shillingford vom Balkon eines Hotels gestürzt.«

Ich saß mit offenem Mund da.

»Wo?«, fragte ich schließlich. »In welchem Hotel?«

»Im Hilton an der Park Lane.«

»Und wann?«

»Gegen halb zwölf.«

O Gott! Zwanzig Minuten vorher hatte sie noch versucht, mich anzurufen.

»Woher wissen Sie, dass sie es ist?«, fragte ich verzweifelt. »Es muss jemand anders sein.«

»Mir wurde gesagt, Sir, dass es sich um Miss Clare Shillingford handelt.«

»Wie kann man denn eine Verwechslung ausschließen?«

»Das weiß ich nicht, Sir. Ich weiß nur, es soll hundertprozentig Miss Shillingford sein. Vielleicht gab es Zeugen.«

»Aber es war ein Unfall, ja?«, fragte ich hilflos.

[42] »Die Untersuchung läuft noch. Der Coroner wird die Todesursache feststellen.«

Wie er das sagte, war mir irgendwie kein Trost.

»Wollen Sie damit andeuten, dass es kein Unfall war?«

»Wie gesagt, Sir, das wird die gerichtliche Untersuchung ergeben.«