Titelangaben



Walter Benjamin

 

 

Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit

 


Kleine Geschichte der Photographie
















Walter Benjamin


Walter Benjamin (1892 − 1940) war ein deutscher Publizist, Philosoph, und Kulturkritiker. Er gehörte als undogmatischer Marxist zum erweiterten Kreis der Frankfurter Schule um Max Horkheimer und Theodor W. Adorno.

 

Benjamin war das älteste Kind einer in Berlin ansässigen deutsch-jüdischen Familie. Er studierte in Freiburg im Breisgau Philosophie, Germanistik und Kunstgeschichte und promovierte im Jahr 1919 in Bern über die Kunstkritik in der deutschen Romantik. In den frühen Zwanziger Jahren arbeitete er als Schriftsteller und Publizist in Berlin und zog 1923/24 nach Frankfurt am Main, um sich dort zu habilitieren. Hier lernte er unter anderem Theodor W. Adorno, einen der Protagonisten der Frankfurter Schule, und Siegfried Kracauer kennen.

 

Nach der Rücknahme seines Habilitationsgesuchs arbeitete Benjamin zunächst als Übersetzer in Paris, danach als Publizist und Kulturkritiker in Berlin. Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten ging er 1933 nach Paris ins Exil, wo er auch mit Hannah Arendt in Kontakt stand. In den Jahren des Pariser Exils entstand Benjamins Passagen-Werk, das er allerdings nicht abschloss. Zudem schrieb er in dieser Zeit seinen berühmten Aufsatz „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“, der 1936 erschien.


Nach Kriegsausbruch und dem Vormarsch der deutschen Truppen flüchtete Benjamin nach Marseille, bevor er im September 1940 versuchte, über Spanien und Portugal in die USA auszureisen. Angekommen im spanischen Portbou, einem Ort hinter der französischen Grenze, drohte ihm die Abschiebung an die deutschen Behörden. Daraufhin nahm er sich in der Nacht vom 26. auf den 27. September 1940 das Leben.




„Tagtäglich macht sich unabweisbarer das Bedürfnis geltend ...“


„Tagtäglich macht sich unabweisbarer das Bedürfnis geltend, des Gegenstandes aus nächster Nähe im Bild, vielmehr im Abbild, in der Reproduktion, habhaft zu werden. Und unverkennbar unterscheidet sich die Reproduktion, wie illustrierte Zeitung und Wochenschau sie in Bereitschaft halten, vom Bilde. Einmaligkeit und Dauer sind in diesem so eng verschränkt wie Flüchtigkeit und Wiederholbarkeit in jener. Die Entschälung des Gegenstandes aus seiner Hülle, die Zertrümmerung der Aura, ist die Signatur einer Wahrnehmung, deren „Sinn für das Gleichartige in der Welt“ so gewachsen ist, dass sie es mittels der Reproduktion auch dem Einmaligen abgewinnt. So bekundet sich im anschaulichen Bereich was sich im Bereich der Theorie als die zunehmende Bedeutung der Statistik bemerkbar macht. Die Ausrichtung der Realität auf die Massen und der Massen auf sie ist ein Vorgang von unbegrenzter Tragweite sowohl für das Denken wie für die Anschauung.“







Was Sie über diese Texte wissen sollten


Obwohl Walter Benjamins Aufsätze „Kleine Geschichte der Photographie“ (1931) und „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ (1936) zum Zeitpunkt ihrer Erstveröffentlichung kaum Beachtung fanden, gehören sie längst zu den Klassikern der modernen Medien- und Kulturtheorie. Bekanntheit und Bedeutung erhielten die beiden Schriften vor allem mit dem in den siebziger und achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts wachsenden Einfluss der Frankfurter Schule, die im Gefolge der Studentenrevolte die akademische Forschung in Deutschland und Europa mitbestimmte.

 

Im Rahmen der Versuche, eine materialistische Ästhetik der modernen Medien zu begründen, spielte Benjamin häufig die Rolle eines philosophischen Antipoden zu den vorherrschenden Positionen von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, die in der „Dialektik der Aufklärung“ (1947) das System der modernen „Kulturindustrie“ als einen den Gesetzen der Ökonomie folgenden „Massenbetrug“ beschreiben. Den Gegenstand dieser Analysen bildete dabei vor allem die Filmindustrie Hollywoods. Im Gegensatz zur „authentischen Kultur“ zerstört deren ästhetische Produktionen die Phantasie und nimmt den Menschen das Denken ab. Kunst wird zur Ware, der Mensch zum passiven Konsumenten.

 

Während bei Adorno und Horkheimer die veränderten technischen Möglichkeiten gegenüber der Ökonomie eine untergeordnete Rolle für das sich verändernde Wesen der Kultur beziehungsweise Kunst spielten, sieht Benjamin gerade in der neuen (Reproduktions-)Technik den Treiber für einen grundlegenden Wandel der Kunst. Photographie und Film treten für ihn nicht einfach neben die traditionellen Künste, sondern verändern die Kunst als solche fundamental. Sie verliert dabei ihre Aura, Echtheit und Tradition lösen sich als Bestimmungsmomente des Kunstwerks auf. Im Verlust des „Hier“ und „Jetzt“ des klassischen Kunstwerks wandelt sich nach Benjamin die Definition dessen, was Kunst ist, was neue kunsttheoretische Begriffe für ihre Beschreibung erforderlich macht: „Sie [die Thesen über die Entwicklungstendenzen der Kunst] setzen eine Anzahl überkommener Begriffe – wie Schöpfertum und Genialität, Ewigkeitswert und Geheimnis – beiseite – Begriffe, deren unkontrollierte (und augenblicklich schwer kontrollierbare) Anwendung zur Verarbeitung des Tatsachenmaterials in faschistischem Sinn führt“, so Benjamin in seinem Kunstwerk-Aufsatz.

 

Ähnlich wie in der „Dialektik der Aufklärung“ versucht also auch Benjamin, der Frage nachzugehen, wie sich die Werte und die vermeintlichen Träger der europäischen Zivilisation fast widerstandlos in den Dienst der Barbarei stellen ließen. Für ihn sind damit die Begriffe der traditionellen Ästhetik desavouiert und bieten angesichts der technischen Entwicklungen auch keine angemessene Definitionsmacht für das Künstlerische mehr. Pointiert interpretiert reihte sich damit für Benjamin auch die Vorstellung Adornos von einer „authentischen Kultur“ nur in die Reihe der weinerlichen „Gemeinplätze“ zum künstlerischen Wert des Film ein: „Was er [Duhamel] dem Film vor allem verdenkt, ist die Art des Anteils, welchen er bei den Massen erweckt. Er nennt den Film ‚... einen Zeitvertreib für Heloten, eine Zerstreuung für ungebildete, elende, abgearbeitete Kreaturen, die von ihren Sorgen verzehrt werden … ein Schauspiel, das keinerlei Konzentration verlangt, kein Denkvermögen voraussetzt …, kein Licht in den Herzen entzündet und keinerlei andere Hoffnung erweckt als die lächerliche, eines Tages in Los Angeles ‚Star‘ zu werden.‘ Man sieht, es ist im Grunde die alte Klage, dass die Massen Zerstreuung suchen, die Kunst aber vom Betrachter Sammlung verlangt. Das ist ein Gemeinplatz. Bleibt nur die Frage, ob er einen Standort für die Untersuchung des Films abgibt. Hier heißt es, näher zusehen. Zerstreuung und Sammlung stehen in einem Gegensatz, der folgende Formulierung erlaubt: Der vor dem Kunstwerk sich Sammelnde versenkt sich darein; er geht in dieses Werk ein, wie die Legende es von einem chinesischen Maler beim Anblick seines vollendeten Bildes erzählt. Dagegen versenkt die zerstreute Masse ihrerseits das Kunstwerk in sich.“

 

Wie sich der Charakter der Kunst durch die moderne Technik von ästhetischen Kategorien hin zu sozialen Funktionen verschiebt, hatte Benjamin bereits in seinem Aufsatz „Kleine Geschichte der Photographie“ aus dem Jahr 1931 beschrieben, der in mancher Hinsicht ein wichtiger Vorläufertext seines „Kunstwerk“-Aufsatzes ist. Schon hier schreibt er: „‚Es gibt in unserem Zeitalter kein Kunstwerk, das so aufmerksam betrachtet würde, wie die Bildnisphotographie des eigenen Selbst, der nächsten Verwandten und Freunde, der Geliebten“, hat schon im Jahre 1907 Lichtwark geschrieben und damit die Untersuchung aus dem Bereich ästhetischer Distinktionen in den sozialer Funktionen gerückt. Nur von hier aus kann sie weiter vorstoßen. Es ist ja bezeichnend, dass die Debatte sich da am meisten versteift hat, wo es um die Ästhetik der ‚Photographie als Kunst‘ ging, indes man beispielsweise dem so viel fragloseren sozialen Tatbestand der „Kunst als Photographie“ kaum einen Blick gönnte. Und doch ist die Wirkung der photographischen Reproduktion von Kunstwerken für die Funktion der Kunst von sehr viel größerer Wichtigkeit als die mehr oder minder künstlerische Gestaltung einer Photographie, der das Erlebnis zur ‚Kamerabeute‘ wird.“

 

Dieser Band richtet sich an Leser, die sich dafür interessieren, wie Benjamins Auffassungen zu Photographie und Film sich auf die moderne Medien- und Kulturtheorie ausgewirkt haben. Durch die Zusammenfassung beider Aufsätze in einem Band wird nicht nur die Originalität von Benjamins Denken, sondern auch die Entwicklung seiner Ideen, die er im „Kunstwerk“-Aufsatz entwickelt, nachvollziehbar.




Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit


Dritte und autorisierte Fassung, 1939

 

„Die Begründung der schönen Künste und die Einsetzung ihrer verschiedenen Typen geht auf eine Zeit zurück, die sich eingreifend von der unsrigen unterschied, und auf Menschen, deren Macht über die Dinge und die Verhältnisse verschwindend im Vergleich zu der unsrigen war. Der erstaunliche Zuwachs aber, den unsere Mittel in ihrer Anpassungsfähigkeit und ihrer Präzision erfahren haben, stellt uns in naher Zukunft die eingreifendsten Veränderungen in der antiken Industrie des Schönen in Aussicht. In allen Künsten gibt es einen physischen Teil, der nicht länger so betrachtet und so behandelt werden kann wie vordem; er kann sich nicht länger den Einwirkungen der modernen Wissenschaft und der modernen Praxis entziehen. Weder die Materie, noch der Raum, noch die Zeit sind seit zwanzig Jahren, was sie seit jeher gewesen sind. Man muss sich darauf gefasst machen, dass so große Neuerungen die gesamte Technik der Künste verändern, dadurch die Invention selbst beeinflussen und schließlich vielleicht dazu gelangen werden, den Begriff der Kunst selbst auf die zauberhafteste Art zu verändern.“

 

Paul Valéry: Pièces sur l’art. Paris [o. J.], p. 103/104 („La conquéte de l’ubiquité“).

 


Vorwort


Als Marx die Analyse der kapitalistischen Produktionsweise unternahm, war diese Produktionsweise in den Anfängen. Marx richtete seine Unternehmungen so ein, dass sie prognostischen Wert bekamen. Er ging auf die Grundverhältnisse der kapitalistischen Produktion zurück und stellte sie so dar, dass sich aus ihnen ergab, was man künftighin dem Kapitalismus noch zutrauen könne. Es ergab sich, dass man ihm nicht nur eine zunehmend verschärfte Ausbeutung der Proletarier zutrauen könne, sondern schließlich auch die Herstellung von Bedingungen, die die Abschaffung seiner selbst möglich machen.

 

Die Umwälzung des Überbaus, die viel langsamer als die des Unterbaus vor sich geht, hat mehr als ein halbes Jahrhundert gebraucht, um auf allen Kulturgebieten die Veränderung der Produktionsbedingungen zur Geltung zu bringen. In welcher Gestalt das geschah, lässt sich erst heute angeben. An diese Angaben sind gewisse prognostische Anforderungen zu stellen. Es entsprechen diesen Anforderungen aber weniger Thesen über die Kunst des Proletariats nach der Machtergreifung, geschweige die der klassenlosen Gesellschaft, als Thesen über die Entwicklungstendenzen der Kunst unter den gegenwärtigen Produktionsbedingungen. Deren Dialektik macht sich im Überbau nicht weniger bemerkbar als in der Ökonomie. Darum wäre es falsch, den Kampfwert solcher Thesen zu unterschätzen. Sie setzen eine Anzahl überkommener Begriffe – wie Schöpfertum und Genialität, Ewigkeitswert und Geheimnis – beiseite, Begriffe, deren unkontrollierte (und augenblicklich schwer kontrollierbare) Anwendung zur Verarbeitung des Tatsachenmaterials in faschistischem Sinn führt. Die im Folgenden neu in die Kunsttheorie eingeführten Begriffe unterscheiden sich von geläufigeren dadurch, dass sie für die Zwecke des Faschismus vollkommen unbrauchbar sind. Dagegen sind sie zur Formulierung revolutionärer Forderungen in der Kunstpolitik brauchbar.

   


I

 

Das Kunstwerk ist grundsätzlich immer reproduzierbar gewesen. Was Menschen gemacht hatten, das konnte immer von Menschen nachgemacht werden. Solche Nachbildung wurde auch ausgeübt von Schülern zur Übung in der Kunst, von Meistern zur Verbreitung der Werke, endlich von gewinnlüsternen Dritten. Dem gegenüber ist die technische Reproduktion des Kunstwerkes etwas Neues, das sich in der Geschichte intermittierend, in weit auseinanderliegenden Schüben, aber mit wachsender Intensität durchsetzt. Die Griechen kannten nur zwei Verfahren technischer Reproduktion von Kunstwerken: den Guss und die Prägung. Bronzen, Terrakotten und Münzen waren die einzigen Kunstwerke, die von ihnen massenweise hergestellt werden konnten. Alle übrigen waren einmalig und technisch nicht zu reproduzieren. Mit dem Holzschnitt wurde zum ersten Male die Graphik technisch reproduzierbar; sie war es lange, ehe durch den Druck auch die Schrift es wurde. Die ungeheuren Veränderungen, die der Druck, die technische Reproduzierbarkeit der Schrift, in der Literatur hervorgerufen hat, sind bekannt. Von der Erscheinung, die hier in weltgeschichtlichem Maßstab betrachtet wird, sind sie aber nur ein, freilich besonders wichtiger, Sonderfall. Zum Holzschnitt treten im Laufe des Mittelalters Kupferstich und Radierung, sowie im Anfang des neunzehnten Jahrhunderts die Lithographie.