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images Dr. Markus Spreer ist Sprachheilpädagoge und lehrt als Juniorprofessor für Pädagogische Prävention von Entwicklungsbeeinträchtigungen und Frühförderung an der Universität Leipzig.

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Hinweis

Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnungen nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

UTB-Band-Nr.: 4946

ISBN 978-3-8252-4946-5

ISBN 978-3-8463-4946-5 (EPUB)

© 2018 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München

Dieses Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung der Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, München, unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen in andere Sprachen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Printed in Germany

Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart

Cover unter Verwendung eines Fotos von © iStock.com/calvindexter

Satz: ew print & medien service GmbH

Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D-80639 München

Net: www.reinhardt-verlag.de E-Mail: info@reinhardt-verlag.de

Inhalt

Vorwort

1          Diagnostisches Handeln im Entwicklungsbereich Sprache

1.1       Aufgaben und Ziele

1.1.1    Schwerpunkt: sprachheilpädagogische Diagnostik

1.1.2    Schwerpunkt: logopädische/ sprachtherapeutische Diagnostik

1.1.3    Zielstellung: Prävention

1.1.4    Zielstellung: Indikation eines Therapie-/Unterstützungsbedarfs und Grundlage der Interventionsplanung

1.1.5    Zielstellung: Verlaufskontrolle und Evaluation

1.2       Diagnostisches Handeln und professionelle Expertise

1.3       Notwendigkeit eines interdisziplinären Vorgehens

2          Diagnostisches Vorgehen

2.1       Der diagnostische Prozess im Kontext von Förder- und Therapieplanung

2.2       Diagnostik im Kontext schulischer, sprachheilpädagogischer Förderung

2.2.1    Spezifische Herausforderungen in der inklusiven Schule

2.2.2    Das sonderpädagogische Gutachten

2.3       Diagnostik in der sprachtherapeutischen Praxis

2.4       Ethische und rechtliche Aspekte

3          Diagnostische Methoden für die Erfassung sprachlicher Fähigkeiten

3.1       Grundlagen

3.1.1    Messung von Eigenschaften

3.1.2    Normorientierung – Normierung

3.1.3    Gütekriterien

3.2       Rahmenbedingungen bei der diagnostischen Arbeit mit Kindern

3.3       Befragung

3.4       Beobachtung

3.4.1    Formen der Beobachtung

3.4.2    Beobachtungsverfahren

3.5       Elizitationsverfahren

3.5.1    Standardisierte Testverfahren im Bereich Sprache

3.5.2    Informelle Verfahren

3.6       Spontansprachanalyse

3.6.1    Erhebung der Spontansprachprobe

3.6.2    Auswertungsmaterialien

4          Sprachentwicklungsdiagnostik

4.1       Klassifikationssysteme

4.2       Diagnostik Umschriebener Sprachentwicklungsstörungen (USES/SSES)

4.3       Diagnostik von Sprachentwicklungsstörungen im Rahmen von Primärbeeinträchtigungen

4.3.1    Entwicklungsorientierte Sprachdiagnostik bei Kindern mit Down-Syndrom

4.3.2    Sprachdiagnostik bei Kindern mit Autismus-Spektrum-Störungen

4.4       Diagnostik im Rahmen der Sprachstandserhebungen in der Kita

4.5       Verfahren zur Überprüfung der nonverbalen Intelligenz

4.6       Verfahren zur Überprüfung der phonologischen Informationsverarbeitung

4.7       Verfahren mit dem Schwerpunkt Elementarbereich (3 bis 6 Jahre)

4.8       Verfahren mit dem Schwerpunkt Primarbereich (ab 6 Jahren)

4.9       Entwicklungstests, die neben der Sprachentwicklung weitere Bereiche überprüfen

5          Früherfassung sprachlicher Fähigkeiten

5.1       Prinzipien des diagnostischen Vorgehens

5.2       Verfahren zur Früherkennung von Sprachentwicklungsstörungen

6          Diagnostik im Bereich Aussprache

6.1       Grundlagen zur Entwicklung der Aussprachefähigkeiten

6.2       Prinzipien des diagnostischen Vorgehens

6.2.1    Erhebung anamnestischer Daten

6.2.2    Einschätzung der Spontansprache

6.2.3    Überprüfung der auditiven Wahrnehmungs- und Differenzierungsleistungen

6.2.4    Überprüfung der Aussprachefähigkeiten

6.2.5    Exkurs: Prosodie

6.3       Verfahren zur Überprüfung für den Bereich Phonetik/Phonologie

7          Diagnostik im Bereich Grammatik

7.1       Grundlagen zur Entwicklung grammatischer Fähigkeiten

7.2       Prinzipien des diagnostischen Vorgehens

7.3       Verfahren für die Erfassung rezeptiver Leistungen

7.4       Verfahren für die Erfassung produktiver Leistungen

8          Diagnostik im Bereich Wortschatz und Wortfindung

8.1       Grundlagen zur Entwicklung von Lexik und Semantik

8.2       Prinzipien des diagnostischen Vorgehens

8.2.1    Methodisches Vorgehen in der Diagnostik im Bereich Semantik-Lexikon

8.2.2    Methodisches Vorgehen in der Diagnostik von Wortfindungsstörungen

8.3       Verfahren zur Überprüfung des Wortschatzes und der Wortfindung

9          Diagnostik im Bereich Sprachverständnis

9.1       Grundlagen zur Entwicklung des Sprachverständnisses

9.2       Prinzipien des diagnostischen Vorgehens

9.3       Verfahren zur Überprüfung des Sprachverständnisses

10        Diagnostik im Bereich Pragmatik und Kommunikation

10.1     Grundlagen zur Entwicklung pragmatisch-kommunikativer Fähigkeiten

10.2     Prinzipien des diagnostischen Vorgehens

10.2.1  Besonderheiten der diagnostischen Arbeit mit Kindern, die (noch) keine Lautsprache verwenden

10.2.2  Besonderheiten der diagnostischen Arbeit mit Kindern, die mehrsprachig aufwachsen

10.3     Verfahren für den Altersbereich bis 3 Jahre

10.4     Verfahren für das Vorschul- und Schulalter

11        Diagnostik der Sprachentwicklung bei mehrsprachigen Kindern

11.1     Grundlagen zur Diagnostik bei mehrsprachigen Kindern

11.2     Prinzipien des diagnostischen Vorgehens

11.2.1  Erhebung der Sprachentwicklungsbiographie und des Sprachverhaltens in beiden Sprachen

11.2.2  Vorgehen auf den einzelnen sprachlichen Ebenen

11.2.3  Erhebung von Sprachverarbeitungsfähigkeiten und Sprachlernpotenzial

11.3     Verfahren zur Erfassung der sprachlichen Fähigkeiten im Deutschen

11.4     Verfahren zur Erfassung der sprachlichen Fähigkeiten in anderen Sprachen

11.5     Verfahren zur Erfassung der sprachlichen Fähigkeiten in beiden Sprachen des Kindes

11.6     Zusammenfassung und Implikationen der Diagnostik

12        Diagnostik weiterer Entwicklungsbereiche im Kontext der Beurteilung sprachlicher Fähigkeiten

12.1     Wahrnehmung

12.1.1  Auditive Wahrnehmung

12.1.2  Visuelle Wahrnehmung

12.1.3  Taktil-kinästhetische Wahrnehmung

12.2     Sozial-emotionales Verhalten

12.3     Kognition

12.4     Motorik

13        Diagnostik im Bereich Redefluss

13.1     Grundlegende Aspekte zur Erfassung von Redeflussauffälligkeiten

13.1.1  Stottern

13.1.2  Poltern

13.1.3  Redeflussstörungen vor dem Hintergrund der ICF

13.1.4  Differenzialdiagnostik von Stottern und Poltern

13.2     Vorgehensweisen im Bereich Stottern

13.2.1  Anamnese, Familien- und Entwicklungsgeschichte

13.2.2  Diagnostik von offenem Stottern

13.2.3  Diagnostik von verdecktem Stottern

13.2.4  Zusammenfassung zur Diagnostik von Stottern

13.3     Vorgehensweisen im Bereich Poltern

13.3.1  Anamnese, Familien- und Entwicklungsgeschichte

13.3.2  Screening auf Poltern

13.3.3  Diagnostik von Poltern

14        Diagnostik im Bereich Schriftsprache

14.1     Grundlagen zum Schriftspracherwerb

14.1.1  Ein Phasenmodell des Schriftspracherwerbs

14.1.2  Lese-Rechtschreibstörung

14.1.3  Phonologische Informationsverarbeitung und Schriftspracherwerb

14.2     Kriterien für die Diagnostik der Lese-Rechtschreibstörung

14.3     Verfahren zur Erfassung der phonologischen Informationsverarbeitung im Kindesalter

14.4     Verfahren zur Erfassung der Lesefähigkeit im Kindesalter

14.5     Verfahren zur Erfassung der Rechtschreibfähigkeit im Kindesalter

15        Diagnostik im Bereich Unterstützte Kommunikation

15.1     Prinzipien des diagnostischen Vorgehens

15.2     Inventare und Verfahren in der UK-Diagnostik

16        Diagnostik kindlicher Stimmstörungen

16.1     Prinzipien diagnostischen Vorgehens

16.2     Interdisziplinäres Vorgehen

16.3     Methoden

16.3.1  Anamnese

16.3.2  Stimmdiagnostische Untersuchung

16.3.3  Weitere Bereiche

16.3.4  Fazit

17        Weitere Überprüfungsbereiche

17.1     Mutismus

17.2     Kindliche Aphasien

17.3     Kindliche Dysarthrie

17.4     Schluckstörungen

17.5     LKGS-Fehlbildungen

17.6     Myofunktionelle Störungen

17.7     Kindliche Sprechapraxie

Anhang

Tabellarische Übersicht der diagnostischen Verfahren

Erläuterungen zur Online-Datenbank

Literatur

Sachregister

Vorwort

Die Diagnostik im Bereich Sprache und Kommunikation weist eine hohe Komplexität auf, die durch die Interdependenz sozialer, kognitiver und linguistischer Funktionen entsteht. Im Sinne der International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF) muss der Diagnostiker in der Lage sein, nicht nur die Funktionsebene zu prüfen (wofür fundierte Kenntnisse über Sprache, Sprechen, Stimme, Schlucken und Kommunikation notwendig sind), sondern ebenso Aspekte der Aktivität/Partizipation sowie Umwelt- und personelle Faktoren einzubeziehen.

Die mit dieser Betrachtungsweise verfolgten Zielstellungen der Prävention, der Indikation eines Therapie-/Unterstützungsbedarfs, der differenzierten Interventionsplanung und/oder der Verlaufskontrolle und Evaluation führen zu ganz unterschiedlichen Fragestellungen, die in ein individuelles, hypothesengeleitetes Vorgehen münden. Für diesen diagnostischen Prozess stehen vielfältige methodische Vorgehensweisen und eine fast unüberschaubare Anzahl diagnostischer Verfahren unterschiedlicher Güte zur Verfügung.

Das vorliegende Lehrbuch hat das erklärte Ziel, Studierenden und Dozierenden der Sprachheilpädagogik, der Logopädie, der Sprachtherapie und sowie allen weiteren Berufsgruppen, die mit Kindern mit sprachlichen Beeinträchtigungen arbeiten, einen umfassenden Überblick zu diesen Inhaltsbereichen und damit zur Diagnostik von Sprach- und Kommunikationsstörungen im Kindesalter zur Verfügung zu stellen. Hierbei werden nicht nur solche Einschränkungen mit einer hohen Prävalenzrate – die (Schrift-)Spracherwerbsstörungen – thematisiert, sondern ganz gezielt die Bandbreite möglicher sprachlicher Beeinträchtigungen unter dem Fokus „Diagnostik“ besprochen. Dabei werden immer wieder gezielt Bezüge zu anderen Entwicklungsbereichen hergestellt, da der Erwerb sprachlicher Kompetenzen nicht als isolierter Vorgang, sondern stets als Teil der kindlichen Gesamtentwicklung zu verstehen ist.

Ich freue mich, dass ich ausgewiesene Experten gewinnen konnte, die mit ihrer Expertise in den Bereichen Früherfassung, Schriftsprache, Mehrsprachigkeit, Redefluss und Stimme den jeweils aktuellen Erkenntnisstand einbringen.

Hervorzuheben ist die neu erstellte Datenbank, die parallel zur Buchpublikation online nutzbar ist. Sie bietet die Möglichkeit, für eine bestimmte Fragestellung potentiell einsetzbare diagnostische Verfahren gezielt zu ermitteln.

Aufgrund der besseren Lesbarkeit wird in diesem Lehrbuch bei Personenbezeichnungen die männliche Form verwendet. Selbstverständlich sind damit beide Geschlechter und somit Lehrerinnen und Lehrer, Schülerinnen und Schüler, Therapeutinnen und Therapeuten etc. gemeint. Beide Geschlechter sind jeweils mitzudenken.

Leipzig, im Dezember 2017

Markus Spreer

1   Diagnostisches Handeln im Entwicklungsbereich Sprache

1.1 Aufgaben und Ziele

Die Diagnostik stellt ein zentrales Aufgabengebiet in den Anwendungsbereichen der Disziplinen Medizin, Psychologie und Pädagogik dar. So ist ein professionelles diagnostisches Handeln der Fachkräfte in den Arbeitsbereichen (frühkindliche) Bildung und medizinisch-therapeutische Intervention bereits in der Ausbildung grundzulegen und stetig qualitätssichernd zu erweitern und zu evaluieren. Dabei sind die diagnostischen Aufgaben vor dem Hintergrund möglicher Zielstellungen höchst different und sollen zunächst in ihrer möglichen Bandbreite beschrieben werden. Der Begriff Diagnostik bezieht sich auf den Vorgang der Zuordnung, Unterscheidung und Beurteilung, wobei der Prozess des „Durchschauens“ (‚dia‘) das Erkennen (‚gnosis‘) des dahinter Liegenden einbezieht“ (Grohnfeldt 2009, 17).

Diagnostik hat keinen Selbstzweck. Die mit ihr verfolgten Zielstellungen sind die Prävention (vgl. Kap. 1.1.3), die Indikation eines Therapie-/Unterstützungsbedarfs und die Grundlage der Interventionsplanung (vgl. Kap. 1.1.4) sowie die Verlaufskontrolle und Evaluation (vgl. Kap. 1.1.5).

Kany/Schöler (2009) konstatieren, dass sich diagnostische Fragen auf notwendige Informationen zum Entwicklungs- und Leistungsstand eines Kindes konzentrieren, u.a.:

Fragestellungen der Diagnostik

  „ob sich das Kind altersgemäß entwickelt,

  ob die Leistungs-, Persönlichkeits-, und sozioemotionale Entwicklung im Einklang verläuft (Synchronizität),

  ob ein Verdacht auf eine Störung in einem Bereich besteht,

  worauf Auffälligkeiten oder Schwächen zurückzuführen sind: Liegt es an eingeschränkten Entwicklungsbedingungen oder basaleren Beeinträchtigungen,

  wie die Aussichten für die weitere Entwicklung sind (Prognose)“ (Kany/Schöler 2009, 72).

Als zentrale Aufgaben pädagogischer Diagnostik im Rahmen des Förderschwerpunkts Sprache formuliert von Knebel in Anlehnung an die Ausführungen von von Knebel/Schuck (2007, 476) die...

„Analyse des Erwerbs und Gebrauchs von Sprache durch einen Menschen unter den (mitunter erschwerenden) Bedingungen seiner selbst und seiner Lebenswelt unter der Zielsetzung einer Optimierung von Bildungs- und Erziehungsprozessen, die auf eine Erweiterung lebensweltlicher (nicht allein sprachlicher) Handlungsmöglichkeiten des Betroffenen ausgerichtet sind“ (von Knebel 2012, 524).

sprachheilpädagogische und sprachtherapeutische Diagnostik

Diese sprachheilpädagogische Diagnostik weist dabei eine hohe Schnittmenge mit der sprachtherapeutischen Diagnostik auf, da beide Felder Bezüge zu den Bereichen Linguistik, Soziologie und Psychologie aufweisen, die medizinischen und pädagogischen Anteile jedoch unterschiedlich stark akzentuiert sind (Berg 2007, 342).

Die zur Beschreibung der Fähigkeiten auf den einzelnen Sprachebenen konstruierten Verfahren bedienen in Konsequenz ihrer Zielstellung i.d.R. auch nur die Erfassung sprachlicher Fähigkeiten/Funktionen beim Kind. „Diese müssen gemäß der ICF (DIMDI 2005) durch die Analyse von Ressourcen und Beschränkungen in den Bereichen Kommunikation/soziale Interaktion (Aktivitäten), durch Beantwortung von Fragen zur Teilhabe/Partizipation sowie durch die Erfassung umwelt- und personenbezogener Faktoren ergänzt werden“ (Spreer 2016, 126).

ICF als Bezugssystem

Die Weltgesundheitsorganisation WHO hat bereits 2001 die „International Classification of Functioning, Disability and Health“ (ICF) verabschiedet, die in einer deutschen Version unter dem Titel „Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit“ verfügbar ist (DIMDI 2005).

Ressourcenorientierung

Die ICF als ressourcenorientiertes, individuums- und alltagsbezogenes Klassifikationssystem vereint in sich sämtliche Aspekte funktionaler Gesundheit (Grötzbach/Iven 2009). Es basiert auf einem bio-psycho-sozialen Modell von Gesundheit und Krankheit und bietet eine umfassende Beschreibung der jeweiligen Situation eines Kindes. Nicht nur die Funktionsebene (Körperfunktionen und -strukturen), sondern auch Rahmenbedingungen in Form von Umweltfaktoren werden explizit in die Zusammenstellung einbezogen (vgl. Abb. 1).

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Abb. 1: Wechselwirkungen der verschiedenen Komponenten von Gesundheit der ICF (WHO, DIMDI 2005)

ICF-CY

ICF-CY berücksichtigt Bedingungen kindlicher Lebenswelten

Um auch die Aspekte kindlicher Lebenswelten, der Entwicklungsdynamik sowie der Erziehungs- und Bildungseinflüsse bei Kindern ausreichend berücksichtigen zu können, hat eine internationale Expertengruppe der WHO die „International Classification of Functioning, Disability and Health, Children and Youth Version ICF-CY“ (Hollenweger/Kraus de Camargo 2012) veröffentlicht (Grötzbach/Iven 2009). Diese findet Anwendung bei Kindern ab der Geburt bis hin zum Erwachsenenalter, greift die Entwicklungsprozesse sowie die Lern- und Lebensbedingungen von Kindern und Jugendlichen auf, formuliert dabei entwicklungsspezifische Kontextfaktoren und beachtet vor allem die im Kindes- und Jugendalter typischen Aspekte der Partizipation (Grötzbach/Iven 2009).

Die ICF und die ICF-CY sollen dabei nicht als neues, differenziertes Klassifikationssystem verstanden werden, sondern dienen dazu, einen anderen Blick auf die vorliegenden Störungen und festgestellten Einschränkungen/Behinderungen zu ermöglichen. Die Ausführungen der folgenden Kapitel zu einzelnen sprachlichen Beeinträchtigungen versuchen diese Sichtweise der ICF bereits zu berücksichtigen. Dies beginnt bei jeder Anamnese, in welcher der Diagnostiker beispielsweise auch nach den Auswirkungen eingeschränkter sprachlicher Fähigkeiten auf alltägliche Bedingungen fragt und subjektiv gefühlte Einschränkungen, neben der objektiv feststellbaren Störung, mit aufnimmt (Grötzbach/Iven 2009).

Die folgenden Kap. 1.1.1 und 1.1.2 fokussieren die unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen in den Aufgabenstellungen von sprachheilpädagogischer und logopädischer/sprachtherapeutischer Diagnostik.

1.1.1 Schwerpunkt: sprachheilpädagogische Diagnostik

Diagnostik ist grundlegender Bestandteil der Arbeit von Lehrkräften in Schulen. Unterschiedlich ist allerdings, welche Formen von Diagnostik hierbei zum Einsatz kommen. Die Lernfortschrittsdiagnostik beispielsweise wird von allen Lehrkräften durchgeführt und ist von einer Lernleistungs- und allgemeinen Entwicklungsdiagnostik abzugrenzen, die auch eine Kind-Umfeld-Analyse beinhaltet und i.d.R. von Sonderpädagogen durchgeführt wird. Eine spezifische Sprachdiagnostik wird dann wiederum von Sprachheilpädagogen realisiert (Sonderpädagogen mit einer spezifischen Ausbildung im Bereich Sprache und Kommunikation). Für einen Überblick über die Diagnostik schulischer Lern- und Leistungsschwierigkeiten sei auf Kany/Schöler (2009) verwiesen.

Sprache als Teil der Gesamtentwicklung

Eine Zusammenstellung von Inhalten einer sprachheilpädagogischen Diagnostik liefert Berg (2007, 69), wobei beachtet werden muss, mit welcher Zielstellung diagnostisch gearbeitet wird, da dies natürlich Auswirkung auf die Zusammenstellung der entsprechend relevanten Aspekte hat. Im Mittelpunkt stehen die sprachlich-kommunikativen Fähigkeiten, wobei hier auf die Sprach- und Kommunikationsfähigkeit als umfassendere Kompetenz abgehoben wird. Ein singuläres Betrachten einer einzelnen Sprachebene würde deren verschränkte Entwicklung negieren. Für ein umfassendes Bild der Fähigkeiten des Kindes ist auf das Multiperformanzprinzip zu achten, die Überprüfung sowohl der Sprachproduktion (Modalitäten Kodieren, Rekonstruieren) als auch des Sprachverständnisses (Modalität Dekodieren) und der Reflexion (Berg 2007, 69). Dabei sind die sprachlich-kommunikativen Fähigkeiten nicht losgelöst von der Gesamtentwicklung des Kindes zu betrachten. Vielmehr sind diese verwoben mit den Entwicklungsbereichen Motorik, Sensorik, Kognition, sozial-emotionale Entwicklung (vgl. hierzu auch Kap. 12). Diese Entwicklungsprozesse eines jeden Kindes sind eingebettet in den Kontext der Bildungs- und Erziehungsprozesse, der Kompetenzentwicklung, der Sozialisation und der Individuation – in den jeweiligen familiären, institutionellen (Schule, Kita) und gesellschaftlichen Kontexten (Berg 2007). Dieser Kontext wird im Sinne der ICF ebenfalls als Inhalt in die diagnostische Arbeit einbezogen, beispielsweise wenn es zu ermitteln gilt, wie ein mehrsprachig aufwachsendes Kind mit welchen Kommunikationspartnern in der Familie in welchen Sprachen spricht und wie sich der Kontakt zur Zweitsprache Deutsch im Alltag gestaltet.

1.1.2 Schwerpunkt: logopädische/sprachtherapeutische Diagnostik

„Aus der Indikation zur Sprachtherapie allein sind weder das individuelle funktionelle Bedingungsgefüge noch entsprechende Therapieschwerpunkte und -ziele ableitbar. Hierzu bedarf es einer Feindiagnostik, die meist vom Sprachtherapeuten vorgenommen wird […]“ (Glück 2013a, 115).

In § 34 der Heilmittelrichtlinien heißt es: „Vor der Erstverordnung einer Stimm-, Sprech- und/oder Sprachtherapie ist eine Eingangsdiagnostik notwendig“ (GBA 2011b). In der Leitlinie zur Diagnostik von Sprachentwicklungsstörungen ist festgehalten, dass in interdisziplinären Praxis-Teams, beispielsweise in Sozialpädiatrischen Zentren (SPZ), phoniatrisch und pädaudiologischen oder kinder- und jugendpsychiatrischen Kliniken und anderen auf Sprachentwicklungsdiagnostik spezialisierten Einrichtungen die diagnostischen Aufgaben auf Ärzte, Psychologen und Sprachtherapeuten/Logopäden verteilt sind (AWMF 2011, 46).

„Vier-Augen-Diagnostik“

In der Leitlinie heißt es weiter, dass es „erstrebenswert ist“, dass für die „Sprachentwicklungsdiagnostik außerhalb solcher interdisziplinärer Einrichtungen Kooperationen zwischen ärztlichen, psychologischen und sprachtherapeutischen/ logopädischen Praxen erfolgen“, die eine „ähnliche Aufgabenverteilung“ ermöglichen (AWMF 2011, 46). Explizit verwiesen wird dabei auf die „Vier-Augen-Diagnostik“ (Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen 2007). Glück empfiehlt diesbezüglich, den Rahmen für eine regelhafte kooperative Diagnostik zu schaffen, beispielsweise „durch eine Verordnung zur Befundung“ (Glück 2013a, 117) und somit vielfach improvisierte Prozesse strukturell zu sichern.

Bei vorliegender Indikation für eine Sprachtherapie wird ein weiterer diagnostischer Schritt notwendig (Glück 2013a):

„Mit einer detaillierten Beschreibung der sprachlichen Fähigkeiten werden die Ergebnisse der Klassifikationsdiagnostik bestätigt oder modifiziert, wird eine Datenbaseline zur Beurteilung von Veränderungen gewonnen, werden therapeutische Feinziele abgeleitet und die Verfahren für die spätere evaluative Diagnostik festgelegt“ (Glück 2013a, 111).

Glück formuliert weiter, dass die in der Statusdiagnostik gewonnenen Informationen therapiebegleitend ergänzt werden. So gilt es, die Ziele und die dafür eingesetzten Methoden im therapeutischen Prozess an die sich verändernden Lernvoraussetzungen anzupassen (Glück 2013a). In Zwischenschritten können so Entwicklungsfortschritte erfasst und die Angemessenheit der gewählten Ziele und eingesetzten Methoden beurteilt werden. Auch die evaluative Abschlussdiagnostik zum (vorläufigen) Abschluss einer Therapie kann wiederum durch den Sprachtherapeuten oder vom Arzt durchgeführt werden (Glück 2013a, 117).

Schrey-Dern (2006) formuliert als Zielstellung logopädischer Diagnostik folgende Aspekte:

  „Erfassen des Sprach- und Sprechverhaltens des Kindes

  Erfassen begleitender (nichtsprachlicher) Fähigkeiten bzw. Störungen

  Erkennen von Abweichungen von der Norm (z.B. hinsichtlich des Sprachentwicklungsverlaufs)

  Entwickeln von Hypothesen über Bedingungsfaktoren für die Störung

  Einschätzen von Behandlungsbedürftigkeit

  Ableiten von Beratungs- und Therapieschwerpunkten

  Beurteilen der Effektivität von Therapiemaßnahmen“ (Schrey-Dern 2006, 21)

Dabei werden unterschiedliche Aufgaben im Bereich der sprachtherapeutischen Diagnostik sichtbar: Die Erfassung der (nicht-)sprachlichen Fähigkeiten eines Kindes (als Grundlage für eine entsprechende Interventionsplanung), die sich daraus ergebende Indikation eines Therapie-/Unterstützungsbedarfs und die Evaluation von durchgeführten Therapiemaßnahmen.

1.1.3 Zielstellung: Prävention

Die Aufgabenbereiche Diagnostik und Prävention (und Evaluation) stehen in einer engen Wechselbeziehung, wobei die Diagnostik eine wesentliche Voraussetzung für präventive Maßnahmen darstellt (Grohnfeldt 2009). Terminologisch muss man an dieser Stelle allerdings deutlich die verschiedenen Formen der Prävention mit ihren jeweiligen Zielstellungen unterscheiden (Caplan 1964). Erst so wird deutlich, dass die Prävention auch ein zentrales Ziel diagnostischen Handelns im Bereich Sprache darstellt. In Anlehnung an Caplan (1964) unterscheidet man Maßnahmen der primären, sekundären und tertiären Prävention, die im Folgenden skizziert werden. Die Unterscheidung zwischen den einzelnen Formen kann im Zweifelsfall schwierig sein, da die Abgrenzung nicht immer trennscharf vorgenommen werden kann, Übergänge zwischen den Formen können als fließend angenommen werden.

Universelle, primäre Prävention: Unter diesem Terminus werden Maßnahmen subsummiert, die alle Kinder erreichen. Hier ließen sich beispielsweise die sogenannten U-Untersuchungen U1 bis U11 zuordnen, bei denen in regelmäßigen Abständen vom Kinderarzt der Entwicklungsstand in allen relevanten Bereichen überprüft wird.

Sekundäre Prävention: Diese Form der Prävention nimmt eine formierte Teilpopulation in den Blick, die als Risikogruppe gilt, beispielsweise für die Ausbildung einer sprachlichen Beeinträchtigung. So ist es angezeigt, um etwa für die Risikogruppe der „late talkers“ entsprechende Unterstützungsmaßnahmen vorzuhalten. Dafür ist es allerdings notwendig, die Gruppe an Kindern entsprechend diagnostisch zu erfassen (z.B. mit dem SBE-2-KT oder dem ELFRA).

Tertiäre Prävention: Die tertiäre Prävention beinhaltet spezifische Unterstützungsangebote bei manifesten Störungen, u. a. auch zur Vermeidung von Begleit- und Folgestörungen. Für den Bereich der Diagnostik lassen sich Überprüfungen im Sinne der Evaluation von Therapiemaßnahmen genauso zu diesem Bereich zählen wie die Erfassung möglicher Einschränkungen in anderen Entwicklungsbereichen. Diese können aus einer primär sprachlichen Beeinträchtigung erwachsen, bzw. können Einschränkungen auf einer sprachlichen Ebene (z.B. Lexik-Semantik) in der Folge auch zu Einschränkungen auf einer anderen Ebene führen (z.B. Kommunikation-Pragmatik).

In Abgrenzung zu dieser Klassifikation formuliert Gordon (1983) die Einteilung in universelle, selektive bzw. indizierte Präventionsmaßnahmen und schließt dabei tertiäre Maßnahmen im Sinne Caplans (1964) aus. Die Verwendung des Begriffs „Tertiäre Prävention“ in der Praxis entspricht aber der Überlappung von Prävention und Behandlung (treatment) (Hartke/Diehl 2013).

Wenn wir demnach von der Prävention als Zielstellung diagnostischen Handelns sprechen, wird dabei vorwiegend die universelle und selektive Prävention in den Blick genommen. Dazu gehören beispielsweise die kinderärztlichen U-Untersuchungen, die präventiv sprachliche Fähigkeiten in den Blick nehmen (vgl. Kap. 5.1), oder auch die bundesweit eingeführten Sprachstandserhebungen bei Kindern (in Kindertagesstätten, vgl. Kap. 4.4).

1.1.4 Zielstellung: Indikation eines Therapie-/ Unterstützungsbedarfs und Grundlage der Interventionsplanung

Die Zielstellung der Indikation ist i.d.R. mit der sich anschließenden Zurverfügungstellung von Ressourcen im Bereich der Intervention verbunden. So sind vorhandene Symptome so gut wie möglich einzuordnen und ggf. Störungsschwerpunkte zu ermitteln (AWMF 2011).

Indikation einer Sprachtherapie

Im Bereich der Sprachtherapie rechtfertigt die Indikation einer Therapie gleichzeitig die Zuweisung einer entsprechenden Heilmittelverordnung „Sprachtherapie“. Diese kann vom Kinderarzt oder HNO-Arzt/Phoniater ausgestellt werden. Über die Indikation für eine sprachtherapeutische Behandlung wird im besten Falle über ein Diagnostikschema entschieden, wie dies beispielsweise mit der Interdisziplinären S2k-Leitlinie zur Diagnostik von Sprachentwicklungsstörungen (SES) (AWMF 2011) vorliegt. Diese Diagnostik bis hin zur Ausstellung einer Heilmittelverordnung mit Diagnoseschlüssel und Spezifizierung der Therapieziele beinhaltet festgelegte Kriterien, anhand derer die spezifischen Fähigkeiten und Fertigkeiten des jeweiligen Kindes eingeschätzt werden. Glück (2013a) argumentiert, dass aus der Indikation zur Sprachtherapie allein weder das individuelle funktionelle Bedingungsgefüge noch entsprechende Therapieschwerpunkte und -ziele ableitbar sind, sondern erst nach einer entsprechenden Feindiagnostik. Die differenzierte Erfassung der individuellen Fähigkeiten und Fertigkeiten, Stärken und Schwächen eines Kindes erfolgt somit häufig erst nach der Indikationsstellung durch den Arzt.

Feststellung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs

Im Bildungsbereich (Schule) ist eine analoge „Zuweisung“ von spezifischen Unterstützungsmaßnahmen für das jeweilige Kind zu finden. Dies wird im Sinne der KMK-Empfehlungen als „sonderpädagogischer Förderbedarf im Bereich Sprache“ oder beispielsweise als „sonderpädagogischer Unterstützungs- und Beratungsbedarf“ formuliert (KMK 1998). Der Zugang zu einer Unterstützung, die dem einzelnen Kind zu Gute kommt, ist in den einzelnen Bundesländern deutlich unterschiedlich geregelt. Neben niederschwelligen Unterstützungsangeboten in einigen Bundesländern auf der einen Seite gibt es auch Bundesländer, bei denen erst dann, wenn der Diagnostikprozess vollständig durchlaufen wurde und ein entsprechendes sonderpädagogisches Gutachten diesen Bedarf für ein individuelles Kind dokumentiert und begründet hat, spezifische Unterstützungsmaßnahmen durch entsprechende Fachkräfte realisiert werden können (z. B. Sprachheilpädagogen).

Förder-/Therapieplanung

Im Rahmen dieses Diagnostikprozesses werden differenzierte Informationen zusammengetragen, die nicht nur über eine Indikation entscheiden, sondern gleichzeitig vielfältige Informationen über das angezeigte methodische Vorgehen im Rahmen der sich anschließenden Unterstützung (Förderung/Therapie) bereitstellen. Im Kontext der Diagnostik im schulischen Setting beinhaltet die gutachterliche Zusammenstellung bereits entsprechende Fördervorschläge und somit wichtige Aspekte für die Förder-/Interventionsplanung (vgl. Kap. 2.2.2).

Diese Ausrichtung prägt bereits das gewählte diagnostische Vorgehen, das explizit auf die Generierung von spezifischen Ansatzpunkten für die Förderung hin ausgerichtet ist und im Bildungskontext unter dem Terminus „Förderdiagnostik“ thematisiert wird. Somit sollen nicht nur derartige diagnostische Methoden und Verfahren zum Einsatz kommen, die das Vorhandensein einer z. B. „Umschriebenen Sprachentwicklungsstörung (USES)“ bestätigen, sondern auch jene, die über qualitative Analysen bereits Ansatzpunkte für eine Intervention liefern. Beispielhaft ist hier der WWT 6 –10 (Glück 2011) zu nennen, der neben einer Einordnung der Ergebnisse eines Kindes zur Altersvergleichsgruppe über die qualitative Analyse differenzierte Aussagen beispielsweise zu den Bewältigungsstrategien des Kindes zulässt.

Schöler (2008) verweist in diesem Zusammenhang auf die Gefährlichkeit des Begriffes „Förderdiagnostik“ und mahnt, dass sog. „förderdiagnostische“ Verfahren nicht die zunächst notwendige Diagnose ersetzen (vgl. auch Kany/Schöler 2009).

1.1.5 Zielstellung: Verlaufskontrolle und Evaluation

Die diagnostische Erfassung der Fähigkeiten des Kindes wird als Grundlage für die Planung einer individuellen Förderung/Therapie genutzt. Um zu überprüfen, ob die dabei ausgewählten Therapieinhalte und -ziele und die dabei verwendeten Methoden nach einem gewissen Interventionszeitraum das jeweilige Kind noch optimal unterstützen, wird Diagnostik als Verlaufskontrolle implementiert. Dieser auch als Re-Diagnostik bezeichnete Prozess ermöglicht im Anschluss eine ggf. notwendige Adaption der Interventionsinhalte, -ziele und/oder -methoden.

Evaluation des Therapieerfolgs

Im Sinne evidenzbasierten Arbeitens kann als weiteres, grundsätzliches Ziel des Diagnostizierens die Überprüfung und das Erbringen eines Nachweises über den Therapieerfolg angesehen werden (Beushausen/Grötzbach 2011). Die Evaluation von Interventionsmaßnahmen ist somit ebenfalls eine mögliche Zielstellung diagnostischen Vorgehens. Insbesondere im Forschungskontext wird die Nachkontrolle zur Stabilität des Therapieerfolgs nach einem therapiefreien Intervall diagnostisch erfasst (follow up). In Bezug auf die ICF kann sich die Evaluation auch auf die Partizipation, das persönliche Wohlbefinden oder andere outcome-Maße beziehen.

1.2 Diagnostisches Handeln und professionelle Expertise

Sprachheilpädagogische Diagnostik ist zunächst einmal Diagnostik, bedient sich gleicher Methoden und hat somit auch die an sie gestellten Kriterien zu erfüllen. Somit gilt auch für die Sprachdiagnostik als professioneller Erkenntnis- und Entscheidungsprozess die folgende Anforderung: Sie „[…] verlangt den Einsatz wissenschaftlich begründeter Vorgehensweisen und Verfahren durch besonders befähigte Personen – die oder den Diagnostiker(in)“ (Glück 2013a, 106).

Als „Experte“, so Beushausen (2013, 30ff.), bringt eine Person interpersonelle Fähigkeiten (soziale Kompetenz, kommunikative Kompetenz), professionelle Fähigkeiten (berufsspezifisch – als Therapeut, Lehrkraft), problemlösende Fähigkeiten, technische Fähigkeiten (das besondere Wissen einer Disziplin) und die Fähigkeit zur Integration von Wissen und Erfahrung mit und „[…] zeichnet sich durch das bewusste und zielgerichtete Anwenden von spezialisiertem Wissen und Kenntnissen aus.“ (Beushausen 2013, 29) (bei Beushausen 2013 sind diese Fähigkeiten und ihre Entwicklung ausführlich dargestellt). Das Kennen und der Einsatz von Diagnostikverfahren lässt sich demnach den technischen Fähigkeiten zuordnen, wobei Experten in allen diesen Bereichen außergewöhnliche Leistungen zeigen (Beushausen 2013, 30).

Von Knebel (2007, 1082) beschreibt als eine von zehn Qualitätsmerkmalen sprachbehindertenpädagogischer Professionalität die sprachdiagnostische Fundierung. Diese umfasst sowohl konzeptionelles Grundlagenwissen (Welche Daten sind mit welcher Zielstellung zu erheben?) als auch methodisches Handlungswissen (Wie können diese Daten erhoben und beurteilt werden?).

Die Diagnostik im Bereich Sprache und Kommunikation weist dabei eine hohe Komplexität auf, die durch die wechselseitige Abhängigkeit sozialer, kognitiver und linguistischer Funktionen entsteht. Im Sinne der ICF müssen Diagnostiker in der Lage sein, nicht nur die Funktionsebene zu prüfen, sondern ebenso Aktivität/Partizipation sowie Umwelt- und personelle Faktoren einzubeziehen. Nach Glück (in Vorb.) sind folgende Bereiche zu prüfen, welche die Komplexität des Gefüges deutlich machen:

  hypothesengeleitete Prüfung der linguistischen Strukturebenen: phonetischphonologische, syntaktisch-morphologische, semantisch-lexikalische und pragmatisch-kommunikative Ebene

  Erfassung der Laut- und Schriftsprache

  Prüfung verschiedener Modalitäten (Produktion, Rezeption, Reproduktion und Reflexion)

  Erfassung der Interaktion der (eingeschränkten) sprachlichen Kompetenzen mit Bildungsanforderungen

  Abklärung sprachbasaler Voraussetzungen (insbes. periphere und zentral auditive Verarbeitung und Wahrnehmung, kognitive Basisprozesse)

  Erfassung stützender oder hemmender Umweltfaktoren

Die Voraussetzung für eine professionelle sprachdiagnostische Tätigkeit ist nicht nur das Wissen über Sprache, Sprechen, Stimme, Schlucken und Kommunikation, sondern auch fundiertes Grundlagenwissen der Bezugsdisziplinen Medizin (anatomisch-physiologische Grundlagen zu Artikulation und Wahrnehmung), Neurolinguistik (Sprachverarbeitung und -produktion), Psychologie (Sprachentwicklung und kognitive Entwicklung), Linguistik, Soziologie und Pädagogik.

Die Tätigkeit von Diagnostikern hat gutachterlichen Stellenwert und verwaltungsrechtliche Konsequenzen (SMK 2005). Dies schließt die in diesem Rahmen getätigten Empfehlungen zur Art und zum Umfang der Förderung ein und greift so ggf. in entscheidendem Maße in die Lebensperspektive von Kindern und Jugendlichen ein (SMK 2005).

1.3 Notwendigkeit eines interdisziplinären Vorgehens

Kinder mit Sprachstörungen werden im Bildungssystem, im Gesundheitssystem und/oder via Komplexleistung nach den Sozialgesetzbüchern SBG IX (neu)/ Bundesteilhabegesetz (BTHG) und SGB XII in sprachtherapeutischen Praxen, (interdisziplinären) Frühförderstellen, Sozialpädiatrischen Zentren, heilpädagogischen Kitas und/oder durch sonderpädagogische Unterstützung im Unterricht in verschiedenen schulischen Settings versorgt (Sallat/Siegmüller 2016).

„Die diagnostischen Aufgaben in interdisziplinären Praxis-Teams […] verteilen sich über Ärzte, Psychologen und Sprachtherapeuten/Logopäden. Erstrebenswert ist, dass für die Sprachentwicklungsdiagnostik außerhalb solcher interdisziplinärer Einrichtungen Kooperationen zwischen ärztlichen, psychologischen und sprachtherapeutischen/logopädischen Praxen erfolgen, die eine ähnliche Aufgabenverteilung ermöglichen („Vier-Augen-Diagnostik“; Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen 2007)“ (AWMF 2011, 46).

Für die sprachheilpädagogische Diagnostik wird in der Empfehlung der Kultusministerkonferenz (KMK 1998) eine interdisziplinäre Diagnostik zum Verständnis der sprachlichen Beeinträchtigung und zur Planung von abgestimmten Förderintentionen als hilfreich erachtet, wobei neben den sonderpädagogischen Lehrkräften „[…] z. B. auch Ärztinnen und Ärzte aus verschiedenen Fachgebieten wie Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Phoniatrie, Neurologie, Kieferorthopädie, Pädiatrie, Psychologinnen und Psychologen sowie Vertreterinnen und Vertreter medizinischtherapeutischer und sozialer Dienste beteiligt sein [können]“ (KMK 1998, 7).

Die Disziplinen Logopädie/akademische Sprachtherapie und die Sprachheilpädagogik gelten als sog. Integrationswissenschaften, die u.a. aus den Bereichen Medizin, Pädagogik, Linguistik und Psychologie Kenntnisse hinzuziehen (Grohnfeldt 2016).

Diagnostik im Bereich Sprache und Kommunikation erfolgt aufgrund der vielfältigen Aufgaben im Feld Sprache – Sprechen – Stimme – Schlucken i.d.R. interdisziplinär. Es ist notwendig, die Expertise unterschiedlicher Bezugsdisziplinen in den diagnostischen Prozess einzubeziehen.

Medizin – Pädiatrie

Dies betrifft zum einen natürlich den Bereich der Medizin. Gerade Pädiater sind im Rahmen der Risikoabschätzung im Hinblick auf die weitere Entwicklung eines Kindes und somit des „Krankheitswerts“ von Sprach(entwicklungs)störungen verantwortlich (Sallat/Siegmüller 2016, 252). Die Einbettung der Symptomatik in die Gesamtentwicklung des Kindes (inkl. der Abgrenzung zu anderen Entwicklungsstörungen), die Verordnung von Therapiemaßnahmen (ambulant/stationär) und nicht zuletzt die Diagnosestellung für den Bereich der Frühförderung wird im Bereich der Medizin verantwortet (Sallat/Siegmüller 2016, 252).

Medizin – Phoniatrie/HNO

Der Bereich der Phoniatrie/Pädaudiologie beschäftigt sich explizit mit den Ursachen, der Diagnostik und natürlich der Intervention bei Stimm-, Sprech- und Sprachstörungen. So steht er für (differential-)diagnostische Fragestellungen, z.B. via Audiometrie. Natürlich fallen beispielsweise auch die Diagnostik im Kontext der Versorgung mit Cochlea-Implantaten (CI) und bei Schluckstörungen in den Bereich der HNO.

Linguistik

Die notwendige linguistische Expertise wird durch die diagnostischen Fachkräfte immanent eingebracht und sollte unbedingt abgesichert werden. Dies betrifft die gezielte Auswahl und Bewertung der Güte eingesetzter diagnostischer Verfahren ebenso wie die qualitative Analyse von Spontansprachdaten des Kindes.

Psychologie

Die Einbeziehung psychologischer Expertise wird notwendig, wenn dies eine vorliegende Primärbeeinträchtigung notwendig macht und/oder falls die sprachliche Beeinträchtigung als Begleitsymptomatik bereits im Bereich der sozial-emotionalen Entwicklung des Kindes entsprechende diagnostische Aufgabenstellungen erzeugt.

„Die mehrschrittige interdisziplinäre Diagnostik erfordert eine sinnvolle Kooperation zwischen den beteiligten Berufsgruppen“ (AWMF 2011, 46). Diese ist bislang vor allem in entsprechend strukturell aufgestellten Einrichtungen möglich (interdisziplinäre Frühförderstellen, Sozialpädiatrische Zentren). Sallat/Siegmüller (2016) proklamieren mit ihrer Gegenstandszentrierung einen Gegenpol zur Institutionszentrierung, die bislang als ein möglicher Grund für fehlende Kooperationen angesehen wird. Sie lehnen sich dabei an das Mehrperspektivenmodell für interdisziplinäre Diagnostik gemäß von Knebel (2012) an.

Bezogen auf die gewünschte Interdisziplinarität im pädagogischen Handlungsfeld mahnt von Knebel (2012, 527), dass „fachfremde Erkenntnisse nicht ungeachtet ihrer Herkunft und ohne Anpassung an die sprachbehindertenpädagogischen Verwendungsinteressen importiert werden, weil dadurch das ursprünglich pädagogische Anliegen von Diagnostik und Förderung aus dem Blickfeld zu geraten droht.“ Es geht daher um die unverzichtbare Bezugnahme, ausgehend von einem „klar definierten und theoretisch fundierten pädagogischen Standpunkt „Sprachheilpädagogik“ (von Knebel 2012, 527).

2   Diagnostisches Vorgehen

Das diagnostische Vorgehen ist zunächst als Prozess zu kennzeichnen, als Abfolge einzelner Maßnahmen, die zur Gewinnung diagnostisch relevanter Informationen führen (Schmidt-Atzert/Amelang 2012). Dafür kommen unterschiedliche Methoden zum Einsatz (Beobachtung, Befragung, Elizitationsverfahren), um die diagnostische(n) Fragestellung(en) zu beantworten (vgl. Kap. 3). Zur diagnostischen Expertise gehört im Rahmen eines hypothesengeleiteten Vorgehens die Auswahl der verwendenden Methoden und Verfahren genauso, wie deren professionelle Durchführung, Auswertung und Interpretation.

Die Beschreibung der spezifischen Gestaltung des diagnostischen Prozesses im Kontext von Förder- und Therapieplanung (Kap. 2.1) wird ergänzt durch Ausführungen zur Diagnostik im Kontext schulischer, sprachheilpädagogischer Förderung (Kap. 2.2) und zur Diagnostik in der sprachtherapeutischen Praxis (Kap. 2.3). Abschließend werden ethische und rechtliche Grundlagen vorgestellt (Kap. 2.4).

2.1 Der diagnostische Prozess im Kontext von Förder- und Therapieplanung

„Beim Diagnostizieren handelt es sich nicht um einen einmaligen Akt, sondern um ein komplexes, mehrstufiges Vorgehen mit möglichen Rückkopplungsschleifen“ (Hesse/Latzko 2017, 63).

Der diagnostische Prozess ist nicht mit einem linearen Vorgehen gleichzusetzen. Durch das hypothesengeleitete Vorgehen kommt es zu Rückkopplungsschleifen. Es werden Hypothesen geprüft, ggf. verworfen und wiederum neue Hypothesen aufgestellt und verifiziert/falsifiziert. Dieses professionelle Vorgehen geschieht systematisch und schrittweise (Hesse/Latzko 2017).

Hesse und Latzko (2017, 64) beschreiben den diagnostischen Prozess in Anlehnung an Lukesch (1998) in einem Ablaufmodell, an dessen Beginn ein Problem und die daraus resultierende Fragestellung steht. Die sich anschließende Hypothesenbildung mit Feststellungs- und Erklärungshypothesen führt in der Folge zur Auswahl der Methoden für die anschließende Hypothesenprüfung. Das diagnostische Urteil (Diagnose) am Ende dieses Prozesses führt – je nach Zielstellung, Auftrag oder Setting zu einer ggf. angezeigten Förderung oder Therapie bzw. einer Beratung. Es kann im Anschluss an die Diagnose auch ein Gutachten erstellt werden (z.B. sonderpädagogisches Gutachten – vgl. Kapitel 2.2.2). Dieser Prozess ist aber, wie bereits angemerkt, keine „Einbahnstraße“, sondern es kann sein, dass das Ziel der Beantwortung der Fragestellung erst nach Rückkopplungsschleifen und somit ggf. mehreren Durchgängen der Informationsgewinnung erreicht wird (Schmidt-Atzert/Amelang 2012, 390).

Eine derartige Rückkopplungsschleife ist beispielsweise auch im diagnostischen Algorithmus zu Sprachentwicklungsstörungen in der AWMF-Leitlinie zu USES berücksichtigt. „Auch nach der Diagnose USES sichert eine Rückkoppelungsschleife – z. B. bei ausbleibendem Therapieerfolg – die Möglichkeit zur erneuten Differenzialdiagnostik“ (AWMF 2011, 49).

In Anlehnung an Berg (2007, 68) stellt Abbildung 2 in ähnlicher Weise den diagnostischen Prozess im Bereich Sprache dar.

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Abb. 2: Diagnostischer Prozess im Bereich Sprache

2.2 Diagnostik im Kontext schulischer, sprachheilpädagogischer Förderung

Unterricht mit Kindern mit Förderbedarf im Bereich Sprache und Kommunikation ist als „diagnosegeleiteter Prozess“ (von Knebel 2007) zu verstehen, der potentielle (Sprach-)Barrieren identifiziert, um in der Folge eine uneingeschränkte sprachliche Bildung zu ermöglichen. Für eine professionelle, spezifische Unterstützung/Förderung ist es deshalb notwendig, den aktuellen, individuellen sprachlichen Entwicklungsstand und die spezifischen Bedingungen des Erwerbs sprachlicher Strukturen eines Kindes zu kennen (Wissen zur Lernausgangslage). Eine Diagnostik, die dieser Zielstellung folgt, liefert spezifische Ansatzpunkte, um Lernen – unabhängig vom Förderort – optimiert zu gestalten (Reber 2012).

„Wir praktizieren Diagnostik um der Förderung willen. Es geht darum, Fördermaßnahmen für Schülerinnen und Schüler an unterschiedlichen Förderorten zu entwickeln, um sie möglichst optimal in ihrer Lernentwicklung zu begleiten und zu unterstützen“ (Heimlich et al. 2013, 4).

Die diagnostische Erfassung von sprachlichen Fähigkeiten im schulischen Kontext übernehmen i.d.R. Sprachheilpädagogen – Sonderpädagogen, die für den Förderschwerpunkt Sprache und Kommunikation spezifisch ausgebildet sind. Auf der Grundlage der Empfehlungen der Kultusministerkonferenz zum Förderschwerpunkt Sprache und Kommunikation (KMK 1998) hat ihre diagnostische Tätigkeit die Aufgabe, „[…] Art und Umfang des sonderpädagogischen Förderbedarfs auf der Basis einer Kind-Umfeld-Analyse zu erheben. Dabei werden insbesondere die sprachlichen Handlungskompetenzen des Kindes vor dem Hintergrund seiner persönlichen Lebenssituation und der schulischen Anforderungen beschrieben, pädagogisch interpretiert und als spezifisches Förderbedürfnis ausgewiesen“ (KMK 1998, 6).

Exkurs Kind-Umfeld-Analyse: Die Kind-Umfeld-Analyse wurde u.a. von Sander und Hildeschmidt im Kontext der Etablierung schulischer Integration von Schülern mit Unterstützungsbedarf entwickelt (Hildeschmidt/Sander 1993). Sie versteht sich als breiter Ansatz, der sich von einer allein kindzentrierten Diagnostik abhebt und auch relevante Umwelteinflüsse (personelle und materielle Gegebenheiten) erfasst sowie hemmende und förderliche Bedingungen in der Schule und in schulrelevanten Umfeldern analysiert (Bundschuh/Winkler 2014, 350). Diese Aspekte finden sich heute auch in der ICF (DIMDI 2005). Somit steht nicht nur das Kind mit seinen Verhaltensmerkmalen im Fokus, sondern auch das Zusammenspiel von Personen und materialen Bedingungen in dem System, zu dem das Kind gehört (Bundschuh/Winkler 2014, 350Welling 2007, 970