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»Wenn Deutschland so scheiße ist, warum sind Sie dann hier?«

Stephan Zantke

»Wenn Deutschland so scheiße ist, warum sind Sie dann hier?«

Ein Strafrichter urteilt

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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Originalausgabe

7. Auflage 2020

© 2018 by riva Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Nymphenburger Straße 86

D-80636 München

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Fax: 089 652096

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Redaktion: Dennis Sand, Matthias Teiting

Umschlaggestaltung: Marc-Torben Fischer, München

Umschlagabbildung: Frank Vacik

Kapitelabbildung: dprimatirta/shutterstock.com

Satz: Müjde Puzziferri, MP Medien München

Druck: GGP Media GmbH, Pößneck

eBook: ePubMATIC.com

ISBN Print 978-3-7423-0720-0

ISBN E-Book (PDF) 978-3-7453-0325-4

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-7453-0326-1

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Inhalt

Vorwort

1. Die falsche Blondine

2. Der kleine Nazi

3. Der Friedhofsräuber von Crimmitschau

4. Die Rote Lola

5. Die zerstörte Kindheit

6. »Wenn es hier so scheiße ist …«

7. Unter Alkoholikern

8. Fernando und die Diebesbande

9. Mein täglich Crystal gib mir heute

10. Wie man sich bettet, so liegt man

Nachwort: Quo Vadis, Justitia?

Danksagung

Alle Geschichten, die in diesem Buch erzählt werden, sind authentische Geschichten. Die geschilderten Taten, die Täter und die Opfer hat es im Wesentlichen so gegeben, gleichwohl sind einzelne Details vom Autor bearbeitet worden. Alle Namen und Orte, die in diesem Buch vorkommen, wurden aus persönlichkeitsrechtlichen Gründen verändert.

Vorwort

Würde ich in diesem Buch meine Geschichte erzählen, dann wäre das die Geschichte eines Mannes, der auf der Suche ist. Es wäre die Geschichte von einem Mann, der zu begreifen versucht, warum die Dinge sind, wie sie sind, und warum die Menschen tun, was sie tun. Würde ich in diesem Buch meine Geschichte erzählen, dann wäre das die Geschichte eines einfachen Amtsrichters aus Zwickau.

Aber ich möchte in diesem Buch nicht meine Geschichte erzählen. Ich möchte Fallgeschichten erzählen. Ich möchte von den Verbrechen erzählen, die auf meinem Tisch landen, von Menschen, die zu Tätern geworden sind, und von Menschen, die zu Opfern geworden sind. Ich möchte Ihnen einen Einblick in unser Justizsystem gewähren, das Tag für Tag vor einer großen Aufgabe steht: nach der Wahrheitsfindung Recht zu sprechen und dabei gerecht zu bleiben. Das ist doch selbstverständlich? Nein, das ist es nicht. Recht und Gerechtigkeit mögen in der Theorie zusammengehören – in der Praxis jedoch gehen die beiden Begriffspaare oft getrennte Wege. Um Ihnen das begreiflich zu machen, muss ich etwas weiter ausholen. Und ausnahmsweise doch bei mir beginnen.

Eigentlich wollte ich Ingenieur werden. Als ich noch ein Kind war, habe ich es geliebt zu basteln. Dinge auseinanderzunehmen, mir anzueignen, wie sie aufgebaut sind, und sie anschließend wieder zusammenzusetzen. Ich wollte sehen, wie die Dinge, die mich umgeben, funktionieren. Was sie antreibt. Was aus ein paar Schrauben, Spulen und Drähten einen Motor macht. Ich mochte es, hinter die Dinge zu schauen.

Also habe ich ein Praktikum bei einem großen Elektrokonzern gemacht. Es gab zwei ältere Ingenieure, die mich unter ihre Fittiche nahmen. Die mir genau erklärten, was ich zu tun hätte und wie die Ingenieurstechnik funktionierte. Und plötzlich fand ich das alles gar nicht mehr aufregend, sondern sehr trocken und langweilig. Ich merkte, dass die beiden Männer keine Begeisterung für die Mechanik der Welt empfanden, sondern hauptsächlich Testreihen physikalischer Versuche analysierten. Das war ernüchternd. Und von diesem Tag an war mein kindlicher Berufstraum nur noch ein kindlicher Berufstraum.

Dann kam ich auf die Idee, Rechtswissenschaften zu studieren. Dazu sollte man einigermaßen sprachlich begabt sein und logisch denken können. In der Schule war Mathematik eines meiner Lieblingsfächer gewesen, das logische Denken lag mir also. Und ebenso liebte ich die deutsche Sprache, ich hatte immer viel gelesen und gern diskutiert. Also schrieb ich mich für ein Jura-Studium in Heidelberg ein.

Gleich im ersten Semester erschloss sich mir eine ganz neue Welt. Die Welt der Gesetze. Eine Welt, die auf den ersten Blick sehr komplex erscheint, sehr geschlossen wirkt, eine Welt aber auch, die in sich logisch ist und unseren Alltag viel mehr bestimmt, als wir uns das oft bewusst machen. Unsere Gesetze sind das Fundament unseres Zusammenlebens. Das Fundament unserer Gesellschaft. Und mit dem Studium dieser Fundamente erweiterte ich meinen Horizont.

Nach dem Studium kam das Referendariat. In dieser Zeit durchläuft ein Jurist verschiedene Stationen. Mal arbeitet man in der Verwaltung, mal in der Staatsanwaltschaft, mal als Rechtsanwalt. Aus den Paragrafen im Studium werden plötzlich reale Fälle. Die Praxis füllte die Theorie. Mit Menschen. Mit Geschichten. Mit Schicksalen. Und ich begann Jura wirklich zu lieben.

Nach meinem zweiten Staatsexamen hätte ich Rechtsanwalt werden können. Während meiner Ausbildung hatte ich aber gemerkt, dass man als Rechtsanwalt vor allem seinen Mandaten verpflichtet war, nicht aber der Gerechtigkeit. Und das widerstrebte mir, das wollte ich nicht.

Als ich in den Justizdienst des Freistaates Sachsen aufgenommen wurde, begann ich als Staatsanwalt. Dies war eine sehr aufregende und spannende Tätigkeit. Es war aber auch eine Zeit der Entbehrungen und ständigen Überarbeitung. Im Jahr 1993 stapelten sich die Akten in den Dezernaten meiner Kollegen und mir. Eine sechs- oder siebentägige Arbeitswoche war die Regel. Meine Arbeitszeit begann jeden Tag um 7 Uhr und endete regelmäßig erst nach 21 Uhr.

Schließlich sollte es der Beruf des Richters werden. Ein Richter ist ein Mittler zwischen den Positionen. Seine Aufgabe ist es, die Wahrheit zu finden. Die Tätigkeit eines Richters und die Tätigkeit eines Ingenieurs liegen gar nicht so weit auseinander, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. Auch als Richter nehme ich die Dinge auseinander, eigne mir die einzelnen Bestandteile an, die sich widersprechenden Aussagen, Motivationen und Verhaltensweisen, und versuche sie später wieder zusammenzusetzen. Ich versuche, mir ein möglichst genaues Bild von den Geschehnissen zu machen.

Als ich am Amtsgericht zum Richter auf Lebenszeit ernannt wurde, da wusste ich, welche Verantwortung man mir auftrug. Als Richter ist man unkündbar, unversetzbar, unabsetzbar. Man kann mich nicht kündigen, nur weil ich eine bestimmte Art von Rechtsprechung habe. Weil ich milder oder härter urteile als die Kollegen. Wichtig ist nur, dass ich mich an Gesetz und Recht halte. Jeder Richter findet seinen eigenen Kompass, wenn er ein Urteil fällt.

Ich habe dabei ein Prinzip. Es basiert auf dem Gedanken, dass jeder Mensch eine zweite Chance verdient. Begeht also jemand eine kleinere Straftat zum allerersten Mal, werde ich ihn in der Regel verwarnen. Beim zweiten Mal bekommt er einen Schuss vor den Bug. Eine Strafe, die ihn spüren lässt, dass es wehtun kann, wenn man das Recht bricht. Steht jemand zum dritten Mal bei mir vor Gericht, wird er eine harte Strafe bekommen. Für einige Kollegen gelte ich deswegen als Hardliner. Ich sehe mich nicht als Hardliner. Ich sehe mich als jemanden, der Recht durchsetzt. Ich bin der Überzeugung, dass die Justiz die Mittel, die ihr zur Verfügung stehen, auch einsetzen muss. Sonst wird sie zahnlos.

Ich werde in diesem Buch zehn Fälle vorstellen. Fälle, die teilweise grausam sind, Fälle, die zeigen, wo unser Rechtssystem offene Flanken hat, Fälle, die einen ratlos zurücklassen. Wie etwa der Fall eines jungen Mannes, der in einem gut behüteten Elternhaus aufwächst und sich in seinem Leben niemals etwas zuschulden hat kommen lassen, der gute Noten schreibt und eine Freundin hat und dann anscheinend aus dem Nichts eine 55-jährige Frau brutal vergewaltigt. Oder der Fall von Marie F., die seit ihrem sechsten Lebensjahr beinahe täglich von ihrem eigenen Vater vergewaltigt wurde – sogar im Ehebett, während die Mutter danebenlag und tat, als würde sie schlafen. Oder den Fall von Abdul K., der als vermeintlich syrischer Flüchtling nach Deutschland kam, den Behörden seine Identität aber wohl nur vortäuschte, um Anspruch auf Asyl zu bekommen. Abdul wurde verhaltensauffällig, er randalierte, schmiss mit Bierflaschen nach Kindern, spuckte einer Frau grundlos ins Gesicht. Wir verurteilten ihn nach mehrfachen Vorstrafen zu einer Haftstrafe. Dieser Fall löste eine internationale Welle der Berichterstattung aus. Für linke Medien war ich »Richter Gnadenlos«, ein AfD-Sympathisant, der einen Flüchtling zu hart bestrafte. Für rechte Medien war ich ein »Geistesbruder«.

Ich will weder das eine noch das andere sein. Meine Urteile beruhen nicht auf einer politischen Gesinnung. Sie beruhen auf dem Gesetz. Wer eine Straftat begeht, wird bestraft. Ob er links oder rechts steht, ob er ein Deutscher oder ein Migrant ist, das spielt für mich keine Rolle. Vor dem Gesetz sind wir alle gleich. Das ist das Schöne an dem Gesetz.

Würde ich in diesem Buch meine Geschichte erzählen, dann wäre das die Geschichte eines Mannes, der seit vielen Jahren auf der Suche ist. Auf der Suche nach dem, was die Menschen antreibt. Es wäre die Geschichte eines Mannes, der bis heute mit sich ringt, wie er Recht sprechen und Gerechtigkeit walten lassen kann. Es ist eine Suche, die niemals enden wird. Ich möchte Sie einladen, mich auf den folgenden Seiten auf dieser Suche zu begleiten.

Stephan Zantke,

Zwickau im August 2018

KAPITEL 1

Die falsche Blondine

Straftatbestand:
Vergewaltigung (§ 177 StGB)

Die Geschichte

An einem außergewöhnlich kalten Samstag macht sich Tanja R. auf den Weg zur Arbeit. Es ist noch früh am Morgen. Die 55-Jährige hat eine anstrengende Woche hinter sich. Es ist jetzt der siebte Tag in Folge, an dem sie arbeitet. Es geht nicht anders. Personalnotstand. Und als ob das nicht schon alles anstrengend genug wäre, hat Tanja R. heute auch noch Frühschicht.

Tanja R. arbeitet in einem Krankenhaus. In Krankenhäusern gibt es keine Ruhetage. Und es gibt auch keine Ruhestunden. Um fünf Uhr morgens hat der Wecker geklingelt, sie ist aufgestanden, hat sich zurechtgemacht und ihr Frühstück in eine kleine, hellblaue Tupperdose gepackt. Um halb sechs Uhr verlässt sie das Haus. Für sie ist das mittlerweile Routine.

Es ist ein außergewöhnlich kalter November dieses Jahr. Tanja schließt die schwere Haustür hinter sich und macht sich auf den Weg. Sie geht die große Hauptstraße entlang und spielt ihren Arbeitstag schon einmal im Kopf durch. Das macht sie jeden Morgen so. Sie wird in das Krankenhaus kommen, sich im Schwesternzimmer umziehen, ein klein wenig mit ihren Kolleginnen reden und dann in den Operationssaal gehen. Um Punkt sieben Uhr wird sie das Operationsbesteck sterilisiert, den Saal desinfiziert und vorbereitet haben, was sonst noch vorbereitet werden muss. Um halb acht Uhr steht die erste Operation an. Sie versucht sich zu erinnern, welcher Patient es sein wird. Aber sie kommt nicht drauf.

Tanja R. bleibt stehen. Die Ampel an der Kreuzung ist auf Rot gesprungen. Auf der Straße ist kein Auto zu sehen. Zu sehen ist nur das Krankenhaus auf der Spitze des Hügels. Dennoch bleibt die Krankenschwester stehen. Die Laternen beleuchten die von Frost überzogenen Straßen. Tanja R. spürt den kalten Wind auf ihrer Haut. Sie geht ihren Arbeitsweg immer zu Fuß, die Strecke ist gut machbar, 15 Minuten. Vom Tal auf den Hügel. Das hält die 55-Jährige fit. Und es macht wach. Als die Ampel endlich grün wird, stakst sie vorsichtig über die Straße, um nicht auszurutschen. Zu dieser Uhrzeit ist der Winterdienst noch nicht in diesem Teil der Stadt angekommen. Die Straßen sind gefährlich glatt.

Aus den Augenwinkeln sieht Tanja R. einen jungen Mann, der sich ihr nähert. Nach ein paar Minuten geht er an ihr vorbei und schaut sie kurz von der Seite an. Es ist selten, dass sie zu dieser Uhrzeit jemandem begegnet. Aber es kommt vor. Der Mann könnte einer der Bauarbeiter sein, die den Anbau für das Krankenhaus errichten, in dem sie später vielleicht selbst einmal arbeiten wird. Andererseits liegen die Baustellen am Wochenende brach. Der Mann wird wohl nach Hause gehen. Vielleicht kommt er von einer Nachtschicht. Oder er hat auch Frühschicht. Er könnte im selben Krankenhaus arbeiten wie sie. Man kennt sich nicht zwingend in dem großen Haus, in dem Tanja R. arbeitet. Vielleicht war der junge Mann aber auch einfach nur die ganze Nacht tanzen – Tanja R. beginnt ihren Samstag, wenn andere ihren Freitag beenden.

Tanja R. denkt gern über Menschen nach. Jeder Mensch, sagt sie, hat eine Geschichte, und diese Geschichten bleiben uns meist verschlossen. Wenn wir Menschen treffen, dann werden wir für einen kurzen Augenblick zu einem Teil ihres Lebens. Zu einem Teil ihrer Geschichte. Meist ist das kein besonders relevanter Teil. Aber immerhin. Jede Begegnung, sagt Tanja R., hat das Potenzial, ein Leben zu verändern. Es auf den Kopf zu stellen. Tanja R. hat keine Ahnung, wie sehr diese Begegnung ihr Leben auf den Kopf stellen wird. Sie weiß nicht, dass sich innerhalb von nur einer Stunde alles verändern wird. Der junge Mann zieht weiter.

Tanja R. kann das Krankenhaus sehen. Sie ist mittlerweile den halben Hügel hinaufgelaufen. Der Wind bläst ihr frostig ins Gesicht. Noch fünf Minuten, dann ist sie endlich da. Im Warmen. Es ist wirklich ein außergewöhnlich kalter Samstagmorgen, denkt sich die 55-jährige Krankenschwester. Dann sieht sie, wie sich der junge Mann vor ihr umdreht. Nur kurz. Nur für einen Augenblick. Sie denkt sich nichts dabei. Vielleicht hält er sie für jemanden, den er kennt. Vielleicht sieht sie in ihrer dicken Winterjacke jemandem ähnlich. Vielleicht ist er auch nur neugierig, weil er sie schon einmal auf dem Weg zur Arbeit gesehen hat. Vielleicht arbeitet er wirklich im Krankenhaus, denkt Tanja R. und versucht sich krampfhaft zu erinnern, wer heute der erste Patient auf ihrer Liste ist. Schmidt? Schulz?

Dann sieht sie, wie der junge Mann sich vor ihr hinkniet, um sich die Schuhe zu binden.

Müller! Es ist Johann Müller. Er wird heute eine Magenoperation bekommen. Ein Routineeingriff.

Dann geht sie vorbei an dem jungen Mann, der sich noch immer um seine Schnürsenkel kümmert.

*

An einem außergewöhnlich kalten Freitagnachmittag kommt Schlosserlehrling Florian P. nach Hause. Es ist 16.30 Uhr. Er hat einen anstrengenden Tag hinter sich. Florian P. ist froh, dass die Woche vorbei ist. Seit ein paar Tagen ist es so wahnsinnig kalt draußen. Er schaut kurz auf das Thermometer, dass er auf der Fensterbank liegen hat. Minus zehn Grad. »Krass«, sagt er.

Florian P. wohnt noch bei seinen Eltern. Das Geld, das er verdient, reicht nicht für eine eigene Wohnung. Zu Hause muss er keine Miete zahlen. Er kann nun sogar einen kleinen Teil seines Geldes zurücklegen. Für die Zukunft. Florian nimmt seine Ausbildung ziemlich ernst. Handwerk ist genau das Richtige für ihn. Theorie und dicke Bücher haben ihn noch nie sonderlich interessiert. Er ist kein Lerntyp. Mehr der Anpacker. Trotzdem sind seine Leistungen in der Berufsschule gut. Ziemlich gut sogar.

Florian hat ein Ziel, und auf dieses Ziel arbeitet er hin. Es ist nicht der große Traum vom Haus am Strand. Florian ist bodenständig und bescheiden. Er denkt in kleineren Maßstäben. Er will einen Führerschein und eine eigene Wohnung. Das beides zusammen wäre für ihn die absolute Unabhängigkeit. Um sich den Führerschein leisten zu können, spart er. Um sich die Wohnung leisten zu können, arbeitet er. Bis zur Gesellenprüfung wohnt er zu Hause. Florian ist Einzelkind. Seine Eltern haben ihn bislang bei allem unterstützt. Sie sind ziemlich stolz auf ihn. Sie sehen, dass er sich anstrengt. Florian war schon immer ein disziplinierter Junge. Jahrelang hat er im Fußballverein gespielt, im Mittelfeld. Er war kein Superstar, aber er konnte was. Und er stand jeden Mittwoch um Punkt 17 Uhr auf dem Trainingsplatz. »Dieser Junge ist diszipliniert«, hat sein Trainer den Eltern damals immer und immer wieder gesagt. »Und Disziplin ist die halbe Miete.«

Florian war auch immer ein hübscher Junge. Kein absoluter Frauenschwarm, aber eben ein schöner Kerl. Mit 1,75 Metern ist er nicht sehr groß. Eher schmächtig. Aber er hat ein freundliches Gesicht. Florian ist der Prototyp des netten Jungen aus der Nachbarschaft.

Die Woche war hart. Florian P. freut sich auf sein Wochenende. Er will entspannen. Er legt sich auf sein Bett, schmeißt seine Playstation und seinen Fernseher an und zockt ein wenig FIFA. Gleichzeitig schreibt er sich mit ein paar Freunden. Per SMS planen sie den Abend.

»Disko?«, fragt einer.

Disko. Klar. Warum nicht? Disko geht immer an einem Freitagabend.

»Okay«, tippt Florian mit der linken Hand in sein Handy und starrt weiter auf den Fernsehschirm.

»Alles klar. 20 Uhr. Bekannter Treffpunkt«, schreibt Kai.

Kai ist Florians bester Freund. Kai und Florian haben eine Clique. Sechs, sieben Leute sind Teil dieser Gruppe, die meisten von ihnen kennen sich noch aus der Schulzeit. Mittlerweile machen fast alle eine Ausbildung, aber den Kontakt, den hat man nie verloren.

Florian hat auch eine Freundin. Sarah. Sie sind seit drei Jahren zusammen. Sie kennen sich ebenfalls aus der Schule. Sarah war in der Parallelklasse von Kai und Florian, und Florian fand sie schon immer toll.

»Freu’ mich«, tippt er in sein Handy. Ohne zu wissen, dass diese Nacht sein gesamtes Leben verändern wird. Dass dieser Freitagabend eine Wendung nehmen wird, die zu diesem Zeitpunkt niemand vorhersehen kann.

*

Um 20 Uhr trifft sich die Clique in der Stadtmitte. Dort treffen sie sich immer, wenn sie abends zusammen weggehen. Einen genauen Plan hat die Gruppe nicht. Einfach losziehen und schauen, was so geht. Die Stadt ist übersichtlich. Allzu viele Läden gibt es hier nicht. Zunächst gehen die jungen Leute in eine Bar. Sie trinken ein paar Biere. Unterhalten sich. Aber die Stimmung ist nicht sonderlich gut. Außer ihnen ist kaum jemand unterwegs. Vielleicht, weil es so verdammt kalt ist.

»Minus zehn Grad«, wirft Florian ein. »Habe ich noch vorhin auf dem Thermometer gesehen.«

»Krass«, sagt Kai und ext sein Bier.

»Lasst mal weiterziehen«, wirft einer der anderen Jungs ein.

Florian zieht sein Handy raus. Sarah hat ihm geschrieben: Gehen gleich ins Kreuzeck.

»Das Kreuzeck«, sagt Florian zu seinen Jungs. »Lasst uns da auch hin.«

Das Kreuzeck ist eine bekannte Großraumdisko. Dort läuft Mainstream-Musik: Pop, R’n’B, HipHop. Drei Tanzflächen. Die Türpolitik ist locker. Hier kommt jeder rein, der nicht völlig besoffen ist oder allzu sehr nach Stress aussieht. Das Kreuzeck ist ein beliebter Laden. Die gesamte Jugend aus den umliegenden Dörfern kommt hierhin, wenn am Wochenende mal ordentlich gefeiert werden soll. Und auch Florian und seine Clique sind Stammgäste. Eigentlich endet fast jeder Freitagabend hier, auch wenn es vorher gar nicht geplant war.

Gegen 22 Uhr treffen sie in dem Laden ein. Zunächst ist Florian enttäuscht. Es ist relativ leer. Wie schon zuvor in der Bar. Das ärgert ihn. Es ist doch Wochenende. Er will etwas erleben. Die Woche war anstrengend genug.

An der Bar bestellt er sich zwei Kurze. Wodka. Er ext die Pintchen. Sarah ist auch da. Er winkt ihr zu. Sie winkt zurück, wirft ihm zur Begrüßung eine Kusshand zu. Sie steht auf der Tanzfläche, aber ihm ist heute nicht nach Tanzen zumute. Er will trinken, deshalb belässt er es bei der Begrüßung aus der Ferne. Und bestellt sich zwei weitere Kurze.

»Wollen wir abziehen?«, fragt Kai ihn irgendwann. »Ist tote Hose hier.«

»Ja, aber lass warten«, entgegnet Florian. »Hab das Gefühl, dass es noch besser wird.«

Also bleiben sie. Und tatsächlich. Es wird voller. Nach und nach. Um Mitternacht ist die Tanzfläche komplett gefüllt.

Die Musik ist sehr laut. Die Bässe wummern aus den Boxen. Sie sind völlig überpegelt, aber das stört hier niemanden. Florian hat mittlerweile so einiges getrunken. Er steht an der Bar, nickt mit dem Kopf zur Musik und scannt die Menschen. Und dann bleibt sein Blick hängen. An einem Mädchen. Wahnsinn, denkt sich Florian. »Was für eine Granate«, brüllt er über die Musik hinweg zu seinem Kumpel Kai.

»Was ist mit Sarah? Junge, du bist vergeben, vergiss das nicht.«

Aber Florian hat es längst vergessen. Er hat nur noch Augen für dieses eine Mädchen. Dieses Mädchen mit den hellblond gefärbten Haaren. Sie ist groß und schlank, ihre Fingernägel sind rot lackiert, und sie trägt eine Leggings, in der sich ihre sportliche Figur abzeichnet.

»Ich muss da hin«, sagt Florian zu Kai und geht zu dem Mädchen.

»Hey«, sagt er. »Darf ich dir was zu trinken ausgeben?«

Das Mädchen zögert einen kurzen Moment. Sie schaut zu ihren Freundinnen. Dann mustert sie Florian. Und lächelt.

»Klar«, sagt sie.

Sie trinken einen Gin Tonic. Dann tanzen sie. Erst einen Song. Dann einen zweiten. Und irgendwann denken die beiden an nichts anderes mehr.

Bis Sarah auftaucht. Sie zieht ihren Freund zur Seite.

»Sag mal, willst du mich verarschen? Was soll das denn werden?«, fragt sie wütend.

»Ach«, sagt er. »Stell dich nicht so an. Wir tanzen nur.«

Dann lässt Florian seine Freundin stehen. Sarah ist entsetzt. So kennt sie ihn nicht. Was ist nur los mit Florian? Auch der Rest der Clique ist verwundert. Florian hat nur noch Augen für diese Blondine. Für Stefanie. Er ist komplett auf sie fixiert. Nimmt gar nichts anderes mehr wahr.

»Junge, ist alles okay bei dir?«, fragt ihn Kai, der sich schon auf den Weg nach Hause machen will.

»Ich weiß nicht«, sagte Florian. »Ich glaube ich habe mich total verknallt. Was für eine Frau. Und was für geile blonde Haare …«

»Bist du behindert im Kopf? Verliebt? Nach zwei Stunden oder was?«

»Ja, Liebe auf den ersten Blick und so. Ich habe noch nie so eine Granate gesehen. Im Ernst. Diese Haare. Das macht mich verrückt.« Kai schüttelt nur den Kopf.

»Richtiger Spinner«, sagt er und zieht ab.

Während der Rest der Clique nach und nach den Laden verlässt, tanzen und trinken Florian und die fremde Blondine, die sich Stefanie nennt, die Nacht durch. Stefanie. Was für ein Glück, dass sie an diesem Abend mit den vielen anderen Menschen in die Diskothek und damit in mein Leben gekommen ist, denkt sich Florian.

Es wird vier Uhr. Fünf Uhr. Und schließlich bietet Florian P. der geheimnisvollen Blondine an, dass er sie nach Hause bringt. Sie stimmt zu.

Florian P. ist ein Gentleman. Sein Betragen ist einwandfrei. Er begleitet Stefanie und ihre beste Freundin nach Hause. Stefanie macht alles mit. Sie wehrt sich nicht, als er seine Hand auf ihre Hüfte legt und die beiden eng umschlungen nach Hause torkeln. Sie findet diesen Florian ganz niedlich. Sie sieht keine Gefahr in ihm. Sie sieht die Situation nicht als gefährlich an. Warum auch? Welchen Grund hätte sie, misstrauisch zu sein? Die beiden haben getanzt und getrunken und ein bisschen geredet. Florian ist in keinem Moment zudringlich geworden. Nein, Florian P. ist ein Gentleman. Die drei gehen in Richtung Stadt.

Die kalte Nachtluft tut Florian gut. Er merkt, wie er wieder klarer im Kopf wird. Er hat doch schon so einiges getrunken. Aber auch nicht zu viel. Er ist ein fitter junger Mann. Gut im Training. Er hat keine Ausfallerscheinungen. Er ist gut drauf. Und ein bisschen verliebt.

Schließlich erreichen sie die Wohnung von Stefanie.

»Hey«, fragt Florian. »Darf ich deine Nummer haben?«

Die Blondine löst sich aus der Umarmung, nimmt sein Mobiltelefon und tippt ihre Nummer in sein Adressbuch. Sie lächelt.

»Meine Freundin und ich gehen jetzt nach Hause«, sagt Stefanie.

»Ich kann dich doch auch noch reinbringen. Ich komme mit dir«, sagt Florian und lächelt.

»Nein.«

»Nein?«

»Nein!«

Florian beißt sich auf die Lippe. Nur für einen kurzen Moment sieht man seine Enttäuschung. »Nein.« Das hat ihn gekränkt. Das hat ihn wirklich gekränkt. Er nickt, dreht den Mädchen den Rücken zu und geht durch die kalte Nacht davon.

Florian läuft über die große Hauptstraße in Richtung Hügel. Er sieht schon von Weitem die große Baustelle. Eine Autobahnzubringerstraßenbrücke wird gebaut. Und auch das Krankenhaus auf dem Berg, an dem Florian P. wohnt, soll erweitert werden. Es sind große Maßnahmen. Auf dem Gelände gegenüber seiner Wohnung befinden sich riesige Erdberge. Sand. Kies. Schotter. Baumaterialien. Auf der Straße befindet sich niemand. Nur eine einzige Frau in einer dicken Winterjacke läuft vor ihm. Florian P. überholt sie mit schnellem Schritt. Er schaut kurz zur Seite. Sieht in das Gesicht der Frau. Sieht eine blonde Haarsträhne, die aus ihrer Kapuze fällt. Irgendetwas passiert nun in Florians Kopf. Niemand wird je sagen können, was. Auf Höhe der Baustelle, gegenüber von seinem Haus, bückt er sich, um seine Schuhe zu binden.

*

Samstagmorgen. Es ist kurz vor 6 Uhr. Tanja R. geht ein wenig schneller. Sie hat das Krankenhaus fast erreicht. Es sind nur noch ein paar Meter. Sie passiert den jungen Mann, der vor ihr auf der Straße kniet. Sie geht weiter. Kurz denkt sie noch über ihn nach. Wer der Junge wohl ist? Was für eine Geschichte er hat? Als Krankenschwester trifft man auf so viele Menschen, und all diese Menschen berichten ihr immer und immer wieder von ihrem Leben. Tanja R. liebt diese Geschichten. Dann geht sie weiter. Als der junge Mann aus ihrem Blickwinkel verschwindet und schon gar nicht mehr Teil ihrer Wahrnehmung ist, nicht mehr Teil ihrer Gedanken, ihres Lebens, spürt sie plötzlich eine Hand auf ihrem Hals. Sie wird an der Kehle gepackt. Tanja R. weiß gar nicht, wie sie reagieren soll, so unerwartet kommt alles. Noch bevor sie schreien kann, presst ihr jemand eine Hand auf den Mund.

Sie spürt ihren Herzschlag. Spürt, wie das Adrenalin durch ihren Körper pumpt. Was passiert hier gerade? Der Mann schleift sie regelrecht hinter sich her. Schleift sie die letzten Meter zum Hügel hinauf. Da ist die Baustelle, der Krankenhausanbau. Es ist Samstag, frühmorgens, niemand ist hier. Sie spürt, wie sie mit Gewalt auf das Baugelände geschleppt wird. Tanja R. spürt die Panik in sich aufsteigen. Die ersten Sekunden ist sie noch im Schockzustand gewesen. Wie gelähmt. Jetzt versucht sie, sich zu wehren. Sich aus dem Griff des Mannes zu lösen.

»Lass locker, du dumme Fotze!«, sagt er zu ihr. Sie kann sein Gesicht noch immer nicht erkennen. Schließlich erreichen die beiden die Baustelle. Der Mann schleudert die 55-Jährige auf den Boden. Direkt vor sich. Tanja R. fällt auf den harten gefrorenen Dreck. Sie spürt, wie sie sich die Knie aufschlägt. Ein stechender, ein brennender Schmerz. Jetzt kann sie zum ersten Mal den jungen Mann von vorn sehen. Es ist der Junge, der sich eben vor ihr die Schuhe zugeschnürt hat. Es ist Florian P.

Er tritt auf sie zu und schlägt ihr mit der flachen Hand mehrfach ins Gesicht.

»Bitte nicht …«, sagt Tanja R. und hebt schützend die Hände. Ihr ist völlig klar, dass sie keine Chance gegen den Jungen hat. Er ist nicht sehr groß. Eher schmächtig. Aber er ist unfassbar aggressiv.

»Nimm die Hände weg, du Fotze!«, schreit er sie an. Dann tritt er ihr in den Bauch. Tanja R. versucht sich zu wehren. Versucht zumindest die Schläge abzuwehren. Was will dieser Mann von ihr? Geld? Wertsachen? Warum tut er das? Sie versteht überhaupt nicht, was mit ihr passiert. Sie nimmt jetzt die Hände herunter. Ganz langsam. Als Zeichen, dass er aufhören soll, sie zu schlagen. Sie will signalisieren: Ich bin wehrlos.

Daraufhin holt Florian aus und schlägt der Krankenschwester mit voller Wucht die Faust ins Gesicht. Tanja R. hört ein lautes Krachen. Ihr Unterkiefer bricht. Sie verliert das Bewusstsein.

*