Der Rasenfleck vor dem Gefängnis im Kerkergäßchen war also an
einem Sommermorgen vor nicht weniger als zwei Jahrhunderten mit
einer ziemlich großen Anzahl von Einwohnern Bostons bedeckt, deren
Augen aufmerksam auf die eisenbeschlagene Eichentür gerichtet
waren. Bei jedem andern Volke oder zu jeder spätern Periode der
Geschichte von Neuengland würde die düstere Starrheit, welche die
bärtigen Physiognomien dieser guten Leute versteinerte, verkündet
haben, daß irgend etwas Entsetzliches bevorstehe: sie
hätte nichts Geringeres als die erwartete
Hinrichtung eines bekannten Verbrechers bezeichnen können, bei dem
der Spruch eines Tribunals nur den der öffentlichen Meinung
bestätigt hätte. Aber bei der Strenge des Charakters der frühen
Puritaner war ein Schluß dieser Art nicht so zweifellos zu ziehen.
Es konnte sein, daß ein träger Dienstmann oder ein ungehorsames
Kind, das seine Eltern der Zivilbehörde übergeben hatten, am
Schandpfahl gezüchtigt werden sollte. Es konnte sein, daß man einen
Antinomisten, einen Quäker oder andern ungläubigen Sektierer aus
der Stadt peitschen oder einen faulen indianischen Landstreicher,
den das Feuerwasser des weißen Mannes zur Verübung von Straßenunfug
getrieben, mit Striemen in den Schatten des Waldes hinausjagen
wollte. Es konnte sogar sein, daß eine Hexe, wie die alte Frau
Hibbins, die bösartige Witwe einer Magistratsperson, am Galgen
sterben sollte. In jedem dieser Fälle wäre ziemlich die gleiche
Feierlichkeit auf den Gesichtern der Zuschauer zu bemerken gewesen,
wie solches einem Volke ziemte, bei welchem Religion und Gesetz
fast identisch und in dessen Charakter beide so vollkommen
verschmolzen waren, daß die mildesten Handlungen der öffentlichen
Disziplin ihm ebenso ehrwürdig und schauerlich erschienen wie die
strengsten. Die Teilnahme, welche eine Gesetzesübertretung von
solchen um die Schandbühne versammelten Zuschauern erwarten konnte,
war in der Tat nur gering und kalt. Andererseits konnte eine
Strafe, mit welcher in unserer Zeit unausbleiblich ein hoher Grad
von spöttischer Infamie und Lächerlichkeit verbunden sein würde,
damals von einer fast ebenso strengen Würde wie die Todesstrafe
selbst begleitet sein.
Es war an dem Sommermorgen, wo unsere Geschichte beginnt, ein
bemerkenswerter Umstand, daß die Frauen, von denen sich mehrere
unter der Menge befanden, ein besonderes Interesse an der
Bestrafung, welche hier bevorstand, zu nehmen schienen. Die Zeit
besaß noch nicht so viel Gefühlsverfeinerung, daß eine Empfindung
des Unpassenden dieTrägerinnen von Röcken und
Miedern abgehalten hätte, auf die öffentlichen Straßen
hinauszutreten und ihre nicht unsubstantiellen Personen, wenn Anlaß
dazu vorhanden, bei einer Exekution in die dem Schafott nächsten
Reihen der Zuschauer hineinzuzwängen.
Jene Frauen und Jungfrauen von altenglischer Geburt und
Erziehung waren moralisch wie physisch aus gröberen Fasern gemacht
als ihre schönen, durch eine Reihe von sechs bis sieben
Generationen von ihnen getrennten Nachkommen. Denn in dieser Kette
der Geschlechtsfolge hat jede Mutter ihrem Kinde eine schwächere
Blüte, eine bleichere, kürzer dauernde Schönheit und eine zartere
physische Konstitution, wo nicht einen Charakter von geringerer
Kraft und Solidität wie ihren eigenen, vermacht. Die Frauen, welche
jetzt um die Gefängnistür standen, waren weniger als ein halbes
Jahrhundert von der Zeit entfernt, wo die männliche Elisabeth die
nicht ganz unpassende Vertreterin ihres Geschlechts gewesen war.
Sie waren ihre Landsmänninnen, und das Rindfleisch und das Bier
ihrer Heimat waren zusammen mit einer um keinen Deut feineren
moralischen Diät zu gutem Teil in ihre Zusammensetzung eingegangen.
Die helle Morgensonne schien daher auf breite Schultern und volle
Busen und runde, tiefrote Wangen, die auf der fernen Insel zur
Reife gediehen und in der Atmosphäre von Neuengland kaum erst
bleicher oder schmäler geworden waren. Überdies war jenen Matronen,
was die meisten von ihnen zu sein schienen, eine Dreistigkeit und
Geradheit der Rede eigen, welche uns sowohl in bezug auf ihre
Fassung wie auf das Volumen ihres Tones in Schrecken setzen
würde.
»Hört, Weiber!« rief eine Fünfzigjährige mit harten Zügen, »ich
will euch etwas sagen. Es würde sehr zum öffentlichen Wohle
gereichen, wenn wir Weiber, die wir von reifem Alter und in gutem
Rufe stehende Gemeindemitglieder sind, mit der Bestrafung von
Missetäterinnen wie dieser Esther Prynne beauftragt würden. Was
meint ihr, Gevatterinnen? Würde die schlimme
Dirne, wenn sie vor uns fünfen, die wir hier beisammen stehen, zur
Aburteilung gelangte, mit einem Spruche, wie ihn die würdigen
Richter gefällt haben, davonkommen? Meiner Treu, ich glaub es
nicht.«
»Die Leute sagen«, sprach eine andere, »daß Ehrwürden Pfarrer
Dimmesdale, ihr frommer Pastor, sich es schwer zu Herzen nähme, daß
seine Gemeinde von einem solchen Skandal betroffen worden ist.«
»Die Richter sind gottesfürchtige Herren, aber viel zu gnädig –
das ist die Wahrheit«, stimmte eine dritte herbstliche Matrone bei.
»Sie hätten allerwenigstens Esther Prynne mit einem glühenden Eisen
auf der Stirn brennen sollen. Madam Esther würde dabei schön das
Gesicht verzogen haben, darauf könnt ihr euch verlassen. Aber sie,
das freche Ding, wird sich wenig daraus machen, was man ihr auf ihr
Mieder setzt! Sie kann es ja mit einer Brosche oder irgend so einem
heidnischen Zierat bedecken und ebenso munter wie sonst auf der
Straße umherlaufen.«
»Ja, aber«, sprach sanfter eine junge Frau, die ein Kind an der
Hand hielt, »sie mag das Zeichen bedecken, wie sie will, der
Schmerz wird ihr doch immer im Herzen bleiben.«
»Was reden wir da von Zeichen und Brandmarkungen auf ihrem
Mieder oder am Fleische ihrer Stirn!« rief ein anderes
Frauenzimmer, die häßlichste und zugleich die unbarmherzigste unter
diesen selbst eingesetzten Richterinnen. »Das Weib hat über uns
alle Schande gebracht und sollte von Rechts wegen sterben. Ist kein
Gesetz dafür da? Wahrhaftig, es gibt deren, in der Schrift sowohl
wie im Gesetzbuch. Die Richter, die sie wirkungslos gemacht haben,
mögen es sich dann selbst danken, wenn ihre eigenen Weiber und
Töchter auf Abwege geraten.«
»Gott sei uns gnädig, Gevatterin!« rief ein Mann aus der Menge;
»gibt es denn bei den Weibern keine Tugend, außer jener, die einer
heilsamen Furcht vor dem Galgen entspringt? Das ist das härteste
Wort, was noch gesprochen worden ist. Jetzt
still, Basen, der Schlüssel dreht sich in der Gefängnistür und hier
kommt Frau Prynne selbst.«
Die Tür des Gefängnisses wurde von innen aufgerissen, es zeigte
sich zuerst, gleich einem schwarzen, in den Sonnenschein
hinaustretenden Schatten, die Schreckensgestalt des Stadtbüttels,
Degen an der Seite und Amtsstab in der Hand. Diese Person
verkündete und stellte in ihrer Erscheinung die ganze düstere
Strenge des puritanischen Gesetzkodex dar, welchen in seiner
letzten und den Übertreter zunächst berührenden Anwendung zur
Ausübung zu bringen sein Amt war. Er streckte den Amtsstab in
seiner linken Hand aus und legte seine rechte auf die Schulter
einer jungen Frau, die er so vorwärts zog, bis sie ihn auf der
Schwelle der Gefängnistür mit einer Gebärde voll natürlicher Würde
und Charakterstärke zurückstieß und wie aus eigenem Antriebe in die
freie Luft hinaustrat. Auf ihren Armen trug sie ein Kind, einen
etwa drei Monate alten Säugling, der blinzelnd sein kleines Gesicht
von dem zu hellen Lichte des Tages abwandte, weil ihn seine
Existenz bisher nur mit dem grauen Zwielicht eines Kerkers oder
andern düstern Gemaches im Gefängnis bekannt gemacht hatte.
Als die junge Frau, die Mutter dieses Kindes, der versammelten
Menge vollkommen sichtbar wurde, schien es ihr erster Impuls zu
sein, das Kind dicht an ihren Busen zu schließen, nicht sowohl von
mütterlicher Zärtlichkeit getrieben, als um dadurch ein gewisses
Zeichen zu verbergen, das in ihr Gewand gewirkt oder daran
befestigt war. Im nächsten Augenblick schloß sie jedoch, daß ein
Zeichen der Schande nur schlecht dazu dienen würde, ein anderes zu
verbergen, nahm das Kind auf ihren Arm und schaute mit brennendem
Erröten und doch stolzem Lächeln und einem Blick, der sich nicht
einschüchtern lassen wollte, auf ihre Mitbürger und Nachbarn
ringsum. Mitten auf dem Brustteile ihres Gewandes zeigte sich, von
feinem rotem Tuch geschnitten und mit prächtig gestickten
phantastischen Schnörkeln von Goldfäden
umgeben, der Buchstabe A, der Anfangsbuchstabe von Adulteress =
Ehebrecherin. Er war so kunstvoll und mit so fruchtbarer üppiger
Phantasie eingestickt, daß das Ganze wie ein passender letzter
Zierat des Gewandes aussah, welches sie trug, und das von dem
Geschmack der Zeit entsprechender, aber weit über das von den
Aufwandsgesetzen der Kolonie Erlaubte hinausgehender Pracht
war.
Die junge Frau war hochgewachsen und besaß eine Gestalt von
vollkommener Eleganz im großen Maßstabe. Sie hatte dunkles, üppiges
Haar von solchem Glanze, daß es den Sonnenschein schimmernd
zurückwarf, und ein Gesicht, das, nicht bloß durch regelmäßige Züge
und warme Farbe schön, auch noch den eindrucksvollen Charakter
besaß, welchen eine wohlgeformte Stirn und tiefschwarze Augen
verleihen. Überdies sah sie vornehm aus, wie man bei den Frauen
jener Zeit die Vornehmheit verstand, das heißt, sie besaß mehr eine
gewisse Stattlichkeit und Würde als die zarte, vergängliche und
unbeschreibliche Grazie, welche heutzutage als ihre Zeichen gelten.
Und nie hatte Esther Prynne vornehmer in diesem alten Sinne des
Ausdrucks ausgesehen, als da sie aus dem Gefängnisse trat. Die sie
früher gekannt und erwartet hatten, daß ihre Schönheit durch die
Wolke des Unglücks getrübt und verdunkelt werden würde, waren
erstaunt, ja entsetzt, als sie bemerkten, wie diese hervorleuchtete
und das Unglück und die Schmach, worin sie gehüllt war, wie eine
Glorie um sie erstrahlen ließ. Zwar lag darin für einen
empfindenden Beobachter etwas ausgesucht Schmerzliches. Ihre
Kleidung, die sie für diesen Anlaß im Gefängnisse selbst gefertigt
und ganz nach ihrer Phantasie angeordnet hatte, schien die Lage
ihres Geistes, die verzweifelte Gleichgültigkeit ihrer Stimmung,
durch eine wilde, malerische Eigentümlichkeit auszudrücken; aber
der Punkt, welcher aller Augen anzog und sozusagen die Trägerin
verwandelte, war das Zeichen, so daß Männer sowohl wie Frauen,
welche mit Esther Prynne in vertrauter Bekanntschaft gewesen
waren, jetzt den Eindruck empfingen, als
erblickten sie sie zum ersten Male mit dem so phantastisch
gestickten und auf ihrem Busen leuchtenden Scharlachbuchstaben. Er
hatte die Wirkung eines Zaubers, nahm sie aus den gewöhnlichen
Verhältnissen und Verbindungen mit der Menschheit und hüllte sie in
eine eigene Sphäre.
»Sie hat viel Geschicklichkeit mit der Nadel, das ist gewiß«,
bemerkte eine der Zuschauerinnen, »hat aber je ein Frauenzimmer vor
dieser schamlosen Dirne eine solche Weise, es zu zeigen, ausfindig
gemacht? Nein, Gevatterinnen, wozu dient es, als um unsern wackern
Richtern ins Gesicht zu lachen und auf das, was jene, die würdigen
Herren, zur Strafe auferlegten, sich etwas zugute zu tun.«
»Es wäre gut«, krächzte das Weib mit dem eisernsten Gesicht,
»wenn wir der Madam Esther ihr reiches Kleid von den zarten
Schultern rissen, und was den roten Buchstaben betrifft, den sie so
absonderlich eingenäht hat, so will ich einen Fetzen von meinem
Rheumatismusfell hergeben, um einen passenderen daraus zu
machen.«
»Friede, Nachbarinnen, Friede!« flüsterte ihre jüngste Genossin;
»laßt sie das nicht hören! In dem gestickten Buchstaben ist kein
Stich, den sie nicht in ihrem eigenen Herzen gefühlt hätte.«
Jetzt machte der finstere Büttel eine Bewegung mit dem
Stabe.
»Macht Platz, gute Leute, macht Platz – im Namen des Königs!«
rief er; »öffnet einen Durchgang und ich verspreche euch, daß
Esther Prynne an einen Ort gestellt werden soll, wo Mann, Weib und
Kind von jetzt an bis eine Stunde nach Mittag eine gute Aussicht
auf ihre schöne Kleidung haben sollen. Gesegnet sei die
rechtschaffene Kolonie von Massachussets, wo die Bosheit an den
Sonnenschein gezogen wird. Kommt voran, Madam Esther, und zeigt
Euren Scharlachbuchstaben auf dem Marktplatz!«
Sofort öffnete sich eine Gasse unter der
Zuschauermenge. Unter dem Vorgange des
Büttels und in Begleitung einer unregelmäßigen Prozession von
finsterblickenden Männern und Weibern mit unfreundlichen Gesichtern
brach Esther Prynne nach dem für ihre Strafe bestimmten Platz auf.
Neugierige Schuljungen, die von der Sache wenig mehr verstanden,
als daß sie einen halben Feiertag dadurch erhielten, liefen vor dem
Zuge her und wendeten beständig den Kopf zurück, um in ihr Gesicht
und auf das blinzelnde Kind in ihren Armen und den schmachvollen
Buchstaben an ihrer Brust zu gaffen. Zu jener Zeit war die
Entfernung von der Gefängnistür nach dem Marktplatze nicht groß.
Nach der Erfahrung der Gefangenen zu messen, konnte sie jedoch für
eine Reise von einiger Länge gelten, da sie, so hochfahrend ihr
Benehmen auch war, wohl bei jedem Schritte jener, welche sich
herbeidrängten, um sie zu sehen, eine Qual erlitt, als ob ihr Herz
auf die Straße geworfen worden sei, damit sie alle darauf treten
und es mit den Füßen von sich stoßen konnten. In unserer Natur
liegt jedoch die ebenso wunderbare wie gnädige Vorkehrung, daß der
Leidende das Äußerste, was er erduldet, nie an seiner gegenwärtigen
Qual, sondern hauptsächlich an dem danach zurückbleibenden Schmerze
erkennt. Esther schritt daher mit fast heiterer Haltung durch
diesen Teil ihrer Prüfung und gelangte zu einer Art von Schandbühne
am westlichen Ende des Marktplatzes. Sie stand fast gerade unter
dem Giebel der ersten Kirche von Boston und schien dort niet- und
nagelfest zu sein.
Wirklich bildete diese Bühne einen Teil von einer
Strafmaschinerie, welche jetzt seit zwei bis drei Generationen bei
uns nur noch historisch und durch die Sage bekannt ist, aber in den
alten Zeiten für ein so wirksames Hilfsmittel zur Beförderung des
guten Benehmens der Bürger galt, wie nur je die Guillotine unter
den Schreckensmännern von Frankreich; kurz, es war die Bühne des
Prangers, und über ihr erhob sich das Gestell dieses
Disziplinarwerkzeuges, welches so geformt war, daß es den
menschlichen Kopf umfaßte und ihn so den Blicken des Publikums hinhielt. In diesem Gerüste von
Holz und Eisen verkörperte und offenbarte sich ein Ideal von
Schmach. Ich glaube, daß es gegen unsere gemeinschaftliche Natur,
was auch die Vergehen des Individuums sein mögen, keine größere
Mißhandlung geben kann, als dem Schuldigen zu verbieten, sein
Gesicht vor Scham zu verbergen, wie es das Wesen dieser Strafe ist.
In Esther Prynnes Falle lautete jedoch, wie es nicht selten auch
bei anderen vorkam, der Spruch nur darauf, daß sie eine gewisse
Zeit auf der Schandbühne stehen solle, ohne aber den Griff um den
Hals und die Fesselung des Kopfes zu erleiden, welche die
teuflischste Eigenschaft der häßlichen Maschine war. Sie kannte
ihre Rolle vollkommen, stieg eine hölzerne Treppe hinauf und zeigte
sich so der sie umgebenden Menge in etwa der Höhe einer
Mannsschulter über der Straße.
Wenn sich unter den puritanischen Zuschauern ein Papist gefunden
hätte, so würde er vielleicht in diesem schönen Weibe mit dem Kinde
am Busen einen Gegenstand gesehen haben, der ihn an das Bild der
göttlichen Mutter erinnerte, in dessen Darstellung so viele
berühmte Maler miteinander gewetteifert haben, etwas, das ihn
wirklich, aber nur durch den Kontrast an das geheiligte Bild
sündloser Mutterschaft erinnern mußte, deren Kind die Welt erlösen
sollte. Hier befleckte die tiefste Sünde die heiligste Eigenschaft
des menschlichen Lebens und brachte eine solche Wirkung hervor, daß
die Welt um der Schönheit dieses Weibes willen nur noch dunkler und
durch das Kind, welches sie geboren hatte, nur um so mehr verloren
war.
Das Schauspiel war nicht ohne eine gewisse Schauerlichkeit, wie
sie stets den Anblick von Schuld und Schande bei einem Mitgeschöpfe
begleiten muß, ehe die Gesellschaft verderbt genug geworden ist, um
darüber zu lächeln, statt sich zu entsetzen. Die Zeugen von Esther
Prynnes Schmach waren noch nicht über diese ursprüngliche
Einfachheit hinausgekommen; sie waren streng genug, um auf ihren
Tod, wenn das Urteil auf diesen gelautet
hätte, ohne Murren über die Schwere der Strafe zu blicken, besaßen
aber nichts von der Herzlosigkeit eines andern sozialen Zustandes,
welcher in einer Schaustellung, wie der gegenwärtigen, nur ein
Thema zum Scherzen gefunden haben würde. Selbst wenn Neigung
vorhanden gewesen wäre, die Sache ins Lächerliche zu ziehen, so
hätte sie von der feierlichen Anwesenheit des Gouverneurs mit
mehreren seiner Räte, eines Richters, eines Generals und der
Geistlichen der Stadt, welche alle auf einem Balkon des
Versammlungshauses, der sich über der Bühne befand, saßen oder
standen, überwältigt oder zurückgedrängt werden müssen. Wenn solche
Personen einen Teil des Schauspiels bilden konnten, ohne die
Majestät oder Ehrwürdigkeit ihres Ranges und Amtes auf das Spiel zu
setzen, so war mit Sicherheit zu schließen, daß die Vollstreckung
eines Richterspruches eine eindringliche, wirksame Bedeutung haben
würde. Die Zuschauermenge blieb daher auch düster und ernst. Die
unglückliche Delinquentin hielt sich so gut aufrecht, wie es nur
ein Weib unter der Last von Tausenden unbarmherziger, auf sie
gehefteter und auf ihren Busen konzentrierter Augen vermochte. Fast
war es unerträglich. Von leidenschaftlich impulsiver Natur, hatte
sie sich gegen die Stiche und giftigen Verwundungen des Hohnes und
der Schmähung des Publikums, die sich in jeder Art von
Beleidigungen Luft machen konnten, gerüstet, aber die feierliche
Geistesstimmung des Volkes besaß etwas um so viel Furchtbareres,
daß sie sich fast sehnte, alle jene starren Gesichter zu
spöttischer Lustigkeit verzerrt und sich als Gegenstand derselben
zu sehen. Wenn ein schallendes Gelächter unter der Menge
ausgebrochen wäre, zu dem jeder Mann, jedes Weib, jedes Kind mit
seiner schrillen Stimme einen Anteil geliefert hätte, so würde
Esther Prynne darauf vielleicht nur mit einem bitteren,
verächtlichen Lächeln geantwortet haben; aber unter der bleiernen
Wucht, welche zu ertragen ihr Schicksal war, hatte sie in manchen
Augenblicken das Gefühl, als ob sie aus voller Kraft ihrer Lunge
schreien und sich von dem Gerüste auf den
Boden herabstürzen oder plötzlich wahnsinnig werden müsse.
Und doch gab es Zwischenräume, wo das ganze Schauspiel, dessen
hervorragendster Gegenstand sie war, ihren Augen zu entschwinden
schien oder wenigstens nur undeutlich vor denselben schimmerte, wie
eine Masse von unvollkommen geformten Gespenstergestalten. Ihr
Geist und besonders ihr Erinnerungsvermögen entwickelte eine
übernatürliche Tätigkeit und stellte fortwährend andere Szenen vor
sie hin, als jene grob ausgehauene Straße einer kleinen Stadt am
Saume der westlichen Wildnis, andere Gesichter als diejenigen,
welche unter den Krempen jener hohen Spitzhüte streng auf sie
blickten, Erinnerungen von der geringfügigsten und unwesentlichsten
Art; Vorgänge aus ihren Kindheits- und Schuljahren, Spiele,
kindische Zänkereien und die kleinen häuslichen Züge ihres
Jungfernalters drängten sich in Verbindung mit Bildern aus den
ernstesten Verhältnissen ihres späteren Lebens vor sie zusammen,
und das eine war genau ebenso lebhaft wie das andere, als ob alle
von gleicher Wichtigkeit oder alle gleichmäßig nur ein Spiel seien.
Vielleicht war das ein instinktmäßiger Kunstgriff ihres Geistes, um
sich durch die Vorstellung dieser phantasmagorischen Gestalten von
der drückenden Last und Härte der Wirklichkeit zu befreien.
Mochte dem sein, wie ihm wollte, die Schandbühne des Prangers
war ein Standpunkt, welcher Esther Prynne den ganzen Weg, den sie
seit ihrer glücklichen Kindheit gewandelt war, überblicken ließ.
Während sie auf dieser Unglückshöhe stand, erblickte sie von neuem
ihr Heimatdorf in Alt-England und ihr Vaterhaus, ein verfallenes
Gebäude von grauem Stein und ärmlichem Aussehen, das aber als
Beweis seiner früheren Vornehmheit noch ein halbverwischtes
Wappenschild ihres Vaters mit seiner kahlen Stirn und seinem
ehrwürdigen weißen Bart, welcher über den altmodischen
Elisabethkragen herabhing, und das ihrer Mutter mit dem Blicke
sorglicher Liebe, welchen es stets in ihrer Erinnerung trug und der selbst nach ihrem Tode so oft das Hemmnis
eines sanften Vorwurfs in den Pfad ihrer Tochter gelegt hatte. Sie
erblickte ihr eigenes, von mädchenhafter Schönheit glühendes
Gesicht, welches das ganze Innere des trüben Spiegels erhellte, in
welchem sie gewohnt gewesen war, es zu betrachten. Dort sah sie
noch ein Gesicht, das eines Mannes von vorgerückten Jahren, ein
bleiches, mageres Gelehrtenantlitz mit von dem Lampenscheine,
welcher ihnen beigestanden hatte, so manchen schweren Folianten
durchzustudieren, getrübten und geschwächten Augen. Und doch
besaßen diese trüben Augen eine seltsame, durchdringende Gewalt,
wenn es die Absicht ihres Besitzers war, in der menschlichen Seele
zu lesen. Diese Gestalt des Studierzimmers und des Klosters war,
wie Esther Prynnes weibliche Phantasie heraufzurufen nicht
verfehlte, etwas verwachsen und ihre linke Schulter um ein geringes
höher als die rechte. Sodann erhoben sich vor ihr in der
Bildergalerie der Erinnerung die winkeligen, schmalen Gassen, die
hohen grauen Häuser, die mächtigen Kathedralen und die alten,
schnörkeligen öffentlichen Gebäude einer Kontinentalstadt, wo sie
ein neues, immer noch mit dem verwachsenen Gelehrten in Verbindung
stehendes Leben erwartet hatte ein neues Leben, welches sich aber
von gealterten und abgenutzten Materialien genährt, wie ein Büschel
grünen Mooses an einer zerbröckelnden Mauer. Endlich kehrte an die
Stelle dieser wechselnden Szenen der unebene Marktplatz der
puritanischen Niederlassung zurück mit der ganzen versammelten
Bewohnerschaft der Stadt, welche ihre strengen Blicke auf Esther
Prynne heftete – ja, auf sie selbst, die auf der Bühne des Prangers
stand, mit einem Kinde auf ihrem Arm und dem scharlachroten,
phantastisch mit Goldseide durchsäumten Buchstaben A auf ihrer
Brust.
Konnte es Wahrheit sein? Sie preßte das Kind so heftig an ihre
Brust, daß es einen Schrei ausstieß. Sie senkte ihre Augen auf den
Scharlachbuchstaben und berührte ihn sogar mit ihrem Finger, um
sich zu überzeugen, daß das Kind und die Schande wirklich existierten. Ja, das waren ihre
Wirklichkeiten – alles übrige war verschwunden.