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Karl Ucakar
Stefan Gschiegl
Marcelo Jenny

Das politische System Österreichs und die EU

5. Auflage

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Autoren

Stefan Gschiegl

Geb. 1979; Mag. jur., phil. et rer.soc.oec., Dr. phil. Studium der Sozialwissenschaften in Wien. Nunmehr Senior Lektor an der Universität Wien. Forschungsschwerpunkte: Österreichische und europäische Regimelehre, die Verbindung von Politik und Recht innerhalb politischer Systeme, politische Rechts- und Gerechtigkeitstheorien. Derzeit hauptberuflich in der Oesterreichischen Nationalbank (OeNB) tätig.

Marcelo Jenny

Geb. 1968; Dr. rer. soz. oec. Univ.-Prof. am Institut für Politikwissenschaft der Universität Innsbruck, Studium der Politikwissenschaft an den Universitäten Wien und Mannheim. Aktuelle Forschungsschwerpunkte: Wahlen, Kandidaten und Abgeordnete, politische Kommunikation.

Karl Ucakar

Geb. 1947; Dr. jur. Univ.-Prof. i.R. am Institut für Staatswissenschaft der Universität Wien. Studium an der juridischen Fakultät der Universität Wien. 1970–1972 Nachuniversitäres Studium der Politikwissenschaft am Institut für Höhere Studien in Wien. Ab 1974 Univ.- Assistent. 1984 Habilitation im Fach Politikwissenschaft an der Sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien. Habilitationsschrift: Demokratie und Wahlrecht in Österreich. Zur Entwicklung von politischer Partizipation und staatlicher Legitimationspolitik.

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5. Auflage 2017

© 2009 Facultas Verlags- und Buchhandels AG
facultas, Stolberggasse 26, 1050 Wien, Österreich
Alle Rechte vorbehalten

Typografische Gestaltung, Satz,
Umschlaggestaltung: Ekke Wolf, www.typic.at
Druck: FINIDR
Printed in the EU

ISBN 978-3-7089-1519-7 print

ISBN 978-3-99030-636-9 epub

Inhalt

Einleitung

Ausgehend von für das politische System grundlegenden Begriffen wie Gesellschaft, Politik, formelles und materielles Recht, Zivilgesellschaft etc. werden in Kapitel 1 durch die Auseinandersetzung mit klassischen Definitionen zu diesen Begriffen die Zusammenhänge der einzelnen Elemente und Sektoren des politischen Systems aufgezeigt. Dieser Abschnitt, in Verbindung mit Kapitel 10, soll andeutungsweise die Möglichkeiten der theoretischen Analyse von Politik aufzeigen.

Der historischen Dimension der österreichischen Politik wird in Kapitel 2 in einer kompakten Darstellung der Entwicklung des österreichischen politischen Systems, insbesondere der Demokratieentwicklung, Rechnung getragen.

Die Rechtsordnung, insbesondere die Bundesverfassung, gibt unter anderem die Spielregeln für das politische System vor. Kapitel 3 behandelt ausgehend vom Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) sowie anderen Verfassungsgesetzen und Verfassungsbestimmungen Struktur, Grundsätze, Zielbestimmungen und Grundrechte.

Kapitel 4 beschäftigt sich mit der Legitimationsgrundlage des politischen Systems in Österreich, der Volkssouveränität. Diese wird vom Volk durch die in Österreich und in der EU normierten Partizipations- und Legitimationsmechanismen wahrgenommen: Wahlrecht und direkte Demokratie in Bund, Ländern, Gemeinden und zum Europäischen Parlament.

Institutionen und Verfahren der Gesetzgebung in Bund und Ländern werden in Kapitel 5, auch im Hinblick auf ihre Legitimationsfunktion, behandelt: In der industriellen Moderne erwies sich der parteienstaatliche Parlamentarismus als adäquateste Partizipationsform.

Kapitel 6 erläutert die Institutionen und Verfahren der Exekutive – Bundespräsident und Regierung. Diese sind in der medialen Wahrnehmung der österreichischen Politik einerseits wegen der zunehmenden Personalisierung und andererseits aufgrund der faktischen Aufwertung |9| der Funktion Regierung im Kontext der Europäischen Union besonders zu berücksichtigen.

Politische Parteien, die Sozialpartnerschaft und die Zivilgesellschaft werden unter dem Stichwort »Realverfassung« in Kapitel 7 behandelt. Die geschriebene Verfassung legt zwar die grundlegenden Spielregeln für Politik und Gesellschaft fest, ist selbst aber auch ein Objekt der Politik. Das gegenwärtige Verfassungsrecht ist nichts anderes als die zu Normen geronnene geschichtliche Bewegung. Die gesellschaftliche Entwicklung findet aber nur mit Verzögerung Eingang in die Verfassung, deshalb gibt es in der sogenannten Realverfassung Spielregeln, die nicht unmittelbar oder nur zum Teil auf der geschriebenen Verfassung beruhen.

Kapitel 8 informiert über die rechtliche Kontrolle der Politik. Innerhalb eines politischen Systems bedarf es der Kontrolle politischer Akteure und der von diesen generierten Handlungen. Diese Kontrollfunktionen üben innerhalb eines politischen Systems – im Sinne der Gewaltenteilung – andere Institutionen aus, die in unabhängiger Weise gemäß den Prämissen der Verfassungs- und Rechtmäßigkeit die anderen politischen Akteure kontrollieren: der Verfassungsgerichtshof als der Hüter der Verfassung, die Volksanwaltschaft als Beschwerdeforum bei Verwaltungsangelegenheiten und der Rechnungshof für die Kontrolle der Gebarung der öffentlichen Einrichtungen.

Die Vernetzung des österreichischen politischen Systems mit der Europäischen Union und die damit einhergehenden Veränderungen in Politik und Recht werden in Kapitel 9 behandelt. Die Entwicklungsgeschichte der Integration, Integrationstheorien und Entscheidungsprozesse im Mehrebenensystem werden vorgestellt und in reflexiver Weise mit dem politischen System Österreichs in Verbindung gebracht.

Die österreichische Politik im Lichte ausgewählter Staatstheoretiker bildet den Abschluss des Bandes. In Kapitel 10 wird das zuvor Dargelegte nochmals theoretisch reflektiert. Dabei werden Thesen prominenter Staatstheoretiker von Aristoteles bis Habermas kurz skizziert, um die Leser anzuspornen, mithilfe und im Lichte der Theorie nochmals über Zweckmäßigkeit und Legitimität von politischen Systemen nachzudenken.

Im vorliegenden Band wird bei personenbezogenen Ausdrücken meist nur die männliche Form angeführt. Dies erfolgt aus Gründen der leichteren Lesbarkeit, es wird keineswegs beabsichtigt, Frauen zu benachteiligen. |10|

1 Politik – Gesellschaft – Recht

1.1 Politik und Gesellschaft

Politik bezeichnet allgemein das Handeln von Menschen, Interessengruppen, Parteien, Organisationen mit dem Ziel, die gesellschaftliche Entwicklung zu beeinflussen, also die Gesellschaft und damit auch ihre normative Ordnung, ihr Recht, zu gestalten. Ziele politischen Handelns sind allgemein verbindliche Entscheidungen.

Die wissenschaftliche Analyse der Politik ist sinnvoll nur eingebettet in die Struktur und die Dynamik der Gesellschaft1 möglich. In der politischen Ideengeschichte ist der Zusammenhang von Politik, Recht und Gesellschaft spätestens seit Aristoteles ein wichtiger Teil des wissenschaftlichen Diskurses in der Philosophie, der Rechtstheorie, der Soziologie, in der Staatswissenschaft und in der modernen Politikwissenschaft.

Soziologisch bedeutet Gesellschaft zunächst nur das mehr oder weniger stark aufeinander bezogene Zusammenleben und Zusammenwirken von Menschen. In diesem allgemeinen Sinn gibt es die »Gesellschaft« genauso lange, wie es Menschen gibt. Von sozialwissenschaftlichem und politischem Interesse ist es vor allem, herauszuarbeiten, wie Gesellschaft entsteht, also die Art und Weise der »Vergesellschaftung«, und die sich bildenden Strukturen und Regeln.

Im allgemeinsten Sinn umfasst der Gesellschaftsbegriff jedes gruppenmäßige oder gemeinschaftliche Zusammenleben von Menschen, von der Urgesellschaft über die Gemeinwesen der Antike und das Zeitalter der Nationen, um nur einige Stationen zu nennen, bis zu den philosophischen Konzepten einer Weltgesellschaft. |11|

1.1.1 Der Gesellschaftsbegriff in der politischen Theorie

In den Sozialwissenschaften stellt der Begriff Gesellschaft so etwas wie einen Bezugspunkt für die Entwicklung von Theorien und Ideologien dar. Seit der Aufklärung ist der Diskurs zum Begriff der Gesellschaft dadurch gekennzeichnet, dass er sich an Gegenbegriffen orientiert: Gesellschaft und Individuum – Gesellschaft und Staat – Gesellschaft und Recht – Struktur und Dynamik der Gesellschaft.

Das zeigte sich schon zur Zeit der Aufklärung, die nach einem Ersatz für die transzendentalen Begründungen von Herrschaft und Recht in der Gesellschaft suchte. Dieser Ersatz war das Gedankenkonstrukt des Gesellschaftsvertrages (vgl. zum Beispiel Jean-Jacques Rousseau 2002 [1762]), das später im Rechtspositivismus unter anderem durch die Fiktion der Grundnorm (vgl. Kelsen 1960/67, 196–227) abgelöst wurde.

Zur Zeit der industriellen Revolution, also vor allem im 19. Jahrhundert, war der Gesellschaftsbegriff meist weiter gefasst als der Begriff Staat, auch deshalb, weil die Gesellschaftsentwicklung (Henri de Saint-Simon, vgl. Salomon 1962) und die Wissenschaftsentwicklung (vgl. Auguste Comte 1974 [1880]) längst die staatlichen Grenzen überschritten hatten.

G. W. F. Hegel (1964 [1821], 310ff) brachte den schon vor ihm angedachten historischen Charakter des Gesellschaftsbegriffes seiner Zeit mit dem Begriff »bürgerliche Gesellschaft« auf den Punkt. Für ihn ist allerdings nicht ein Gesellschaftsvertrag die Vermittlungsinstanz zwischen Staat und Individuum, sondern im Sinne der historischen Bestimmung der Gesellschaftsentwicklung die Ökonomie.

Karl Marx entwickelte bekanntlich den Gesellschaftsbegriff auf der Basis der politischen Ökonomie weiter: »In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewußtseinsformen entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß überhaupt. Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt« (Marx 1859, MEW 13, 8f). |12|

Marx betont in seinem Gesellschaftsbegriff einerseits die Dynamik der Entwicklung der Gesellschaft und andererseits deren Determiniertheit durch den materiellen Lebensprozess. »Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen«, schreiben Marx und Engels 1848 im Kommunistischen Manifest (MEW 4, 462). Und über die Struktur und deren historische Entwicklung: »In den früheren Epochen der Geschichte finden wir fast überall eine vollständige Gliederung der Gesellschaft in verschiedene Stände, eine mannigfaltige Abstufung der gesellschaftlichen Stellungen. Im alten Rom haben wir Patrizier, Ritter, Plebejer, Sklaven; im Mittelalter Feudalherren, Vasallen, Zunftbürger, Gesellen, Leibeigene, und noch dazu in fast jeder dieser Klassen besondere Abstufungen. Die aus dem Untergang der feudalen Gesellschaft hervorgegangene moderne bürgerliche Gesellschaft hat die Klassengegensätze nicht aufgehoben. Sie hat nur neue Klassen, neue Bedingungen der Unterdrückung, neue Gestaltungen des Kampfes an die Stelle der alten gesetzt« (Marx 1848, MEW 4, 463).

Die Epoche der Bourgeoisie zeichnet sich nach Marx »jedoch dadurch aus, daß sie die Klassengegensätze vereinfacht hat. Die ganze Gesellschaft spaltet sich mehr und mehr in zwei große feindliche Lager, in zwei große, einander direkt gegenüberstehende Klassen: Bourgeoisie und Proletariat« (Marx 1848, MEW 4, 463).

Die Dynamik der Gesellschaftsentwicklung hat allerdings die reale Differenzierung der Gesellschaft auf der Basis der industriellen Entwicklung, der immer sich weiter entwickelnden Arbeitsteilung, vorangetrieben. Das musste aber auch zu modifizierten Gesellschaftsbegriffen führen: Die Begriffe Struktur, Funktion und System traten in den Vordergrund. Die realen Differenzierungen und Segmentierungen in Subsysteme wie Politik, Recht, Wissenschaft und Wirtschaft boten der Systemtheorie reichlich Nahrung. Die funktionalen Subsysteme folgen eigenen Regeln und entwickeln eigene Ideologien, zum Beispiel die Ideologie von der Unfehlbarkeit des freien Marktes bei der Allokation der gesellschaftlichen Ressourcen.

Eine geografische und/oder nationale Verortung von Gesellschaftsmodellen hat nach dem Zweiten Weltkrieg Bedeutung erlangt. Beispiele dafür sind: die »soziale Marktwirtschaft« in der Frühphase der Bundesrepublik Deutschland, die zur Zeit von CDU und CSU wieder beschworen wird, das »skandinavische Sozialmodell« (vgl. etwa Jahn 2009) oder der »österreichische Weg« (vgl. etwa Fröschl/Zoitl 1986) in den 1970er-Jahren |13| . Auch kulturelle, religionsbasierte und wertorientierte Kriterien spielen in der Begrifflichkeit von »Gesellschaft« eine bestimmende Rolle.

Der Gesellschaftsbegriff ist auch in der Globalisierung angekommen, wenngleich das nicht neu ist. Schon Kant leitet in seinem philosophischen Entwurf Zum ewigen Frieden 1795 aus Natur und Vernunft für das öffentliche Recht nicht nur das Staats- und Völkerrecht, sondern auch ein »weltbürgerliches Recht« ab (Kant 1984 [1795], 30). In den letzten Jahrzehnten wurde in den Diskurs um den Gesellschaftsbegriff der Begriff Weltgesellschaft in den Sozialwissenschaften (vgl. etwa Luhmann 1975), aber auch in der Philosophie miteinbezogen.

1.1.2 Tendenzen im Verhältnis von Politik und Gesellschaft

Der gesellschaftliche Hintergrund der politischen Entwicklung hat in den letzten Jahrzehnten erhebliche Veränderungen erfahren, die für die politische Struktur der Gesellschaft nachhaltige Konsequenzen haben. Trotzdem ist feststellbar, dass die zentralen Variablen der sozioökonomischen Struktur der Gesellschaft für politische Einstellungen und für politisches Handeln nach wie vor hochrelevant sind: Beruf, Bildung und Einkommen, also die Variablen der traditionellen Klassen- und Schichtenstruktur.

In der Arbeitswelt hat sich Gravierendes geändert: die Art der zu leistenden Arbeit, die Größen und die Strukturen der Betriebe, Mechanisierung, Automatisierung, Rationalisierung und Spezialisierung. Das alles führt zu einer Tendenz der Vereinzelung der Arbeitnehmer auch in der Bewusstseinshaltung und diese generelle Tendenz schlägt sich auf die anderen Dimensionen des menschlichen Lebens nieder.

Damit im Zusammenhang weist die Gesellschaft starke Ausdifferenzierungen in der Struktur und Änderungen in den Lebensstilen auf. Die daraus resultierende »Unübersichtlichkeit« in den Strukturmerkmalen hat ein Heer von Sozialwissenschaftern auf den Plan gerufen, die die Ausdifferenzierungen in der »segmentierten« Gesellschaft in neuen Gesellschaftsmodellen beschreiben: Industriegesellschaft, Konsumgesellschaft, Dienstleistungsgesellschaft, Informationsgesellschaft, Erlebnisgesellschaft, Netzwerkgesellschaft, Risikogesellschaft, Verantwortungsgesellschaft, Freizeitgesellschaft, Zuschauergesellschaft, Bürgergesellschaft und Lebensstilgesellschaft sind nur einige Schlagworte, mit denen versucht wird, das Problem einer adäquaten Beschreibung der heutigen |14| Gesellschaft durch eine Fokussierung auf wesentliche Aspekte der gesellschaftlichen Entwicklung in den Griff zu bekommen.

Ab Mitte der 1980er-Jahre befassten sich viele Sozialwissenschafter mit dem Zustand der Moderne unter dem Aspekt des gesellschaftlichen Fortschritts. »Wir treten nicht in eine Periode der Postmoderne ein, sondern wir bewegen uns auf eine Zeit zu, in der sich die Konsequenzen der Moderne radikaler und allgemeiner ausdrücken als bisher« (Giddens 1996, 11).2

Ulrich Beck, der Erfinder des Begriffs Risikogesellschaft, spricht von einer »Veränderung der Industriegesellschaft, die sich im Zuge normaler, verselbständigter Modernisierungen ungeplant und schleichend vollzieht, und bei konstanter, intakter politischer und wirtschaftlicher Ordnung auf dreierlei zielt: eine Radikalisierung der Moderne, die die Prämissen und Konturen der Industriegesellschaft auflöst und Wege in eine andere Moderne – oder Gegenmoderne – öffnet […]« (Beck 1994, 23). In seinem Buch Risikogesellschaft geht Beck (1986) im Wesentlichen davon aus, mit einer reflexiven Modernisierung die Probleme der Risikogesellschaft beherrschbar machen zu können, was aber eine neue Art von Politik und Politisierung voraussetzt.

Von diesen Voraussetzungen, einer »neuen Art von Politik und Politisierung «, ist nach mehr als drei Jahrzehnten, seit die »Risikogesellschaft« konstatiert wurde, wenig zu merken. Die Hoffnung bleibt, dass die Menschen, trotz derzeit ganz gegenteiliger Anzeichen im Bildungssystem und im System der Massenbeeinflussung, irgendwann einmal in der Lage sein werden, einen die ganze Gesellschaft umfassenden rationalen Diskurs über ökologische Risiken zu führen. Aber sind nicht auch ökologische Risiken sozial höchst unterschiedlich verteilt? Und was ist mit den sozialen Risiken? Werden die Schichten, die immer ärmer werden, mit denen, die immer reicher werden, über Gleichheit und Gerechtigkeit rational diskutieren können?

Die neuen technologischen Möglichkeiten der Produktion und Kommunikation, die weltweite Vernetzung all dieser Möglichkeiten, sind faszinierend. Aber gibt es irgendwelche Anzeichen dafür, dass es den gegenwärtigen gesellschaftlichen Systemen gelingen könnte, die genannten Möglichkeiten, wenn schon nicht gerecht, so doch zumindest so zu verteilen, dass spürbares Elend vermieden werden kann? Das gelingt |15| derzeit nicht einmal in den kapitalistischen Metropolen der sogenannten ersten Welt, ganz zu schweigen von den übrigen Teilen der Welt. Die Frage nach dem immer eklatanter werdenden Widerspruch zwischen den Möglichkeiten und der Realität der gesellschaftlichen Existenz der Menschen ist offenbar vielen zu naiv, sodass sie im wissenschaftlichen Diskurs nur mehr selten gestellt wird.

Dass der Weg in eine Gegenmoderne führt, ist also auch heute keineswegs ausgeschlossen. So wie die industrielle Moderne nicht nur den Parlamentarismus und das allgemeine und gleiche Wahlrecht, Menschenrechte und den Rechtsstaat mit sich brachte, sondern auch den Faschismus, der in Europa offenbar wieder Fuß fassen kann. In den USA werden die Evangelikalen Christen und die rechtspopulistische Tea-Party-Bewegung immer bestimmender. Weltweite und regionale Widersprüche in den gravierenden Unterschieden in den Lebenschancen der Menschen äußern sich gegenwärtig auch in einem religiösen Fanatismus, dessen Ausdrucksformen alle Werte der Humanität negieren und es gerechtfertigt erscheinen lassen, von einem islamischen Faschismus zu sprechen (vgl. Abdel-Samad 2014).

Diese rückwärtsgewandten Entwicklungen finden statt, obwohl gleichzeitig so etwas wie eine vierte industrielle Revolution absehbar ist, die einerseits enorme Chancen bergen und andererseits zu neuen Herausforderungen und Risiken führen kann. Ob damit die Welt sicherer und gerechter wird, wird unter anderem davon abhängen, welche gesellschaftlichen Kräftekonstellationen sich entwickeln und durchsetzen werden.

1.2 Politik und Recht

Für die Begriffsbestimmung der Politik kommt der Rechtsordnung und den Institutionen des politischen Systems zentrale Bedeutung zu. Die Rechtsordnung ist für die Politikwissenschaft ein Teil der empirisch erfassbaren gesellschaftlichen Wirklichkeit. Sie definiert für Struktur und Entwicklung des politischen und gesellschaftlichen Lebens bestimmte Rahmenbedingungen und schreibt Regeln für das Leben in der Gesellschaft und damit natürlich auch der Politik fest, wobei sie auch selbst Ergebnis politischen Handelns ist. Die Rechtsordnung ist also gleichzeitig Instrument und Objekt der Politik. Insbesondere das Verfassungsrecht legt Spielregeln für politische und gesellschaftliche Entscheidungen fest, |16| ist aber seinerseits selbst Veränderungen unterworfen, die durch die politische und gesellschaftliche Entwicklung bestimmt sind. In der Demokratie werden politische Ziele durch demokratisch legitimierte Mehrheitsentscheidungen verbindliches Recht.

Mit »Recht« kann man eine normative Ordnung in der Gesellschaft, im Staat und überstaatlich bezeichnen. Im rein formalen Sinn bezeichnet der Begriff Recht die Summe der geltenden Rechtsnormen (geschriebene und ungeschriebene). Rechtsnormen sind Regeln für das Verhalten einzelner Menschen oder menschlicher Gemeinschaften, die dazu dienen, deren Zusammenleben zu ordnen und Konflikte zu lösen, und deren Einhaltung notfalls durch organisierten Zwang durchgesetzt wird (vgl. Ehs et al. 2012).

1.2.1 Öffentliches Recht und Privatrecht

Die Rechtswissenschaft unterscheidet verschiedene Arten von Rechtsmaterien.

Das öffentliche Recht regelt das Verhältnis des Einzelnen zum Staat oder anderen Trägern öffentlicher Gewalt sowie das Verhältnis der Verwaltungsträger oder Staaten zueinander. In diesem Sinne gehört zum öffentlichen Recht insbesondere das Verfassungsrecht, das Völkerrecht, das Religionsrecht, aber auch das Strafrecht, dazu die Prozessrechte, also insbesondere auch das Zivilprozessrecht und das Strafprozessrecht, sowie das gesamte Verwaltungsrecht mit beispielsweise dem Steuerrecht, dem Sozialversicherungsrecht, dem Polizei- und Ordnungsrecht.

Zum öffentlichen Recht gehören jene Teile der Rechtsordnung, die allgemein mit Politik und Politikwissenschaft in Verbindung gebracht werden.

Das Privatrecht regelt die Rechtsbeziehungen der einzelnen Personen zueinander auf der Basis der Privatautonomie. Zum Privatrecht gehört insbesondere das bürgerliche Recht bzw. das Zivilrecht, zu dem allgemeine Grundsätze, das Personenrecht, das Familienrecht, das Erbrecht, das Sachenrecht und das Schuldrecht gezählt werden. Daneben gibt es noch die sogenannten Sonderprivatrechte. Rechtsinstitute des Privatrechts sind unter anderem: Eigentum und Eigentumsfreiheit, Vertrag und Vertragsfreiheit, Vererbung und Vererbungsfreiheit.

Das bürgerliche Recht (Zivilrecht), also das Privatrecht, in dem sich der allergrößte Teil der Rechtsbeziehungen zwischen den Mitgliedern |17| der Gesellschaft und deren Konflikten abspielt, ist zum Verständnis, zur Analyse einer konkreten Gesellschaft unverzichtbar.

Im Unterschied zum Privatrecht ist im öffentlichen Recht der Einzelne als rechtlich untergeordnet definiert, also Untertan, während im Privatrecht zwischen den Einzelnen Gleichberechtigung herrscht.

Der historische Grund für die Unterscheidung von öffentlichem und privatem Recht ist unter anderem folgender: Im Rahmen der Herausbildung des bürgerlichen Staates während der Aufklärung und der bürgerlichen Revolutionen hatte das erstarkte Bürgertum alles Interesse, zumindest die Rechtssphären aus dem absolutistischen Herrschaftsverband herauszubrechen, die sein ökonomisches Leben betrafen. In Österreich war das 1848 besonders deutlich in der Forderung nach kommunaler (Gemeindefreiheit) und beruflicher Autonomie (Handelskammer) zu erkennen. Aber auch der Bedeutungsgewinn des Privatrechts insgesamt ist auf dieses Interesse zurückzuführen.

Das Privatrecht ist allerdings auch im bürgerlichen Staat auf die öffentliche Ordnung angewiesen: »Im Abgrenzungsbereich sichert dieses die freie Willensbetätigung und ihre Substrate, wie Leben und Eigentum, an besonders gefährdeten Stellen durch Strafdrohungen ab, die präventiv potentielle Rechtsbrecher von Grenzüberschreitungen abschrecken sollen und bei fehlgeschlagener Prävention den Staat zu repressiven Maßnahmen, eben der Verhängung von Strafe, ermächtigen« (Grimm 1987, 25).

Gesellschaftspolitisch spielt die Abgrenzung von »öffentlich« und »privat« nach wie vor eine bedeutende Rolle. Das Bedeutungsverhältnis von öffentlichen und privaten Gesellschaftssphären und damit auch das Verhältnis von öffentlichem und privatem Recht spiegelt wider, wie viel soziale und demokratische Verantwortung eine Ideologie oder Partei zu tragen bereit oder nicht bereit ist. Der konservative Kampfruf »Weniger Staat, mehr privat« zielt letztendlich auf den Abbau gesellschaftlicher, also öffentlicher Verantwortung.

1.2.2 Naturrecht

In der Geschichte der Rechtsphilosophie spielte das Verhältnis von positivem Recht (Gesetzesrecht) und sogenanntem Naturrecht immer eine wichtige und konfliktträchtige Rolle. |18|

Unter Naturrecht versteht man bestimmte sehr grundlegende und dauerhafte Rechtsprinzipien, die entweder vom Menschen nicht beeinflussbaren Quellen zugesprochen werden oder die von den Menschen im gesellschaftlichen Prozess des historischen Fortschritts, der Humanisierung und der Aufklärung durch bewusstes Handeln geschaffen und gesichert werden.

Der Begriff Naturrecht umfasst also sowohl transzendental begründetes Recht, also Gottesrecht, als auch das sogenannte Vernunftrecht der Aufklärung, die beide auch in grundlegende positiv rechtliche Regelungen eingegangen sind. Der Begriff Natur steht im Zusammenhang mit Naturrecht für das »Wesentliche« einer Sache, also die wesentliche Bedeutung des Rechts.

Die Naturrechtslehre hat im Lauf der Geschichte der Rechtsphilosophie vielfältige Ausprägungen erfahren. Der allgemeine gedankliche Hintergrund ist die Überlegung, dass das Natürliche auch vernünftig ist. Allen naturrechtlichen Konzeptionen von der Antike über die mittelalterliche Theologie und das Vernunftrecht der Aufklärung bis zu naturrechtlichen Begründungen der menschlichen Würde (vgl. Bloch 1961) ist gemeinsam, dass sie den Rechtsbegriff von inhaltlichen Kriterien abhängig machen.

Das Naturrecht ist in gewisser Weise auch eine Prüfinstanz für das positive Recht. In dieser Funktion sind naturrechtliche Überlegungen nach wie vor aktuell. Unter Begriffen wie »überpositives« oder »übergesetzliches Recht« werden Themen wie Menschenrechte, Grundrechte, Gleichheit und Gerechtigkeit in den nationalen und internationalen Diskursen in der Rechtstheorie, der Philosophie und in den Sozialwissenschaften behandelt.

1.2.3 Positives Recht

Im modernen Staat ist mit Abstand die wichtigste Entstehungsweise des Rechts die staatliche Rechtssetzung, insbesondere die Gesetzgebung. Sie ist die Quelle des positiven Rechts, eines Rechts also, das durch bewusste Rechtssetzung in der Gesellschaft entstanden ist. Das positive Recht ist in diesem Sinn durch Rechtssetzung natürlich auch veränderbar.

Die modernen Rechtstheorien anerkennen ausschließlich oder fast ausschließlich nur positives Recht als Rechtsquelle. Diese Theorien sind seit der Industrialisierung die vorherrschenden Theorien im modernen |19| Staat. Man spricht vom Rechtspositivismus. Der Rechtspositivismus lehnt Gottesrecht, Naturrecht und Vernunftrecht ab.

Positives Recht kann nach dieser Auffassung jeden beliebigen Inhalt haben, wenn es nur formal richtig zustande gekommen ist. Der Rechtspositivismus unterscheidet streng zwischen dem Recht, wie es ist, und dem Recht, wie es sein sollte. Positives Recht ist auch dann gültig, wenn es gegen fundamentale Prinzipien der Gerechtigkeit verstößt. Für die Definition des Begriffes Recht ist also die autoritative Gesatztheit entscheidend. Doch muss auch der Rechtspositivismus die soziale Wirksamkeit des Rechts berücksichtigen.

Einer der angesehensten Rechtspositivisten ist der österreichische Rechtslehrer Hans Kelsen. Er definiert das Recht in seiner Reinen Rechtslehre als »normative Zwangsordnung menschlichen Verhaltens«, deren Normativität auf einer vorausgesetzten Grundnorm beruht, »der zufolge man sich so verhalten soll, wie es einer tatsächlich gesetzten, im großen und ganzen wirksamen Verfassung und daher den gemäß dieser Verfassung tatsächlich gesetzten, im großen und ganzen wirksamen Normen entspricht« (Kelsen 1960/67, 45ff).

Über den Stellenwert des Naturrechts gegenüber dem positiven Recht schreibt Kelsen: »Die Naturrechtslehre ist eine dualistische Rechtslehre; denn es gibt ihr zufolge neben dem positiven Recht ein Naturrecht. Die Reine Rechtslehre ist aber eine monistische Rechtslehre. Ihr zufolge gibt es nur ein Recht, das positive Recht« (Kelsen 1960/67, 443).

Kelsen selbst charakterisiert die Reine Rechtslehre in den ersten Sätzen seines Hauptwerkes folgendermaßen: »Die Reine Rechtslehre ist eine Theorie des positiven Rechts; des positiven Rechts schlechthin, nicht einer speziellen Rechtsordnung. […] Sie versucht die Frage zu beantworten, was und wie das Recht ist, nicht aber die Frage, wie es sein oder gemacht werden soll. […]« (Kelsen 1960/67, 1).

Es ist zweifellos ein Verdienst der Reinen Rechtslehre, dass mit ihr eine gewisse Rechtssicherheit erreicht werden kann, auch für die einzelnen Rechtssubjekte. In einer gesellschaftspolitischen Veränderungsperspektive sind die Vorteile, die der Rechtspositivismus zu bieten hat, ungleich verteilt. Der Rechtspositivismus geht nun einmal von dem aus, was ist, was gegeben ist. Das bietet zwar formal allen Rechtssubjekten gleiche Chancen im »Kampf ums Recht«, abstrahiert aber von den ungleichen materiellen, ökonomischen Voraussetzungen der einzelnen Menschen. |20|

Unabhängig von allen mit ihm verbundenen Problemen ist der Rechtspositivismus eine der wichtigsten Grundpositionen in der Rechtsphilosophie. Aber selbst für die am stärksten ausgeprägte Variante des Rechtspositivismus ist es nicht möglich, an den Tatsachen, also an der sozialen Wirksamkeit einer Norm oder eines Normensystems vorbeizugehen. In welcher Weise die soziale Wirksamkeit neben der autoritativen Gesatztheit des Rechts in den Rechtsbegriff eingeht, macht die unterschiedlichen rechtstheoretischen, auch rechtspositivistischen, Theoriekonzepte aus.

Die Debatte über den Stellenwert der sozialen Wirksamkeit des Rechts für den Rechtscharakter führt auch zur sozialwissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Recht und der Rechtsordnung.

Trotz des Postulates der Reinen Rechtslehre, die Rechtsanwendung und Interpretation von allen außerrechtlichen Einflüssen, etwa der Psychologie, der Politik, ökonomischer und sonstiger Interessen frei zu halten, kann der Rechtspositivismus und damit auch die Reine Rechtslehre die Bedeutung der sozialen Wirksamkeit des Rechts und seiner Normen nicht ignorieren.

Kelsen versucht den Widerspruch zwischen seiner rein auf Logik aufgebauten Rechtstheorie und der sozialen Wirksamkeit einerseits durch die Annahme bzw. die Fiktion einer Grundnorm, die er als Voraussetzung für die Geltung einer Rechtsordnung konstatiert, ähnlich dem Rousseau'schen Gesellschaftsvertrag zu lösen, und andererseits durch das Verhältnis von Recht und Macht. Er betont: »[…] daß das Recht zwar nicht ohne Macht bestehen kann, daß es aber doch nicht identisch ist mit der Macht. Es ist […] eine bestimmte Ordnung (oder Organisation) der Macht« (Kelsen 1960/67, 221).

Bestimmte grundlegende naturrechtliche Elemente wurden allerdings in das positive Recht aufgenommen. Ein Beispiel aus der jüngeren Rechtsentwicklung ist das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland aus 1949, in dem in Artikel 1 unter anderem normiert ist: »Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.« In der österreichischen Rechtsordnung ist dabei das markanteste und interessanteste Beispiel der § 16 des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches – ABGB – von 1811, der normiert, also positiv setzt, dass jeder Mensch »angeborene, schon durch die Vernunft einleuchtende Rechte« hat. Das führt unmittelbar zur Frage nach dem Verhältnis von Recht und Gerechtigkeit und zum Begriff des »überpositiven Rechts«. |21|

1.2.4 »Überpositives Recht«

Die Anwendung des positiven Rechts im Rahmen einer legitimen und nicht nur formal legalen Rechtsordnung, die auch mit dem kulturellen, zivilisatorischen und insbesondere humanitären Entwicklungsstand der menschlichen Gesellschaft vereinbar ist, birgt im Normalfall wenige Probleme. Nach den Regeln der Rechtsdogmatik3 wird das geltende Recht von Richtern und Verwaltungsbeamten interpretiert und angewandt.

Das 20. Jahrhundert hat aber gezeigt, dass es auch Rechtsordnungen geben kann, die das, was zumindest 200 Jahre nach der Aufklärung als die Würde des Menschen gilt, mit Füßen treten. Das eklatanteste Beispiel war die nationalsozialistische Rechtsordnung, die von der überwiegenden Mehrheit der Organwalter der Justiz – Staatsanwälte, Richter – in der zumindest zur Schau getragenen Überzeugung angewandt wurde, Recht zu vollziehen und Recht zu sprechen.4 Das eklatante Unrecht, das dem kruden Rechtspositivismus entspringen kann, hat die Positionen jener Rechtstheoretiker in den Vordergrund gerückt, die ein »überpositives Recht« als kritischen Wächter des positiven Rechts für notwendig halten. Einer davon ist Gustav Radbruch, sozialdemokratischer Justizminister in der Weimarer Republik 1921 bis 1923, der dem Rechtspositivismus gegenüber durchaus aufgeschlossen und auch Verfasser grundlegender Schriften zur Rechtsphilosophie war. Er hat nach den Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus sehr differenzierte Überlegungen angestellt und in der sogenannten Radbruch'schen Formel auf den Punkt gebracht, die die Rechtsprechung im Nürnberger Kriegsverbrecher-Prozess theoretisch fundiert hat und deren Argumente auch die Grundlage der Verurteilung der Täter des NS-Regimes sind:

»Der Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit dürfte dahin zu lösen sein, daß das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn, daß der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß das Gesetz als ›unrichtiges Recht‹ der Gerechtigkeit zu weichen hat. Es |22| ist unmöglich, eine schärfere Linie zu ziehen zwischen den Fällen des gesetzlichen Unrechts und den trotz unrichtigen Inhalts dennoch geltenden Gesetzen; eine andere Grenzziehung aber kann mit aller Schärfe vorgenommen werden: wo Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt wird, wo die Gleichheit, die den Kern der Gerechtigkeit ausmacht, bei der Setzung positiven Rechts bewußt verleugnet wurde, da ist das Gesetz nicht etwa nur ›unrichtiges‹ Recht, vielmehr entbehrt es überhaupt der Rechtsnatur. Denn man kann Recht, auch positives Recht, gar nicht anders definieren als eine Ordnung und Satzung, die ihrem Sinne nach bestimmt ist, der Gerechtigkeit zu dienen.« (Radbruch 1946, 107)

In der Radbruch’schen Formel wird bei näherer Betrachtung nach drei inhaltlich anders strukturierten Arten von ungerechtem Gesetzesrecht differenziert. Ist zum Ersten das Gesetz bloß ungerecht oder unzweckmäßig, so muss es dennoch angewendet werden. Radbruch gibt in diesem Fall der formell richtigen Rechtserzeugung den Vorzug gegenüber der bloß einfachen Ungerechtigkeit. Erst wenn zweitens ein Gesetz »unerträglich ungerecht« wird, muss es der Gerechtigkeit weichen (Unerträglichkeitsformel). Verfolgen drittens Gesetze nicht einmal im Ansatz den Anspruch, der Gerechtigkeit Folge zu leisten, so wird diesen die Rechtsqualität vollständig aberkannt (Verleugnungsformel). Adressat der Radbruch’schen Formel sind primär Rechtsprechung und Richter. Aber auch für Radbruch gilt der Primat des positiven Rechts, das für das Funktionieren einer Rechtsordnung essentiell ist. Radbruch sieht im positiven Gesetz und in der Gerechtigkeit die beiden Seiten der Rechtsidee verwirklicht, die so lange auf einer Stufe stehen, bis die Ungerechtigkeit eine unerträgliche Intensität erhält. Die Radbruch’sche Formel verblieb nicht nur im Stadium einer rechtstheoretischen Idee. Seine aktuelle und andauernde Bedeutung hat überpositives Recht für die Rechtsprechung des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) in Den Haag.

Dieses Beispiel für den immer wieder auftretenden Widerspruch zwischen positivem Recht und einer Gerechtigkeit, die dem humanitären Entwicklungsstand der Gesellschaft in rechtsstaatlichen Demokratien entspricht, soll zeigen, dass es offensichtlich nicht in jeder historischen Phase und in jedem Rechtsbereich ausreicht, positives Recht unkritisch anzuwenden. |23|

1.3 Der Begriff des politischen Systems

Im Laufe der politischen Ideengeschichte – vom Altertum über die Aufklärung bis zur Gegenwart – wurden dem Begriff des politischen Systems von markanten Vertretern der politischen Philosophie in Bezug auf den Gegenstand der Politik immer wieder neue, ihren Positionen entsprechende Inhalte gegeben. In allen Begriffsbestimmungen spielt jedenfalls das Handeln der Menschen, ihr Zusammenwirken, ihre Ziele und ihre Gegensätze eine bestimmende Rolle. Für dieses Handeln entwickelt die Gesellschaft im historischen Prozess verfassungsrechtliche Spielregeln, die selbst wieder materiell und ideologisch determinierten Reformen unterliegen.

Der Begriff des politischen Systems wird wie wohl kein anderer innerhalb der Politikwissenschaft sehr häufig und oftmals vollkommen unreflektiert verwendet. Er ist zu einem abstrakten Allgemeinbegriff mit differenten Abgrenzungskriterien und Assoziationen mutiert, weshalb hier versucht wird, eine valide Definition davon zu geben.

Einigermaßen unstrittig ist das Faktum, dass innerhalb eines politischen Systems sämtliche staatlichen und außerstaatlichen Institutionen, Akteure, Normen und Verfahren innerhalb eines abgegrenzten Handlungsspielraumes (zum Beispiel eines Nationalstaates oder eines supranationalen Staatengebildes wie der EU) an der Politikformulierung und -umsetzung beteiligt sein sollen (vgl. Holtmann 1994, 517).

Zwar wird der Begriff des politischen Systems häufig nahezu synonym zu dem des inhaltlich enger determinierten Subsystem des Regierungssystems (Lehre von Regierung, Parlament usw.) verstanden, doch ist das politische System in diesem Kontext als ein weitläufigeres Phänomen zu betrachten, wiewohl die Regierungssystemlehre den wichtigsten und zentralsten Teil der politischen Systemlehre darstellt. Abgegrenzt wird das politische System regelmäßig von anderen gesellschaftlichen Teilsystemen, wie dem ökonomischen, historischen, sozialen oder kulturellen Subsystem, die in vielen systemtheoretischen Abhandlungen als interdependente Umweltfaktoren genannt werden. Die Besonderheit des politischen Systems liegt jedoch darin begründet, dass innerhalb dieses Teilsystems für jedermann verbindliche Entscheidungen (zum Beispiel Gesetze) qua der Autorität der darin agierenden Institutionen getroffen werden können.

In der politischen Systemtheorie wird der Begriff des politischen Systems eng mit dem Namen des amerikanischen Politikwissenschafters David Easton in Verbindung gebracht, der insbesondere in seiner Abhandlung |24| A System Analysis of Political Life aus dem Jahr 1965 das Fundament zu den heutigen systemtheoretischen Überlegungen der Politikwissenschaft schuf (vgl. Easton 1965). Dreh- und Angelpunkt der Easton'schen Systemkonzeption ist dabei die Frage, wie es politische Systeme erreichen können, sich in einer Umwelt, welche zugleich Stabilität und Wandel aufweist, zu behaupten. Dies gelingt laut Easton nur aufgrund zweier relevanter Einflussfaktoren, die innerhalb eines politischen Systems in einem sich bedingenden Verhältnis zueinander stehen. Die erste Funktion eines politischen Systems wird durch die verbindliche Entscheidungsrelevanz interner Handlungsabläufe innerhalb des Systems gekennzeichnet. Im Gegensatz zu allen anderen gesellschaftlichen Teilsystemen findet in einem politischen System eine allgemein verbindliche Zuteilung von gesellschaftlich relevanten Gütern und Werten statt. So wichtig, klar und eindeutig dieses erste Merkmal auch für die Charakterisierung eines politischen Systems sein mag, als so schwach erweist es sich, wenn dieser Allokation von Gütern und Werten kein gesellschaftlicher Gehorsam entgegengebracht wird. Deshalb besteht die zweite Hauptaufgabe eines politischen Systems darin, die Mehrheit der Gesellschaft von der unabdingbaren Verbindlichkeit dieser Aufteilung zu überzeugen. Verweigert nun ein Teil der Gesellschaft dieser Zuteilung seine Zustimmung, so obliegt es der Autorität der Systemleitung (zum Beispiel der Regierung), geeignete Repressalien und Sanktionen bereitzuhalten und diese notfalls auch einzusetzen (vgl. Pilz/Ortwein 2008, 8).

Für die Definition des politischen Systems nach David Easton wurde von diesem selbst ein Schaubild entworfen (siehe Abbildung 1), welches die Hauptaufgabe und die elementaren Bestandteile eines politischen Systems zusammenfasst. Wie kann diese Grafik nun gelesen werden? Wie ist sie zu interpretieren?

Hauptaufgabe eines politischen Systems – als ein Umweltanreize verarbeitendes Fließmodell – ist die Transformation von Inputs in sogenannte Outputs. Die Begrifflichkeit der Inputs gilt es in diesem Zusammenhang extensiv zu interpretieren. Sie inkludiert sowohl Forderungen als auch Unterstützungsleistungen, die von der Umwelt an das politische System herangetragen werden. Während Forderungen (zum Beispiel die Verbesserung der öffentlichen Infrastruktur, Ausweitung der Partizipationsmöglichkeiten) dem politischen System konkrete Impulse und Stimuli geben sollen, zeigen die notwendigen materiellen und immateriellen Unterstützungsleistungen die andere Seite der Medaille. Gehorsam |25| und Loyalität gegenüber erlassenen Gesetzen und die Bereitschaft, Steuern und Abgaben zu entrichten, werden von der Umwelt als notwendige Voraussetzungen anerkannt, um auch Forderungen umsetzen zu können.

Abb. 1: Das politische System nach David Easton

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Quelle: Easton (1965, 32).

Sowohl Forderungen als auch Unterstützungsleistungen werden vom politischen System aufgenommen und im Rahmen eines Umwandlungsprozesses in Outputs transformiert. Letztere folgen der breiten Definitionsmöglichkeit der Inputs und können daher vielerlei Gestalten und Formen annehmen. Die wohl wichtigsten Erscheinungsformen der Outputs zeigen sich in Gesetzen und Verordnungen; aber auch symbolische Gesten und Erklärungen (zum Beispiel Zeremonien, Staatsempfänge und Presseerklärungen) werden unter den Oberbegriff der Outputs eines politischen Systems subsumiert. Der eben beschriebene Transformationsprozess ist in der Praxis äußerst komplex und vielschichtig ausgeprägt und definiert im weitesten Sinne die Qualität eines politischen Systems.

Wie gut kann es einem politischen System gelingen, die notwendigen Ressourcen und Unterstützungsleistungen zu beschaffen, die die Grundvoraussetzung für die Güterverteilung bzw. die Normensetzung sind? |26|

Wie hoch zeigt sich die Responsivität eines Systems bei der Re- bzw. Perzeption der von außen herangetragenen Anforderungen? Eine zentrale Rolle in diesem Transformationsprozess nehmen dabei Akteure wie die Interessengruppen ein. Sie helfen die oft diffusen Wünsche der Umwelt zu systematisieren und zu strukturieren, was angesichts der Vielzahl der gesellschaftlichen Bedarfsanmeldungen absolut notwendig und essentiell erscheint, um einer Überlastung des Systems prophylaktisch entgegenzuwirken. Jedenfalls generieren die Outputs eines politischen Systems Reaktionen innerhalb der Gesellschaft, die mittels eines Rückkoppelungsmechanismus erneut in Inputs umgewandelt werden. Es liegt in der Natur der Sache, dass bestimmte Normen einige gesellschaftliche Gruppen bevorzugen und andere wiederum benachteiligen können, was sich direkt auf die Forderungs- und Unterstützungsleistungen auswirken kann.

Eine interessante Erweiterung erfährt das Easton'sche Systemkonzept durch die Arbeiten Gabriel Almonds, der die kohärente Input-Output Logik von Easton übernimmt, jedoch sowohl die Input- als auch die Outputfunktionen weiter ausdifferenziert.