Petra Gabriel

Tod eines Clowns

Der 26. Kappe-Fall

Kriminalroman

Jaron Verlag

Inhalt

Cover

Titel

Über die Autorin

Impressum

Kapitel Eins

Montagmorgen, 12. Dezember 1960

Kapitel Zwei

Rückblende: Sonntag, 27. März 1960

Kapitel Drei

Montagnachmittag, 12. Dezember 1960

Kapitel Vier

Dienstag, 13. Dezember 1960

Kapitel Fünf

Rückblende: Ostermontag, 18. April 1960

Kapitel Sechs

Dienstag, 13. Dezember 1960

Kapitel Sieben

Rückblende: Freitag, 10. Juni 1960

Kapitel Acht

Mittwoch, 14. Dezember 1960

Kapitel Neun

Donnerstag, 15. Dezember 1960

Kapitel Zehn

Freitag, 16. Dezember 1960

Kapitel Elf

Sonnabendmorgen, 17. Dezember 1960

Kapitel Zwölf

Sonnabendmittag, 17. Dezember 1960

Kapitel Dreizehn

Montag, 19. Dezember 1960

Kapitel Vierzehn

Dienstag, 20. Dezember 1960

Kapitel Fünfzehn

Mittwoch, 21. Dezember 1960

Kapitel Sechzehn

Donnerstag, 22. Dezember 1960

Kapitel Siebzehn

Freitagabend, 23. Dezember 1960

Kapitel Achtzehn

Freitagabend, 23. Dezember 1960

Kapitel Neunzehn

Freitagnacht, 23. Dezember 1960

Kapitel Zwanzig

Sonnabendmorgen, 24. Dezember 1960

Nachwort

Es geschah in Berlin …

Petra Gabriel, geboren in Stuttgart, ist gelernte Hotelkauffrau, Dolmetscherin und Journalistin. Als freiberufliche Autorin lebt sie in Laufenburg und Berlin. Sie schreibt historische Romane, Jugendbücher und Krimis, zudem verfasst sie Kurzgeschichten. Ihren ersten Roman, «Zeit des Lavendels», veröffentlichte sie 2001. Im Jahr 2010 erschien ihr Mystery-Roman «Der Klang des Regenbogens», ihren siebten historischen Roman «Der Ketzer und das Mädchen», zur Geschichte des Konstanzer Konzils, brachte sie 2014 heraus. Zur Krimireihe «Es geschah in Berlin» trug sie bereits drei Bände (zuletzt: «Kaltfront», 2014) bei. (www.petra-gabriel.de)

Originalausgabe

1. Auflage 2015

© 2015 Jaron Verlag GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten. Jede Verwertung des Werkes und aller seiner Teile ist nur mit Zustimmung des Verlages erlaubt.

Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Medien.

www.jaron-verlag.de

Umschlaggestaltung: Bauer+Möhring, Berlin

Satz: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2015

ISBN 978-3-95552-025-0

KAPITEL EINS

Montagmorgen, 12. Dezember 1960

FLEISCHERMEISTER FRITZ FECHNER war immer der Erste in der Moabiter Arminiushalle, auch an diesem trüben und nasskalten Dezembermorgen. Es war noch dunkel. Er fröstelte. Obwohl der Dezember des Jahres 1960 bisher mild ausgefallen war.

Er kam stets, wenn in der Halle noch Stille herrschte. Fechner brauchte diese morgendliche Ruhe fast wie eine Droge. Es faszinierte ihn stets aufs Neue, wie das hohe Gebäude zum Leben erwachte, wie die anderen Händler nach und nach ihre Stände herrichteten, wie die Stille von immer mehr Geräuschen, Stimmen, Lachen und Flüchen durchbrochen wurde, ehe die ersten Kunden eintrafen. Er liebte das Erwachen der Markthalle beinahe mehr als den geschäftigen Trubel am Tage. Dann konnte es laut werden, störend. «Für einen Schlächter», sagte seine Frau immer wieder, «… für einen Schlächter bist du eine ziemliche Mimose, Fritz.»

In der Arminiushalle war Wurst-Fritz eine Autorität. Bei seiner Frau Edith nicht.

Fechner entdeckte Blumen-Erika und brummte im Vorübergehen einen Gruß. Sie hatte ihren Jungen im Schlepptau. Eugen Schreiber von «Zilles Obst- und Gemüseoase» schlurfte an Fechners Auslage vorbei zu seinem Stand, nickte ihm zu und brummte ein mürrisches «Tach!», bevor er hinter seine Holzaufbauten strebte und begann, die Planen von den Kisten zu entfernen. Fechner dachte sich nichts beim Anblick von Schreibers knurrigem Gesicht. Sie hatten seit Jahren ihre Stände nebeneinander. Gemüse-Eugen war morgens immer muffig, besonders wenn die Sonne so spät aufging wie jetzt in der Vorweihnachtszeit. Er brauchte Licht, um sich in ein umgängliches menschliches Wesen zu verwandeln.

Fechner hingegen schoss morgens aus dem Bett wie angeknipst. Er liebte seinen Beruf, verstand ihn mehr als Berufung denn als Broterwerb. Bis auf das Schlachten selbst vielleicht, aber das war nun mal notwendig. Die Kollegen lachten, wenn Fechner behauptete, das Fleisch von behutsam und möglichst schmerzfrei geschlachteten Schweinen und Rindern schmecke einfach besser, sei saftiger. Sollten sie doch lachen! Er liebte es, die Schweinehälften zu zerteilen, die Arme bis zu den Ellbogen im Brät zu versenken, um Fett, Fleisch und Gewürze miteinander zu verkneten, ehe die Masse in den Naturdarm gestopft wurde. Kurz, Fleischermeister Fechner war ein Perfektionist und weit über Moabit, sogar weit über Berlin hinaus bekannt für sein hervorragendes Fleisch und seine würzigen Wurstwaren, insbesondere für die Blut- und Leberwürste, die er nach einem Rezept seiner schlesischen Großmutter anfertigte. In der Vorweihnachtszeit verkauften die sich besonders gut.

Er war an diesem Morgen deshalb schon kurz nach Mitternacht und nach nicht mehr als drei Stunden Schlaf aufgestanden und hatte in seiner Fleischerei einen gehörigen Vorrat produziert, für den Laden und für die Halle. Den Laden betrieb seine Frau, er verkaufte am Stand.

Bei der Ankunft des Gemüsehändlers hatte er die ersten Würste bereits hinter dem Glas seiner Theke aufgeschichtet und mit einigen Blättern Grünkohl dekoriert, gleich neben dem rosigen Schwein aus Plastik, das ein Kleeblatt im lächelnden Maul hielt. Fritz Fechners Ehefrau Edith fand, das Schwein sei eine für die Vorweihnachtszeit unpassende Dekoration. Doch Fechner bestand auf der Anwesenheit des Plastiktiers in seiner Auslage. Es brachte ihm Glück. So hatten seine Frau und er einen Kompromiss geschlossen: Das Schwein lag der Jahreszeit gemäß auf einem Bett aus Tannenzweigen, weihnachtlich mit Strohsternen dekoriert. Das einzig Ärgerliche an diesem Arrangement, fand Fechner, war die damit einhergehende Platzverschwendung. Denn um nicht den Unmut der Lebensmittelkontrolleure zu erregen, mussten seine Waren einen bestimmten Abstand zu den harzigen Zweigen wahren. Deshalb brachte er in der Auslage weniger Würste unter. Doch deswegen einfach so nachgeben? Nein! Ein Mann hatte schließlich seinen Stolz und musste zeigen, dass er der Herr im Haus war.

Dabei würde Edith nicht einmal bemerken, wenn er die Dekoration veränderte. Sie hatte momentan ganz andere Interessen: Der belgische König Baudouin heiratete in Brüssel die spanische Gräfin Fabiola. Und Edith klebte am Fernsehgerät. In Anbetracht der royalen Hochzeit hatte sie keinen Sinn für Schweine, auch nicht für solche aus Plastik. Den Laden versorgte derweil eine langjährige Aushilfe namens Emma.

Fechner hielt inne und betrachtete sein Werk. Die letzten Lücken wollte er mit den besonders teuren Rinder- und Schweinefilets füllen. Das tat er immer erst kurz vor dem Eintreffen der ersten Kunden, damit die Stücke möglichst lange ansehnlich blieben. Aber vorher nickte er Gemüse-Eugen zu. Der nickte zurück, und die beiden Männer machten sich gemeinsam auf den Weg nach draußen, um in Ruhe eine Zigarette zu rauchen. Ohne dieses Ritual begann der Tag in der Halle einfach nicht auf die richtige Weise.

Als Fechner wieder an seinen Fleisch- und Wurststand zurückkehrte, waren die Lücken hinter dem Thekenglas bereits gefüllt. Allerdings anders, als er es geplant hatte. Mit dem Gesicht nach unten, ein Messer im Rücken, direkt neben den Blutwürsten, lag ein Mann. Reglos. Tot. Dafür hatte Fleischermeister Fechner einen Blick. Er wusste auch: Das bedeutete Ärger. Gemüse-Eugen fasste Fechners Bedenken zusammen. «Oje!», brummte er Wurst-Fritz hinterher, der bereits zum nächsten Fernsprecher spurtete, um die Polizei zu alarmieren.

Die Arminiushalle wurde für diesen und die nächsten Tage geschlossen. Das ordnete Kriminaloberkommissar Otto Kappe von der Mordkommission als Erstes nach seinem Eintreffen eine halbe Stunde später an. Er hatte den Kollegen Hans-Gert Galgenberg an seiner Seite. Aller Protest von Gemüse-Eugen und Wurst-Fritz blieb vergebens. Kappe konnte nachvollziehen, dass die Hallensperrung für die Händler mehr als ärgerlich war. An den Tagen vor Weihnachten machten sie besonders gute Geschäfte. Doch es führte kein Weg daran vorbei. «Erst ist die Spurensicherung dran! Wir müssen die gesamte Halle durchsuchen, danach können Sie weiterverkaufen», erklärte er in einem derart preußisch-bestimmten Ton, dass Wurst-Fritz und Gemüse-Eugen klein beigaben.

Derweil trocknete auf dem Hemd der Leiche langsam das Blut, ebenso auf dem Hallenboden und auf den umliegenden Wurstwaren. Kappe betrachtete zusammen mit Galgenberg die Bescherung. «Das kann noch nicht lange her sein», stellte er fest. Er hatte im Laufe seiner Jahre bei der Kriminalpolizei genügend Blut gesehen, um aus dessen Zustand Rückschlüsse auf den Zeitpunkt der Tat ziehen zu können.

«Denk ick och.» Polizeihauptkommissar Karl Schulz, Leiter des zuständigen Reviers 24 in der Oldenburger Straße, besah sich die mörderische Angelegenheit ebenfalls eingehend. Kappe war froh, ihn dabeizuhaben. Er war der Beste, den er sich vorstellen konnte, um die Absperrung der Halle zu organisieren und, falls nötig, erregte Gemüter zu beruhigen. Schulz kannte seine Moabiter Pappenheimer gut, vor allem schon lange, und er stand in dem Ruf, dass er auch mal kräftig dazwischenfahren konnte. Unter den Händler gab es so einige, die zu – nicht immer gewaltfreien – Temperamentsausbrüchen neigten.

Schulz, sonst die Ruhe in Person, wirkte an diesem Tag allerdings ungewöhnlich angespannt. Die Angehörigen der Polizei wurden gerade auf mögliche persönliche Verstrickungen in Verbrechender Nationalsozialisten überprüft. Vielleicht waren die Ermittler gerade an Schulz dran, überlegte Kappe. Er mochte den Mann, obwohl er mal gehört hatte, dass der 51-jährige gebürtige Niedersachse einst als SS-Hauptsturmführer im «Führerbegleitkommando» zu Hitlers berüchtigter Schlägertruppe gehört habe. Kappe hatte keine Ahnung, ob das stimmte. Er konnte es eigentlich nicht so recht glauben. Schulz war schließlich nicht gerade ein seltener Name. Nun, wie auch immer es gewesen sein mochte, der Polizeihauptkommissar kannte sich in der Halle aus wie in seiner Westentasche und konnte den Leuten von der Spurensicherung wichtige Hinweise geben.

Schulz nickte Otto Kappe zu. «Gerade eben den Weg allen Fleisches gegangen, könnte man sagen.»

Niemand lachte.

Dr. Konrad König von der Gerichtsmedizin trat näher an den Toten heran. «Heidenei, so eine Sauerei!» Manchmal konnte König den gebürtigen Schwaben noch immer nicht ganz verleugnen, obwohl er sich größte Mühe gab, dem Berliner Jargon alle Ehre zu erweisen. So sagte er stets «Schrippe», nie «Weckle». König war schnell, sogar kurz vor Kappe eingetroffen. Die Gerichtsmediziner saßen nämlich ganz in der Nähe, in einem Gebäudeteil des Krankenhauses Moabit in der Turmstraße Nr. 21. Noch. Im letzten Jahr hatten die Planungen für ein neues Haus in der Invalidenstraße begonnen.

Der 34-jährige König war vor Jahren nach Berlin gekommen, der Liebe wegen, und hatte in der Stadt Medizin studiert. Die Liebe war weg, König noch immer da. Spillerig, etwas linkisch, mit dünnem aschblondem Haar, das sich am Hinterkopf und an der Stirn bereits erheblich lichtete. Die Kollegen gaben sich redlich Mühe, König bei der Suche nach einer Freundin mit Tipps zu versorgen, aber es wollte nicht so recht klappen. «Dem vielen Blut nach zu urteilen hat’s eine wichtige Blutbahn verletzt. Ich kann aber noch nicht genau sagen, wann und wie der Mann gestorben ist, zumal das Messer noch im Rücken steckt. Danach wollten Sie doch fragen, oder, Herr Kriminaloberkommissar? Das Messer im Rücken scheint zwar eindeutig, aber das Offensichtliche lässt nicht immer auf die eigentliche Todesursache schließen. Hab da schon manche Überraschung erlebt.»

Das hatte Otto Kappe tatsächlich fragen wollen. Obwohl er schon geahnt hatte, dass er genau diese Antwort bekommen würde. Es war ein immer wiederkehrendes Ritual. Die Mordermittler brauchten möglichst schnell möglichst verlässliche Zeitangaben und Fakten, um den Tathergang rekonstruieren zu können. Die Kollegen von der Gerichtsmedizin bestanden vor genauen Angaben auf einer gründlichen Leichenschau.

«Eines ist aber sicher: Da hat einer heftig zugestochen! Das Ding steckt ganz schön tief drin. Der Mörder muss ziemlich wütend gewesen sein», fuhr Konrad König fort, wobei sein linkes Augenlid zuckte. Das passierte immer, wenn ihn etwas irritierte. Ganz anders, als sein Name vermuten ließ, war er sehr schüchtern, dafür aber kräftiger, als er aussah. Jetzt packte er den Griff der Tatwaffe mit den beiden behandschuhten Händen, stellte sich leicht breitbeinig hin, holte Luft und tat einen Ruck. Die Klinge flutschte aus dem Fleisch. König hielt das Messer hoch und besah es. «Scharf wie die Sau.»

«Noch Witze machen über meine Wurstwaren, wa? Meine Schweine sind eins a … Det is mein bestes Messer, ’n besseret hab ick nich zum Entbeinen. Det will ick wiederham!», forderte Fleischermeister Fechner.

Otto Kappe schüttelte den Kopf. «Daraus wird nichts, das ist ein Beweisstück.»

Fechner schaute mürrisch.

Konrad König zitierte mit einer Handbewegung einen Kollegen von der Spurensicherung herbei, der gerade damit begonnen hatte, die Scheibe von Fechners Theke auf der Suche nach Fingerabdrücken mit Graphitpulver abzupudern. «Hallo! Kommen Sie mal hierher! Ich könnte Sie vielleicht brauchen.»

«Schwarzet Pulver an unserer Theke – det wird meiner Ollen nich jefalln», meinte der Fleischermeister. «Würde Ihnen raten, det Sie det später wieda schön saubermachen. Sonst bläst Ihnen meine Edith den Marsch. Und det kann se.»

Der Kollege legte seine Utensilien ziemlich unsanft nieder und trottete herbei. König übergab ihm das Messer. Dann packte er ein weiteres Mal zu und drehte den Toten um.

Alle hielten den Atem an. Ein Gesicht mit weit aufgerissenen, fast erstaunt wirkenden blauen Augen starrte sie an. Ein sehr merkwürdiges Gesicht, denn es trug eine Clownsbemalung, ziemlich ungelenk ausgeführt. Die Linien um Mund und Augen wirkten krakelig, die weiße Farbe war verschmiert. In der Mitte saß eine rote Clownsnase. Wer auch immer die Maske aufgetragen hatte, schien darin nicht besonders geübt zu sein, befand Oberkommissar Otto Kappe und sagte: «Komisch.»

«Bei dem is jetzt aber Schluss mit lustig!», meinte Hans-Gert Galgenberg. «So wat passiert offenbar selbst Clowns.»

«Haha!», kam es trocken von Kappe, während er sich daranmachte, die Taschen der Winterjacke des Toten zu durchstöbern. Er wollte wissen, ob der Papiere bei sich hatte, fand aber nichts. Er richtete sich wieder auf. «Entweder der oder die Mörder haben seine Taschen geleert, oder der Clown ist ohne Papiere hierhergekommen. In beiden Fällen stellt sich die Frage: Warum?»

In diesem Augenblick erklang eine weibliche Stimme: «Oh, wen haben wir denn da?»

Kappe wandte sich um. Sein Herz machte einen Hüpfer.

«Die Kollegen vom Dauerdienst haben mich geschickt», erklärte Kriminalmeisterin Lilli Lenné auf seinen fragenden Blick hin. «Die dachten, es wäre vielleicht besser, wenn eine Frau bei den Befragungen dabei ist. Und wer weiß, vielleicht ist der Mörder ja noch da. Sieht für mich jedenfalls so aus, als hätte jemand ganz hastig eine Clownsbemalung auf das Gesicht gepinselt. Wahrscheinlich nach dem Mord. Was meinen Sie, Doktor König?»

«Vor der Autopsie meine ich nie etwas», antwortete König und wurde unvermittelt rot.

Otto Kappe sah vom einen zur anderen. Er wusste ziemlich genau, was in König vor sich ging. So war es immer mit diesem Fräulein Lenné: Die Kollegin hatte einfach eine besondere Wirkung auf Männer, ihn selbst eingeschlossen. Obwohl sie keine klassische Schönheit war – stämmig, sportlich, Trägerin des schwarzen Gürtels beim Judo –, konnte man einfach nicht wegsehen, wenn sie mit schwingenden Hüften vorüberging oder einen mit ihren großen blauen Augen anschaute. Sie hatte etwas Französisches. Was allerdings nicht weiter verwunderlich war, stammte sie doch von einer jener hugenottischen Familien ab, die im 17. Jahrhundert aus dem streng katholischen Frankreich nach Berlin geflüchtet waren. Wie alt sie wohl sein mochte? Vermutlich ungefähr so alt wie König. Der war 1926 in irgendeinem schwäbischen Kaff geboren, dessen Namen Kappe sich nicht merken konnte.

«Was meinen Sie, wie lange die Tat her ist? Könnte der oder könnten die Täter noch in der Halle sein?» Lilli Lenné beharrte auf Antworten.

«Ein Täter, vermutlich ein Mann, Linkshänder womöglich», wich König aus. «Aber vor der Autopsie meine ich …»

«Wissen wa, wissen wa. Vor der Autopsie meinen Sie nie was», fuhr Galgenberg dazwischen.

Lilli Lenné lächelte König zu.

Otto Kappe verspürte einen Anflug von Eifersucht und fragte sich zum wiederholten Mal, warum ihm das gerade bei Lilli so ging. Seine Gertrud war schließlich eine prächtige Person, praktisch, handfest und tüchtig. Eine Frau zum Herzerwärmen. Er wollte keine andere. Und trotzdem …

Der Ablenkung wegen, aber nicht nur deshalb, sah er sich um. Vielleicht war der Täter tatsächlich noch irgendwo in der Halle. Auf den ersten Blick konnte Kappe keine möglichen Verstecke erkennen. Aber so viel stand für ihn fest: Nach Lage der Dinge war der tote Clown nur wenige Minuten nach seinem gewaltsamen Dahinscheiden gefunden worden. Also hätte jemand den Täter sehen müssen! Fechner und sein Kollege Schreiber vom Obststand hatten vor dem nächstgelegenen Ein- und Ausgang der Halle eine Zigarette geraucht und Stein und Bein geschworen, sie hätten niemanden fortlaufen sehen. Allerdings gab es mehrere Ein- und Ausgänge. Um zu einem der anderen zu gelangen, hätte der Kerl an jeder Menge Stände vorbeikommen müssen. «Würde mich mal interessieren, ob jemand von den anderen Händlern eine Person gesehen hat, die nicht hierher gehört», murmelte Kappe vor sich hin. Er ließ seinen Blick erneut schweifen und schaute dann nachdenklich nach oben, zur hohen Decke. Wegfliegen ging ja wohl nicht. Anschließend sah er auf die Umstehenden. Einige Personen waren noch in die Halle gekommen, bevor die abgesperrt worden war, hatten sich bei Fechners Fleischtheke versammelt und gafften, während die Kollegen von der Spurensicherung verzweifelt versuchten, die Herrschaften auf Abstand zu halten. Es war vielleicht ein halbes Dutzend, darunter zwei Frauen mittleren Alters und ein etwa zehnjähriger Junge, der sich an die grüne Schürze seiner Mutter drückte.

Ein Kollege von der Schutzpolizei raunte Otto Kappe zu, dass das provisorische Vernehmungszimmer inzwischen eingerichtet und die Kollegen vor der Tür dabei seien, die Personalien der Händler aufzunehmen.

«Halten Sie die Leute fest, wir brauchen sie noch! Lassen Sie niemanden gehen! Besorgen Sie sich außerdem die Liste sämtlicher Hallenbeschicker, und karren Sie schnellstens diejenigen hierher, die uns durch die Lappen gegangen sind! Ich denke, es ist sinnvoll, wenn sich alle der Reihe nach den Toten ansehen. Dann haben wir sie gleich beieinander. Ich fange mit denen an, die hier rumstehen.» Kappe machte eine einladende Handbewegung. «So, meine Damen und Herren, dann wollen wir mal!», dröhnte seine Stimme. «Sie kommen bitte nach hinten zum Fisch, Ausgang Nord, Bugenhagenstraße! Einer nach dem anderen. Ich warte da auf Sie.» Und dann sagte er etwas leiser: «Galgenberg, du übernimmst die Verkehrsführung! Und Sie, Fräulein Lenné, schreiben bitte das Protokoll! Soweit ich weiß, können Sie Steno.»

«Na, da müssen wir uns aba beeiln, sonst stinkt die Leiche bald genauso wie der Fisch. Für ewig wolln die von der Rechtsmedizin och nich auf den Toten warten», murmelte Hans-Gert Galgenberg vor sich hin und trabte hinter Kappe her.

In den Gewölben unter der Arminiushalle hockte ein dunkler Schatten zusammengesunken und reglos am Boden, die Knie angezogen, die Hände vors Gesicht geschlagen, einen Rucksack und eine Jacke neben sich. Er wusste, er hätte längst weg sein müssen. Doch er war wie gelähmt. Ihm war speiübel. Er hatte einen Menschen getötet, ein Messer in eine lebende Person gerammt. Gegen den Widerstand des Fleisches und der Knochen war es schließlich zwischen den Rippen hindurchgeglitten. Mehr als die Tat selbst machte ihm der Umstand zu schaffen, dass er überhaupt dazu fähig gewesen war. Dass er nicht links und nicht rechts geschaut hatte in diesem Tunnel aus blankem Hass und Abscheu. Er richtete sich etwas auf, nahm die Hände herunter. Nein, das war kein Mord gewesen, das war Gerechtigkeit. Jarusch würde niemals wieder einem anderen Menschen schaden können. Er musste würgen. Der Brechreiz wurde immer stärker.

Dann hörte er Stimmen. Er sah den Lichtkegel einer Taschenlampe und ergriff hastig den Rucksack und die Jacke. Verflucht, er hatte doch gewusst, dass es knapp werden würde! Wieso war er nur nicht früher abgehauen?

Er vernahm Schritte. Panik stieg in ihm auf. Wohin? Er begann zu rennen. So geräuschlos wie möglich. Die Keller unter der Halle waren weitläufig. Bis zum Notausgang würde er es nicht mehr schaffen. Seine Augen suchten hektisch die Gewölbe ab.

Das große Fass stand ganz hinten, es war wohl für ein halbes Fuder ausgelegt. Problemlos kletterte er hinein. Starker Weingeruch umnebelte ihn. Er versuchte, seine Gedanken klar zu halten. Hauptsache, die Polizei brachte keine Hunde mit. Aber die würden durch die Weinausdünstungen wahrscheinlich ohnehin irritiert sein. Sobald die Polizisten wieder weg waren, wollte er den Notausgang Richtung Bugenhagenstraße nehmen. Vom Fass bis dahin waren es nur etwa zehn Schritte.

KAPITEL ZWEI

Rückblende: Sonntag, 27. März 1960

HOLGER GERICKE hatte sich für die Elektrische entschieden. Linie 95. Die galt als eine der sichersten für Republikflüchtlinge. Die Straßenbahnen wurden ohnehin weniger kontrolliert als die U- und die Stadtbahnen. Sie würden zunächst bis Endhaltestelle Ost fahren. Die lag vor dem Übergang. Nach einem kurzen Fußmarsch ging es dann mit der 95 West weiter.

Die Elektrische quietschte und ruckelte über die Mittelpromenade der Sonnenallee. Die Gleise wurden nur noch notdürftig instand gehalten.

Noch gab es sie, diese Straßenbahnlinien, die von Ost-Berlin in Richtung West-Berlin führten. Doch jeder wusste: Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie verschwinden würden. Auch die Strecke über die Sonnenallee war wahrscheinlich ein Auslaufmodell. Der Berliner Senat hatte bereits die Umstellung auf Busse beschlossen.

Die Stimmung zwischen Ost und West spitzte sich erneut zu. Als zweite Berlin-Krise wurde dieses Machtgerangel bezeichnet. Gericke verstand nicht viel von Politik. Er wollte einfach nur leben dürfen und seine Familie ernähren, genug zu essen und zu trinken haben. Vor allem wollte er seine Würde bewahren und nicht schikaniert werden wegen der Mutter seiner Frau. Die war aus politischen Gründen in den Westen gegangen. Sie hatte sich als alte Sozialdemokratin einfach nicht mit der Zwangsvereinigung von SPD und SED abfinden können. Die inzwischen fast Achtzigjährige war kurzerhand in ein Altersheim in Berlin-West gezogen. Sie hatte Krebs, würde nicht mehr lange leben und wurde deshalb von ihrer Tochter so oft wie möglich besucht.

Das Gespräch im vergangenen Jahr, oder besser den Monolog von Wolfgang Müller, seines Zeichens Pressechef beim VEB Zentral-Zirkus, für den Holger Gericke arbeitete, würde er für den Rest seines Lebens nicht mehr vergessen. «Gericke, reden Sie mit Ihrer Frau! Muss sie denn wirklich so oft in den Westen? Besuche dort sind nun mal nicht gern gesehen. Das ist ein sensibles Thema, seitdem sich Harry Barlay und sein Kompagnon Brumbach vor zehn Jahren mit ihrem halben Zirkus in den Westen davongemacht haben. Das wissen Sie so gut wie ich, mein lieber Gericke.»

Und ob Gericke das wusste! Barlay hatte nach der Teilung Deutschlands schwer zu kämpfen gehabt. Zuerst, um überhaupt aus dem Westen für Gastspiele in die Zone kommen zu können. Er hatte sich die Rettung seines kränkelnden Zirkusunternehmens erhofft. Als es dann einigermaßen lief, spekulierte er auf einen eigenen Zirkusbau an der Friedrichstraße.

Den Zirkusbau an der Friedrichstraße bekam Barlay 1948. Doch seine Pläne gingen nicht auf. Der Circus Busch musste sogar mit Dressuren aushelfen und schickte ihm nicht nur Epi Vidane mit seinen vier Elefanten, sondern auch Hermann Ullmann und Hildegard Noris mit der Hohen Schule der Pferdedressur. Und dann tauchten die Hinweise in den westlichen Blättern auf, die ihm ordentlich zu denken gaben. In der Neuen Zeitung stand, dass in Kürze die drei Unternehmen Aeros, Richard Busch in Bitterfeld und Barlay verstaatlicht würden. Harry Barlay wollte das wohl nicht miterleben, klamm und heimlich wanderte er mit den meisten Tieren und viel wertvollem Material in den Westen ab, der Zirkus Barlay an der Friedrichstraße blieb weiter bestehen. Die Bildung des DDR-Staatszirkus hatte dann doch noch rund zehn Jahre gedauert. Seit Januar 1960 waren die einst privaten Zirkusse Busch und Barlay nun unter dem sozialistischen Dach des VEB Zentral-Zirkus vereint. Aeros würde folgen. Barlay sollte dann offiziell Olympia heißen, doch für die Menschen blieb er Barlay. Der ehemalige Direktor des Zirkus Barlay hatte vom Westen aus nur noch zuschauen können, er war bankrott. Nein, die Republikflucht hatte ihm kein Glück gebracht, ebenso wenig wie seinem Kompagnon Brumbach. Gericke konnte nur hoffen, dass es ihm und seiner Familie besser erging und sie sich im Westen ein gutes Leben aufbauen konnten.

Bei dem Gedanken an Barlays Zirkustreck gen Westen musste Holger Gericke schmunzeln. Seine Frau sah es und lächelte ihm zu. Sie nahm wohl an, dass er weit weniger Befürchtungen hatte als sie selbst, was ihren Neuanfang anbelangte. Doch er war kein mutiger Mann, auch wenn er so tat, um seine Familie nicht zu verunsichern – und weil Feigheit einfach nicht in das Bild passte, das man sich gewöhnlich von einem Raubtierdompteur machte. Raubtiere flößten ihm weniger Angst ein als das Leben und dieser Wechsel in eine neue Welt voller Unwägbarkeiten. Er brauchte die Sicherheit alltäglicher Routinen, das Wissen, dass bestimmte Dinge am nächsten Tag noch genauso sein würden wie am Tag zuvor. Sein Bett, die Wohnung, das Lächeln seiner Frau. Sogar die Mucken der Kinder. Die seines Sohnes Thomas, der sich langsam anschickte, seine eigenen Wege zu gehen, und die seiner Tochter Monika, die sich bald in der schwierigen Phase der Pubertät befinden würde.

Er hatte Harry Barlay immer für dessen selbstsicheres Auftreten bewundert. Der schien keine Ängste zu kennen, auch nicht in Zeiten, in denen es drunter und drüber ging. Für den heimlichen Treck in den Westen hatte er sich eine wunderbare Legende verschafft: Er musste sich angeblich wegen einer Augenbehandlung in eine Klinik in Braunschweig begeben. Durch ein zuvor ausgekundschaftetes Tor einer Bahnunterführung im Norden Berlins war ein Großteil der Tiere in den französischen Sektor gebracht worden. Die berühmten Elefanten des Zirkus Barlay hatten nicht geschmuggelt werden müssen, die waren ohnehin auf Tournee in Westdeutschland gewesen.

Die Organisation des Wagentrecks in den Westen hatte Barlays Kompagnon Gustav Brumbach übernommen. Und das auf eine ziemlich trickreiche Weise, das musste der Neid ihm lassen. Er hatte im Vorfeld schon einmal heimlich mit den Westalliierten gesprochen, ganz unverbindlich. Als die dann diskret durchblicken ließen, dass sie auch mal wegschauen könnten, ließ er sofort die Wagen umstreichen, so dass man den Namen Barlay nicht mehr lesen konnte, und schmuggelte sie auf verschiedenen Wegen über die innerstädtische Grenze. Zwei dieser Wagen wurden zum Beispiel hinter einen Traktor gespannt. An der Sektorengrenze erfuhren die überaus aufmerksamen Volkspolizisten zu ihrer Beruhigung, dass es sich um Wagen von West-Berliner Schaustellern handle, die man zurückbringen wolle. Damals konnten Schausteller aus dem Westen noch in allen vier Sektoren gastieren. Ein anderes Mal argumentierte Brumbach auf seine übliche joviale Weise und daher besonders einleuchtend, dass man nur deshalb West-Berlin durchqueren wolle, um schneller wieder am anderen Ende Berlins, in der Heimat der Werktätigen, zu sein. Auf Westgebiet wurde dann einer der beiden Wagen ausgehängt – und Brumbach fuhr mit nur einer Karre zurück in die Friedrichstraße, dann natürlich über einen anderen Sektorenübergang.

Von West-Berlin aus gelangten Tiere und Material, ebenfalls mit diskreter Unterstützung der Westalliierten, nach Helmstedt: 90 Wagen, 35 Pferde sowie Tiger, Bären und andere Tiere. Anschließend ging die Reise in die kleine Industriestadt Eschweiler weiter, östlich von Aachen. In Eschweiler, auf dem dortigen Kasernengelände, war das Winterquartier der Republikflüchtlinge eingerichtet worden. Dort ging Harry Barlay letztendlich das Geld aus.

Holger Gericke arbeitete damals schon bei Barlay und wusste, was vor sich ging. Er selbst wollte aber in Ost-Berlin bleiben. Er glaubte an eine Zukunft des Zirkus Barlay, war sich sicher, dass es wieder aufwärts gehe, dass der «Restzirkus» an der Friedrichstraße eine gute Überlebenschance habe. Heute fragte er sich, wie er so naiv hatte sein können.

Im Osten zurückgeblieben war nämlich ein ausgebluteter Zirkus, der zwar über einen Bau an der Friedrichstraße verfügte, ansonsten aber nur noch über wenige, meist kranke Tiere und schrottreifes Material – ein Schatten seiner einstigen Größe. Der Zirkus kam einfach nicht wieder auf die Beine, trotz wechselnder Direktoren und West-Artisten machte er ständig Verluste. Das neue Chapiteau – in Grün, der Farbe der Hoffnung –, die neuen Stallzelte, die zunehmende Zahl der neugestrichenen Wagen, all das half nichts: Barlay schrieb weiter rote Zahlen. Gericke selbst versuchte sich an einer neuen Dressur, einer kleineren, mit Tieren, die ihre besten Zeiten längst hinter sich hatten.

Der Magistrat war es schließlich leid, die finanziellen Löcher zu stopfen. So wurde der Zirkus Barlay kurzerhand zum volkseigenen Betrieb umgewandelt. Das weckte neue Hoffnungen, mobilisierte noch einmal Kräfte. Und für eine kurze Zeit wurde es tatsächlich besser.

Holger Gericke verzog den Mund und drehte den Kopf, schaute zum Fenster der Elektrischen hinaus. Er wollte nicht, dass seine Frau Anita ihm ansah, worüber er nachdachte. Er war der Mann, er hatte Zuversicht auszustrahlen – und gab sich deshalb gelassen. Doch seine Gedanken kreisten voller Wehmut um die vergangenen guten Tage. Es brach ihm beinahe das Herz bei der Erinnerung an das, was sie verloren hatten.

Gustav Brumbach hatte sich nach der Flucht von Barlay getrennt und einen eigenen Zirkus aufgemacht. Holger Gericke hatte gehört, dass auch dieser vor dem Aus stand. Das konnte er kaum glauben. Vielleicht wollte er es auch einfach nicht glauben. Während er seine eigene Flucht plante, hatte er insgeheim gehofft, bei Barlays früherem Kompagnon ein Engagement als Dompteur zu bekommen. Schließlich hatte Brumbach es ihm versprochen. «Sie sind einer der Besten, die ich kenne, Gericke. Wann immer Sie sich entschließen, uns nachzuziehen, kommen Sie zu mir! In meinem Zirkus gibt es immer einen Platz für einen guten Dompteur», hatte er getönt.

Und dann, vor einigen Tagen, war auch noch der Betriebsleiter des VEB Zentral-Zirkus, Harry Michel, in den Westen geflüchtet. Am 13. März. Holger Gericke würde dieses Datum nicht vergessen. Er verstand Michel sogar. Dieser hatte sich bis zuletzt gegen die Zentralisierung gewehrt. Seine Flucht war ein herber Schlag für Gericke, denn Michel war sein letzter Unterstützer gewesen, einer, der seinen eigenen Kopf hatte. Als ihm die Stellung als Pressechef beim Circus Busch Berlin in Aussicht gestellt wurde, ging er. Mit Werner Weber, Michels Stellvertreter, kam Gericke einfach nicht klar.

Da hatten er und seine Frau gewusst, dass auch für sie der Zeitpunkt gekommen war, ihr Zuhause zu verlassen und in den Westen zu gehen.

Müller hatte ihn sofort nach Michels Flucht zu sich zitiert und ihm einen gehörigen Warnschuss verpasst. Anfangs hatte Gericke nur mit halbem Ohr hingehört. Hauptsache, er nickte an den richtigen Stellen. Jeder wusste, dass Müller einer war, der im Dienste der Staatssicherheit große Ohren machte. Doch dann hatte er gesagt: «Gericke, denken Sie nicht mal an Flucht! Sie würden es bereuen. Barlay hat es bereut, und Brumbach wird es bereuen. Ebenso wie Michel. Sie werden sehen, der bleibt nicht lange Pressechef bei Busch. Auch in Westdeutschland erkennen sie Verräter. Unser Land blutet aus. Zu viele gute Leute gehen, angezogen von den Verlockungen eines ausbeuterischen, kapitalistischen Systems. Statt beim Wiederaufbau unseres Landes zu helfen, laufen sie feige davon. Geben Sie uns keinen Anlass zu glauben, dass Sie solche Pläne hegen! Gericke, ich spreche zu Ihnen als Freund. Seit dem Zusammenschluss von Barlay und Busch zum VEB Zentral-Zirkus im Januar hat sich vieles geändert. Ich rede jetzt mal Klartext: Sie sind ein guter Artist, wir wollen Sie nicht verlieren. Und was ich über Ihren Sohn höre, klingt auch sehr vielversprechend. Ich habe erst neulich mit einem Freund geredet, der im Gebäude des Kulturzentrums sitzt. Der behauptet, der Leiter der Staatlichen Artistenschule habe Thomas in den höchsten Tönen gelobt. Gericke, die Mutter Ihrer Frau wird ohnehin bald sterben. Soweit ich weiß, hat sie Krebs. So hart das vielleicht klingen mag, aber die Zukunft Ihres Sohnes ist doch wichtiger als eine alte Frau, die nicht mehr lange zu leben hat.»

Es war absurd. So richtig und so falsch zugleich. Aber wie auch immer die Situation sein mochte – Anita würde ihre Mutter nie im Stich lassen. Er wusste das und hatte sich sofort heimlich Arbeit im Westen gesucht. Aus dem einst gefeierten Dompteur einer gemischten Raubtiergruppe würde ein Pausenclown und Stallarbeiter auf Probe bei Reiz werden. Der kleine Familienzirkus hatte sich draußen in Kladow ein Winterquartier in einem alten Bauernhof eingerichtet und tingelte das ganze Jahr über durch die West-Berliner Bezirke, um Vorführungen zu geben – mit einem Zweimastzelt, einer kleinen Manege, einem Pony, Kamelen, einem Lama, einer Hundedressur, Clowns, Jonglagen und einer Seiltänzerin, die ihre besten Jahre bereits hinter sich hatte und viel Schminke benötigte, um jung zu wirken. Dann war da noch der alte Braunbär mit den grauen Haaren an der Schnauze, der in seinem Käfig sehnsüchtig in die Ferne starrte oder rhythmisch den Kopf hin und her schwang, um den Hals eine Eisenkette, die an einem Betonklotz befestigt war.

Bei Reiz packte jeder überall mit an. Viel Geld gab es nicht. So hatte sich Gericke für ein paar Stunden die Woche eine Stelle als Aushilfstierpfleger im Zoologischen Garten verschafft.

Und nun saßen sie hier in der Elektrischen. Ob seine Tiere im Zentral-Zirkus ihn schon vermissten? Ein wenig vielleicht. Doch bald hätten sie ihn vergessen. Der bereits lendenlahme Leopard, die beiden alten Löwinnen und der Bär hatten stets fleißig mitgemacht – und er ließ sie für eine einzige Hoffnung im Stich: dass in West-Berlin nicht die politische Überzeugung ausschlaggebend war, sondern das, was ein Mensch leistete, und dass man für sein Geld auch etwas bekam. Vielleicht würde er ja irgendwann wieder in den Raubtierkäfig zurückkehren können und einen Zirkus finden, der ihm eine neue Chance gab. Dieser Wunsch trieb ihn an. Immerhin durfte er im Zoo aufgrund seiner Erfahrungen bei den Raubtieren mithelfen.

Gericke schaute wieder zu seiner Familie. Sie hatten in der Elektrischen sogar alle vier Sitzplätze beieinander bekommen. Jetzt mussten sie nur noch diese Fahrt, nur noch eine einzige Kontrolle überstehen, dann waren sie West-Berliner. Er beugte sich vor, nahm die Hand seiner Frau Anita und küsste sie.

In ihren Augen schimmerten Tränen, doch sie hielt sie zurück und lächelte ihrem Mann erneut zu. «Wir konnten nichts anderes tun, Holger. Es ist schon richtig so. Wenn wir mal alt sind, wollen wir bestimmt auch nicht, dass unsere Kinder uns im Stich lassen.»

Die dreizehnjährige Monika schmiegte sich an die Mutter, die trotz des Frühlingstags ihren Pelz trug. Sie alle hatten mehrere Lagen Kleidung übereinandergezogen. Es war besser, nicht durch einen Koffer aufzufallen, wenn man mit der Elektrischen von Berlin-Ost nach Berlin-West reiste. Das weckte nur Aufmerksamkeit bei den Kontrolleuren.