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Reinhard Stauber

Der Wiener Kongress

BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN WEIMAR · 2014

Reinhard Stauber lehrt als Professor für Neuere und Österreichische Geschichte an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt, Österreich.

 

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar.

Online-Angebote oder elektronische Ausgaben sind erhältlich unter www.utb-shop.de.

 

Umschlagabbildung:

„Le gateau des rois,/tiré au Congrès de Vienne en 1815“. Satirischer Kupferstich, handkoloriert; Paris 1815 © The British Museum

 

© 2014 by Böhlau Verlag GmbH & Co.KG, Wien Köln Weimar

Wiesingerstraße 1, A-1010 Wien, www.boehlau-verlag.com

Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig.

Korrektorat: Julia Roßberg, Weimar

Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart

Satz: synpannier. Gestaltung & Wissenschaftskommunikation, Bielefeld

Druck und Bindung: AALEXX Buchproduktion, Großburgwedel

Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier

Printed in the EU

UTB-Band-Nr. 4095 | ISBN 978-3-8252-4095-0

Über dieses eBook

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Inhaltsverzeichnis

Cover

Über dieses eBook

Vorwort

1.  Einleitung – Schlüsselbegriffe zur „Wiener Ordnung“

2.  Bündnisse, Verträge und der Kongress (1813/14)

2.1  Die Entstehung der sechsten Koalition gegen Napoleon

2.2  Das Scheitern der österreichischen Vermittlung

2.3  Bündnis im Krieg und Allianz für den Frieden

2.4  Die Abdankung Napoleons

2.5  Der Friedensvertrag und der Weg zum Kongress

3.  Schwierige Anfänge und drohendes Scheitern

3.1  Mächtepolitik und Organisationsprobleme im Herbst 1814

3.2  Mächtekonferenzen, Ausschüsse, Komitees

3.3  Die Krise um Polen und die Ansprüche Preußens auf Sachsen Ende 1814

4.  Die Neuordnung Mitteleuropas – Verhandlungen und Ergebnisse

4.1  Das Herzogtum Warschau

4.2  Die Entschädigung Preußens

4.3  Die „Hundert Tage“ und die Absprachen gegen Napoleon

4.4  Das Königreich Hannover

4.5  Die Niederlande und Luxemburg

4.6  Salzburg oder Pfalz? Konflikte zwischen Bayern und Österreich

4.7  Festschreibung der Ergebnisse und Erstellung der Schlussakte

5.  Europäische Schauplätze

5.1  Die Schweizer Eidgenossenschaft und ihre Neutralität

5.2  Die Staatenwelt Italiens

5.3  Die skandinavischen Mächte

6.  Der Deutsche Bund. Das „föderative Band“ in der Mitte Europas

6.1  Die Verhandlungen um die Neugestaltung Mitteleuropas

6.2  Die Bundesakte und der Deutsche Bund

7.  Die Festkultur des Kongresses

7.1  Präsenz im öffentlichen Raum

7.2  Bälle, Feste und Salons

7.3  Monarchische Festkultur und privater Rahmen

8.  Völkerrecht und globale Aspekte

Karten

Zeittafel

Quellen- und Literaturverzeichnis

Archivalische Quellen

Quellenwerke

Überblicksdarstellungen zur Epoche und zum Wiener Kongress

Forschungsliteratur

Kartenverzeichnis

Register

Personenregister

Ortsregister

Rückumschlag

Vorwort

Mit dem Sturz Kaiser Napoleons im April 1814 ging, so schien es zumindest, eine Periode in der Geschichte Europas zu Ende, die von der Hegemonie Frankreichs und mehr als zwei Jahrzehnten kriegerischer Auseinandersetzungen geprägt gewesen war, die mehrere Millionen Menschenleben gekostet hatten. Der Ende Mai 1814 in Paris abgeschlossene Friedensvertrag berief einen „allgemeinen Kongress“ der kriegführenden Parteien ein, der binnen zweier Monate in Wien zusammenkommen sollte. Dort war eine territorial- und verfassungspolitische Neuordnung Europas zu vereinbaren, die auf gemeinsamer Verantwortung für die Erhaltung des Friedens basierte – der erste Anlauf zur Etablierung eines zuverlässig arbeitenden sicherheitspolitischen Systems auf dem Kontinent. Die „Wiener Ordnung“ sicherte Europa in der Tat eine lange währende Friedensperiode; die maßgebliche Forschung verortet hier einen grundlegenden Paradigmenwechsel der Akteure der internationalen Politik von rein konkurrenz- zu konsensorientierten Schemata.

Allerdings war der Wiener Kongress aus mehreren Gründen alles andere als eine sich selbst erfüllende Erfolgsgeschichte, und es ist ein Anliegen der hier vorgelegten Darstellung, Kontingenzen, Schwierigkeiten und Zufälle zu beleuchten, die seine Verhandlungen und Ergebnisse stärker prägten als die Intentionen der Akteure.

Die Herausbildung einer „konzertierten“ (heute würde man sagen: koordinierten) militärisch-politischen Strategie der Gegner Frankreichs in den Feldzügen von 1813 führte im Frühjahr 1814 zur formellen Allianz der Großmächte Russland, Preußen, Österreich und Großbritannien und zum militärischen Sieg über den Kaiser der Franzosen. Doch bei den sich anschließenden politischen Gesprächen, in London im Juni und danach in Wien ab September 1814, schlug die traditionelle Rivalität der Großmächte in Mitteleuropa erneut durch. Der Zar hielt seine Pläne in [<<7] Bezug auf Polen bewusst in der Schwebe, Preußen verlangte seine Wiederherstellung im territorialen Umfang von 1805 und die Briten wollten alle Agenden mit überseeischen Bezügen ausgeklammert wissen. Diese komplexen, widersprüchlichen Ereignisketten belasteten den europäischen Kongress mit einer Fülle ungelöster Probleme (Kap. 2, S. 19).

Der Kern des Kongressgeschehens wurde dominiert von der harten Konkurrenz Russlands, Österreichs und Preußens um die Sicherung von Einflusszonen in den von Frankreich geräumten Gebieten in Mitteleuropa und Italien. An der Frage der adäquaten Entschädigung Preußens für den Verzicht auf polnische Gebiete, die der Zar zur Gänze für sich beanspruchte, schienen die Verhandlungen an der Jahreswende 1814/15 so gut wie gescheitert. Erst nach einer Lösung für die Aufteilung Sachsens im Februar und unter dem Druck von Napoleons Rückkehr nach Frankreich für die Herrschaft der „Hundert Tage“ im März 1815 konnten tragfähige Kompromisse erarbeitet werden. Außerdem gab es für die Organisation einer derartig großen Zusammenkunft von Diplomaten keine Vorbilder oder Erfahrungswerte. Die Eröffnung der Verhandlungen musste mehrfach verschoben, sachgerechte Arbeitstechniken in Ausschüssen erst entwickelt werden. Auf Zeremoniell und formale Regelwerke wurde dabei recht wenig Bedacht genommen (Kap. 3, S. 47).

So ausführlich und präzise wie im vorgegebenen Rahmen möglich, dokumentiert die Darstellung den schwierigen Gang der Wiener Verhandlungen und ihre in der Schlussakte festgeschriebenen territorialen Ergebnisse bezüglich der neuen Königreiche Polen (nun im Verband des russischen Zarenreiches), Niederlande (vermehrt um Hinweise zur Interessenlage des Gesamthauses Nassau) und Hannover (dem Festlandsbesitz der britischen Könige). Der Erhalt des Königreichs Sachsens und die Neugestaltung der preußischen Monarchie durch Übernahme großer Gebiete am Rhein und in Westfalen gehören ebenso hierher wie die weniger bekannten, auf dem Kongress nicht mehr gelösten Streitigkeiten zwischen Österreich und Bayern um Salzburg und das Rhein-Main-Gebiet (Kap. 4, S. 91).

Zur Gewinnung einer dezidiert europäischen Perspektive auf die Bedeutung der Jahre 1814/15 geht die vorliegende Darstellung ausführlicher als bisher in deutschsprachigen Werken üblich auf die Neukonstitution [<<8] der schweizerischen Eidgenossenschaft, die Wiederherstellung der Staatenwelt Italiens und, etwas knapper, auf die skandinavischen Königreiche ein (Kap. 5, S. 137). Dagegen kann zu den Verhandlungen um die Ausgestaltung des vom Friedensvertrag vorgesehenen „föderativen Bandes“ für die „Staaten Deutschlands“ resümierend auf Eckhardt Treichels magistrales Werk von 2000 zurückgegriffen werden, das zugleich die einzige kritischen Ansprüchen genügende deutsche Quellenedition zum Wiener Kongress darstellt. Angefügt sind ein Abriss der Verfassung des Deutschen Bundes und einige Hinweise zu dessen kontroverser Beurteilung (Kap. 6, S. 175). Hier wie an anderen Stellen des Buchs wird dafür plädiert, die vielfach unter hohem Zeitdruck zustande gekommenen Wiener Ergebnisse in ihrem fragmentarischen, kompromisshaften Charakter zu sehen und nicht als Ausfluss eines konservativen Masterplans. Der Wandel des Deutschen Bundes zum Instrument einer konservativen Entwicklungsblockade war eine politische Entscheidung der Jahre 1819/20 und nicht als restaurativer Automatismus in der Bundesakte angelegt.

Die Darlegungen zur Wiener Festkultur verzichten auf die vielfach geübte Praxis, den Kongress mit der (Theater-)Bühne seiner Bälle, Salons, Konzerte und Theateraufführungen einschließlich galanter Boudoir-Geschichten gleichzusetzen. Vielmehr wird versucht, aus dem weiten Spektrum der vom Wiener Obersthofmeisterstab und zahlreichen Standespersonen der Residenzstadt organisierten Vergnügungen eine Typologie festlicher Veranstaltungen draußen unter freiem Himmel wie drinnen in den noblen Interieurs der Schlösser, Palais und Salons vorzuführen und dabei die neuartigen Formen monarchischer Präsenz zu akzentuieren (Kap. 7, S. 205).

Grundanliegen des Buches ist es, den Kernbereich des politischen Entscheidungshandelns (eingebettet in die zeitüblichen gesellschaftlichen Formen) bei der Darstellung und Bewertung des Kongresses hervorzuheben. In Wien ging es um Machtpolitik, um Kontrolle von Rivalität und vor allem um die Ziehung neuer Grenzen, nicht um Tanzfeste und Kulturveranstaltungen. Das Kongressgeschehen lässt sich auch kaum unter abstrakte Prinzipen fassen; die Erörterung gleichwohl gängiger Leitbegriffe der Forschung, darunter jenes besonders problematischen der „Restauration“, ist Gegenstand der Einleitung (Kap. 1, S. 11). [<<9] Gerahmt wird die Darstellung durch einen weiteren systematischen Teil, der wichtige Entwicklungen der internationalen Rechtsordnung, insoweit sie vom Kongress angestoßen wurden, vorstellt und einige Verbindungslinien zu den in der aktuellen Forschung wichtigen globalgeschichtlichen Themen auszieht (Kap. 8, S. 239).

Die hier vorgelegte Darstellung ist vor allem aus den Quellen erarbeitet und zielt auf die Vermittlung faktenbasierter Information zu den politischen Dimensionen des neunmonatigen Kongressgeschehens. Die Belege beschränken sich in der Regel auf den Nachweis wörtlicher Zitate; die eingehende Erörterung von Forschungsfragen oder eine handbuchartig breite Dokumentation der Literaturlage hätten den Vorgaben des Reihenformats widersprochen. Zitate aus dem Französischen, insbesondere aus den Quellensammlungen des 19. Jahrhunderts, wurden vom Verfasser ins Deutsche übersetzt. Nur in Ausnahmefällen, in denen es auf den genauen Wortlaut ankommt, wurden französische Wendungen im Text belassen. Ortsnamen sind in ihrer im Deutschen gewohnten Namensform angegeben; das Ortsregister nennt auch die in den slawischen Sprachen üblichen Namensformen. Die Ansetzung der Namen im Personenregister folgt der Gemeinsamen Normdatei (GND) bzw. der Library of Congress Control Number (LCCN).

Für Hilfe und Unterstützung bei der Erarbeitung des Buches danke ich meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in Klagenfurt, vor allem Renate Kohlrusch, weiterhin Ingrid Groß, Florian Kerschbaumer, Marion Koschier, Walter Liebhart und Anton Zwischenberger.

Während der beiden letzten Jahre, als mich Dekanat und Manuskript doppelt in Beschlag nahmen, haben sich unsere Kinder Wolfgang und Magdalena ruhig und wie selbstverständlich auf den Weg in ihr eigenes Leben gemacht und sind mir gleichwohl als Ratgeber verbunden geblieben. Dafür bin ich dankbar. Und niemand schulde ich mehr Dank als meiner Frau. [<<10]

1. Einleitung – Schlüsselbegriffe zur „Wiener Ordnung“

In gängigen Lehrbüchern und Gesamtdarstellungen finden sich der Wiener Kongress und seine Wirkungsgeschichte häufig mit eingängigen Schlagworten verknüpft. Den Kontrast zu den revolutionären Ereigniskaskaden von 1789 und von 1848 hebt die bis in den Schulunterricht weit verbreitete, negativ konnotierte Wortmarke von der „Restauration“ hervor, für den deutschen Ereignisraum noch oft gekoppelt mit einem Epochensignum wie „Vormärz“ oder „Biedermeier“, beide „Inbegriff einer entpolitisierten Stillhaltekultur“.1 Die Hervorhebung des Prinzips der streng monarchisch definierten „Legitimität“ thematisiert ebenso wie die Debatte um den Erlass von Konstitutionen die neu zu findende Balance im Inneren der Staaten, die Realisierung eines Gleichgewichtssystems, die Etablierung einer stabilen Friedensordnung und der Streit um das Recht zur „Intervention“ in Drittstaaten das europäische System im Zeichen der fünf Großmächte. Einige dieser politischen Leitbegriffe zur Charakterisierung der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sollen in dieser Einleitung vorgestellt und kritisch hinterfragt werden.

„Restauration“

Die Verwendung des Begriffs „Restauration“ als Epochenbezeichnung für die europäische Geschichte zwischen 1814/15 und 1848 „steckt voller Schwierigkeiten“ und ist nicht zu empfehlen.2 Die Bezeichnung ist einem [<<11] zeitgenössischen Titel der politischen Literatur entnommen, dem altständisch argumentierenden Werk „Restauration der Staats-Wissenschaft oder Theorie des natürlich-geselligen Zustands …“ des Berner Staatsrats Karl Ludwig von Haller, dessen erster Band 1816 erschien. Die Verwendung des Begriffs zieht immer den einschränkenden Hinweis nach sich, dass 1814/15 von „Restauration“ im Sinne „einer Rückkehr zu ‚vorrevolutionären‘ Verhältnissen auf breiter Front … keine Rede sein“ könne, womit der analytische Wert des Konzepts beträchtlich sinkt.3 Eine vollständige Wiederherstellung der alten, vorrevolutionären Ordnung wurde weder durchgeführt noch überhaupt angestrebt. Was die maßgeblichen Regierungen Europas nach einer Phase unvorhersehbarer politischer Entwicklungen seit 1789 erreichen wollten, war „die Wiederherstellung einer stabilen monarchischen Herrschaft unter veränderten Bedingungen.“4 Eine wichtige Rolle spielte dabei der Wille der leitenden Staatsmänner der „Generation Metternich“, nach über zwei Jahrzehnten Krieg überall in Europa, der nicht nur enorm kostspielig gewesen war, sondern auch zwischen drei und sechs Mio. Menschenleben gekostet hatte, endlich Frieden zu schaffen.5

„Restauration“ ist keiner der programmatischen Leitbegriffe der Verhandlungen des Wiener Kongresses; dort ist die Rede von „Restitution“, um die Rückkehr einer durch Umsturz vertriebenen Dynastie an die Herrschaft zu bezeichnen. Wenn man „Restauration“ als politischen Begriff für das nachnapoleonische Europa sinnvoll einsetzen will, dann weder im Sinne des konservierenden Einfrierens eines vorgestrigen Zustandes, noch gar als bewusstes „roll-back“ in Richtung Ancien Régime, sondern in Bezug auf einen Politikentwurf wie im Frankreich des Jahres 1814. Hier wurden dem revolutionären Prinzip zentrale politische Normen der vorrevolutionären Zeit entgegen gesetzt (und dabei die Prärogativrechte des Monarchen besonders betont), kombiniert aber mit der Anpassung an gewandelte Gegebenheiten der politischen Praxis, vor allem in der Bindung an eine Verfassung. Der Erlass der „Charte constitutionnelle“ Anfang [<<12] Juni 1814 bedeutete keineswegs eine Rückkehr zum Absolutismus, denn Frankreich war nun, wie schon 1791, eine konstitutionelle Monarchie mit einer modernen Repräsentativverfassung. Nicht im Inhalt, sondern in der Art des Erlasses per Oktroi und in der Hinzufügung einer Präambel zeigt sich der Anspruch Ludwigs XVIII. auf die ungeteilte Macht politischer Entscheidung, gestützt allein auf die monarchische Legitimität. Auf einer ähnlichen Herausstellung des monarchischen Prinzips, umwoben von einer christlichen Verbrüderungsrhetorik zwischen den Monarchen als Vertretern ihrer Völker, beruhte die Heilige Allianz vom September 1815. Die Blockade aller Entwicklungsmöglichkeiten und die Verteidigung des Status quo um seiner selbst willen wurden nirgends auf dem Kongress pragmatisch niedergelegt, sie sind eine Entwicklung der Jahre ab 1819.6 Auf dem Kongress einte alle maßgeblichen Akteure der Wille, eine stabile, berechenbare Neuordnung zu schaffen.

In aller Deutlichkeit ist darauf hinzuweisen, dass der harte Kern der Verhandlungen auf dem Wiener Kongress ein politisch-territorialer war: Es ging zunächst und vor allem um Machtpolitik, es ging um die Sicherung strategisch-militärischer Einflusszonen und günstige territoriale Konstellationen im Interesse der vier siegreichen Großmächte. Außer im Falle Polens gab es dabei einen bemerkenswert weitgehenden Grundkonsens: die Neugestaltung der Landkarte Europas in einer Gestalt, die neue Hegemonialversuche ausschloss.7 Die von den Briten verfolgte Eindämmung Frankreichs an seiner Ostgrenze durch eine Reihe verteidigungsbereiter Nachbarstaaten ist ein ebenso deutliches Indiz für diese geostrategischen Interessen wie Castlereaghs und Metternichs Bedenken gegen die Westverschiebung des Zarenreichs. Die Neubegründung Europas als politisches System 1814/15 beruhte stärker als bis dahin üblich auf kooperativen Strukturen und auf dem gemeinsamen politischen Ziel der Sicherung von Frieden und Ordnung. Die Methoden, die dazu während der knapp neun Verhandlungsmonate angewandt wurden, erinnerten allerdings eher an die Methoden des „Länderschacher[s]“ und die rein [<<13] auf Bevölkerungszahlen fixierte Ausgleichsarithmetik, nach denen im 18. Jahrhundert Friedensverträge gestaltet worden waren.8 Und durchaus häufig waren die Fälle, in denen die von Napoleon betriebene „Staatenzerstörung“ in Wien zugunsten jener Monarchen legitimiert wurde, die „dieses Zerstörungswerk als Profiteure überlebt“ und daraus für die Vergrößerung ihres Gebiets und die Zentralisierung ihrer Herrschaft Nutzen gezogen hatten.9

Legitimität, Recht, Gleichgewicht, Ordnung

Das „durch Tradition gehärtete Prinzip dynastischer Legitimität“ spielte in Wien eine zentrale Rolle;10 ins Spiel gebracht werden konnte es von den Bourbonen-Königen von Frankreich, Spanien und Neapel, die nie mit der Revolution oder Napoleon paktiert hatten. Die (keineswegs selbstverständliche) Durchsetzung der Rückkehr des Thronprätendenten Louis Stanislas aus dem angestammten Herrscherhaus nach Frankreich als Ludwig XVIII. ermöglichte es Talleyrand, auf dem Kongress „die monarchische Legitimität im allgemeinen zum Gegenprinzip gegen die Revolution zu erheben und dem Konzert der Mächte auf diese Weise einen Leitbegriff für seine Politik der Friedenssicherung an die Hand zu geben.“11

In dem wichtigen Schreiben Talleyrands an Metternich vom 19. Dezember 1814, das den Schulterschluss Österreichs und Großbritanniens mit Frankreich im Konflikt um Polen und Sachsen vorbereitete, sind die wichtigsten Programmbegriffe und Prinzipien der Kongresspolitik genannt. Von „Restauration“ ist nicht die Rede (lediglich vom „Werk der Wiederherstellung für ganz Europa“ („l’œuvre de la restitution … pour toute l’Europe“)), sehr wohl dagegen von der „Gerechtigkeit“ als „erste[r] Tugend“ („la vertu première est la justice“), von „Legitimität“ [<<14] („légitimité“), „Gleichgewicht“ („équilibre“) und der wichtigen Rolle des „öffentlichen Rechts Europas“ („le droit public de l’Europe“).12 In der Sicht Metternichs gehörten auch „Ruhe“ (als „erste[s] Bedürfniss[es] für das Leben und Gedeihen der Staaten“) und „Ordnung“ zu diesen Grundprinzipien. Der Staatskanzler qualifizierte sie in seinem um 1850 geschriebenen „Politischen Testament“ als zentrale Gegengewichte zu den von der Revolution entfesselten Freiheitsvorstellungen: „Nur auf dem Begriff von ‚Ordnung‘ kann jener der ‚Freiheit‘ ruhen.“13

Monarchie

Legitimität im Sinne des nicht hinterfragbaren, „nicht weiter ableitbare[n] Herrschaftsrecht[s] der historischen Dynastie“ verweist aus sich selbst heraus auf die zentrale Rolle von Monarchie und Dynastie im Europa der Wiener Ordnung.14

Das Europa des 19. Jahrhundert war und blieb vor allem ein monarchisches Europa. Die Monarchie überbrückte erfolgreich die Zäsur der Revolutionszeit: Sie hatte vom französischen Muster der Zentralisierung und Homogenisierung staatlicher Macht ebenso profitiert wie von einer weitgehenden Kooperation mit dem selbsternannten Kaiser der Franzosen, nun inszenierte sie sich als Garant von Frieden und Sicherheit. Die vom Kongress beschlossenen neuen Königskronen für Polen, die vergrößerten Niederlande und Hannover bezeugen die ungebrochene Attraktivität des monarchischen Grundmusters und den politischen Willen, die napoleonischen Rangerhöhungen für Bayern, Württemberg und Sachsen nachträglich zu kompensieren.

Das in der Präambel zur französischen Charte erstmals ausformulierte „monarchische Prinzip“ hatte eine doppelte Funktion: Einerseits stellte [<<15] es, etwa in der Denkfigur des Gottesgnadentums, die Kontinuität zur vorrevolutionären Epoche her, andererseits sollte es den Boden bereiten für den Nachweis der „Überlegenheit der Monarchie in der Fähigkeit … zur notwendigen Anpassung der Institutionen an die Bedürfnisse der neuen Zeit.“15 Als „Prinzip monarchischer Brüderlichkeit“ konkret zur Schau gestellt wurde es in Wien in der Inszenierung und Ikonographie der gemeinsamen Auftritte von Kaiser Franz I., Zar Alexander I. und König Friedrich Wilhelm III., der Sieger über Napoleon.16 Die Einzüge der drei Monarchen und ihre bildlichen Repräsentationen wiederholten in Frankfurt, Paris und London etablierte Muster und versinnbildlichten konkret die Praxis konzertierter Politik in Europa in den Jahren 1813–1815.

Konstitution

Im Modell der französischen Charte schloss die restaurierte Monarchie ein Bündnis begrenzter Reichweite mit dem Konstitutionalismus und akzeptierte die Bindung an ein Verfassungsdokument, betonte aber gleichzeitig den Vorrang der monarchischen Souveränität. Solche in der Regel durch einen einseitigen Willensakt des Herrschers erlassenen („oktroyierten“) Verfassungen frühkonstitutionellen Typs wurde zu einer wichtigen Signatur des vormärzlichen Europa.

Auch auf dem Wiener Kongress spielten geschriebene Verfassungen eine Rolle, etwa in der Selbstverpflichtung des Zaren, für sein neues Königreich Polen eine solche zu erlassen, oder bei der Neukonstitution der Niederlande. Von politisch zunächst durchaus erwünschter Doppeldeutigkeit war Art. 13 der Deutschen Bundesakte, der den Erlass einer „landständische[n] Verfassung“ „in allen Bundesstaaten“ vorsah. Der Streit, ob damit die Konstitutionen neuen Typs nach dem Modell der „Charte“ oder die altständischen Modelle des Ancien Régime gemeint waren, gewann in den Jahren nach dem Kongress an Brisanz und wurde [<<16] im Zuge der konservativen Wende der Bundespolitik bis 1820 im Sinne des altständischen Typus entschieden. Vorher waren freilich 1818–1820 in Bayern, Baden, Württemberg und Hessen-Darmstadt Repräsentativverfassungen neuen Typs in Kraft gesetzt worden.

Die beiden deutschen Großmächte Österreich und Preußen blieben allerdings ohne Verfassung, und der Versuch, auch Drittstaaten auf solche antikonstitutionelle Politikmodelle zu verpflichten, kam nicht erst während der europäischen Mächtekonferenzen ab 1820 auf: Schon im Juni 1815 schloss Metternich einen Vertrag mit Ferdinand I., König von Neapel und Sizilien, in dem er entsprechenden Einfluss auf die Ausgestaltung der Institutionen des neu zu gestaltenden Doppelkönigreichs beider Sizilien nahm.

Intervention

Um das politisch-rechtliche Regelsystem Europas, wie es im Rahmen der „Wiener Ordnung“ entstand, als Raum gemeinsam gelebter politischer Verantwortung handhabbar zu machen, bedurfte es der Instrumente für eine konkrete Umsetzung. Hierzu zählte vor allem der Mechanismus regelmäßiger multilateraler Konsultationen, wie er sich nicht nur in den bekannten Mächtekongressen in Aachen 1818, Troppau und Laibach 1820/21 sowie in Verona 1822 manifestierte, sondern auch in den Botschafterkonferenzen in Frankfurt, Paris und London, auf denen u. a. die im deutschen Raum offen gebliebenen Territorialfragen und die Abwicklung der französischen Kriegskostenentschädigungen besprochen wurden.17

Zu diesen als legitim eingeschätzten, da der Aufrechterhaltung des Friedens dienenden Instrumenten zählten auch punktuelle Interventionen in Drittstaaten mit bewaffneter Macht. Im Gedankenhaushalt aller politischen Entscheider von 1814/15 (nicht nur in jenem Metternichs) waren innenpolitische Stabilität und Austarieren des außenpolitischen Gleichgewichts eng aufeinander bezogen. Die generelle Kriegsmüdigkeit in Europa, die angespannte Situation der Staatsfinanzen, die in [<<17] der Erinnerung aller Politiker noch lebendige Verquickung innen- und außenpolitischer Konflikte im Verlauf der Französischen Revolution sowie ein gewisser Konsens unter den „bedingt reformwilligen konservativen Machthabern und Oligarchien“ führten zur politischen Verabsolutierung des Metternichschen Wertepaars „Ruhe und Ordnung“, bezogen auf die innere wie auf die äußere Politik. Wenn innere Unruhen, wie sie etwa auch die Forderung nach einer Verfassung auslösen konnte, in der Perzeption der Entscheidungsträger das Potential kriegerischer Auseinandersetzungen in sich bargen, dann musste, immer in der Logik dieser Perzeption, die Beseitigung von Aufstandsherden zugleich der Friedenswahrung dienen: „Der kleine Krieg sollte zum Ersatz für den vermiedenen großen werden.“18

Die Praxis der internationalen Politik zwischen 1815 und 1830/31 ist viel zu komplex, als dass sie in den gängigen Schlagworten vom „System Metternich“ oder vom „Kutscher Europas“ abgebildet werden könnte. Expansive Bestrebungen der Großmächte und staatenpolitische Konkurrenz spielten weiterhin ihre Rolle, zunehmend aufgeladen durch ideologische Differenzen. Die Schemata der Interventionspolitik in diesem Zeitraum folgten keinem eindeutigen Muster. Gehandelt wurde pro forma im Kollektiv nach gegenseitiger Absprache oder zumindest Information; wer intervenierte, legte Wert auf ein „Mandat“ zur Rechtfertigung. Am gängigen Bild von den demokratiefreundlichen Westmächten und den zur Oppression neigenden Ostmächten sind etliche Abstriche zu machen: Die Franzosen intervenierten 1823 in Spanien, und die Briten erkannten wohl allen kontinentalen Mächten ein Recht zur Intervention zu, lehnten aber jedes verbindliche, sie selbst einbeziehende Regelwerk völlig ab. Außerdem legten sie in verfassungspolitischen Fragen ganz andere Maßstäbe an als Wien oder Berlin. Da unter den Hauptakteuren der europäischen Politik keine verbindlichen Vorstellungen über die Grundprinzipien einer legitimen inneren Staatsordnung existierten, blieb auch das Recht, im Namen des europäischen Friedens zu militärischen Interventionsmaßnahmen zu greifen, stets umstritten. [<<18]

 

1 Geisthövel, Restauration und Vormärz, S. 9.

2 Sellin, Geraubte Revolution, S. 321. Fahrmeir, Europa, S. 104 spricht von einem „problematischen Etikett“.

3 Hippel/Stier, Europa 1800–1850, S. 60.

4 Fahrmeir, Europa, S. 1.

5 Siemann, Metternich, S. 52f.; Fahrmeir, Revolutionen und Reformen, S. 143.

6 Sellin, Geraubte Revolution, S. 12–18, 275–325.

7 Lentz, Congrès, S. 63.

8 Fahrmeir, Revolutionen und Reformen, S. 132.

9 Langewiesche, Reich, Nation, Föderation, S. 116, 118.

10 Langewiesche, Reich, Nation, Föderation, S. 118.

11 Sellin, Geraubte Revolution, S. 17.

12 Angeberg, Congrès, S. 540–542 (frz.); Müller, Quellen, Nr. 51, S. 269–271 (dt.).

13 Metternich, Denkwürdigkeiten, S. 465f.

14 Sellin, Geraubte Revolution, S. 281. Vgl. Langewiesche, Reich, Nation, Föderation, S. 111–125; Paulmann, Pomp und Politik, S. 56–130.

15 Sellin, Geraubte Revolution, S. 289.

16 Fahrmeir, Revolutionen und Reformen, S. 141.

17 Pyta, Konzert der Mächte, S. 149.

18 Osterhammel, Krieg im Frieden, v. a. S. 294–302, Zitate S. 297f.