Autorin: Catherine Craft

Übersetzerin: Kerstin Phillips

Redaktion der deutschen Ausgabe: Klaus H. Carl

 

Layout:

Baseline Co. Ltd

61A-63A Vo Van Tan Street

4. Etage

Distrikt 3, Ho Chi Minh City

Vietnam

 

© Confidential Concepts, worldwide, USA

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Art © Jasper Johns/Licensed by VAGA, New York, NY

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© Estate of Pablo Picasso/Artists Rights Society (ARS), New York, USA

Art © Robert Rauschenberg/Licensed by VAGA, New York, NY

 

Weltweit alle Rechte vorbehalten. Soweit nicht anders vermerkt, gehört das Copyright der Arbeiten den jeweiligen Fotografen. Trotz intensiver Nachforschungen war es aber nicht in jedem Fall möglich, die Eigentumsrechte festzustellen. Gegebenenfalls bitten wir um Benachrichtigung.

 

ISBN: 978-1-78310-675-2

Catherine Craft

 

 

 

Jasper Johns

 

 

 

 

 

Pyre 2, 2003. Öl auf Leinwand mit Holzlatte, Schnur und Scharnier,

168,3 x 111,8 x 17,1 cm. The Museum of Modern Art, New York.

Versprochene Teilschenkung von Marie-Josée und Henry R. Kravis.

Art © Jasper Johns/Licensed by VAGA, New York, NY

Inhaltsverzeichnis

 

 

Danksagungen

Den Künstler leben

Die Geburt eines Künstlers

Privat und Öffentlich

Der wechselnde Fokus des Blicks

Die Freiheit des Objektes

Wechselnde Stimmungen

Der Künstler und seine Zuschauer

Multiple Impressionen

Nicht entworfen, sondern entnommen

Drucken und Malen

Untitled und ähnliche Werke

Gedanke, Verkörperung

Erschaffung und Zerstörung

Aufgabe der Zurückhaltung

Etwas bewegt sich

Bedeutungsveränderungen

Picasso: Unterschiedliche Arten von Eigenschaften

Zweite Kindheit

Wissen und Nichtwissen

Aufgabe der Zurückhaltung?

Anmut

Kettenlinie

Within

Schlussbemerkungen

Bibliographie

Index

Anmerkungen

Two Flags, 1959. Enkaustik auf Leinwand, 199 x 145 cm.

Museum Moderner Kunst, Wien. Leihgabe der Stiftung Ludwig, Aachen.

Art © Jasper Johns/Licensed by VAGA, New York, NY

Danksagungen

 

 

 

Dieses Buch zu schreiben, war für mich sowohl eine Herausforderung als auch eine große Freude. Viele Menschen haben mir Informationen zur Verfügung gestellt und mich über den gesamten Prozess hinweg unterstützt und ermutigt. Mein besonderer Dank gilt Richard Shiff, der mich zuerst bezüglich dieses Werkes kontaktiert hat und dessen beispielhaftes Gelehrtenwissen über die Arbeit von Jasper Johns von unschätzbarem Wert für mich war. Außerdem möchte ich Nan Rosenthal danken, die mich freundlicherweise in das Metropolitan Museum of Art eingeladen hat, um dort einen Vortrag über Johns’ Arbeit zu halten und natürlich Richard Shone, der mir als Chefredakteur des The Burlington Magazine mehrfach die Möglichkeit gegeben hat, über Johns’ Werke zu schreiben. Richard Field, Harry Cooper, Joachim Pissarro, Paul Cornwall-Jones und Tamie Swett waren ebenfalls gern bereit, mir über die Jahre hinweg ihre Ansichten zu Johns’ Arbeiten mitzuteilen, und Johns’ Kuratorin, Sarah Taggart, war in der Beantwortung meiner Fragen unglaublich hilfsbereit. Nancy Carr war die ideale Leserin; sie nahm sich nicht nur die Zeit, mein Manuskript zu lesen, sondern gab auch konstruktives Feedback, und Alfred Kren sowie der Rest meiner Familie haben im Laufe des Projekts viel Liebe und Geduld gezeigt. Letztlich und hauptsächlich danke ich Jasper Johns für seine Unterstützung dieses Buches und für sein Schaffenswerk, das so voller Leben ist.

White flag (Detail, Tatsächliche Größe), 1955. Enkaustik und

Collage auf Leinwand (drei Tafeln), 198,9 x 306,7 cm.

The Metropolitan Museum of Art, New York.

Art © Jasper Johns/Licensed by VAGA, New York, NY

 

 

Den Künstler leben

 

 

I wondered when I was going to stop going to be an artist and start being one.[1]

Painters are not public but rather are born in private. The public has made it their business; however, for the painter, art will never be public.[2]

 

 

An einem Januarabend im Jahr 1958 war Catharine Rembert, eine Kunstdozentin an der University of South Carolina, in New York zu Besuch und wartete auf einen ehemaligen Studenten, mit dem sie zu Abend essen wollte. Jasper Johns kam zu spät, was er jedoch ausglich, indem er sie fröhlich vom Stuhl hochzog und mit ihr durch den Raum tanzte. Er feierte einen erstaunlichen Erfolg: im Alter von 27 Jahren hatte er gerade seine erste Einzelausstellung in der Galerie von Leo Castelli eröffnet, was ihn auf das Titelblatt des Magazins Art News gebracht und das Museum of Modern Art dazu verleitet hatte, drei seiner Werke zu kaufen – eine Entwicklung, die sich an diesem Tag gerade erst ergeben hatte.

Johns’ erste Ausstellung ist, was den kommerziellen Erfolg und die Begeisterung unter den Kritikern betrifft, eine Legende in der Geschichte der amerikanischen Kunst. Und das zu Recht. Zu einer Zeit, in der der Abstrakte Expressionismus und betont exzessive Werke kühner, gestischer Pinselführung und im weitesten Sinne abstrakte Kompositionen die Welt des Malens dominierten, stellten Johns’ Bilder von der amerikanischen Flagge, von Zahlen, Zielscheiben und dem Alphabet eine bewusste Abweichung vom Konventionellen dar. Obwohl die Bilder mit offensichtlicher Sorgfalt gemalt worden waren, erschienen sie doch emotional zurückhaltend, kühl und ruhig, ganz anders als die zur damaligen Zeit modernen emotionalen Feuerwerke.

Die erste Generation der abstrakten Expressionisten, zu der so legendäre Künstler wie Jackson Pollock, Willem de Kooning und Mark Rothko gehörten, hatte während der schwierigen Zeiten der Depression und des zweiten Weltkriegs begonnen, Kunst zu schaffen. Als Reaktion auf die Umstände betonten sie die zentrale Bedeutung des Künstlers bei der Erschaffung von Kunst und stellten die Fertigstellung eines Gemäldes als einen Akt absolut persönlicher Authentizität dar. Als in den 1950er Jahren eine jüngere Generation auf der Bildfläche erschien, übernahmen viele Künstler diese Herangehensweise, und bald war das, was als ein Ausdruck existenzieller Bedeutung seinen Anfang genommen hatte, eine alltägliche Überfrachtung und Wiederholung. Im Rahmen dieses Zeitgeists sorgte Johns’ Debüt sowohl für Aufruhr als auch für frischen Wind.

Während der abstrakte Expressionist Barnett Newman erläutert hatte, dass er und seine Kollegen „… keine Kathedralen aus Christus, dem Menschen oder dem ‘Leben’, sondern vielmehr aus sich selbst und ihren eigenen Gefühlen erschufen“[3] und Rothko erklärte, er wolle, dass die Betrachter vor seinen Leinwänden in Tränen ausbrechen, bemerkte Johns hingegen in einem seiner ersten Interviews:

Es begann alles damit, […] dass ich ein Bild der amerikanischen Nationalflagge malte. Allein die Tatsache, dass ich mich für dieses Design entschieden hatte, nahm mir bereits eine Menge Arbeit ab, denn ich musste das Bild ja nicht entwerfen. Dann ging ich zu ähnlichen Dingen über und malte zum Beispiel Zielscheiben – Dinge, die der Verstand bereits kennt. Das verschaffte mir den Raum, um auf anderen Ebenen zu arbeiten. Ich sehe Bilder immer als Oberfläche. Die Oberfläche in nur einer Farbe zu malen, brachte dieses Gefühl zum Ausdruck. Dann entschied ich, dass das Ansehen eines Bildes keines besonderen Fokus bedürfen sollte, so als ginge man beispielsweise in eine Kirche. Man sollte ein Bild eher so ansehen, wie man einen Heizkörper ansehen würde.[4]

Ohne Titel, 1954. Öl auf Papier, montiert auf Stoff,

22,9 x 22,9 cm. The Menil Collection, Houston.

Art © Jasper Johns/Licensed by VAGA, New York, NY

 

 

Im Gegensatz zu den meisten Aussagen von Künstlern im New York der 1950er Jahre war bei Johns nichts von den allgegenwärtigen Zweifeln und Ängsten zu spüren, seine Themenauswahl schien bewusst, wohl überlegt und weit entfernt von emotionalen Anhängseln und Wünschen. Nach den Exzessen des Abstrakten Expressionismus erschien Johns’ Kunst vielen jüngeren Künstlern weniger kalt und gefühllos als vielmehr ehrlich und scharfsichtig. Schließlich stellt sich die Frage, die Mel Bochner später aufwarf: „Wo ist dein wahres Ich, wenn du 23 Jahre alt bist?“[5]

Dadurch, dass er Gegenstände mit Wiedererkennungswert auswählte, schien es, als wolle Johns die vorherrschenden abstrakten Formen des Malens ablehnen. Seine Themen jedoch – Flaggen, Nummern, Zielscheiben – besaßen alle die lebhaften Eigenschaften der klassischen Abstraktion: eine Ebenheit, die sie fast ununterscheidbar von der Oberfläche des Bildes selbst machte. Durch Johns’ Arbeit rückte die Polarität zwischen Abstraktion und Darstellung, die die Debatte über moderne Kunst jahrzehntelang dominiert hatte, plötzlich in den Hintergrund, und es eröffneten sich andere Denkweisen über die Beziehung der Kunst zur Außenwelt.

Andere Künstler begannen fast unverzüglich, auf Johns’ Beispiel zu reagieren. Der beträchtliche Einfluss seiner Kunst spiegelt sich nicht zuletzt in der Wirkung auf so viele verschiedene Künstlertypen wider. Die zurückhaltende und intellektuelle Qualität seiner Gemälde und sein Beharren auf ihrer Identität als physische Objekte hinterließen bei Künstlern wie Frank Stella, Donald Judd, Robert Morris und John Baldessari einen großen Eindruck und trugen zur Entwicklung des Minimalismus und der Konzeptkunst bei.

Gleichzeitig inspirierte Johns’ sorgsame Aufmerksamkeit für Bilder und Dinge des täglichen Lebens – „… things the mind already knows“ – die Pop Art und die Arbeit anderer Künstler wie den sich durch die Abstraktion eingeschränkt fühlenden Chuck Close. In den folgenden Jahren konnten aus den Arbeiten von Johns so unterschiedliche Künstler wie Brice Marden, David Salle, Robert Gober, Kiki Smith und Terry Winters jeder für sich etwas übernehmen.

Trotz der großen Aufmerksamkeit, die man ihm nach seiner ersten Ausstellung in der Leo Castelli-Galerie entgegenbrachte, weigerte sich Johns, einen entspannten und unverkennbaren Stil anzunehmen, der vielleicht die Erwartungen anderer erfüllt hätte. Stattdessen stellte er alles sich in seine Arbeitsweise einschleichende Bekannte und Festgelegte in Frage, sogar auch dann, wenn er riskierte, damit zu scheitern. In den folgenden fünf Jahrzehnten gelang es Johns auf bemerkenswerte Weise, sich auf den genauen Blick zu konzentrieren, der ihm und seinen Werken von Sammlern, Gelehrten, Kritikern, Kunsthändlern, Kuratoren und anderen Künstlern zugeschrieben wurde. Sein starker Identitätssinn hat Johns in die Lage versetzt, sich als Künstler immer wieder neu herauszufordern und sich vom Wesentlichen nicht ablenken zu lassen. Man kann sogar sagen, dass die Schaffung dieser Identität eines der ersten Werke des Künstlers Jasper Johns war.

Star, 1954. Öl, Bienenwachs und Gebäudefarbe auf Zeitung,

Leinwand und Holz mit getöntem Glas, Nägeln und Gewebeband,

57,2 x 49,5 x 4,8 cm. The Menil Collection, Houston.

Art © Jasper Johns/Licensed by VAGA, New York, NY

Ohne Titel, 1954. Konstruktion aus bemaltem Holz,

bemaltem Gipsabguss, fotomechanische Reproduktion

auf Leinwand, Glas und Nägeln, 66,6 x 22,5 x 11,1 cm.

Hirshhorn Museum and Sculpture Garden,

Smithsonian Institution, Washington, D.C.

Art © Jasper Johns/Licensed by VAGA, New York, NY

 

 

Die Geburt eines Künstlers

 

Im Alter von vierzig Jahren versucht Johns, zu erklären, warum er Künstler geworden war:

Ich wollte bereits als Kind Künstler werden. Aber in South Carolina, wo ich aufwuchs, gab es keine Kunst und keine Künstler, daher hatte ich keine Vorstellung davon, was das eigentlich bedeutete. Ich dachte, Künstler zu sein würde heißen, dass ich mich in eine andere Lage versetzen könnte als die, in der ich mich befand. Ich denke, das war damals meine Wunschvorstellung. Die Gesellschaft, in der ich lebte, schien alles zu umfassen, was ich kannte, aber eben nicht das. Ich denke, die Vorstellung Künstler zu werden, war nicht nur eine Fantasie, sondern teilweise auch eine Fluchtvorstellung: da es hier keine Kunst gibt, musst du, wenn du Künstler werden willst, woanders hingehen. Ich mochte das, und außerdem arbeitete ich gern mit meinen Händen.[6]

Wenn man bedenkt, wie Johns aufwuchs – er sagte einmal, seine Kindheit sei „… nicht unbedingt fröhlich“[7] gewesen – ist es kein Wunder, dass er als Junge davon träumte, woanders zu sein. Kurz nach seiner Geburt im Mai 1930 ließ sich Johns’ Mutter von seinem Vater, einem Alkoholiker, scheiden, und Johns wurde von wechselnden Verwandten in und um Allendale, South Carolina, groß gezogen. Das ständige Herausreißen aus seiner Umgebung wurde noch dadurch verstärkt, dass zu jener Zeit niemand seine Vorliebe für das Arbeiten mit den Händen mit männlichen Heldentaten in Verbindung brachte. Er zeichnete gern, interessierte sich aber augenscheinlich auch für das Kochen; Fischen, Jagen oder andere Aktivitäten im Freien hingegen ließen ihn kalt.

In seinem Wunsch Künstler zu werden, konzentrierte sich Johns bald auf eine Verbindung von Aktivität und Identität. Ein Künstler zu sein, war ein aktives Tun, der erste künstlerische Akt bestand jedoch darin, einen Künstler aus sich selbst zu machen. Der zweigleisige Schaffensprozess – Kunst und Selbst – war keine einfache Angelegenheit. Johns kam in seiner Kindheit kaum mit Kunst in Kontakt, und auch wenn diese Unzugänglichkeit den Anreiz wahrscheinlich steigerte, stellte sie ihn auch vor eine Reihe von Hindernissen. Johns’ frühe Begegnungen mit der Kunst waren weniger Offenbarungen als vielmehr zufällige Zusammenstöße. Im Haus seines Großvaters väterlicherseits, wo er bis zum Alter von sieben Jahren gelebt hatte, fand er eine Hand voll Bilder, die seine Großmutter gemalt hatte und die sein Interesse weckten. Sie war vor seiner Geburt gestorben, und er wusste nur sehr wenig über sie. Als ein umherziehender Maler in die Stadt kam, griff sich Johns einige seiner Materialien und versuchte, damit zu malen. Er wusste nicht, dass die ölbasierten Pigmente sich nicht mit Wasser vermischten. Johns’ Großvater sorgte dafür, dass die Sachen an den Maler zurückgegeben wurden, mit dem der Junge dann keinen weiteren Kontakt mehr hatte.

Ohne Titel, 1954. Graphitstift auf Öl, gebeiztes Papier,

21 x 16,7 cm. Sammlung der Robert Rauschenberg Stiftung.

Art © Jasper Johns/Licensed by VAGA, New York, NY

 

 

Johns’ Welt begann sich zu erweitern, als er erwachsen wurde. Nachdem er gemeinsam mit Rembert und anderen drei Semester lang an der University of South Carolina in Columbia Kunst studiert hatte, ging er auf Drängen seiner Kommilitonen 1948 nach New York und studierte einige Monate an der Parsons School of Design. Als ihm das Geld ausging, bot ihm, zurückzuführen auf die Empfehlung eines seiner Dozenten an der University of South Carolina, die Direktorin der Schule ein Stipendium an, fügte jedoch hinzu, dass er es nicht wirklich verdiene. Johns lehnte ihr Angebot daraufhin ab, verließ die Schule und nahm, um in New York bleiben zu können, diverse Gelegenheitsjobs an, vom Botenjungen bis hin zum Expedienten. Es war eine aufregende Zeit. Die abstrakten Expressionisten begannen gerade, die ehrgeizigen und monumentalen Gemälde auszustellen, für die sie berühmt werden sollten, und Johns bekam zu dieser Zeit zahlreiche Werke zu Gesicht, darunter auch die getröpfelten und übergossenen Bilder von Pollock sowie Newmans weite Felder voll satter Farben.

Obwohl ihn diese Erfahrungen stimulierten, verbrachte Johns seine ersten New Yorker Jahre recht isoliert, und er litt unter seiner Armut. Seine Situation änderte sich etwas, als er im Jahr 1951 in die Armee eingezogen wurde. Während er in Fort Jackson in South Carolina stationiert war, entwickelte Johns ein Kunstausstellungsprogramm für Soldaten, bevor er für sechs Monate nach Japan geschickt wurde. Obwohl der Koreakrieg in vollem Gang war, kam es für Johns nicht zum Kampfeinsatz. Stattdessen landete er bei den Special Services, wo er Poster für Militärfilme und Bildungskampagnen entwarf und an der Dekoration einer Kapelle arbeitete.

Johns wurde 1953 aus der Armee entlassen und kehrte nach New York zurück, wo er für kurze Zeit das Hunter College besuchte. Er beobachtete die Kunstszene weiter und erzählte den wenigen Leuten, die er kannte, dass er Künstler werden wolle; es fiel ihm jedoch schwer, die Eindrücke der Kunstwerke, die er sah, in sich zu verarbeiten. Zeitweise schien ihm die Idee, etwas Eigenes aus den gesammelten Eindrücken zu erschaffen, als so überwältigend, dass die Umsetzung kaum möglich sein würde. Kunst „… schien […] auf einem anderen Planeten zu existieren als auf dem, den Johns bewohnte“[8]. Seine Desorientierung war profund und lag zum Teil in der physischen Identität von Kunstobjekten selbst begründet:

Ich kann mich noch an den ersten Picasso erinnern, den ich je sah, den ersten richtigen Picasso. […] Ich konnte nicht glauben, dass es ein Picasso war, ich hielt es für das Hässlichste, was ich je gesehen hatte. Ich war an das Licht gewöhnt gewesen, das durch Farbdias kam, und mir war nicht klar, dass ich meine Vorstellung davon, was Malen eigentlich war, würde revidieren müssen.[9]

Construction with Toy Piano, 1954. Graphit und

Collage mit Spielzeugpiano, 29,4 x 23,2 x 5,6 cm.

Öffentliche Kunstsammlung, Basel.

Art © Jasper Johns/Licensed by VAGA, New York, NY

Robert Rauschenberg (1925-2008), Monogram, 1955-1959. Kombinatgemälde,

106,7 x 160,7 x 163,8 cm. Moderna Museet, Stockholm.

Art © Robert Rauschenberg/Licensed by VAGA, New York, NY

 

 

Dieser entscheidenden Wahrnehmung des Wesens der Malerei stand Johns’ weniger starkes Selbstbewusstsein entgegen. Später erinnerte er sich: „Ich war nicht fokussiert, ich war vage und wurzellos.“[10] Dieser Eindruck wurde durch die Betonung, die der Abstrakte Expressionismus der Rolle des Selbst bei der Erschaffung von Kunst beimisst und durch das damit einhergehende Empfinden, dass das Kunstwerk ein direkter Ausdruck dieses Selbst sei, noch verstärkt. Johns sagte später dazu: „Der Abstrakte Expressionismus war so lebendig – das Bild und die persönliche Identität waren mehr oder weniger dasselbe, und ich versuchte, ebenso zu arbeiten. Aber ich stellte fest, dass es mir nicht gelingen wollte, etwas zu erschaffen, das mit meinen Gefühlen übereinstimmte.“[11]

Stattdessen sah Johns sich in einem ebenso intensiven wie beängstigenden Gefühl gefangen: „Dieser Gedanke, ein Künstler sein zu wollen – dass ich eines Tages auf irgendeine Weise Künstler werden würde – war sehr stark. [...] Aber nichts, was ich tat, schien mich diesem Zustand näher zu bringen. Und ich wusste nicht, wie ich ihn erreichen sollte.“[12] In South Carolina bedeutete „… Künstler werden“, an einen anderen Ort zu gehen. In New York war Johns am richtigen Ort, um Kunst zu machen, aber hier schob er diese Veränderung in seinem Leben stets auf einen unbestimmten Zeitpunkt in der Zukunft hinaus, immer so weit weg, dass er ihn nicht erreichen konnte.

Irgendwann im ersten Winter, nachdem er die Armee verlassen hatte, traf Johns jemanden, der ihm den entscheidenden Hinweis auf den Weg aus dieser frustrierenden Lage geben sollte: Robert Rauschenberg, der für die folgenden sieben Jahre zur wichtigsten Person in seinem Leben werden sollte. Rauschenberg kam ebenfalls aus dem Süden, er war in Texas geboren und fast fünf Jahre älter als Johns und hatte in zwei der wichtigsten New Yorker Galerien bereits Einzelausstellungen gehabt. Zu dem Zeitpunkt, als sie sich trafen, galt Rauschenberg in der Kunstszene aufgrund seiner provokativen und experimentellen Arbeitsweise als ‘enfant terrible’.

Rauschenberg hatte zuerst mit einer Serie von völlig weißen Gemälden von sich reden gemacht, auf denen vorbeiziehende Schatten und Lichtveränderungen reflektiert wurden. Des Weiteren hatte er ganz schwarze Gemälde von collageartig zusammengesetzten Zeitungen, übertüncht mit dunklen Pigmenten gemacht, die viele Betrachter mit Nihilismus und Zerstörungswut in Verbindung brachten, obwohl Rauschenberg darauf bestand, dass er so etwas niemals beabsichtigt habe. Er hatte Bilder aus Schmutz gemacht, in dem Gras wuchs (er besuchte regelmäßig die Galerie, in der eines davon ausgestellt war, um es zu gießen).

Wahre Empörung erzeugte er jedoch, als er eine Zeichnung von de Kooning, dem damals vielleicht wichtigsten Maler unter den jüngeren Künstlern, nur erstand, um sie auszuradieren, ganz einfach, weil er wissen wollte, „… ob man ein Bild durch Löschen erschaffen könne“[13]. Zum Zeitpunkt ihres ersten Zusammentreffens hatte Rauschenberg gerade mit einer Reihe roter Bilder begonnen, die eine Auswahl an Collagematerial enthielten, darunter Stoffstücke und Zeitungsausschnitte – Objekte aus dem täglichen Leben, die seiner Ansicht nach bei der Erschaffung von Kunst ebenso bedeutsam waren wie das intensive, persönliche Gefühl, das der abstrakte Expressionist vorzog.

Flag above White with Collage, 1955.

Enkaustik und Collage auf Leinwand, 57 x 49 cm.

Öffentliche Kunstsammlung, Basel. Geschenk des

Künstlers zur Erinnerung an Christian Geelhaar.

Art © Jasper Johns/Licensed by VAGA, New York, NY

 

 

Obwohl für seine kontroverse Art bekannt, war Rauschenberg – zumindest nach Ansicht von Johns – ein erfahrener Profi. Rauschenberg wusste, wie man an günstige Studios kam und war geschickt darin, nur dann Arbeit zu suchen und zu finden, wenn er Geld brauchte, so dass er seiner Kunst mehr Zeit widmen konnte. Noch wichtiger war jedoch, dass Rauschenberg irgendwie die Verwandlung geschafft hatte, nach der Johns sich so sehnte. Er war, laut Johns, der erste „… echte Künstler“, den er je getroffen hatte und „… alles, was er tat, war auf diese Tatsache ausgerichtet.“[14]

Bereits kurz nachdem sie sich kennen gelernt hatten, überredete Rauschenberg Johns, seinen Job in einem Buchladen aufzugeben und mit ihm gemeinsam dem freiberuflichen Entwerfen von Schaufensterdekorationen für gehobene Geschäfte wie Bonwit Teller und Tiffanys nachzugehen. Mit der Unterstützung einer gemeinsamen Freundin fand Johns schnell in unmittelbarer Nähe ein Loft, gleich um die Ecke von Rauschenbergs Studio in der Fulton Street in Lower Manhattan, wo zu jener Zeit viele heruntergekommene Gebäude standen, in denen vormals Warenhäuser und Produktionsfirmen untergebracht gewesen waren.

In solchen Gebäuden zu leben war eigentlich illegal – Johns’ Haus war sogar von der Stadt bereits für abrissreif erklärt worden – aber es war billig und es gab genügend Platz zum Leben und Arbeiten, jedenfalls viel mehr, als das winzige Apartment im East Village, das Johns zuvor bewohnt hatte. Zu dieser Zeit lebten außerdem nur sehr wenige Künstler so weit Downtown wie Rauschenberg und Johns, und die Distanz bot eine gewisse Privatsphäre, abgeschirmt von dem Klatsch und der Vernetzung der Künstlerszene. Dies war sowohl beruflich als auch persönlich von Bedeutung, denn sowohl Johns als auch Rauschenberg hatten sich entschieden, künstlerisch eigene Wege zu gehen und nicht lediglich dem zu folgen, was schon ihre Vorgänger getan hatten.

Aus der Zeit, bevor Johns Rauschenberg kennen lernte, sind nur wenige Werke bekannt geworden. Es gibt eine Hand voll Zeichnungen aus den frühen 1950er Jahren, von denen Johns jedoch nicht möchte, dass sie reproduziert werden, obwohl die Titel Tattooed Torso, Idiot und Spanked Child sehr vielversprechend sind. Im Gegensatz zu diesen Zeichnungen sind die intimen und bescheiden eingeteilten Arbeiten, die Johns während der ersten Monate mit Rauschenberg anfertigte, eine Mischung aus Abstraktion und Darstellung; er verband hier das Malen und das Zeichnen, die Skulptur und die Collage.

Unter diesen Kunstwerken bewunderte Rauschenberg besonders die reich bearbeiteten Bleistiftzeichnungen getrockneter Orangen, deren unklare Formen kaum aus der Dunkelheit des Blattes hervorstachen. Die Collage war ein dominanter Prozess in einem kleinen Werk, das Johns gemacht hatte, als er noch in dem Buchladen arbeitete. Er faltete und zerriss eines Nachts ein Bestellformular und übermalte das daraus entstandene Gitternetz in flackernden Grünschattierungen.

Two Flags, 1962. Öl auf Leinwand (zwei Tafeln),

248,9 x 182,8 cm. Sammlung von Norman und Irma Braman.

Art © Jasper Johns/Licensed by VAGA, New York, NY

Book, 1957. Enkaustik auf Buch und Holz, 25,4 x 33 cm.

The Margulies Collection at the Warehouse, Miami.

Art © Jasper Johns/Licensed by VAGA, New York, NY

Target with Plaster Casts, 1955. Enkaustik und Collage

auf Leinwand mit Objekten, 129,5 x 111,8 x 8,8 cm.

Sammlung von David Geffen, Los Angeles.

Art © Jasper Johns/Licensed by VAGA, New York, NY

White Flag, 1955. Enkaustik und Collage

auf Leinwand (drei Tafeln), 198,9 x 306,7 cm.

The Metropolitan Museum of Art, New York.

Art © Jasper Johns/Licensed by VAGA, New York, NY

Figure 5, 1955. Enkaustik und Collage auf Leinwand,

44,5 x 35,6 cm. Sammlung des Künstlers.

Art © Jasper Johns/Licensed by VAGA, New York, NY

 

 

Andere Stücke schienen den Einfluss der Zeit zu reflektieren, die er in Rauschenbergs Studio verbracht hatte. Genauso wie Rauschenberg Gemälde aus Müllkisten erschuf, die durch die Einbeziehung von Leisten, Regalen, Trennwänden und Nischen an Skulpturen grenzten, stellte auch Johns verschiedene gebaute Werke her, darunter Star und eine flache Box, die den Gipsabguss des Gesichts eines Freundes enthielt. Ganz in weiß gemalt erinnerten sie an die ruhige Poesie von Joseph Cornell, ein Künstler, dessen zusammengebaute Schachteln Johns und Rauschenberg sehr bewunderten. Bei der Arbeit mit dem Gipsabguss bedeckte Johns den oberen Teil mit Papierschnipseln, von Quittungen bis hin zu Bildern eines Ohrs, des Torsos eines Mannes und eines Hauses.

Bei Construction with Toy Piano benutzte Johns ein Miniaturmusikinstrument als Oberfläche für geklebtes Papier, das mit Graphit beschwert war; die Komposition wurde mit einer Reihe von Tasten des Spielzeugpianos geschmückt, die Töne von sich gaben, wenn man sie drückte. Sieht man sich Construction with Toy Piano genauer an, so erkennt man die Komplexität der wachsenden Beziehung zwischen Johns und Rauschenberg. Seine Verbindungen zwischen Kunst und Musik ähneln Music Box, einer Skulptur von Rauschenberg aus dem Jahr 1953. Music Box gehörte Rachel Rosenthal, die Johns dabei geholfen hatte, sein Loft zu finden; das Kunstwerk war eine kleine, grob behauene Holzschachtel, bespickt mit Nägeln und im Inneren beladen mit einigen Kieselsteinen.[15] Wenn man die Schachtel hochhob und schüttelte, berührten die Kieselsteine die Nägel und die inneren Wände der Box, so dass ein Geräusch entstand – genau wie bei Johns’ Spielzeugpiano brachte auch Rauschenbergs Arbeit die Betrachter dazu, damit zu ‘spielen’.

Auf der rechten Seite von Construction with Toy Piano befindet sich außerdem ein kleiner Aufkleber mit der Aufschrift Hotel Bilbao. [Untitled (Hotel Bilbao), Rauschenberg]. Rauschenberg hatte solche Aufkleber an einer der Collagen angebracht, die er während seiner Reisen in Europa und Nordafrika zwischen 1952 und 1953 angefertigt hatte. Johns hätte den Aufkleber natürlich aus den Materialien nehmen können, die ständig über Rauschenbergs Loft verteilt lagen, die Umstände legen jedoch nahe, dass diese Annäherung persönlicherer Natur war. Nur sehr wenige Leute in New York wussten überhaupt von der Existenz der Arbeiten, die Rauschenberg von seiner Reise mitgebracht hatte, und die Tatsache, dass er sie Johns zeigte – in dessen Besitz später einige davon übergingen – war eine Geste großen Vertrauens. Construction with Toy Piano scheint eine Reaktion auf Rauschenbergs Collagen zu sein, von denen die meisten verarbeitet werden sollten: die gesamte Komposition seiner Collage mit den Bilbao-Aufklebern ist beispielsweise nur dann sichtbar, wenn man die Collage wie eine Grußkarte öffnet. Johns’ Werk fordert den Betrachter in ähnlicher Weise zur Teilhabe auf, indem es dazu einlädt, die Klaviertasten zu drücken.

Johns’ Nutzung der Collage als Kunstform in diesen frühen Arbeiten ist auch eine vorsichtige Annäherung an das, was sich immer mehr in Rauschenbergs Schaffen zeigte. Während Johns zusah, intensivierte Rauschenberg die Körperlichkeit seiner Bilder, indem er in seiner Kunst immer mehr Materialien und Objekte verarbeitete. Nahe an einer Fusion von Skulptur und Gemälde wurden die entstehenden Arbeiten später ‘Kombinate’ genannt. Einige der Objekte, die Rauschenberg begonnen hatte, in die roten Bilder und in die frühen Kombinate zu integrieren, wie zum Beispiel Spiegel und Glühbirnen, brachten die Beziehung des Werkes zu seiner Umgebung und zum Betrachter zum Ausdruck, indem sie zur Teilhabe ermutigten und den Betrachter durch sein Spiegelbild zum Teil des Werkes werden ließen.

Rauschenberg nutzte eine direkte, gitterbasierte, kompositionelle Struktur, um die wachsende Heterogenität seiner Materialien – die mittlerweile Schirme, Socken und, besonders auffällig, die ausgestopften Vögel, die er bei einem Präparator in seiner Nachbarschaft gefunden hatte, enthielten – zu integrieren, und er bediente sich breiter Streifen sickernder Farbe, Zeichen der Expressivität im Stil des Abstrakten Expressionismus, um diese verschiedenen Objekte zu verbinden. In den ersten, im Jahr 1954, als seine Beziehung zu Johns intensiver wurde, entstandenen Kombinaten waren persönliche Gegenstände – Briefe von seiner Familie, Fotos von ihnen, Zeitungsausschnitte über sie, sogar Zeichnungen von einem befreundeten Künstler – die dominanten Objekte, die damit Fragen über ihren Status aufwarfen. Sagte etwa ein in das frühe Kombinat Charlene, [Charlene, Rauschenberg] eingeklebter Brief der Mutter des Künstlers mehr über das ‘wahre Selbst’ des Künstlers aus als die Tropfen und verschmierten Streifen, die viele Künstler benutzten, um die schwer fassbare Einheit darzustellen?

Green Target, 1955. Enkaustik auf Zeitung und Stoff

über Leinwand, 152,4 x 152,4 cm. The Museum of

Modern Art, New York. Richard S. Zeisler Fonds.

Art © Jasper Johns/Licensed by VAGA, New York, NY

Gray Alphabets, 1956. Bienenwachs und

Öl auf Zeitungspapier und Papier auf Leinwand,

168 x 123,8 cm. The Menil Collection, Houston.

Art © Jasper Johns/Licensed by VAGA, New York, NY

 

 

Eines der frühen Kombinate, Self-Made Retrospective, machte besonderen Eindruck auf Johns. Das zwischenzeitlich verloren gegangene Werk bestand aus einer flachen Box, in der sich kleine Bilder befanden, die speziell für dieses Werk gemalt worden waren und die alle auf unterschiedliche Perioden von Rauschenbergs Karriere zurückblickten (wie der Titel nahe legt). Da war die Miniaturausgabe eines Bildes aus der Zeit seiner Ausstellung in der Betty Parsons-Galerie im Jahr 1951, weiterhin ein weißes, ein schwarzes und ein rotes Bild, alle waren zwar neu entstanden, erinnerten jedoch auf individuelle Weise an einen bestimmten Moment in Rauschenbergs Vergangenheit. Johns war besonders beeindruckt von der Art, wie Rauschenberg das Bild aus der Parsons-Ära von Grund auf neu schuf, indem er auf die Art und Weise zurückgriff, in der er mehr als drei Jahre zuvor gearbeitet hatte und ein Bild schuf, das Johns „… frisch und interessant“[16] fand. Rauschenbergs pfiffige Vorgehensweise zeigte, dass der Stil, dessen der Künstler sich bei seiner Arbeit bediente, nicht unbedingt ein Ausdruck des Selbst des Künstlers war, genauso wenig wie die ausgewählten Farben und Materialien: keine der Stilrichtungen aus dem Werk Self-Made Retrospective war ‘authentischer’ als die anderen.

Johns scheint schnell erkannt zu haben, dass seine Verbindung zu Rauschenberg für ihn neue Möglichkeiten als Künstler bringen würde:

Vieles entsteht aus dem Tun. Für einen jungen Künstler ist es sehr wichtig zu sehen, wie Dinge gemacht werden. Der Austausch, den wir hatten, ging über das Reden hinaus. Ich tat etwas, er tat etwas, daraufhin tat ich wieder etwas, es war einfach mehr als nur das gesprochene Wort.[17]

Diese Aussage von Johns lässt sich am besten auf praktische Weise verstehen. Das Malen von Bildern umfasste beispielsweise eine Reihe von bestimmten Schritten, vom Aufspannen und Grundieren der Arbeitsfläche bis hin zum Wissen, wie man Farben mischt, bis sie den gewünschten Ton und die Konsistenz haben – Johns wusste natürlich bereits einiges über diese Dinge, aber er lernte sicherlich auch vieles von Rauschenberg. Und Johns erwarb von seiner Schaufensterdekorationsarbeit mit Rauschenberg auch andere Fertigkeiten. Unter ihrem Pseudonym Matson Jones, das sie benutzten, damit ihre kommerzielle Arbeit nicht mit ihren künstlerischen Bemühungen verwechselt würde, hatten sie mit ihren sehr realistischen Dekorationen, wie zum Beispiel dreidimensionale Altmeister-Stillleben mit bemalten Plastikfrüchten oder einer Miniaturwinterlandschaft mit glitzernden Diamanten für Tiffanys, beträchtlichen Erfolg.

Doch Johns’ Aussage deutet auch auf die Schwierigkeiten hin, die es zu Beginn seiner Beziehung zu Rauschenberg gegeben haben muss. Seine mangelnde Erfahrung machte es ihm nämlich schwer, seinen Teil ihres Austausches zu erfüllen. Um sicher zu gehen, trug er frühzeitig zu Rauschenbergs künstlerischen Anstrengungen bei, indem er das handgeschriebene Label zu dem ausradierten Bild Erased de Kooning Drawing beitrug, und es könnte auch Johns gewesen sein, der Rauschenbergs neuer Arbeitsweise den Namen combine verlieh.[18] Sie nutzten jedenfalls in den ersten Monaten ihrer Freundschaft Johns’ Loft für ihre freiberuflichen Aufträge, Rauschenbergs Apartment hingegen wurde für die ‘ernsthaften’ Arbeiten genutzt.

Um den von Johns beschriebenen gegenseitigen Austausch fortzusetzen, bedurfte es mehr oder weniger gleich verteilter Rollen der beiden Partner, damit auch beide davon profitieren konnten. Bevor Johns und Rauschenberg sich begegneten, hatte Rauschenberg eine solche Beziehung zu einem jungen Künstler namens Cy Twombly geführt. Twombly wurde im Herbst 1953 in die Armee eingezogen und war daher, als sich Johns und Rauschenberg kennen lernten, abwesend, wurde jedoch im August 1954 entlassen. Er hatte einige seiner Arbeiten in Rauschenbergs großem Studio in der Fulton Street zurückgelassen, wo Johns sie vermutlich gesehen hat.

Twombly arbeitete sporadisch dort weiter, bis Rauschenberg sein Studio Ende 1954 aufgeben musste und in ein Loft in dem Gebäude zog, in dem Johns wohnte, nachdem seine eigene Wohnung zum Abriss freigegeben worden war. Während dieser Zeit begann Twombly gerade, die Beziehung zwischen Malen und Zeichnen zu erforschen, aber er stellte auch Skulpturen aus gefundenen Objekten her, die er anschließend weiß anmalte. Ihr ruhiger, totemistischer Charakter passt auch zu Johns’ frühen weißen Arbeiten, wie zum Beispiel zu der Schachtel mit dem Gipsabguss.

Obwohl Twombly und Rauschenberg getrennt arbeiteten, teilten sie viele gemeinsame Interessen, und die Art ihrer Beziehung, der Austausch und die gegenseitige Unterstützung, mag auch für Johns wichtig gewesen sein. Twombly war gemeinsam mit Rauschenberg nach Europa und Nordafrika gereist, und man kann davon ausgehen, dass die Tatsache, dass Johns den Bilbao-Aufkleber in seine eigene Arbeit integrierte, als eine Bezugnahme auf ihre Beziehung als Modell zur Erschaffung von Kreativität anzusehen ist.[19]

Damit Johns’ Austausch mit Rauschenberg eine vergleichbare Ebene erreichen konnte, musste jedoch noch mehr geschehen. Zieht man Johns’ Verständnis davon, was es bedeutet, Künstler zu sein, in Betracht, so überrascht es kaum, dass diese Veränderung seine eigene Identität betreffen musste.

Seit Johns die Armee verlassen hatte, hatte er sich gefragt, wann er aufhören würde, „… ein Künstler zu werden“ und beginnen würde „… einer zu sein“[20]. Das Warten auf einen solchen Moment hatte dazu geführt, dass er die Verbindung zu seiner derzeitigen Situation zu verlieren drohte: „An einem bestimmten Punkt erschien es mir, als lebte ich gerade mein Leben, warum also sollte ich nicht tun, was ich zu diesem Zeitpunkt tat?“[21] Immerhin hatte er jetzt eine sich vertiefende Beziehung zu Rauschenberg, einem offenen und unterstützenden Menschen, der bereits an einen gegenseitigen Austausch mit einem anderen Künstler gewöhnt war. Außerdem hatte Rauschenberg bereits an seinem eigenen Beispiel demonstriert, dass vielleicht das Wichtigste, was ein Künstler tun konnte, war, zu erkennen, dass die von ihm geschaffene Kunst und sein Künstlersein das Ergebnis bewusster und freiwilliger Entscheidungen waren. Die Macht, etwas zu verändern, lag in der eigenen Reichweite.

Irgendwann im Herbst 1954 entschied Johns, dass es Zeit sei, Verantwortung für sich selbst und seine Arbeit zu übernehmen.[22] Er beschrieb den Akt, der auf diese Entscheidung folgte, später als „… Versuch, meine Vorstellung von mir selbst zu zerstören“[23]. Mit Ausnahme einiger Stücke, die sich bereits in den Händen anderer befanden, zerstörte Johns alle Arbeiten, die er bis zu dem Moment geschaffen hatte.

Neben der Schaffung einer neuen Situation für sich selbst war die Zerstörung seiner Arbeiten auch die extreme Inszenierung einer Strategie, die für das, was in seiner Kunst folgen sollte, wesentlich war. Wie sich herausstellte, hatte die Übernahme von Verantwortung für Johns eine besondere Bedeutung:

Ich entschied mich, nur das zu tun, was ich tun wollte und nicht das, was andere Menschen taten. Wenn ich beobachten konnte, was andere taten, versuchte ich, dies aus meiner Arbeit heraus zu halten. Meine Arbeit wurde zu einer dauerhaften Verneinung von Impulsen.[24]

Johns’ Handeln sollte vielleicht in erster Linie als ethisch verstanden werden. Sein Kindheitstraum, Künstler zu werden, umfasste auch die Vorstellung, dass ein Künstler „… sozial nützlich“ und eine „… gute, aufregende Person“[25] war. Wie Johns Jahre später sagte, hoffte er, als Künstler „… etwas Wertvolleres als sich selbst einbringen zu können.“[26] Vorteile aus dem zu ziehen, was andere erreicht hatten, war nicht der richtige Weg, um dieses Ziel zu erreichen.

Teilweise war die Zerstörung von Johns’ Arbeit vielleicht eine Geste des Respekts gegenüber Rauschenberg, seinem persönlichen, kontinuierlichen und professionellen Gesprächspartner, vielleicht war sie aber auch ein Akt der Befreiung. Die Herausforderung, die dieser Akt darstellte, ist sicher nicht zu unterschätzen. Johns’ Entscheidung, dass seine Arbeit nichts umfassen sollte, das bereits einen Platz in der Arbeit eines anderen Künstlers hatte, spiegelte sich im Kontext der Beziehung zu jemandem wider, dessen Kunst begonnen hatte, alle möglichen Dinge zu umfassen – T-Shirts, Comicstrips, Postkarten, tropfende Farbe und ausgestopfte Hühner.

Trotz der Tatsache, dass Johns die Entscheidung, seine Arbeiten zu zerstören, bewusst getroffen hatte, erschien der Vorfall, der letztlich dazu führte, doch wie ein Blitz aus heiterem Himmel.Eines Nachts träumte Johns, er male eine große amerikanische Flagge. Er wachte auf, besorgte sich die Materialien, die er dazu benötigte, und fing an. Die Tatsache, dass ein Gemälde aus einem Traum heraus entsteht, legt einen plötzlichen, leidenschaftlichen Schaffensprozess nahe, und die weitere Tatsache, dass er gelegentlich zugab, das Bild sei auf einem Laken gemalt worden, verstärkt noch das Gefühl einer schnellen, unbeherrschten Handlung im Zuge einer erwachenden Inspiration.

Tango, 1955. Enkaustik und Collage auf Leinwand

mit Spieluhr, 109,2 x 139,7 cm. Sammlung Ludwig, Aachen.

Art © Jasper Johns/Licensed by VAGA, New York, NY