Text: Gerry Souter

Übersetzung: Dr. Martin Goch und Isabelle Weiss

Redaktion der deutschen Veröffentlichung: Klaus H. Carl

 

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ISBN: 978-1-78310-662-2

Gerry Souter

 

 

 

MALEWITSCH

Reise ins Unendliche

 

 

 

 

 

 

Inhalt

 

 

Einleitung

I   Jugend in den Steppen

II  Die Entdeckung der Kunst und ihre Experimente: Impressionismus, Fauvisten, Kubisten und Futuristen

Erwachen seiner künstlerischen Natur

An der Kunstschule in Kiew

Impressionismus und Experimente

Fauvisten, Kubisten und Futuristen

III Die Suprematisten

Filippo Tommaso Marinetti

IV Der Flug stürzt auf die Erde

Biografie

Liste der Abbildungen

Bibliografische Anmerkungen

Selbstbildnis, 1910-1911.

Gouache auf Karton, 27 x 26,8 cm.

Staatliche Tretjakow-Galerie, Moskau.

 

 

Einleitung

 

 

Aus dem Orchester der osteuropäischen Kunst ertönte 1915 ganz plötzlich ein schriller Missklang, der die Aufmerksamkeit des künstlerischen Establishments weckte. Der schrille Ton kam von einem Künstler, der zunächst figürlich gemalt und sich anschließend auch als Kubist und als Futurist versucht hatte. Es war Kasimir Sewerinowitsch Malewitsch, Sohn eines ukrainischen, in der Zuckerrübenindustrie tätigen Angestellten. Dieser junge Maler entsprang dem Chaos des russischen Realismus und Futurismus als ein voll ausgereifter, ungegenständlicher Suprematist mit einer ganz eigenen, stark verschlüsselten und scheinbar undurchdringlichen visuellen Sprache. Kein Zweifel, da war etwas Besonderes, etwas Geniales, es musste entweder ein massiver Intellekt hinter diesen Bildern stecken oder ein schwer fassliches, fragiles, durch Osmose entstandenes Talent.

Malewitsch war ein Spätentwickler, bei dem sich viele Einflüsse über Jahre hinweg angestaut hatten, ohne dass eine geradlinige, kontinuierliche Entwicklung bemerkbar gewesen wäre. Künstler aller Zeiten haben sich bei ihrer Suche nach geistiger Orientierung in philosophische Werke vertieft und dann anhand der vielfältigen gewonnenen Eindrücke und Einsichten schließlich ihren individuellen Stil gefunden. Auch Kasimir Malewitsch tat dies. In seinem Fall ist es jedoch das Kometenhafte seines Aufstiegs an die Spitze der Welt der Kunst, das ihn von anderen unterscheidet. Bei ihm gab es keine allmähliche Evolution, er schlug ein wie ein Meteorit.

Während die abstrakten neuen Strömungen wie Dadaismus, Surrealismus, Futurismus, Kubismus und Expressionismus zu Anfang des 20. Jahrhunderts in Westeuropa und den USA zur Blüte gelangten, entstand der Suprematismus in dem brodelnden geopolitischen Hexenkessel Russlands und des Ostens. Diese Form der gegenstandslosen Malerei war das Produkt eines großen, von den aufstrebenden besitzlosen Klassen angeführten Kampfes, der Gleichgesinnte in Ost und West zu Verbündeten machte, die über Jahrhunderte von Kaisern und Zaren unterjocht und ausgebeutet worden waren. Der Suprematismus war in einem solchen Maß revolutionär, dass er mit der Zeit in eine Gegenrevolution umschlagen musste. Denn unter der unbarmherzigen Ideologie Lenins und der eisernen Faust Stalins gab es nur Platz für eine Revolution. Jegliche von den verbindlichen Vorgaben der kommunistischen Parteilinie abweichende Ausdrucksform wurde damit notwendigerweise als antipatriotisch und volksfeindlich verschrien und verfolgt. So konnte das Kunstestablishment der westlichen Welt nur tatenlos zusehen, wie die Suprematisten nach und nach lautlos ihren Abschied nahmen.

Genau so schnell, wie er die gegenstandsfreie Malerei für sich entdeckt hatte, so schnell wandte sich Malewitsch auch wieder von ihr ab. Er übernahm Lehrtätigkeiten an einer Reihe staatlicher, teilweise neu gegründeter russischer Akademien und verschrieb sich dem Aufbau neuer Strukturen in Kunst und Kultur des jungen sowjetischen Staats. Doch ab 1921 drehte sich der Wind. Die kommunistische Bürokratie stellte sich gegen den Suprematismus als einer bürgerlichen Kunstrichtung und schloss das Institut, dem Malewitsch vorstand. In der Gewissheit der ständigen Überwachung durch Stalins Geheimpolizei OGPU beschloss Malewitsch, den spätimpressionistischen Malstil seiner Anfangsjahre wieder aufzunehmen und seine neuen, nun wieder gegenständlichen Werke auf die Zeit vor 1910 zurückzudatieren. Vermutlich war dieser Schritt zurück zum Gegenständlichen eine Überlebenstaktik oder eine Folge der Resignation, jedenfalls war er ein gezeichneter Mann. Er konnte sein Werk vor der gigantischen Maschine des patriotischen Sozialistischen Realismus der KPdSU (Kommunistische Partei der Sowjetunion) nicht verstecken, die Kunst nur in dem Maß zuließ, als sie den Zielen der kommunistischen Doktrin diente. Malewitsch erlag 1935 einer Krebserkrankung und starb in völliger Vergessenheit, während die Welt von der Krise der großen Depression unaufhaltsam auf einen erneuten Krieg zusteuerte.

Glücklicherweise haben etliche von Malewitschs Werken die Jahrzehnte der Anfeindung und der Repressalien überstanden. So kann eine neue Generation versuchen, seine Bilder aus ihrer eigenen Sicht und vor dem historischen und politischen Hintergrund zu interpretieren. Während der Suprematismus von vielen als eine bloße Fußnote in der Geschichte der Kunst abgetan wird, kommt Kasimir Malewitsch auf jeden Fall ein Platz unter den großen Namen der Malerei zu. Mit seinem plötzlichen Erscheinen auf der Bühne der abstrakten Kunst verdient er es durchaus, neben Paul Klee, Clyfford Still, Juan Miro, Jackson Pollock, Yves Tanguy, Wassili Kandinski, Piet Mondrian und László Moholy-Nagy genannt zu werden. Ihm ging es darum, das nicht Ausdrückbare auszudrücken und innere Synapsen auf völlig neue Weise zu verknüpfen, um so Momente gemeinsamer Erkenntnisse und Bewusstseinszustände zu erzeugen. Er reduzierte sein inneres Erleben auf ein visuelles Destillat auf dem Fundament einer Reihe philosophischer Konstrukte, die er mit religiöser Inbrunst verinnerlicht hatte.

Wie bei den anderen großen abstrakten Malern überfällt uns auch bei Malewitsch die unwiderstehliche Neugier, den Schleier zu lüften und zu entdecken, was diesen Künstler antrieb. Leben und Wirken von Kasimir Malewitsch erzeugten eine Welle von ungeheurer Dynamik im ruhig dahinplätschernden Fluss der Kunstgeschichte. Seinem Beitrag zur nicht gegenständlichen Kunst gingen zahlreiche evolutionäre Werke voraus, die dem Spätimpressionismus, dem Fauvismus, dem Kubismus und dem Futurismus zuzurechnen sind. In ihnen offenbart sich seine Suche nach einer ganz persönlichen Weltschau. Gefolgt wurden sie von einer ebenso bedeutsamen Reihe von figürlichen Bildern, Ausdruck einer sich aufbäumenden Vitalität unter dem Joch der Repression. Und auch wenn die daraus entstehende Flutwelle des Suprematismus sich allmählich wieder legte und höchstens ein bisschen Schaum auf der Wasseroberfläche zurückließ, so erzeugte sie doch die Neugierde, zahlreiche philosophische Konzepte unter die Lupe zu nehmen und neu zu deuten. Was immer man auch von Malewitsch halten mag, er hatte den Mut und das Durchhaltevermögen, sein künstlerisches Wirken in einem Klima fortzuführen, das Neuerungen und radikalen Ideen äußerst feindselig gegenüberstand.

Heute haben wir ein besseres Verständnis für Kasimir Malewitsch, einen Gefangenen seiner Zeit und des damaligen politischen Milieus. Die Undurchdringlichkeit und das Geheimnis seiner persönlichen Philosophie haben zu einer Fülle von durchaus unterschiedlichen, wenn auch gleichermaßen gültigen Interpretationen geführt. Doch in einem sind sich alle seine Interpreten einig: Malewitsch war ein Genie, dem unsere Bewunderung und unser Respekt gebührt.

Ein Künstler, der schöpferisch tätig ist statt nachahmt, drückt sich selbst aus. Seine Werke sind nicht Spiegelbilder der Natur, sondern neue Tatsächlichkeiten, die nicht weniger bedeutsam sind als die Tatsächlichkeiten der Natur selbst.

Kasimir Malewitsch, Die Gegenstandslose Welt.

 

Besinnung

 

Es zieht der Strom unendlich sich

Hinab zum blauen Meer;

Vergebens wandert der Kosak,

Dem Glücke hinterher.

Kommt er an am fernen Strand;

Rauscht des Meeres Gischt.

Es leidet des Kosaken Herz,

Doch seine Seele spricht:

“Wohin, du ungebet’ner Gast?

Was ließest du daheim

Den Vater und die Mutter dein,

Dazu ein Mägdelein?

Menschen leben im fremden Land

in anderer Manier.

Niemand reicht dir seine Hand,

Keiner red’t mit dir.”

Der Kosak ruht am fernen Strand;

Vor einem aufgewühlten Meer.

Er ist dem Glücke nachgerannt -

Nun ist’s in Leid verkehrt.

Am Himmel fliegt der Kranichzug,

In die alte Heimat fort.

Nun wein’, Kosak! – Dein Weg verwuchs,

Mit Disteln und mit Dorn ...

Taras Schewtschenko

St. Petersburg, 1838

I   Jugend in den Steppen

 

Stadt, um 1908. Gouache, Tusche und

auf Karton geklebtes Papier, 17,5 x 17 cm.

Staatliches Kunstmuseum A.N. Radiscev, Saratow.

 

 

Er ging neben dem Wagen in beinahe kniehohen Stiefeln, ein kräftiger Junge mit dunkler Gesichtsfarbe unter einem Schopf dunkelbraunen Haares. Von seiner erdfarbenen Kleidung stach nur die rote, von seiner Mutter kunstvoll bestickte Weste heraus. Wenn er mit Vater und Mutter unterwegs war, sollte die Familie nicht wie Feldarbeiter aussehen, sondern wie Leute eines höheren Stands, schließlich bestritt der Vater seinen Lebensunterhalt nicht im Schweiße seines Angesichts, sondern mit seinen geistigen Fähigkeiten. Als Angestellter und Leiter der chemischen Qualitätskontrolle reiste er mit seiner Familie von einer Zuckerraffinerie zur nächsten. Sie führten alle zusammen in ihrem Wagen ein unstetes Nomadenleben: die Mutter, Liudvika, der Vater Sewerin Malewitsch sowie Kasimir und seine Geschwister. So lauteten ihre Namen in ukrainischer Sprache. Sie waren Nachkömmlinge polnischer Flüchtlinge, die sich nach der Unterdrückung des polnischen Aufstands im Jahr 1862 durch die Russen unter Zar Alexander II. über die ukrainische Grenze in Sicherheit gebracht hatten. Die polnische Aussprache ihrer Namen war feiner, weicher – Sewerin und Ludwika Malewicz und Kazimierz.

Von klein auf war Kasimirs Zuhause das Haus seiner Tante und Patin, Maria Orzechchowska, Kostiolna Straße Nr. 13 im Bezirk Schitomir der Provinz Wolin. Sein Geburtstag wurde am 11. Februar 1878 gefeiert, die Taufe fand in der römisch-katholischen Pfarrkirche von Kiew statt. Er war der Älteste der 14 Kinder, von denen neun das Erwachsenenalter erreichten. Sie entstammten einer geachteten und gebildeten Familie der vorrevolutionären polnischen Aristokratie. Aus den Unterlagen der katholischen Kathedrale von Kiew und den verstaubten Archiven des Bezirks Schitomir geht hervor, dass Kasimirs Genealogie voller prunkvoller Wappen war und der Familie der Malewicz, die der Schlachta, also der polnischen Adelsklasse, angehörte, vom König zahlreiche Auszeichnungen verliehen worden waren.

In den Venen des Jungen, der sich am Wagen festhielt, flossen das Blut und die Gene seines Urgroßvaters Iwan, eines Artilleriehauptmanns, und seiner zwei Vettern, eines Gemeindepfarrers und eines Kanons, die beide die Tradition des geistlichen Berufs weiterführten. Der Malewicz-Clan bildete ein solides Kernstück der polnischen Bourgeoisie, deren Leben bis ins 19. Jahrhundert auf der einen Seite durch das Militär, auf der anderen durch die Religion sehr streng reglementiert war. Doch die Angehörigen dieser folgsamen und konservativen Bürokratie waren über die russisch-polnische Grenze ins ukrainische Exil geflohen. Sewerin Malewitsch arbeitete für die Besitzer von Zuckerrübenfabriken.

„Die Umstände meiner Kindheit“, schrieb Kasimir später, „waren folgende: Mein Vater arbeitete in den Zuckerraffinerien, meist tief im Hinterland, in großer Entfernung zu den kleineren und größeren Städten. Es gab dort riesige Zuckerrübenplantagen. Auf diesen Plantagen wurden viele Arbeiter gebraucht, meist Bauern. Während die Bauern – Erwachsene und Kinder – den ganzen Sommer und Herbst über in den Pflanzungen arbeiteten, schaute ich, der zukünftige Maler, auf die Felder und auf die farbenprächtigen Bauern, die Unkraut jäteten und die Beten aus der Erde zogen. Kolonnen von bunt gekleideten Mädchen gingen im Gänsemarsch über die Felder. Es war ein Kampf. Die Truppen in ihren farbigen Gewändern kämpften gegen das Unkraut und sorgten dafür, dass die Zuckerrüben nicht von den schädlichen Gewächsen erstickt wurden. Ich liebte es, morgens auf diese Felder zu sehen, wenn die Sonne noch tief am Himmel stand und die Lerchen gen Himmel stoben. [...] Die Zuckerrüben-Plantagen schienen ins Endlose zu reichen, mit dem entfernten Horizont zu verschmelzen und die Dörfer mit ihren grünen Händen zu umfassen. So verbrachte ich meine Kindheit in diesen vielen Dörfern an schönen Orten, die sich wie ein Puzzle zu einer wunderbaren Landschaft fügten.“

Doch seine Erinnerungen werden grau und bleiern, wenn er von seinem Leben in den Fabrikstädten berichtete, in denen die Menschen ihren kargen Lebensunterhalt mit Schichtarbeit verdienten.

„Ein anderes Umfeld – die Fabrik – kam mir vor wie eine Art Festung, in der die Menschen sich unter der unbarmherzigen Kontrolle einer schrillen Sirene Tag und Nacht abrackern mussten. Diese Menschen waren auf Zeit an eine Zentrifuge oder eine andere Maschine gefesselt: zwölf Stunden in Dampf, Schmutz und Gestank. Ich sehe noch immer meinen Vater vor mir, an einem riesigen, wundersamen Apparat. Es war eine schöne Maschine mit vielen verschiedenen Mechanismen, Glasteilen und kleinen Sichtfenstern, durch die man im Innern die Melasse kochen sehen und die Kristallisation des Zuckers kontrollieren konnte. Neben jedem Fenster waren mehrere kleine, glänzende Hähne angebracht sowie auch ein Thermometer, und auf dem Tisch standen Testgläser, mit deren Hilfe der Kristallisierungsgrad des Zuckers gemessen wurde. Stundenlang stand er da, drehte die Hähne auf und zu und guckte durch die Fenster. Von Zeit zu Zeit entnahm er eine Probe zuckriger Flüssigkeit und hielt dann das Glas aufmerksam gegen das Licht, um die Größe der Kristalle zu prüfen.

Jede Bewegung der Maschinen wurde von den Arbeitern aufmerksam beobachtet, wie die Bewegungen eines Raubtiers. Gleichzeitig mussten sie aber auch auf sich selbst und ihre eigenen Bewegungen achten. Denn jede falsche Bewegung konnte den Tod oder eine Verstümmelung bedeuten. Als kleiner Junge waren diese Maschinen für mich immer wilde Tiere mit Reißzähnen Mir erschienen sie wie böse, grausame Tiere, unablässig auf der Lauer, einen Menschen mit einem Prankenhieb niederzuschmettern, ihre Sklavenhalter zu verwunden. Ich war sehr beeindruckt von den Bewegungen und Mechanismen der Riemen und der riesigen Schwungräder. Manche Maschinen waren durch Metallstäbe eingezäunt, sie glichen Hunden in einem Zwinger. Die anderen, weniger gefährlichen Maschinen, hatten keine solchen Käfige.“ [1]

Gebärende Frau, 1908.

Gouache auf Karton, 24 x 25 cm.

Sammlung Costakis, Athen.

Selbstporträt (Studie für ein Fresko), 1907.

Tempera auf Karton, 69,3 x 70 cm.

Russisches Museum, St. Petersburg.

 

 

Kasimirs Welt war unterteilt in diese zwei sehr unterschiedlichen Milieus: das der Sklaven in den Fabriken und das der Landbewohner. Die Fabrikarbeiter lebten auf dem Fabrikgelände oder, wenn sie Familie hatten, in der näheren Umgebung in fabrikeigenen Häusern oder sie waren in Baracken untergebracht. Sie arbeiteten in Schichten, um sicherzustellen, dass die Maschinen in der Erntezeit rund um die Uhr bedient wurden und der Raffinerieprozess ununterbrochen lief. Die Arbeiter waren eine graue Gesellschaft, gesichtslose Handlanger und Technokraten wie sein Vater, die durch dieselbe heulende Sirene zu ihrer Schicht gerufen wurden, die sie auch aus dem Trancezustand ihrer Arbeit zu ihren Mahlzeiten und ihren Schlafstätten rief. In den Korridoren der Fabrikanlagen gesellte sich zu dem Geruch von Öl, heißem Schmierfett, Schweiß und kochenden Rüben der penetrante Geruch von Sauerkraut, Kohlsuppe und mit Rindsfett vermischter Hafergrütze.

Der widerwärtige säuerliche Geruch der Kohlsuppe verbreitete sich überall in die Baracken, ja sogar auf die Straße hinaus. Er drang aus den kleinen Mietshäusern der technischen Angestellten und aus den Männerbaracken, wo er sich mit dem Geruch ungewaschener Leintücher, schweißnasser Hemden und der Gemeinschaftsklos vermengte.

Kasimir fühlte sich unwohl in dieser Welt der Fabrikarbeiter. Wie viel besser hatten es doch die Landarbeiter: Sie konnten die ganze Nacht ungestört schlafen, in der Morgenfrühe gingen sie auf die Felder, von morgens bis abends hatten sie den freien Himmel und die Sonne über sich. Sie kauten ihre Speckschwarten (salo), aßen Knoblauch und ukrainischen Borschtsch aus frischen roten Rüben und eine kalte, botvinia genannte Gemüsesuppe aus Fisch, Bohnen, Rüben und Kartoffeln. Daneben gab es saure Sahne mit knish und Zwiebeln, palyanitsa – ein flaches Gebäck – und mamalyga – eine Art Mais (Polenta) mit Milch oder Butter und kalte Buttermilch mit Kartoffeln.

„Ich suchte mir meine Freunde mit Vorliebe unter den Bauernkindern, weil sie frei waren und auf dem Feld, den Wiesen und in den Wäldern lebten, in der Gesellschaft von Pferden, Schafen und Schweinen. Ich habe die Bauernjungen immer beneidet, die, wie mir schien, inmitten der Natur in völliger Freiheit lebten, die Pferde auf die Weide führten, unter freiem Himmel schliefen, große Schweineherden hüteten, die sie am Abend zurück in den Stall trieben, rittlings auf ihnen sitzend, wobei sie sich an ihren Ohren festhielten. Die Schweine quiekten, wenn sie schneller als die Pferde auf den Dorfstraßen dahingaloppierten, so dass der Staub nur so hochwirbelte.“ [2]

Allerdings hat Malewitschs romantisch-idyllische Vision der Welt seiner Kindheit, die er viele Jahre später (1918) in seiner Autobiografie vor seinem geistigen Auge aufsteigen lässt, in der letzten Dekade des 19. Jahrhunderts wohl nur eine ganz entfernte Ähnlichkeit mit der Realität des harten Lebens in den Steppen und Wäldern der Ukraine. Dieser durch den Rückzug der Gletscher entstandene fruchtbare Streifen von Grasland läuft quer durch die Mitte der Ukraine und bedeckt ungefähr 35 Prozent der Gesamtfläche des Landes. Er erstreckt sich von den Küsten des Schwarzen Meeres bis nach Ostkasachstan und ist mit einer tiefen Schicht fruchtbarer Schwarzerde bedeckt. Diese Schwarzerde sorgt in Verbindung mit dem gemäßigten Klima, das sich im Temperaturbereich zwischen -4 Grad im Januar bis zu 21 Grad Celsius im Juli bewegt, für einen großzügigen Erntezyklus sowohl für Weizen als auch für Zuckerrüben, solange der Boden regenerativ genutzt wird.

Die „… bunt gekleideten Mädchen“, die im Gänsemarsch durch das schwarze Feld liefen, waren ein Teil der „Armee“ von Bauern, die den „Kampf“ gegen Unkraut und das Ausdünnen der Zuckerrüben fochten, um später große, kräftige Pflanzen ernten zu können. Überall in der Steppenlandschaft verstreut lagen Höfe, Weiler und kleine Dörfer, deren Bewohner ursprünglich die Leibeigenen der Adligen waren, den Besitzern riesiger Ländereien. Jeder Haushalt schuldete seinem Herrn eine bestimmte Anzahl von Stunden Feldarbeit, die sich nach der Anzahl der erwachsenen Söhne der Familie bemaß. Als die Leibeigenschaft im Jahr 1861 aufgehoben wurde, verließen viele dieser Bauern die Dörfer ihrer Herren und ließen sich in eigenen kleinen Bauernhäusern nieder, so genannten khutor. Viele dieser kleinen Anwesen gruppierten sich zu Siedlungen, die als vyselki bezeichnet wurden, was in der wörtlichen Übersetzung „die aus ihrem Dorf Weggezogenen“ bedeutet.

Zucker war in Mittel- und Osteuropa ein lebensnotwendiges Grundprodukt, sowohl zum Süßen von Speisen als auch als Konservierungsmittel. Zwar war die Zuckergewinnung aus der Bete im Vergleich zum Zuckerrohr aus den Äquatorialgegenden weniger effizient, doch in großen Produktionsmengen war die Zuckerrübe recht Gewinn bringend und es bestand eine ständige Nachfrage, allerdings waren Züchtung, Anbau, Ernte und Zuckergewinnung äußerst arbeitsintensiv.

Eiche und Dryaden, 1908.

Aquarell und Gouache auf Karton,

17,7 x 18,5 cm. Ort unbekannt.

Obsternte, 1909. Gouache auf Karton,

52,7 x 51 cm. Stiftung Kulturzentrum

Chardshijew-Tschaga, Amsterdam.

 

 

Sewerin Malewitsch war ein „fahrender“ Fabrikangestellter; er und seine Familie legten ausgedehnte Fahrten durch die Steppenlandschaften zurück, um zu den entferntesten Zuckerrübenfabriken zu gelangen. Auf diesen langen Fahrten lernte der junge Kasimir den Kreislauf der Erde, der Landwirtschaft und der Bauern aus unmittelbarer Nähe kennen. Diese Eindrücke prägten ihn für sein ganzes Leben. Die Strecken zu den Fabriken führten über verdreckte Straßen mitten durch Dörfer hindurch, vorbei an den einfachen Hütten, die die Straßen beidseitig säumten. Jede Hütte besaß einen kleinen Gemüsegarten, und jede Familie hielt ein paar Milchkühe oder Ziegen für Milch und Käse.

Der Mist wurde als Dünger für die Äcker verwendet und diente außerdem als Bindemittel für die Fußböden aus Lehm. Das Abwasser wurde in offene Jauchegruben geleitet. Kasimir konnte ein Dorf aus großer Entfernung riechen, oft noch ehe es zu sehen war, je nachdem, aus welcher Richtung der Wind gerade blies. Die Bauernweiler waren weniger klar definiert, doch immerhin teilte sich die Gemeinschaft das in den weit entfernt gelegenen Wäldern gefällte Holz, das an den sandigen Flussufern aufgestapelt wurde. Während des Winters, wenn der Schnee die Straßen blockierte und die Weiler wie kleine Inseln isolierte, teilten sich die Bauern das Futter für ihr Vieh. Im Frühjahr schmolz der Schnee auf den Holzstapeln schnell in der warmen Sonne und hinterließ schwarze Flecken auf dem noch immer weißen Boden.

Wie oft wohl mag die Familie Malewitsch in einem Dorf angehalten haben, um als Gäste an einem Fest – vielleicht einer Hochzeit, einer Kommunion oder einer Taufe – teilzunehmen? Die Dorfbewohner ließen sich keine Gelegenheit entgehen, um der täglichen Routine zu entkommen. Es wurde gekocht, gegessen und zur Musik der Bandura getanzt, dem traditionellen Saiteninstrument der Ukraine, sowie dem Zimbal, einer Art Hackbrett, das mit zwei hölzernen Hämmerchen gespielt wird. Diese Instrumente begleiteten die Volksmelodien und sentimentalen Balladen sowie die von den Kobzaren, den fahrenden, von Dorf zu Dorf ziehenden und die Heldentaten der ukrainischen Kosaken besingenden Spielleuten übernommenen Lieder. Die Männer tanzten in reich bestickten langen Hemden und in Hosen aus blauer Wolle, die statt von einem Gürtel durch eine leuchtend rote, seitlich verknotete Schärpe hochgehalten wurde. Darüber trugen sie einen syyta, eine lange, offene Weste mit schwarzem Samtstreifenbesatz und auf ihren Köpfen einen Hut aus persischem Lammfell. Ihre Beine steckten in den feinsten roten Lederstiefeln.

Unverheiratete Frauen bewegten sich tänzelnd und boten selbst gemachte Delikatessen an, wobei sie ihr Augenmerk auf die noch ledigen Bauernsöhne richteten. Diese kräftigen Mädchen trugen ebenfalls schmucke, bestickte Hemdblusen, und über einem gewebten Rock (plachta) mit schwarzem Samtband besetzte Westen (kerselka), im Haar einen Kranz von Bändern und ebensolche rote Lederstiefel wie die Mannsleute. Die älteren, verheirateten Frauen, Mütter, Tanten, Großmütter trugen ihre wunderschönsten mit Kreuzstich bestickten Gewänder zur Schau. Dazu gehörten ochipoks (Kopfbedeckungen), mit Silber- und Goldmünzen verzierte Korallenhalsbänder und jupkas (Mäntel) mit kovtunts (Quasten).

Als schweigende Zuschauer blicken die an den Wänden hängenden Ikonen auf das fröhliche Treiben der kaleidoskopischen Farben der Kostüme und hören das Klimpern der zu Halsbändern aufgereihten Münzen, das sich mit dem Klang der Banduras und den komplexen Mustern des Zymbals mischt. Jedes Haus hatte mindestens ein und nicht selten bis zu einem Dutzend solcher Heiligenbilder in der ‘roten’ oder ‘schönen’ Ecke. Sie waren die Kunst und die Religion der Bauern, idealisierte Darstellungen, verzückte oder auch vor Qual oder Reue verzerrte Gesichter: Heilige und Apostel, Szenen aus der Bibel, aber auch stilisierte volkstümliche Szenen, obwohl diese von der Kirche eher verpönt und oft nur widerwillig geduldet wurden. Sie waren auf Holz oder auf selbst gewebte Leinwand gemalt. Die Ikone des brennenden Dornbusches hielt Feuersbrünste fern, die des Hl. Georg war für die Gesundheit der Haustiere zuständig.

Die Ikonenmaler waren als bohmazi bekannt (boh heißt „Gott“ und mazy bedeutet „auf eine Fläche malen“). Diese bäuerischen Maler lernten ihr Handwerk durch eine Lehre bei einem Meister, und da sie als Bauern und Hirten kaum je ihre Siedlungen verließen, bildete sich in jeder Region ein eigener Stil der Ikonenmalerei heraus, dessen gestalterische Formen und Stilmittel von Generation zu Generation weitergereicht wurden.

Ein eigenes Haus zu haben, war für eine Bauernfamilie ein Zeichen des Wohlstands und des Ansehens, und man ließ es sich nicht nehmen, ganze Wände mit komplizierten farbigen Mustern zu verzieren. Bänke, Hocker, Stühle, Decken, Wände, Türen und Fensterläden – auf all diesen Flächen entfalteten die Maler, Schreiner und Holzschnitzer ihre kreative Ader, jeder mit seiner subjektiven Interpretation der überlieferten Motive. Doch auch die Mädchen lernten neben dem Weben und der Kreuzstichstickerei malen. Ihnen oblag die Aufgabe, die Holz- und Lehmwände mit Farbe zu schmücken.

Kasimir war zutiefst beeindruckt von den künstlerischen Tätigkeiten der Bauern, die diese von den Fabrikarbeitern unterschied:

„Die Fabrikarbeiter malten nicht, sie waren nicht in der Lage, ihr Haus auszuschmücken, noch kümmerten sie sich um solche Dinge. Auf dem Lande hingegen interessierte man sich für die Kunst (zur damaligen Zeit kannte ich dieses Wort noch gar nicht). Deshalb ist es wohl richtiger zu sagen, dass sie Gegenstände herstellten, die mir außerordentlich gut gefielen [...] Mit großer Freude beobachtete ich die Bauern bei der Herstellung ihrer Ornamente und half ihnen, den Fußboden ihrer Häuser mit Tonerde zu bestreichen und ihre Öfen mit Verzierungen zu bemalen.“

Epitaphios (Leichentuch Christi), 1908.

Gouache auf Karton, 23,4 x 34,3 cm.

Staatliche Tretjakow-Galerie, Moskau.

Auf der Datscha/Zimmermann II,

Motiv: 1911-1912, Version: 1928-1929.

Öl auf Sperrholz, 105 x 70 cm.

Russisches Museum, St. Petersburg.

Zimmermann I,

Motiv: 1911-1912, Version: 1928-1929.

Öl auf Sperrholz, 71,8 x 53,8 cm.

Russisches Museum, St. Petersburg.

 

 

Er beobachtete, wie die einheimischen Künstler ihre Farben durch Zerstampfen von Mineralien herstellten, doch bei seinem Versuch, es ihnen gleichzutun, stieß er bei seinen Eltern wegen des entstehenden Drecks und Staubs auf wenig Verständnis.

Wie dem auch sei, Kasimir genoss die Freiheit des Lebens in der „Wildnis“, weit weg von den Fabrikstädten. Die ungebundene Lebensweise der Bauern entsprach seiner sinnlichen Natur. Hören wir, wie er dies selbst in Worte fasst:

„Alles am Leben der Bauern war für mich faszinierend. Ich fasste den Entschluss, niemals in einer Fabrik zu leben und zu arbeiten. Auch studieren werde ich niemals. Meiner Meinung nach haben die Bauern ein gutes Leben: Sie haben alles, was sie brauchen, sie versorgen sich selbst, sie brauchen weder Fabriken noch müssen sie lesen und schreiben können. Sie stellen alles für ihren eigenen Bedarf selbst her, ja sie malen sogar selbst. Als Süßmittel haben sie Honig, sie brauchen also keinen Zucker zu gewinnen. Die alten Männer in jedem Dorf haben so viel Honig wie sie nur wollen. Sie sitzen den ganzen schönen Sommer lang vor ihrem Bienenhaus irgendwo mitten in einem blühenden Garten, einem wunderbaren Garten voller Apfel-, Birnen-, Kirsch- und Pflaumenbäumen. Ach wie wunderbar schmeckten doch die Äpfel, Birnen, Pflaumen und Kirschen aus diesen Gärten. Eine meiner Lieblingsspeisen waren die vareniki (kleine Piroggen) mit Kirschen und saurer Sahne oder Honig.

Ich ahmte den Lebensstil der Bauern mit großer Begeisterung nach. Genau wie sie rieb ich Knoblauchzehen auf meine Brotschnitte, ich aß Speck mit den Fingern, rannte barfuß in der Nachbarschaft herum und hielt Stiefel für einen unnötigen Luxus. Mir kamen die Dorfbewohner immer sehr adrett und fein gekleidet vor.“

Doch wenn die Feuerstellen der Feste nur noch glimmende Asche waren, dann mussten die Bauern ihre schweren Stiefel überziehen, ihre Arbeitspferde aus den Ställen führen und ihre Hacken, Sicheln und Heugabeln sowie die Essenskörbe auf die Karren laden. Und die Malewitschs spannten ihr Fuhrwerk wieder an und machten sich auf den mühsamen Weg zur nächsten Zuckerrübenfabrik. Einige Dorfbewohner sprachen zum Abschied vor der Ikone des Hl. Niklaus, dem Beschützer der Reisenden, ein stilles Gebet.

Von seinem Sitz auf dem Wagen warf Kasimir einen letzten Blick auf die Sänger, Tänzer und Spielleute des Vorabends, die nun mit den anderen zusammen aufs Feld zogen, um die unterbrochene Arbeit auf dem Acker wieder aufzunehmen. Sie schritten hinter den von kräftigen braunen Pferden mit blonden Mähnen gezogenen Pflügen, rissen die Rüben an ihren Blättern aus dem Boden, schüttelten die lose Erde ab und legten sie in Reihen nebeneinander. Der nächste Arbeiter entfernte mit einem Rübenhaken die Blätter und die Krone. In diesem Zustand wurden sie dann mit der Gabel auf den Karren geworfen. Eingehüllt vom penetranten Gestank der Ausdünstungen und des frischen Mists der Ackergäule, vermengt mit dem säuerlichen Geruch der aufgeworfenen Schwarzerde und dem nussigen Aroma der Beten, wurde diese knochenharte Feldarbeit von den Bauern verrichtet.

Der ständige, durch den Beruf des Vaters bedingte Ortswechsel gab Kasimir kaum die Gelegenheit, Freundschaften zu schließen, war er doch in jeder Fabrikstadt und in jedem Dorf immer wieder „der Neue“. Dabei zog er sich nicht selten durch seine forsche Art und seine unbändige Neugierde eine Tracht Prügel zu.

Als Kasimir das elfte Lebensjahr erreichte, wurde den Malewitschs das unstete Nomadenleben auf den staubigen Straßen der Steppe und in den ständig wechselnden Häusern und Wohnungen in den Fabriken allmählich zu mühsam, zumal die Familie inzwischen gewachsen war. Sewerin Malewitsch arbeitete nun in einer Fabrik im Dorf Parchomowka, in dem die Grenzen von drei Bezirken aneinander stießen – Charkow, Poltawa und Sumi – und das in der Mitte zwischen zwei der wichtigsten Städte der Ukraine lag: Kiew und Kursk. Im Dorf gab es eine Schule mit fünf Klassen. So kam es, dass Kasimir zu einem Dorfjungen wurde und bis 1894 regelmäßig die Schule besuchte. Die Bewohner von Parchomowka behielten ihn als einen wissbegierigen Jungen in Erinnerung, der sie ständig mit Fragen durchlöcherte.