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IRMGARD FUCHS

IN DEN KOMMENDEN
NÄCHTEN

ROMAN

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Du bist ich, sagst du.
Und ich du.

Inhalt

TEIL I

TEIL II BIS JETZT

Letzten Mittwoch

Letzten Donnerstag

Letzten Freitag

Letzten Samstag

Letzten Dienstag, nachmittags

In den Nächten (deiner Kindheit)

Letzten Montag, spätabends

Letzten Mittwoch, nachmittags

Letzten Montag, vormittags

In den Nächten

Montag, morgens

Zukunft vor einem Jahr

Letzten Dienstag, immer noch nachmittags

Nie

Sonntag vor nicht ganz dreißig Jahren

Letzten Donnerstag, nachmittags

In den Nächten

Es war einmal (eine Zukunft)

Donnerstag, bis etwa drei Uhr nachmittags

Letzten Dienstag, morgens

Donnerstag vor sechs Monaten

Dienstag, abends

Samstag vor genau einem Jahr

An den unendlichen Nachmittagen deiner Kindheit

Montag, gegen Mittag

In den Nächten

Dienstag, vormittags

Donnerstag, kurz nach drei Uhr nachmittags

Letzten Sonntag, nachmittags

In den letzten sechs Monaten

Letzten Freitag, nachmittags

Freitag, in der Dämmerung

An den Abenden deiner Kindheit

Es war einmal (ein Stammbaum)

Letzten Sonntag, immer noch nachmittags

Letzten Samstag, abends

In den Nächten

Mittwoch, morgens

Es war einmal (etwas wie Liebe)

Letzten Dienstag, kurz nach Mittag

Sonntag vor über dreißig Jahren

In den Nächten

Letzten Mittwoch, spätabends

Montag auf Dienstag

Zukunft vor etwa neunzehn Jahren

Freitag, morgens

Letzten Dienstag auf Mittwoch

Samstag vor genau fünf Jahren

Montag

Mittwoch

In den Nächten

Donnerstag

Freitag

Heute, Samstag

Zukunft, ab morgen (laut der Fünf-Uhr-Nachrichten heute)

TEIL III JETZT

TEIL IV IN DEN KOMMENDEN NÄCHTEN

TEIL V

I

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Du bist Doro Grimm.

Jeden Morgen reißt du mit aller Kraft das Blatt vom Tageskalender, der in der Küche hängt. Meistens zerknüllst du den dünnen Zettel sofort und wirfst ihn in den Müll. Nur manchmal, wenn auf der Rückseite ein Witz steht, liest du ihn noch, lachst aber nie mehr darüber.

Was du dir vom Leben wünschst, kannst du schon lange nicht mehr sagen. Es ist aber ohnehin gleichgültig, denn niemand sieht einen Unterschied darin, ob du nun lebst, ohne etwas zu wollen, oder lebst, weil du etwas willst. Du bist einfach da. Tag für Tag, Stunde für Stunde, Lidschlag für Lidschlag. Wachst auf, isst, trinkst, liebst, nickst und gehst zur Arbeit, in der du auf deinem Bildschirm unermüdlich die Grundrisse für die glücklichen Leben der anderen zeichnest.

Glückliches Leben demnach: ein Haus haben, eine Garage, einen Gartenzaun, einen Erdkeller, einen Swimmingpool, ein ausbaufähiges Dachgeschoss, ein Panoramafenster in Sonderanfertigung, zwei Kinderzimmer.

Ein Leben also, das du nie hattest und nie haben wirst. Obwohl es doch längst zum Greifen nah sein könnte.

Womöglich ist das das Problem.

Womöglich solltest du wie all die anderen einen Vertrag mit der Bank unterschreiben und dann Mauern um dich errichten, an denen du Tausende Tageskalender anbringen könntest, deren Blätter du nicht mehr abreißen, zerknüllen und wegwerfen, sondern sorgfältig sammeln würdest. Als Durchschlagzettel deiner glücklichen Tage, aus denen du, wenn es Not tut, mit Kleister einen zähen Brei rühren könntest, den du auf alle angeschlagenen und wunden Stellen wie eine Schutzschicht dick auftragen würdest.

Ja, das solltest du.

Jeden Tag denkst du es dir, wenn du auf das zerknüllte Blatt im Müll hinunterschaust.

Jeden Tag nimmst du dir vor, es morgen endlich anders zu machen.

Jeden Tag.

Aber du schaffst es einfach nicht, dich zu überwinden.

II
BIS JETZT

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Letzten Mittwoch

Fast glaubst du dir selbst nicht, dass du hier stehst. Dass du wirklich vom Schreibtischsessel aufgestanden bist und nach all den Jahren das Dorf, die Arbeit und auch Elmar hinter dir gelassen hast. Wie lange war es dir unmöglich erschienen, aus dieser Sackgasse, in der du seit Ewigkeiten gegen alle Wände gerannt bist, wieder herauszukommen. Dabei war es schlussendlich ganz leicht gewesen. Vier E-Mails, eine Geldüberweisung, ein Bus vom Dorf in die Kleinstadt, von dort ein Zug in die Großstadt, ein Taxi zu einer Bar, wo ein Schlüssel für dich hinterlegt worden ist, und dann zu Fuß um zwei Ecken waren alles, was es dafür gebraucht hatte. Und das Einzige, was sich jetzt als schwierig erweist, ist, deine Hand dazu zu bringen, den Schlüssel ins Schloss deiner neuen Wohnungstür zu stecken. Zu schwer wiegt der Augenblick, an den du heimlich so viele Jahre, vielleicht, ohne es zu wissen, schon immer deine ganze Hoffnung gehängt hast, und du stehst wie gelähmt vor der verschlossenen Tür. Bis du es doch schaffst, wie in all den kitschigen Geschichten für einen Moment die Luft anzuhalten und dein Herz bis in den Hals herauf schlagen zu spüren, bevor sich deine Hand in Bewegung setzt.

Du rufst:

Hallo?

Hallo Leben?

Du sagst, zurückhaltender:

Ich wäre jetzt da.

Letzten Donnerstag

Er trägt zwei Teller herein, stellt sie auf den Tisch und setzt sich. Sie bringt zwei Tassen und setzt sich dazu. Wie aus einem Katalog ausgeschnitten ist alles an ihnen, Kleidung, Frisur, Gesten. Sie nehmen aufrecht sitzend ihre Brote in die Hand und beißen in mundgerechten Stücken davon ab. Genüsslich trinken sie ihren Kaffee aus den Tassen. Danach sitzen sie für eine ganze Weile beieinander, reden über sich und das Leben und schauen sich dabei tief in die Augen.

Letzten Freitag

Er bringt die Teller zum Tisch. Du taufst ihn Maro. Kurz hält er inne, als würde er sich an seinen Namen erst gewöhnen müssen. Dann verlässt er den Raum wieder. Die Frau trägt die Tassen herein. Kuki nennst du sie. Maro, Kuki und Doro, ihr drei mit den Kanarienvogelnamen.

Kuki stellt die Tassen am Tisch ab und setzt sich. Gleich darauf kommt Maro mit leeren Händen ins Zimmer zurück. Wieder essen sie. Du glaubst Marmeladenbrot. Wieder trinken sie. Du glaubst Kaffee. Weshalb auch du dich mit altem Brot, auf das alte Marmelade gestrichen ist, und einer Tasse schwarzen Kaffee auf dein Sofa setzt. Du kaust und schaust zu, wie die beiden ihre Köpfe bewegen. Du bist sicher, sie sprechen über schöne Dinge. Du glaubst, dass sie lachen. Könntest du nur deutlicher ihre Gesichter erkennen. Könntest du nur hören, was sie sagen.

Um 7:25 stehen sie auf und schließen ihr Fenster. Zwei Minuten später verlassen sie gemeinsam das Haus und trennen sich erst vorne an der Ecke, wo sie verschiedene Richtungen einschlagen. Du beugst dich aus deinem offenen Fenster. Für die frühe Uhrzeit ist es schon ungewöhnlich warm und die Sonne steht in einem schlechten Winkel, sodass du durch die Glasscheibe des Fensters gegenüber nur die Umrisse jener Dinge erkennen kannst, von denen du bereits weißt, dass sie da sind. Zwei hohe Stuhllehnen, die Idee einer Pflanze, den Teil eines Bücherregals, hinten an der Rückwand das Sofa und darüber ein großes Bild, braun, bräunlich, verschwommen. Vielleicht ist eine Mondlandschaft oder ein Strand darauf zu sehen, vielleicht auch eine riesige Wüste. Alles steht dort wie festgefroren. Doch du schaust trotzdem weiter hinüber, denn durch die Fensterscheiben der anderen Wohnungen kannst du noch viel weniger erkennen. Dabei würdest du so gern in all die Leben dort drüben hineinsehen, sie den dort Wohnenden abschauen können. Unten geht ein Passant vorüber, er hebt kein einziges Mal seinen Blick zu dir. Danach wird es vollkommen still in der Gasse, nicht einmal die Luft scheint sich mehr zu bewegen, denn keines der Blätter des Baumes links neben deinem Fenster rührt sich. Bis eine Handvoll Vögel aus diesem herausfliegt und unten auf dem Asphalt landet. Du stützt dich auf der Fensterbank ab und beobachtest sie bei ihrer Suche nach Futter. Doch das grelle Sonnenlicht blendet dich unangenehm und so ziehst du dich schließlich ins Zimmer zurück, wo Hunderte Vögel auf der sattgrünen Motivtapete ihre Augen auf dich richten.

Letzten Samstag

Nach Monaten der Schlaflosigkeit kommt es dir am Morgen, als du die Augen öffnest, vor wie ein Wunder, dass du trotz der stickigen Luft im Zimmer eine ganze Nacht, von Anfang bis Ende, durchgeschlafen hast. Du fühlst deutlich, dass sich durch den Schlaf etwas in dir verändert hat, womöglich sogar zurechtgerückt wurde. Vielleicht fühlt sich das Leben aber ja auch immer so an, wenn man es schafft, sich zwischendurch davon auszuruhen und auch deine Hände greifen anders, als du das Fenster öffnest, um zu Kuki und Maro hinüberzuschauen, die am samstäglich reich gedeckten Frühstückstisch sitzen, als hätten sie auf dich gewartet. Eilig machst du dir einen Kaffee, mit dem du dich ans Fenster stellst, vor dem sich eine neue Welt für dich auszubreiten beginnt. Von hier aus ist sie eine Gasse groß und von einer gegenüberliegenden Häuserzeile begrenzt. Ein grünes, ein blaues, zwei weiße, ein gelbes und wieder ein grünes Haus stehen nebeneinander. Schornsteine, Fenster, du wirst sie ein andermal zählen. Bäume und parkende Autos. Krähen, die auf Dachrinnen sitzen. Ein Streifen Himmel, knallblau mit Sonne. Und du.

Drüben steht Maro auf und geht im Zimmer herum. Kuki bleibt sitzen, sie schüttelt den Kopf über etwas. Du trittst ganz nah ans Fenster heran, um besser zu sehen. Da bleibt Maro auch vor seinem offenen Fenster stehen und schaut in deine Richtung. Erst willst du winken. Vielleicht sogar einen Gruß hinüberrufen. Aber dann hast du auf einmal Angst davor, dass die beiden nicht die sein könnten, die du in ihnen siehst. Wie es ja im Grunde mit allen Menschen war, denen du bisher im Leben begegnet bist. Und so tust du so, als hätte dich jemand vom Flur aus gerufen, und läufst aus dem Zimmer.

Maro fragt:

Wo bist du denn hin?

Du hältst die Luft an.

Maro fragt:

Also?

Letzten Dienstag, nachmittags

Die CAD-Datei des Männerwohnheims liegt fertig am Server, dein Computer fährt herunter und du greifst nach deiner Handtasche, um Stunden früher als sonst vom Schreibtisch aufzustehen. Grußlos verlässt du das Architekturbüro, ohne dass deine Kollegen es auch nur zu bemerken scheinen.

Das war’s, sagst du zu den Stufen im alten Stiegenhaus, die du Tausende Male hinauf- und hinuntergegangen bist. Auch vor dem Haus hältst du für einen Moment inne, um über den dir so vertrauten Marktplatz zu schauen. Da reißt die Wolkendecke auf. Mit der Sonne im Rücken gehst du durchs Dorf zu deiner Wohnung, wo du im Schlafzimmer alle Schranktüren und Schubladen öffnest und in Eile beginnst, deine beiden Reisetaschen zu füllen. Schnell sind die Fächer leer und die Taschen voll. Du ziehst ihren Reißverschluss zu und schaust dich nach Vergessenem um. Alles, was noch da ist, das Bett, der Teppich, die Pflanzen, sie erinnern dich an Elmar, an den zu denken du bis zu diesem Moment vermieden hast. Denn du hast keine Ahnung, wie du ihm das alles erklären sollst. Nervös gehst du durch die Wohnung wie auf der Suche nach einem Anhaltspunkt. Da entdeckst du im Arbeitszimmer, das Elmar seit jeher das Kinderzimmer nennt, direkt neben deinem alten Büro-PC, den du ihm zum Computerspielen überlassen hast, dein handgeschöpftes Briefpapier. Vorsichtig pustest du die Staubschicht vom obersten Blatt und setzt dich dann mit deiner alten Schulfüllfeder, die beim Schreiben immer ein wenig quietscht, als wäre sie nicht einverstanden, und dem guten Papier an den Küchentisch und beginnst über eine Stunde lang Briefe zu schreiben, die jedoch alle schon nach wenigen Sätzen oder sogar nur Worten zerknüllt auf dem Fußboden landen.

Lieber Elmar,

ich

Liebster Elmar,

wir

Lieber Elmar,

ich weiß, es ist nicht in Ordnung, dir einfach einen Brief hinzulegen, aber ich weiß nicht, wie ich dir erklären soll

Lieber Elmar,

warte heute nicht auf mich. Auch morgen komme ich nicht. Denn ich habe für sechs Monate eine Wohnung

Lieber Elmar,

es ist nicht so, dass ich dich nicht liebe, aber ich fühle mich seit geraumer Zeit und eigentlich schon immer Lieber Elmar, es tut mir leid, dass ich dich jetzt so vor den Kopf stoße und einfach weg bin. Ich weiß, es ist unfair von mir. Du hast wirklich nichts falsch gemacht. Und ich glaube, ich habe eigentlich auch nichts falsch gemacht. Aber gerade das ist das Problem. Weil ich es von Anfang an immer allen zwanghaft recht machen musste. Meiner Mutter, weil sie mich ja ungewollt am Hals hatte. Den Großeltern, weil sie mir die Schuld gaben, dass aus meiner Mutter nichts werden konnte. Und dann später habe ich ja auch in der Arbeit immer zu allem Ja und Amen gesagt, bis es nicht mehr möglich war, mit dem Neinsagen anzufangen. Ich würde gern sagen, zwischen uns war es anders, aber

Lieber Elmar,

hier meine Adresse für die nächsten sechs Monate

Lieber Elmar,

während der Arbeit am Männerwohnheim habe ich so viel über die Schicksale der Männer nachgedacht, die in meine gezeichneten Wände einziehen werden und dort die Chance haben, noch einmal neu anzufangen. Ich habe mir vorgestellt, wie sie gelebt haben und warum sie in die Situation gekommen sind, ein Männerwohnheim zu brauchen. Und dabei habe ich irgendwie wohl unbewusst begonnen, auch über mich selbst nachzudenken. Erst darüber, was für ein Glück ich habe, ein Zuhause wie unseres zu haben. Unser so gut funktionierendes Leben. Aber dann schoben sich immer öfter Erinnerungen dazwischen. An mich, die ich auch hätte sein können. Ich, diese Frau in der großen Stadt, von der ich, als ich noch jünger war, immer geträumt habe. Mit einem bunten Leben um sich und nicht immer nur im Kopf drin. Einem Kopf, in dem in Wirklichkeit schon seit Jahren gar nichts mehr vor sich ging. Denn mein Leben ist doch schon die längste Zeit nur noch ein einziges Warten darauf gewesen, dass sich von allein etwas verändert. Oder durch dich. Oder durch irgendetwas. Ich weiß es ja selbst nicht. Denn

Denn was? Du starrst auf das letzte Wort und willst auch dieses Blatt wegwerfen. Aber es ist der letzte gute Papierbogen und darum deine letzte Chance auf einen schönen Abschiedsbrief, den du Elmar auf den Küchentisch legen kannst. Also setzt du wieder an, um den Satz zu Ende zu bringen, doch da hörst du den Schlüssel in der Wohnungstür.

Elmar, bist du schon da?, rufst du erschrocken. Es kommt keine Antwort. Du stehst schnell auf, sammelst die zerknüllten Briefe vom Küchenboden auf, wirfst sie in den Müll und rufst dabei noch einmal: Elmar?

Du hörst, wie die Wohnungstür geschlossen wird, und gehst in den Flur hinaus, wo Elmar kreidebleich gegen das Sideboard gelehnt steht.

Was ist denn los?, fragst du, er reagiert nicht und du machst zögernd einen Schritt auf ihn zu. Da sagt er endlich: Ich habe Migräne.

Ach so, entkommt es dir unangebracht erleichtert, aber Elmar merkt es zum Glück nicht, und so sagst du schnell hinterher: Komm, ich helfe dir.

Du hakst dich bei Elmar unter, denkst an die zwei Reisetaschen, die vor dem Bett stehen, und führst ihn ins Wohnzimmer, zum Sofa. Nicht zum ersten Mal sinkt er dort demonstrativ leidend in die Kissen und du gehst, ebenfalls nicht zum ersten Mal, demonstrativ auf Zehenspitzen zum Fenster, um die Vorhänge zuzuziehen. Dabei siehst du zufällig, wie der Bäcker gegenüber aus seiner Bäckerei tritt und mit federnden, fast schwerelosen Schritten die Straße entlanggeht, als würde er gleich abheben. Du wunderst dich sehr über diesen Anblick, nicht nur, weil du keine Erinnerung daran hast, den Bäcker jemals außerhalb seiner vollholzverkleideten Bäckerei gesehen zu haben, sondern auch, weil er jenseits dieses kleinen Verkaufsraums überhaupt nicht mehr traurig wirkt, kein bisschen mehr hoffnungslos. Er ist einfach nur noch ein ganz normaler Mensch auf der Straße.

Doro, kannst du vielleicht später aus dem Fenster schauen und mir jetzt eine Tablette bringen?, fragt Elmar angestrengt und du erwiderst überrascht, nein, eigentlich schockiert: Hast du denn noch keine genommen?

Im Labor hatte ich keine mehr, antwortet er und zieht sich ein Kissen über den Kopf. Vorgeblich, weil es die Migräne lindern soll, aber du weißt, er tut es vor allem, um sich jetzt mit dir die ewige Diskussion zu ersparen, dass er die Tablette rechtzeitig nehmen muss, damit sie auch wirklich hilft. Es ist eine uralte Leier zwischen euch, auf die du im Augenblick gut verzichten kannst. Und so verlässt du kommentarlos das Wohnzimmer.

Auf dem Flur, mit Blick zur Wohnungstür, überlegst du für einen Moment, ob du jetzt nicht vielleicht trotzdem noch deine Taschen nehmen und abhauen könntest. Aber dann gehst du doch bloß ins Badezimmer und öffnest beide Seiten des Spiegelschranks. Deine Seite ist leer. Elmars Seite ist nach wie vor eine Welt, in der alles seinen Platz hat. Du greifst nach der Schmerztablettenschachtel, die zwischen Wattestäbchen und einer Aftershave-Flasche liegt, und wirfst dabei die Flasche absichtlich um. Klirrend stürzt sie ins Waschbecken, bricht aber natürlich nicht, und so stellst du sie wieder in den Schrank zurück, bevor du eine Tablette aus dem Blister in deine Hand drückst, Wasser in Elmars Zahnputzbecher füllst und ins Wohnzimmer zurückkehrst.

Elmar richtet sich auf und nimmt beides entgegen.

Sag es jetzt, denkst du und setzt dich zu ihm aufs Sofa.

Elmar, ich …, murmelst du.

Was hast du noch mal in den ganzen Briefen geschrieben? Was hast du zu sagen versucht?

Ja?, fragt Elmar, nachdem du nicht weitersprichst. Er öffnet einen Spalt breit die Augen. Dann greift er nach deiner Hand und hält sie ungewohnt fest, fast so als fürchtete er sich. Für einen Moment schaut ihr einander in die Augen, du und der angebliche Mann deines Lebens, und da siehst du auf einmal, wie sehr er sich in den sechs Jahren, die ihr euch kennt, verändert hat. Wie alt und müde er geworden ist, erschreckt dich, und so sagst du seine Hand drückend: Nichts. Ruh dich aus. In einer Stunde geht es dir wieder gut.

Danach verlässt du das Wohnzimmer, schließt so leise wie möglich die Tür und schaust über den Flur zur Wohnungstür.

Du willst gehen.

Du kannst nicht. Nicht einfach so.

Du musst aber.

Du kannst nicht.

Du willst.

In deinem Kopf beginnt alles durcheinanderzugeraten und das Einzige, was gewiss ist, ist, dass es eine Stunde dauert, bis die Schmerztablette wirkt.

Du zählst die Minuten.

In den Nächten (deiner Kindheit)