Joseph Roth

Zipper und sein Vater

e-artnow, 2017
Kontakt: info@e-artnow.org
ISBN 978-80-273-0031-0

II

Inhaltsverzeichnis

Die Familie Zipper wohnte in dem Viertel der kleinen Bürger, in dem die Wohnungen aus zu engen Zimmern bestehen, dünne Wände haben und nutzlosen Zierat enthalten.

Es gab einen außerordentlich noblen Raum in der Wohnung Zippers. Er lag hinter dem Schlafzimmer. Man hätte ihn auch vom Flur aus erreichen können. Dort aber war die Tür geschlossen. Sie öffnete sich nur einmal im Jahr, zu Ostern, wenn des alten Zippers Bruder aus Brasilien zu Besuch kam. Für uns, den jungen Zipper und mich, war das vornehme Zimmer, das man Salon nannte, am Sonntagnachmittag zugänglich, wenn wir versprachen, uns ruhig zu verhalten und »nichts zu zerbrechen«. Denn viel Zerbrechliches war dort angesammelt. Ich erinnere mich an ein gläsernes blaßblaues Tintenfaß mit silbernem Deckel, ein kleines Streusandfäßchen von gleicher Farbe und einen Federhalter aus blauem Glas. Es war eine Garnitur. Sie stand in der Mitte der rubinroten schweren Trinkgläser auf der Kommode, der silbernen Becher und der neusilbernen Obstbestecke. In den Gläsern, die immer ein wenig verstaubt waren, lagen Perlmutterknöpfe und Kinderringe aus weichem Silber, Krawattenhalter und hölzerne Nadeletuis, Agraffen, mit gläsernen Brillanten besetzt, schwarzer, biegsamer und klebriger Flitter, der jedesmal von dem schwarzen Prachtkleid der Frau Zipper abfiel und den sie sammelte, um ihn gelegentlich wieder anzunähen.

Immer lag der Salon im Halbdunkel. Schwere, rote Vorhänge gestatteten der Sonne nur einen spärlichen Zutritt, kaum daß es einem Strahl manchmal gelang, sich einen schmalen Weg zu bahnen und eine dünne silberne Staubsäule vom Fenster zum runden Tisch zu ziehen. Mottenkugeln rochen scharf aus den ewig geschlossenen Schränken. Eine dumpfe Feuchtigkeit gemahnte an herbstliche Felder, Allerseelen, Weihrauch in kühlen Kapellen. An der Wand hingen Porträts von den Großeltern und Eltern der Frau Zipper. Der alte Zipper besaß keine Bilder von seinen Ahnen. Denn er stammte aus einer Familie, die »einfach« war und die sich nie hatte porträtieren lassen. Er selbst aber schien der Ahnherr eines respektvollen Geschlechtes werden zu wollen. Er ließ sich oft photographieren und alle seine Bilder vergrößern. Er hängte sie an die Wände des Salons. Da sah man Herrn Zipper mit Hut und Stock, auf einer Gartenbank, Jasmin im Hintergrund. Dort: am Schreibtisch, in einem dicken Buch lesend. Rechts hing das Bild, das Herrn Zipper in der Uniform eines Feldwebels – eines Rechnungsfeldwebels – der Infanterie darstellte. Links: Herr Zipper im Zylinder mit weißen Handschuhen, wie er eben von einer Hochzeit oder von einem Begräbnis kam. Hier war er noch junger Bräutigam, einen Blumenstrauß in weißer Tüte in der Hand. Dort ein bereits ernster Vater, Arnold, den Kleinen, auf den Knien.

Noch öfter als der alte war der junge Zipper photographiert. Arnold, wie er sechs Monate alt war, splitternackt, lächelnd, auf einem Bärenfell; Arnold als Einjähriger auf dem Arm der Mutter; Arnold als Vierjähriger in den ersten langen Hosen; Arnold als Sechsjähriger mit dem ersten Schulranzen, mit Schiefertafel und baumelndem Schwamm; Arnold als Siebenjähriger mit dem ersten Schulzeugnis; Arnold als Achtjähriger mit gekreuzten Beinen, zu Füßen seines Lehrers, umgeben von seinen Schulkameraden; Arnold im spanischen Nationalkostüm und als Radfahrer; als kleiner Reiter im Hippodrom und als Chauffeur im Vergnügungspark; Arnold auf einem Esel und auf dem Kutschbock; Arnold am Klavier und mit der Geige; Arnold mit Pfeil und Bogen und Arnold mit Säbel; Arnold als kleiner Dragoner und als kleiner Matrose; Arnold in allen Altern, allen Kleidungen, allen Lagen; Arnold, Arnold, Arnold …

Weshalb, fragte ich, ist nicht Arnolds Bruder, der ältere, den man Cäsar nannte, photographiert? Er hieß Cäsar, nach dem früh verstorbenen Bruder seiner Mutter. Es schien, daß dieser Name den Knaben beschwerte, ihm Aufgaben stellte, für die er nicht geboren war. Er mußte entweder ein Genie sein oder ein Hund. Wer war imstande, mit solch einem Namen seinen Eltern Freude zu bereiten?

Nein! Er bereitete ihnen keine Freude, wenigstens nicht dem Vater. Man sah Cäsar selten zu Hause. Er trieb sich in den Straßen herum, man traf ihn vor dem Eingang zum Zirkus Cavalli, vor den Kinos in den Vorstädten und in der kleinen Gasse, in der jedes Haus ein Bordell war. Und er war im ganzen vierzehn Jahre alt. Ich erinnere mich deutlich an sein rotes grobes Gesicht, in das die Züge roh und provisorisch eingezeichnet waren, an seine kurze, von vielen Runzeln zerknitterte Stirn, die aussah, als wollte sie falsche Sorgen vortäuschen, an den merkwürdigen Gegensatz zwischen dem ungläubigen Mund, der an eine traurige alte Sichel erinnerte, und den hellen, grünen, bestialisch und irrsinnig glänzenden Augen. Als er fünfzehn Jahre alt war, schlief er mit allen Dienstmädchen der Nachbarschaft, ein schwarzer Bart sproßte aus allen Winkeln seines Gesichts, seine Augenbrauen wuchsen an der Nasenwurzel zusammen. Er »wollte nicht lernen«. Der alte Zipper »nahm ihn« aus dem Gymnasium und »gab ihn« in die Realschule. Hier geriet er mit einem Mitschüler in Streit, zerschlug ihm das Nasenbein, ohrfeigte einen Lehrer, der vermitteln wollte. Da »nahm« der alte Zipper Cäsar aus der Realschule und »steckte« ihn in die Bürgerschule. Hier gab es mehrere Cäsars, die Lehrer hüteten sich vor Schlägen. Cäsar Zipper erregte nicht besonderes Aufsehen, er blieb je zwei Jahre in jeder Klasse, aber es half ihm nichts. Als er die Schule verließ, konnte er gerade lesen und schreiben.

Es war, als gehörte Cäsar nicht zur Familie Zipper. Vor allem traf man ihn niemals zu Hause, es sei denn während der Mahlzeiten. Da saß er am Ende des Tisches, die Tür, die zur Küche führte, im Rücken, gegenüber dem alten Zipper, der dem ungeratenen Sohn zwischen je zwei Gängen wütende, verachtende Blicke zuwarf. Cäsar erwiderte sie nicht. Cäsar sah immer auf den Teller, knurrte leise, klopfte mit den Absätzen auf den Fußboden, trommelte mit den Fingern auf den Sessel und wußte, daß die Raserei in seinem Vater stieg. Ja, er schien mit Vergnügen zu hören, wie es in dem alten Zipper kochte. Noch hielt der an sich. Schon aber nahte die Mehlspeise, mit der Zipper niemals zufrieden war, und plötzlich explodierte er. Er schleuderte das Salzfaß gegen Cäsar, der es schon längst erwartet hatte und mit dem geübten Griff eines gewandten Menschen auffing und wieder auf den Tisch stellte. Dann hörte man ein Sesselrücken, der alte Zipper erhob sich. Er stand gebückt, die Serviette in der Linken, mit der Rechten griff er hinter den Rücken, er suchte die Lehne des Stuhls. Einen Augenblick lang sah man seine Hand, wie sie die leere Luft krallte. Ich sehe noch deutlich diese rechte Hand, sie sah aus wie ein Tier, eine behaarte Spinne etwa, die blind nach einer nicht vorhandenen Beute greifen will, sie war schrecklich, diese Hand, schrecklicher als das Gesicht des Alten, das zu harmlos war, um auch nur einen Augenblick schrecklich sein zu können.

In dieser Sekunde hatte Cäsar bereits die Tür, die zur Küche führte, mit der Linken geöffnet. Schon hörte man das Brodeln der Töpfe vom Herd, schon roch man die Düfte der Speisen, man hörte, wie sich draußen die Frau Zipper schneuzte und räusperte. Die Klinke in der Linken, die Rechte vor sich als ein Schild, streckte Cäsar dem Vater eine rote lange Zunge heraus. Die Zunge war etwas Schamloses, Nacktes, gleichsam auch der weißen Haut Beraubtes. Sie streckte sich dem Vater entgegen wie eine Wunde und wie eine Flamme. Dabei kam ein düsteres Knurren aus dem Innern Cäsars, wie ein kleines Erdbeben. Im nächsten Augenblick war er verschwunden.

Einige Male in der Woche – und sooft mich der alte Zipper zu einer Mahlzeit einlud – wiederholte sich diese Szene. Arnold kannte schon alle ihre Phasen, er interessierte sich nicht mehr für sie. Ja, es schien, daß er sie mit einer besonderen Zufriedenheit an sich vorüberziehen ließ, ich sah manchmal, wie er ein perfides Lächeln zu verbergen suchte und dennoch offenbarte, während des kurzen, wortlosen, nur von furchtbaren Bewegungen und unmenschlichen Lauten begleiteten Sturms, der zwischen dem Vater und dem Bruder wütete. Ich erinnere mich nicht, gesehen zu haben, daß Cäsar oder der alte Zipper jemals ihre Mehlspeise zu Ende gegessen hätten. Immer blieben einige häßliche Reste in ihren Tellern. Trümmer, die ein Unwetter zurückläßt.

Aber wie der Sonnenschein dem Sturm folgt, so begann der alte Zipper sofort zu scherzen, nachdem sein mißratener Sohn verschwunden war. Noch standen die Reste der unterbrochenen Mahlzeit vor ihm. Er schien sie nicht zu sehen. Schon sprach er vom Nachmittag und was wir eigentlich heute zu machen gedächten. Ob wir schon mit unsern Arbeiten fertig wären. Ob wir schon das neue Karussell gesehen hätten, das ein Italiener in der letzten Woche errichtet habe, neben den vielen, die es schon gebe. Ob wir schon wüßten, daß Andreas’ Puppentheater heute ein neues Programm habe. Ob wir schon in der Zeitung gelesen hätten, daß die Sommerferien in diesem Jahr nicht wie gewöhnlich Ende Juni, sondern schon Mitte dieses Monats beginnen würden.

Denn das waren, wie schon einmal erwähnt, die Sorgen des alten Zipper. Manchmal ging er zum Kleiderschrank, öffnete ihn langsam wie einen Altar und entnahm ihm die Geige im schwarzen Geigenkasten, der an einen Sarg erinnerte. Die Jugend und die Hoffnungen Zippers lagen in ihm begraben, neben der Geige. Denn der alte Zipper hatte einmal ein Musiker werden wollen. Er wäre es beinahe geworden. Er besaß, wie er sagte, ein »unheimliches Gehör«, und ohne Lehrer, ohne Noten, »ohne Anfangsgründe« hatte er zu spielen angefangen, eines schönen Tages, »von einem Geist gesegnet«. Er spielte in der folgenden Zeit »alles, was er hörte«. Er spielte »Menuetts und Walzer«. Er ging zu »allen neuen Operetten«, er spielte am nächsten Tag ihre Schlager – »nach dem Gehör«. Heute konnte er nur noch ein Stück spielen, nämlich: »Weißt du, Mutterl« – ein Lied, das den alten Zipper gar nicht traurig machte und mich zum Weinen rührte. Im Gegenteil: je verzückter, melancholischer und jenseitiger Zippers Gesicht wurde, desto lustiger war seine Seele. Er dehnte die Töne ins Unermeßliche, er zog sie wie Gummi, seine Geige wehklagte, jammerte, heulte, ob es nötig war oder nicht, und wo es ihm gerade gefiel, schaltete er ein Tremolo ein. Es wurde mir kalt im Rücken, Zippers Vater aber verriet seine fröhliche Laune durch die muntere Art, in der er mit dem Fuß den Takt schlug, durch die zufriedenen Pausen, die er einschaltete, wo sie nicht vorgeschrieben waren, und in denen er einen selbstgefälligen Blick um sich warf wie ein Künstler, der irgendein fernes, nur ihm selbst vernehmbares Bravoklatschen hört.

Auf jeden Fall war es die Musik, die der alte Zipper am meisten von allen Künsten, ja, von allen geistigen Erscheinungen und Formen des Lebens verehrte. Sie ersetzte ihm den Glauben an Gott, den er leugnete. Sie ersetzte ihm vielleicht die Liebe, die er nicht genoß, das Glück, das ihn floh. Kein Wunder, daß er gewünscht hatte, wenigstens aus einem seiner Söhne einen Musiker zu machen. Mit einer gewissen Hoffnung hatte er wahrgenommen, daß Cäsar unwillig und schwer lernte und eine Abneigung vor Büchern bewies, also einen »schlechten Kopf« hatte. Aha, dachte der alte Zipper, das wird ein Musiker! Cäsar Zipper war ein Name, wie geschaffen für einen Künstler. Cäsar ein Virtuose, Arnold ein Gelehrter! Aber es erwies sich, daß Cäsar auch in der Musik keine Fortschritte machte, daß er nach drei Jahren eines kostspieligen Studiums bei den besten Lehrern der Stadt noch immer die Tonleiter kratzte. »Nicht einmal einen Walzer kann er!« klagte der alte Zipper. »Wenn schon kein Künstler aus ihm wird, man kann es ja nicht von jedem verlangen, so soll er wenigstens in Gesellschaft spielen können, wenn man gerade tanzen will. Ein junger Mann muß sich angenehm und beliebt machen können!« Cäsar aber machte sich keineswegs beliebt.

Eines Tages kehrte der alte Zipper von seinem täglichen Vormittagsspaziergang um eine Stunde früher heim als gewöhnlich. Was war geschehen? Es war einer der heitersten Frühlingstage, Ostern nahte heran, man erwartete den Bruder aus Brasilien, und die ganze Wohnung Zippers befand sich in jener freudigen Erregung, die unvorhergesehene Geldausgaben, eine Wäscherin im Haus und die Erwartung eines Fremden verursachen. Die Sonne schien, und die Spatzen lärmten. Der alte Zipper aber durchmaß mit festen Schritten und den Kopf gesenkt ein Zimmer nach dem anderen. Was war geschehen?

Er hatte unterwegs den Musikprofessor Cäsars getroffen. Er hatte erfahren, daß sein »elender Sohn« seit Monaten nicht mehr »zur Lektion« erschienen war; daß er wahrscheinlich das Honorar, das man ihm jeden Monat für den Lehrer mitgab, verschwendet hatte. Als Cäsar ahnungslos heimkam, nahm ihm der Vater die Geige ab, erhob sie und zertrümmerte sie auf dem widerstandsfähigen Schädel seines Sohnes, ohne ein Wort zu sagen.

Die Reste der Geige sammelte der alte Zipper sorgfältig vom Boden auf, umschnürte sie mit einem kräftigen Bindfaden und legte sie in einen Sack.

»Bis zu meinem Tode!« schwur der alte Zipper, »werde ich diese zerbrochene Geige bewahren.« Sie lag in der feuerfesten Kasse von Eisner und Co. neben der Versicherungspolice und dem Trauungsschein.

III

Inhaltsverzeichnis

Wenn ich heute an den alten Zipper zurückdenke, so wundere ich mich darüber, daß ich damals seine große Trauer nicht bemerkt habe. Ihm selbst kam sie nie zum Bewußtsein. Er hatte etwas von einem traurigen Clown. Aber ich fand ihn lustig, wie Kinder einen Clown immer lustig finden. Der alte Zipper mit seinem dünnen, hellen, teefarbenen Schifferbart, der sein breites, rundes Gesicht einfaßte und gleichsam ein überflüssiger Luxus war, wie ein Rahmen um ein gleichgültiges Bild, der alte Zipper mit seinen braunen, gutmütigen, immer todernsten Augen, der alte Zipper mit seinem ewigen runden steifen Hut, den er aufsetzte, wenn er zum offenen Fenster ging, wenn er sich nur einen Schritt vom Haus entfernte, um eine Zeitung zu kaufen, der alte Zipper mit seinem schwarzen Stock aus »echtem Mahagoni«, dieser alte Zipper verbreitet heute, sooft ich ihn in meine Erinnerung zurückrufe, eine große Schwermut. Er macht mich traurig, jetzt, in diesen Stunden, da ich von ihm erzähle. Er hatte viel Kummer in seinem Leben und wahrscheinlich keinen Schmerz. Aber eben deshalb ist er so traurig, traurig wie ein aufgeräumtes Zimmer, traurig wie eine Sonnenuhr im Schatten, traurig wie ein ausrangierter Waggon auf einem rostigen Gleis.

Es gab dennoch einen Menschen, dem er, der Sanfte, der Harmlose, großes Leid zufügte, sicherlich ohne es zu wissen. Es gab nämlich noch Frau Zipper.

Sie paßten nicht zueinander, nein, sie paßten nicht zueinander. Aber, wie es so ist, man dachte niemals daran, daß sie zueinander nicht paßten. Es geht uns gewöhnlich so, wenn wir ältere Ehepaare betrachten. Sie stellen ein Fait accompli dar, es ist nicht mehr an ihrer Gemeinsamkeit zu zweifeln. Sie haben schon Kinder, große Kinder. Nichts mehr ist übriggeblieben von den Widerständen, die sie in der ersten Zeit ihrer Ehe gegeneinander zu Felde geführt haben wie Waffen. Beide haben ihre Schärfen abgewetzt, ihre Munition verbraucht. Sie sind zwei alte Feinde, die aus Mangel an Kampfmitteln einen Waffenstillstand schließen, der aussieht wie ein Bündnis. Und man weiß nichts mehr von ihrer alten Feindschaft.

Aber in den Augenblicken, die wir fremde Beobachter nicht kennen, gebrauchen sie noch gegeneinander die übriggebliebenen Reste der Waffen, oder sie verwenden andere Geräte, Geräte des Friedens, zum häuslichen Kampf. Sie haben noch aus der Zeit, als ihre Feindschaft jung gewesen, verschiedene Mittel des Hasses, die sich nicht abnützen: ein Lächeln, das gerade dort einsetzt, wenn es den andern schmerzt; ein Wort, das an eine längstvergangene wüste Szene erinnert und das, wieder hervorgeholt, vernarbte Wunden aufreißt; eine Art, einander anzuschauen, die beide erstarren läßt; plötzliche Bewegungen, die ihre umnebelte, eingeschlafene Feindschaft jäh erwecken, wie abgeschossene Raketen eine dunkle Situation im Krieg erhellen und seine ganze Schrecklichkeit.

So war es mit dem Ehepaar Zipper. Das Angesicht der Frau Zipper wird mir immer in Erinnerung bleiben. Es lag hinter einem feuchten Schleier. Es war, als lägen ihre Tränen, immer bereit, vergossen zu werden, schon über ihrem Augapfel. Sie trug lange blaue Schürzen, die sie einer Krankenschwester zweiter Klasse ähnlich machten. Auf sanften Pantoffeln ging sie durchs Leben. Niemals sprach sie mit lauter Stimme. Oft seufzte sie und schneuzte sich. Wenn sie ihr Taschentuch vors Gesicht führte, sah man ihre Hände, trockene harte Hände, an denen die Finger unverhältnismäßig stark waren, wie künstlich angesetzt an eine viel zu schwache Hand. Zog sie manchmal, an Festtagen, ihr schwarzes Flitterkleid an, so sah sie noch gelber aus als gewöhnlich, sie hatte etwas Erfrorenes, als hätte man sie aus einem Eiskasten genommen. Steif – nicht vor Stolz, sondern vor Ergebenheit, Ohnmacht, Unglück und Trauer –, steif saß sie in einem Sessel. Ihr schütteres farbloses Haar hatte sie in die weite hohe Stirn hineingekämmt, es war eine Art erzwungener Verschönerung, eine Maßnahme gegen den Willen der Frau Zipper, als hätte man sie frisiert, während sie in einer tiefen Ohnmacht lag, und als hätte sie nicht einen Moment lang in den Spiegel gesehen. Nur der Mund der Frau Zipper, der heute eingefallen war und verbissen aussah, verriet, wenn sie ihn zu einem seltenen Lächeln öffnete, einen längst erstorbenen Reiz, eine verschwundene, schöne, runde Fülle, und im Kinn erschien noch für den Bruchteil einer Sekunde ein sanftes Grübchen – nein! kein Grübchen mehr! – sondern eine Erinnerung an ein Grübchen. Ihr Lächeln, ihr seltenes Lächeln, war wie eine sanfte, verstohlene Totenfeier für ihre Jugend. In ihren blassen feuchten Augen entzündete sich ein schwaches fernes Licht, das schnell wieder erlosch, wie das Blinkfeuer eines sehr weiten Leuchtturmes.

Niemals lächelte sie in Anwesenheit ihres Mannes. Niemals beteiligte sie sich an seinen kleinen Späßen, niemals ging sie auf ein Gespräch ein, das er manchmal anzuknüpfen versuchte. Auf seine Fragen antwortete sie mit ja oder nein. Wie mußte sie ihn hassen, verachten vielleicht! Er mochte ihren Haß hinter ihrer Stille fühlen, wie man glattes, scharfes Eis unter der Schneedecke spürt. Sie reizte ihn. Weil er nicht klug war, begann er, sie zu verspotten. Sooft Cäsar nach einem Sturm verschwunden war, trat sie mit einem Seufzer aus der Küche. Dann geschah es, daß der alte Zipper mit einer frohlockenden Stimme sagte: »Hat dir dein lieber Sohn gesagt, wohin er sich begeben hat?« Zwar hatten die Zippers ein Dienstmädchen, aber der Alte wollte keine »fremden Gesichter beim Essen sehn«. Deshalb mußte die Frau Zipper selbst die Speisen von der Küchentür zum Tisch bringen. Wenn sie die Suppenterrine in die Mitte des Tisches stellte, sagte Zipper: »Etwas näher, Madame, bitte, spielen wir doch nicht Versailles!« Manchmal sagte er: »Die Serviette ist schon mindestens zwei Wochen alt! Ein anderer muß sie benützt haben! Hier sind Spuren von Eiern, und ich esse keine Eier. Seit Jahren keine Eier!«

An den Tagen, an denen ich eingeladen war, schien ihm ganz besonders an einer Konversation gelegen zu sein. Er versuchte um jeden Preis, das Schweigen seiner Frau zu brechen. Ja, er zwang sich sogar, ihr eine Freundlichkeit zu sagen. An ihr aber glitt selbst seine Güte ab, wie ein Tropfen Öl an vereistem Glas. Wenn Cäsar oder Arnold einen Fettfleck auf ihre Kleider machten, unachtsam waren, ein Glas Wasser verschütteten, so sagte der alte Zipper zu seiner Frau: »Sieh her, wie sich deine Kinder schon wieder benehmen.« Seit einem Jahrzehnt trank er nach jedem Essen einen Tee. Es mußte ein ganz besonderer Tee sein, das Glas nicht zu voll, damit Zipper es am oberen Rand fassen konnte, ohne sich die Finger zu verbrühen. War aber der Rand zu breit gelassen, so sagte er witzig: »Was kostet ein ganzes Glas, Madame?« War der Tee zu hell, so schickte er ihn zurück, damit er länger aufgebrüht werde. War er zu dunkel, so verlangte er warmes Wasser. Er bekam es in einer metallenen Kanne, deren Henkel so heiß war, daß er ihn mit einem Taschentuch anfassen mußte; und obwohl er wußte, jedenfalls aus Erfahrung wissen mußte, daß der Henkel nicht zu fassen war, griff er doch immer mit nackten Fingern nach ihm, fuhr erschrocken zurück, schüttelte die Hand in der Luft wie einen weißen Vogel und durchbohrte seine Frau dabei mit jenem Blick, mit dem man einen bedenkt, der uns auf ein Hühnerauge getreten ist. Niemals vergaß der alte Zipper, sich über den Tee, seine Zubereitung, die verschiedenen Arten, seine Heilkraft, seine Schädlichkeit zu verbreiten. Mindestens sechzehnmal habe ich selbst aus seinem Munde gehört, wie er sich einmal einen Teerausch angetrunken hatte. »Es war allerdings«, schloß Zipper seine Erzählung, »kein Tee wie dieser hier!« Und dabei sah er seine Frau an.

Wenn ich mir heute das Bild der Frau Zipper zurückrufe, sehe ich, daß sie in einem Nebel gelebt hat, in einer Art von grauem trübem Heiligenschein, wie er für Märtyrer paßt, die für lächerliche Zwecke und aus lächerlichen Gründen Schmerz und Pein erdulden. Ich weiß nicht, ob sie ihre Kinder geliebt

hat. Vielleicht waren sie ihr gleichgültig oder verhaßt, wie der Vater. Sie schien mir mehr für den Schmerz dazusein als für die Liebe. Was die Kinder betrifft, so kam Arnold erst spät dazu, seine Mutter zu lieben. Vorläufig hielt er sich mehr an den Vater, der ihm ja mehr Spaß bereitete. Die Erziehung hatte der alte Zipper allein übernommen, obwohl er seine Söhne häufig ihre Kinder nannte. Es waren Söhne, und er hatte beschlossen, aus ihnen »Menschen zu machen«.

Er begann mit der »Erziehung zur Männlichkeit«. Die spartanischen Methoden imponierten ihm, aber Athen nicht weniger. Von Sparta und Athen wußte er nur, was er, ein Autodidakt, unter der Hand an Wissen errafft hatte. Er kannte überhaupt die Geschichte aus Anekdoten, die Welt aus dem Photoplastikon, das Leben aus dem Briefkasten der Zeitung. Was er nicht wußte, erfuhr er aus dem Lexikon oder am Mittwoch von der Redaktion. Viele Fragen beschäftigten ihn im Laufe eines Tages. Ihn interessierte die Entfernung der Erde vom Mond, vom Mond zur Sonne, von der Sonne zum Mars. Ihn interessierten die Milchstraße, der Brand von Moskau, der Krieg in der Krim, die letzte Choleraepidemie in Wien, ein System, Geld in Monte Carlo zu gewinnen, die Schädlichkeit der Fliegen, die Wirkung eines Sonnenbrands, die Höhe des Gaurisankars, der erste Aeroplan, das Privatleben des Grafen Zeppelin, die erste Aufführung der »Räuber«, die letzten Indianer in Bolivien. Er hatte den ewig ungestillten Wissensdurst des einfachen Mannes, der sich hinaufgearbeitet hat und der an dem Irrtum leidet, Wissen sei Bildung, Bildung mache stark und Stärke erfolgreich. Er schwor auf Hygiene. Er selbst tauchte seine Kinder jeden Tag in kaltes Wasser. Als sie drei Jahre alt waren, kaufte er ihnen kleine Fahrräder. Cäsar hatte sich schon mit acht Jahren selbständig gemacht. Arnold aber bekam immer neue, immer größere Fahrräder. Er bekam Roller, Schlittschuhe, Schlitten und Skis, Tennisrackets und Säbel zum Fechten. Als Fünfjähriger lernte Arnold tanzen. Er lernte Nationaltänze. Er tanzte Mazurka, Krakowiak, Kasatschok, Csárdás, er lernte mit Kastagnetten klappern. Der alte Zipper ließ bei einer Wohltätigkeitsvorstellung Arnold als Tänzer auftreten. Der Alte saß in der ersten Reihe. Für den halben Saal hatte er Freikarten verteilt. Weite Verwandte, gleichgültige Bekannte schleppte er herbei. Dann ließ er Arnold auf der Bühne photographieren. Er selbst kam heraus und verneigte sich, nachdem er fünf Minuten vorher geklatscht hatte.