Ein Kapitel Revolution

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Der Zug brauchte mehr als achtzehn Stunden, um die kurze Strecke zwischen Kursk und Woronesch zurückzulegen. Es war ein kalter und klarer Wintertag. Ein paar karge Stunden schien die Sonne so kräftig von einem dunkelblauen, fast südlichen Himmel, daß die Männer an jeder der häufigen Haltestellen aus den kalten und finstern Waggons hinaussprangen, die Röcke ablegten wie bei einer schweren Arbeit im heißen Sommer, sich mit dem knirschenden Schnee wuschen und von der Luft und der Sonne trocknen ließen. Im Verlauf dieses kleinen Tages hatten sie alle gebräunte Gesichter bekommen wie die Leute im Winter auf den sportlichen Höhen der Schweiz. Aber die Dämmerung kam plötzlich, und ein scharfer, kristallener, gleichmäßiger, singender Wind verschärfte die finstere Kälte der langen Nacht und schien den Frost unaufhörlich zu schleifen, damit er noch schneidender und spitzer werde. Den Fenstern der Waggons fehlten die Scheiben. An ihrer Stelle hatte man Bretter angebracht, Zeitungspapiere und Stoffetzen. Hier und dort flackerte verloren ein kleines Kerzenstümpchen, festgeklebt auf irgendeinem zufälligen metallenen Vorsprung an einer Wand oder an einer Tür, dessen Zweck niemand mehr hätte erklären können und der, so armselig er auch aussah, nur dank seiner Zwecklosigkeit an den längstverschwundenen Luxus der Züge und des Reisens erinnerte. Es waren Wagen erster und dritter Klasse, wie es sich gerade traf, zusammengekoppelt worden, aber alle Passagiere froren. Jedesmal stand ein anderer auf, streifte die Stiefel ab, hauchte hinein, rieb mit den Händen die Füße und zog wieder sorgfältig die Stiefel an, als würde er im Laufe dieser Nacht es nie mehr nötig haben, sie auszuziehen. Andere hielten es für besser, sich alle paar Minuten auf die Zehenspitzen zu stellen und hüpfende Bewegungen zu machen. Einer beneidete den andern, jeder glaubte, der Nachbar hätte es besser, und man hörte im ganzen Zug nur Gespräche über die vermutliche Güte und Wärme dieses Mantels und jener Mütze. Unter den Ärmeln eines Soldaten hatte ein Kamerad graue und rotgestreifte Pulswärmer entdeckt, deren Herkunft sich der Besitzer selbst nicht erklären konnte. Er schwor, daß sie gar nichts nützten. Einer, ein Mann in den Vierzigern, mit einem wild gewachsenen roten Bart, der an einen Henker, einen Waldgeist und einen Schmied zugleich erinnerte, aber noch vor zwei Jahren einen friedlichen Handel mit Nahrungsmitteln betrieben hatte, wollte unbedingt die Pulswärmer sehen. Seit der Revolution, in der er alles verloren hatte, war er von einer Armee zur andern gewandert, bis er endgültig bei den Roten blieb. Er spielte die Rolle eines vielerfahrenen Mannes und eines Propheten, der alles voraussehen konnte. Manches erriet er. Bei aller Harmlosigkeit des Herzens konnte er kaum eine Stunde leben, ohne einen Streit anzufangen. Er sah aus, als langweilte ihn seine so abwechslungsreiche Existenz. Der Besitzer der Pulswärmer war ein schüchterner Bauernjunge aus der Gegend von Tambow, der sie aus Scham nicht hergeben wollte. Er mußte sie sich schließlich von seinem Nachbarn abstreifen lassen, der ein Matrose war, ein Taschenspieler, ein Koch und ein Schneider mit dem Gesicht eines Provinzschauspielers. Der Matrose kannte derlei Gegenstände und erklärte, die Engländer hätten die Pulswärmer erfunden und das ganze menschliche Leben steckte eigentlich in den Pulsen. Daher brauchte man nur sie zu schützen, um sich einen Pelz zu ersparen. Einer nach dem andern zog die wollenen Stückchen an und erklärte, sie heizten wirklich wie Öfen. Der Matrose glaubte zu wissen, das Mädchen, das diese Pulswärmer dem Jungen aus der Tambower Gegend geschenkt hätte, wärme noch besser, und alle fragten, ob es wahr sei.

Die Männer, die sich eben über die Wärme unterhielten, kamen von der sibirischen Front, wo sie die tschechischen Legionäre zurückgeschlagen und wo sie gehofft hatten, längere Zeit zu bleiben und sich von einem Sieg, der in ihren Augen ein entscheidender war, in Wirklichkeit aber nur einen provisorischen Erfolg bedeutete, ein paar Wochen zu erholen. Statt dessen mußten sie in die Ukraine, wo ihnen die Kälte grausamer erschien als in Sibirien, obwohl ihnen ihr Kommandant, der Genosse Berzejew, jeden Tag mit einem Thermometer in der Hand bewies, daß sie mehr als fünfundzwanzig Minusgrade nicht erreichte. Der Rotbärtige sagte, es gäbe nichts, das weniger sicher wäre, als Quecksilber. Er selbst hätte einmal Fieber gehabt und vom Doktor ein Thermometer in den Mund gesteckt bekommen. Als er es herauszog, zeigte es nicht mehr als sechsunddreißig Grad, also ebensoviel wie z. B. ein Fisch. Indessen hätte der Doktor gesagt, der Puls wäre zu schnell für so wenig Wärmegrade, und so sei es auch schließlich mit dem Frost. Warum hätte man auch zwei oder gar drei Arten von Wärme-und Kältegraden? Weil sich eben selbst die Männer der Wissenschaft nicht einig wären, ob Celsius oder Reaumur.

In der Tat froren die Truppen mehr, weil sie langsamer vordrangen, wieder zurückweichen mußten und weil sie es im Süden mit besser organisierten und zahlreicheren feindlichen Kräften zu tun hatten. Auch waren sie immer noch erschöpft von der langen Fahrt, nach der sie sofort wieder in den Kampf geraten waren. Der kleine Bewegungskrieg war ihnen so selbstverständlich geworden, wie es einmal der große Weltkrieg gewesen war, und ebenso, wie sie geduldig monatelang vor der Festung Przemysl und in den Karpaten gelegen waren, wurden ihnen jetzt die kurzen Eilmärsche, die schleppenden Eisenbahnfahrten natürlich, das hastige Ausgraben des Bodens, der Sturmangriff auf ein Dorf und der Kampf um einen Bahnhof, das Handgemenge in der Kirche und das plötzliche Schießen in den Gassen, gedrückt in den Schatten der Häuser. Sie wußten, was morgen kommen sollte, sobald sie die Eisenbahn verließen, aber sie dachten nicht an den Kampf, sondern an Thermometer und Pulswärmer, an allgemeine Dinge und Alltäglichkeiten, an die Politik und an die Revolution. Ja, an die Revolution, von der sie so sprachen, als hätten sie selbst nur wenig mit ihr zu tun und als verliefe sie irgendwo, außerhalb ihrer Reihen, und als wären sie nicht eben im Begriff, Blut für sie zu vergießen. Nur manchmal, wenn zu ihnen eines der Flugblätter und eine der schnellen Zeitungen kamen, wurden sie sich bewußt, daß sie eben selbst die Revolution waren. Es gab in diesem Eisenbahnzug nur einen, der keinen Augenblick vergaß, wozu und in wessen Namen er kämpfte und der es den Soldaten immer wieder sagte: es war Friedrich.

Nach drei langen Monaten, die ihm wie Jahre erschienen waren, kam er in Kursk wieder mit Berzejew zusammen. »Sooft ich dich wiedersehe«, sagte Berzejew, »erscheinst du mir verändert. Das war schon damals so, als wir uns auf der Flucht immer wieder trennen mußten, man könnte sagen, du veränderst dein Gesicht noch schneller als deinen Namen.«

Seit seiner Rückkehr nach Rußland trug Friedrich jenes Pseudonym, unter dem er Artikel in den Zeitungen veröffentlicht hatte. Er gestand es nicht einmal Berzejew, daß er im stillen seinen neuen Namen liebte wie eine Art von Rang, den man sich selbst verleiht. Er liebte ihn als den Ausdruck seiner neuen geliebten Existenz. Er liebte die Kleidung, die er jetzt trug, die Wendungen, die in seinem Gehirn und auf seiner Zunge lagen und die er unermüdlich hersagte und niederschrieb, denn er fand eine Wollust gerade in der Wiederholung. Hundertmal schon hatte er vor den Soldaten dasselbe gesagt, hundertmal schon hatte er in Flugblättern das gleiche geschrieben, und jedesmal erfuhr er, daß es bestimmte Worte gab, die sich niemals abnutzten. Sie glichen den Glocken, die immer den alten Klang erzeugten, aber auch immer einen neuen Schauder, weil sie so hoch und unerreichbar über den Köpfen der Menschen hängen. Es gab Laute, die nicht von menschlichen Zungen geformt, sondern mitten unter die Tausende Worte der irdischen Sprache von unbekannten Winden getragen, verweht worden waren, aus überweltlichen Sphären. Es gab das Wort: »Freiheit«. Ein Wort, so unermeßlich wie der Himmel, so unerreichbar einer menschlichen Hand wie ein Gestirn. Dennoch geschaffen von der Sehnsucht der Menschen, die immer wieder nach ihm griff, und getränkt von dem roten Blut Millionen Toter. Wie viele Male hatte er schon die Phrase: wir wollen eine neue Welt, wiederholt, und immer war die Wendung ebenso neu, wie das, was sie ausdrückte. Und immer wieder fiel sie wie ein plötzliches Licht über ein fernes Land. Es gab das Wort: »Volk«. Sprach er es vor den Soldaten aus, die er für Volk hielt, so war es ihm, als hielte er einem Licht einen Spiegel entgegen, der es verstärkte. Wie hatte er sich damals, als er noch kluge Vorträge vor den jungen Arbeitern hielt, um neue und deutlichere Worte bemüht, und wie wenig gab es eigentlich zu sagen. Wieviel nutzlose Worte zählte die Sprache, solange die wenigen einfachen noch nicht ihr Recht, ihr Maß und ihre Wirklichkeit hatten. Brot war nicht Brot, solange es nicht alle aßen und solange sein Klang von dem des Hungers begleitet wurde wie ein Körper vom Schatten. Man kam mit wenigen Gedanken, ein paar Worten und einer Leidenschaft aus, die keinen Namen hatte. Sie war Haß und Liebe zugleich. Er glaubte sie in seiner Hand zu halten, wie ein Licht, mit dem man leuchtet und mit dem man anzündet. Vertraut war ihm der Mord geworden, wie Trinken und Essen. Es gab keine andere Art des Hassens. Vernichten, Vernichten! Was die Augen tot sahen, das allein war verschwunden. Erst die Leiche des Feindes war nicht mehr Feind. In verbrannten Kirchen konnte man nicht mehr beten. Es schien, daß alle seine Kräfte sich in dieser einen Leidenschaft versammelt hatten wie Regimenter auf dem Schlachtfeld. In ihr war der Ehrgeiz seiner Jugendtage, der Haß gegen den Onkel seiner Mutter und die Vorgesetzten im Büro, der Neid gegen die Kinder der reichen Häuser, die Sehnsucht nach der »Welt«, die törichte Erwartung der Frau, die wunderbare Seligkeit, mit der man in ihr versank, die Bitterkeit seiner einsamen Stunden, seine angeborene Tücke, sein geübter Verstand, die Schärfe seines Auges und selbst noch seine Feigheit und seine Neigung zu Furcht. Ja, auch mit Hilfe der Angst gewann er Schlachten, und mit jener blitzschnellen Klugheit, von der man nur in Sekunden der Lebensgefahr begnadet ist, begriff er die fremden Gesetze der militärischen Strategie. Er übersetzte ins Taktisch-Militärische, was ihm seine angeborene Tücke seit seiner frühesten Jugend diktiert hatte. Er wurde ein Meister in der Kunst, den Feind zu belauschen. In verschiedenen Verkleidungen ging er in die Dörfer und Städte des Gegners, dem mutwilligen Spiel seiner Phantasie, den romantischen Neigungen seiner Natur, den gefährlichen Ausflügen, die ihm seine private Neugier diktierte, waren keine Grenzen gesetzt. Weder konnte ihn in der Verwirrung dieses Bürgerkriegs ein vorgesetztes Kommando überwachen, noch war der Feind stark genug organisiert, um eine nüchterne Unternehmung nach den nüchternen Regeln des modernen Kriegs anzufangen. Man überschätzt die Gefahr, wenn man sie nicht kennt, dachte Friedrich. In Wirklichkeit ist sie ein Zustand, an den man sich gewöhnt wie an ein bürgerliches Leben mit geregelten Mittagsstunden. Man kann geradezu von einem Spießertum der Gefahr sprechen. Die alte Frage: haben Sie es nötig gehabt? hörte er lächelnd in seinen Ohren klingen und lächelnd antwortete er: ja. Er hatte es nötig gehabt! Man kommt nicht wehrlos, heimatlos und geächtet auf eine feindliche Welt und läßt ihr ihren Lauf. Man hat seinen Verstand nicht, um ihn in den Dienst der Dummheit zu stellen, und die Augen nicht, um Blinde zu führen. »Ich hätte Minister werden können«, sagte er, – trotz allem, nicht ohne einen kleinen Stolz. »Wir ziehen es vor, die Minister aufzuhängen.«

»Ich hätte dich für klüger gehalten«, antwortete Berzejew. »Du warst so gescheit unentschlossen, so angenehm richtungslos, so privat ohne öffentliche Leidenschaft – –«

Friedrich fiel ihm ins Wort: »Es ist nicht meine Welt, in die ich zufällig durch die Geburt gefallen bin, ich hatte nichts in ihr zu tun. Ich habe jetzt etwas zu tun. Ich lebte immer in dem Gefühl, meine Zeit versäumt zu haben, ich wußte nicht, daß ich sie noch erleben würde.«

Er führte seinen eigenen Krieg, er hatte persönlich mit der Welt abzurechnen. Er hatte seine eigene Taktik, Berzejew nannte sie eine antimilitärische. »Es ist eine unbürgerliche«, erwiderte Friedrich. »Die des bürgerlichen Generals ist eine wortlose, also eine geistlose. Der bürgerliche Kommandant kämpft mit Hilfe des Befehls. Wir kämpfen mit Hilfe der Rede.« Und er versammelte noch einmal seine Kameraden, und er sagte noch einmal die alten, neuen Worte: »Freiheit« und »neue Welt«.

»Eure Offiziere im großen Krieg haben euch ›stillgestanden‹ kommandiert, wir, eure Genossen-Kommandanten rufen euch das Gegenteil zu: vorwärts! Eure Offiziere haben euch befohlen, das Maul zu halten, wir fordern euch auf, ›es lebe die Revolution!‹ zu rufen. Eure Offiziere haben euch befohlen zu gehorchen, wir bitten euch zu verstehen. Dort hat man euch gesagt, sterbt für den Zaren, und wir sagen euch: lebt, aber wenn ihr sterben sollt; dann für euch selbst.«

Ein Jubel erhob sich. »Es lebe die Revolution«, schrien die Leute. Schüchtern flüsterte Berzejew:

»Du bist ein Demagoge.«

»Ich glaube an jedes Wort, was ich sage«, erwiderte Friedrich.

Sobald sie in einen eroberten Ort einrückten, ließ er die verhafteten Bürger vorführen, die Gesichter vor ihm in einer Reihe. Ein stiller Wahn beherrschte ihn. Er fand Ähnlichkeiten zwischen den Fremden und den Gesichtern bekannter Bürger. Er haßte die ganze Klasse, wie man eine bestimmte Art von Tieren haßt. Der eine sah aus wie der Schriftsteller, den er bei Hilde getroffen hatte, der andere wie der Dr. Süßkind, der dritte wie der sozialdemokratische Parteiführer, den er während des Krieges in M. in Deutschland aufgesucht hatte. Er ließ sie alle wieder gehen. Einmal geriet ihm ein harmloser Bankdirektor in die Hände, dessen Gesicht ihm vertraut vorkam. »Wie heißt du?« fragte er. »Kargan«, flüsterte der Mann. »Bist du ein Bruder Kargans aus Triest?« – »Ein Vetter.« – »Wenn du ihm schreibst«, sagte Friedrich, »grüße ihn von mir.« Der Mann fürchtete eine Falle. »Ich schreibe ihm nie«, sagte er. »Wie groß ist dein Vermögen?« fragte Friedrich. »Alles verloren«, stammelte der Mann. »Ich hatte ein blühendes Geschäft«, erzählte er weiter. »Fünfzig Angestellte in der Bank und eine kleine Fabrik, Hülsenerzeugung.« – »Das Bild eines Herrschers«, sagte Friedrich zu Berzejew, »in feudalen Zeiten war ein Herr über fünfzig Angestellte ein Herr. Der da ist eine Schnecke, der Vetter des Onkels meiner Mutter.« Er sah zu, wie die großen Tränen über das Gesicht des Direktors rannen.

Einmal begegnete er auf der Straße einem Mann, der noch ein paar Überreste einer alten Eleganz behalten hatte. »Laß ihn laufen, komm«, sagte Berzejew. »Ich kann nicht«, meinte Friedrich. »Ich muß mich erinnern, wem er ähnlich sieht.« Der Mann fing an zu rennen. Sie verfolgten ihn, hielten ihn fest. Friedrich sah ihn genau an. »Ich weiß schon«, rief er und ließ den Fremden los. »Er sieht dem Operettenkomponist L. ähnlich. Erinnerst du dich an die Photographie in den illustrierten Blättern? Er hat einen Walzercourage im Gesicht.« Und zufrieden begann er zu singen: »Es gibt Dinge, die muß man vergessen, sie sind zu schön, um wirklich zu sein.«

Er wußte allerdings nicht, daß er allmählich selbst anfing, ein Objekt illustrierter und nicht illustrierter Zeitungen der bürgerlichen Welt zu werden, deren größter Teil noch lange nicht vernichtet war. Er wußte nicht, daß die Berichterstatter von zehn großen Blättern seinen Namen hinaustelegraphierten, sooft sie nichts anderes mitzuteilen wußten, und daß sich die gewaltige Maschinerie der öffentlichen Meinung seiner bemächtigte, jener Mechanismus, der die Sensationen erzeugt, das Rohmaterial der Weltgeschichte. Er las keine Zeitungen. Er wußte nicht, daß er jeden dritten Tag in der Reihe der Männer figurierte, die unter dem Titel »Die blutigen Henker« eine ständige Rubrik in der Presse bildeten, neben der Rubrik über Boxer, Operettenkomponisten, Dauerläufer, Wunderkinder und Aviatiker. Er unterschätzte – wie alle einsichtigeren seiner Genossen auch – die geheimnisvolle Technik der defensiven Methode der Gesellschaft, die darin bestand, das Außergewöhnliche durch Übertreibung wie durch Detaillierung gewöhnlich zu machen und durch tausend wohlinformierte Quellen bestätigen zu lassen, daß die Rätsel der Zeitgeschichte aus authentischen Vorgängen bestehen. Er wußte nicht, daß diese Welt zu alt geworden war für Geräusche und daß die Technik sich der legendären Stoffe bemächtigen konnte, um ewige Wahrheiten in aktuelle zu verwandeln. Er vergaß, daß die Grammophone da waren, um die Donner der Geschichte wiederzugeben, und der Film, um die Blutbäder wie die Pferderennen aufzunehmen.

Er war naiv – – – denn er war ein Revolutionär.

Der Leviathan

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1

In dem kleinen Städtchen Progrody lebte einst ein Korallenhändler, der wegen seiner Redlichkeit und wegen seiner guten, zuverlässigen Ware weit und breit in der Umgebung bekannt war. Aus den fernen Dörfern kamen die Bäuerinnen zu ihm, wenn sie zu besonderen Anlässen einen Schmuck brauchten. Leicht hätten sie in ihrer Nähe schon noch andere Korallenhändler gefunden, aber sie wußten, daß sie dort nur alltäglichen Tand und billigen Flitter bekommen konnten. Deshalb legten sie in ihren kleinen ratternden Wägelchen manchmal viele Werst zurück, um nach Progrody zu gelangen, zu dem berühmten Korallenhändler Nissen Piczenik.

Gewöhnlich kamen sie an jenen Tagen, an denen der Jahrmarkt stattfand. Am Montag war Pferdemarkt, am Donnerstag Schweinemarkt. Die Männer betrachteten und prüften die Tiere, die Frauen gingen in unregelmäßigen Gruppen, barfuß und die Stiefel über die Schultern gehängt, mit den bunten, auch an trüben Tagen leuchtenden Kopftüchern in das Haus Nissen Piczeniks. Die harten nackten Sohlen trommelten gedämpft und fröhlich auf den hohlen Brettern des hölzernen Bürgersteigs und in dem weiten kühlen Flur des alten Hauses, in dem der Händler wohnte. Aus dem gewölbten Flur gelangte man in einen stillen Hof, wo zwischen den unregelmäßigen Pflastersteinen sanftes Moos wucherte und in der warmen Jahreszeit einzelne Gräslein sprossen. Hier kamen den Bäuerinnen schon die Hühner Piczeniks freundlich entgegen, voran die Hähne mit den stolzen Kämmen, die so rot waren wie die rötesten Korallen.

Man mußte dreimal an die eiserne Tür klopfen, an der ein eiserner Klöppel hing. Dann öffnete Piczenik eine kleine Luke, die in die Tür eingeschnitten war, sah die Leute, die Einlaß heischten, schob den Riegel zurück und ließ die Bäuerinnen eintreten. Bettlern, wandernden Sängern, Zigeunern und den Männern mit den tanzenden Bären pflegte er durch die Luke ein Almosen zu reichen. Er mußte recht vorsichtig sein, denn auf allen Tischen in seiner geräumigen Küche wie im Wohnzimmer lagen die edlen Korallen in großen, kleinen, mittleren Haufen, verschiedene Völker und Rassen von Korallen durcheinandergemischt oder auch bereits nach ihrer Eigenart und Farbe geordnet. Man hatte nicht zehn Augen im Kopf, um jeden Bettler zu beobachten, und Piczenik wußte, daß die Armut die unwiderstehliche Verführerin zur Sünde ist. Zwar stahlen manchmal auch wohlhabende Bäuerinnen; denn die Frauen erliegen leicht der Lust, sich den Schmuck, den sie bequem kaufen könnten, heimlich und unter Gefahr anzueignen. Aber bei den Kunden drückte der Händler eines seiner wachsamen Augen zu und ein paar Diebstähle kalkulierte er auch in die Preise ein, die er für seine Ware forderte.

Er beschäftigte nicht weniger als zehn Fädlerinnen, hübsche junge Mädchen, mit guten, sicheren Augen und feinen Händen. Die Mädchen saßen in zwei Reihen an einem langen Tisch und angelten mit zarten Nadeln nach den Korallen. Also entstanden die schönen regelmäßigen Schnüre, an deren Enden die kleinsten Korallen, in deren Mitte die größten und leuchtendsten steckten. Bei dieser Arbeit sangen die Mädchen im Chor. Und im Sommer, an heißen, blauen und sonnigen Tagen, war im Hof der lange Tisch aufgestellt, an dem die fädelnden Frauen saßen, und ihren sommerlichen Gesang hörte man im ganzen Städtchen, und er übertönte die schmetternden Lerchen unter dem Himmel und die zirpenden Grillen in den Gärten.

Es gibt viel mehr Arten von Korallen, als die gewöhnlichen Leute wissen, die sie nur aus den Schaufenstern oder Läden kennen. Es gibt geschliffene und ungeschliffene vor allem; ferner flach an den Rändern geschnittene und kugelrunde; dornen-und stäbchenartige, die wie Stacheldraht aussehn; gelblich leuchtende, fast weißrote Korallen von der Farbe, wie sie manchmal die oberen Ränder der Teerosenblätter zeigen, gelblich-rosa, rosa, ziegelrote, rübenrote, zinnoberfarbene und schließlich die Korallen, die aussehen wie feste runde Blutstropfen. Es gibt ganz-und halbrunde; Korallen, die wie kleine Fäßchen, andere, die wie Zylinderchen aussehen; es gibt gerade, schiefgewachsene und sogar bucklige Korallen. Es gibt Sterne, Stacheln, Zinken, Blüten. Denn die Korallen sind die edelsten Pflanzen der ozeanischen Unterwelt, Rosen für die launischen Göttinnen der Meere, so reich an Formen und Farben, wie die Launen dieser Göttinnen selbst.

Wie man sieht, hielt Nissen Piczenik keinen offenen Laden. Er betrieb das Geschäft in seiner Wohnung, das heißt: er lebte mit den Korallen, Tag und Nacht, Sommer und Winter, und da in seiner Stube wie in seiner Küche die Fenster in den Hof gingen und obendrein von dichten eisernen Gittern geschützt waren, herrschte in dieser Wohnung eine schöne geheimnisvolle Dämmerung, die an Meeresgrund erinnerte, und es war, als wüchsen dort die Korallen, und nicht, als würden sie gehandelt. Ja, dank einer besonderen, geradezu geflissentlichen Laune der Natur war Nissen Piczenik, der Korallenhändler, ein rothaariger Jude, dessen kupferfarbenes Ziegenbärtchen an eine Art rötlichen Tangs erinnerte und dem ganzen Mann eine frappante Ähnlichkeit mit einem Meergott verlieh. Es war, als schüfe oder pflanzte und pflückte er selbst die Korallen, mit denen er handelte. Und so stark war die Beziehung seiner Ware zu seinem Aussehen, daß man ihn nicht nach seinem Namen im Städtchen Progrody nannte, mit der Zeit diesen sogar vergaß und ihn lediglich nach seinem Beruf bezeichnete. Man sagte zum Beispiel: Hier kommt der Korallenhändler – als gäbe es in der ganzen Welt außer ihm keinen anderen.

Nissen Piczenik hatte in der Tat eine familiäre Zärtlichkeit für Korallen. Von den Naturwissenschaften weit entfernt, ohne lesen und schreiben zu können – denn er hatte niemals eine Schule besucht, und er konnte nur unbeholfen seinen Namen zeichnen –, lebte er in der Überzeugung, daß die Korallen nicht etwa Pflanzen seien, sondern lebendige Tiere, eine Art winziger, roter Seetiere – – – und kein Professor der Meereskunde hätte ihn eines Besseren belehren können. Ja, für Nissen Piczenik lebten die Korallen noch, nachdem sie gesägt, zerschnitten, geschliffen, sortiert und gefädelt worden waren. Und er hatte vielleicht recht. Denn er sah mit eigenen Augen, wie seine rötlichen Korallenschnüre an den Busen kranker oder kränklicher Frauen allmählich zu verblassen begannen, an den Busen gesunder Frauen aber ihren Glanz behielten. Im Verlauf seiner langen Korallenhändler-Praxis hatte er oft bemerkt, wie Korallen, die blaß – trotz ihrer Röte – und immer blasser in seinen Schränken gelegen waren, plötzlich zu leuchten begannen, wenn sie um den Hals einer schönen jungen und gesunden Bäuerin gehängt wurden, als nährten sie sich von dem Blut der Frauen. Manchmal brachte man dem Händler Korallenschnüre zum Rückkauf, er erkannte sie, die Kleinodien, die er einst selbst gefädelt und behütet hatte – und er erkannte sofort, ob sie von gesunden oder kränklichen Frauen getragen worden waren.

Er hatte eine eigene, ganz besondere Theorie von den Korallen. Seiner Meinung nach waren sie, wie gesagt, Tiere des Meeres, die gewissermaßen nur aus kluger Bescheidenheit Bäume und Pflanzen spielten, um nicht von den Haifischen angegriffen oder gefressen zu werden. Es war die Sehnsucht der Korallen, von den Tauchern gepflückt und an die Oberfläche der Erde gebracht, geschnitten, geschliffen und aufgefädelt zu werden, um endlich ihrem eigentlichen Daseinszweck zu dienen: nämlich, der Schmuck schöner Bäuerinnen zu werden. Hier erst, an den weißen festen Hälsen der Weiber, in innigster Nachbarschaft mit der lebendigen Schlagader, der Schwester der weiblichen Herzen, lebten sie auf, gewannen sie Glanz und Schönheit und übten die ihnen angeborene Zauberkraft aus, Männer anzuziehen und deren Liebeslust zu wecken. Zwar hatte der alte Gott Jehovah alles selbst geschaffen, die Erde und ihr Getier, die Meere und alle ihre Geschöpfe. Dem Leviathan aber, der sich auf dem Urgrund aller Wasser ringelte, hatte Gott selbst für eine Zeitlang, bis zur Ankunft des Messias nämlich, die Verwaltung über die Tiere und Gewächse des Ozeans, insbesondere über die Korallen, anvertraut.

Nach all dem, was hier erzählt ist, könnte man glauben, daß der Händler Nissen Piczenik als eine Art Sonderling bekannt war. Dies war keineswegs der Fall. Piczenik lebte in dem Städtchen Progrody als ein unauffälliger, bescheidener Mensch, dessen Erzählungen von den Korallen und dem Leviathan ganz ernst genommen wurden, als Mitteilungen eines Mannes vom Fach nämlich, der sein Gewerbe ja kennen mußte, wie der Tuchhändler Manchesterstoffe von deutschem Perkal unterschied und der Teehändler den russischen Tee der berühmten Firma Popoff von dem englischen Tee, den der ebenso berühmte Lipton aus London lieferte. Alle Einwohner von Progrody und Umgebung waren überzeugt, daß die Korallen lebendige Tiere sind und daß sie von dem Urfisch Leviathan in ihrem Wachstum und Benehmen unter dem Meere bewacht werden. Es konnte nicht daran gezweifelt werden, da es ja Nissen Piczenik selbst erzählt hatte.

Die schönen Fädlerinnen arbeiteten oft bis spät in die Nacht und manchmal sogar nach Mitternacht im Hause Nissen Piczeniks. Nachdem sie sein Haus verlassen hatten, begann der Händler selbst, sich mit seinen Steinen, will sagen: Tieren zu beschäftigen. Zuerst prüfte er die Ketten, die seine Mädchen geschaffen hatten, hierauf zählte er die Häufchen der noch nicht und der schon nach ihrer Rasse und Größe geordneten Korallen, dann begann er, selbst zu sortieren und mit seinen rötlich behaarten, starken und feinfühligen Fingern jede einzelne Koralle zu befühlen, zu glätten, zu streicheln. Es gab wurmstichige Korallen. Sie hatten Löcher an den Stellen, an denen Löcher keineswegs zu brauchen waren. Da hatte der sorglose Leviathan einmal nicht aufgepaßt. Und um ihn zurechtzuweisen, zündete Nissen Piczenik eine Kerze an, hielt ein Stück roten Wachses über die Flamme, bis es heiß und flüssig ward, und verstopfte mittels einer feinen Nadel, deren Spitze er in das Wachs getaucht hatte, die Wurmbohrungen im Stein. Dabei schüttelte er den Kopf, als begriffe er nicht, daß ein so mächtiger Gott wie Jehovah einem so leichtsinnigen Fisch wie dem Leviathan die Obhut über die Korallen hatte überlassen können.

Manchmal, aus purer Freude an den Steinen, fädelte er selbst Korallen, bis der Morgen graute und die Zeit gekommen war, das Morgengebet zu sagen. Die Arbeit ermüdete ihn keineswegs, er fühlte keinerlei Schwäche. Seine Frau schlief noch, unter der Decke. Er warf einen kurzen, gleichgültigen Blick auf sie. Er haßte sie nicht, er liebte sie nicht, sie war eine der vielen Fädlerinnen, die bei ihm arbeiteten, weniger hübsch und reizvoll als die meisten. Zehn Jahre war er schon mit ihr verheiratet, sie hatte ihm keine Kinder geschenkt – und das allein wäre ihre Aufgabe gewesen. Eine fruchtbare Frau hätte er gebraucht, fruchtbar wie die See, auf deren Grunde so viele Korallen wuchsen. Seine Frau aber war ein trockener Teich. Mochte sie schlafen, allein, so viele Nächte sie wollte! Das Gesetz hätte ihm erlaubt, sich von ihr scheiden zu lassen. Aber inzwischen waren ihm Kinder und Frauen gleichgültig geworden. Er liebte die Korallen. Und ein unbestimmtes Heimweh war in seinem Herzen, er hätte sich nicht getraut, es bei Namen zu nennen: Nissen Piczenik, geboren und aufgewachsen mitten im tiefsten Kontinent, sehnte sich nach dem Meere.

Ja, er sehnte sich nach dem Meer, auf dessen Grund die Korallen wuchsen, vielmehr, sich tummelten – nach seiner Überzeugung. Weit und breit gab es keinen Menschen, mit dem er von seiner Sehnsucht hätte sprechen können, in sich verschlossen mußte er es tragen, wie die See die Korallen trug. Er hatte von Schiffen gehört, von Tauchern, von Kapitänen, von Matrosen. Seine Korallen kamen in wohl verpackten Kisten, an denen noch der Seegeruch haftete, aus Odessa, Hamburg oder Triest. Der öffentliche Schreiber in der Post erledigte ihm seine Geschäftskorrespondenz. Die bunten Marken auf den Briefen der fernen Lieferanten betrachtete er ausführlich, bevor er die Umschläge wegwarf. Nie in seinem Leben hatte er Progrody verlassen. In diesem kleinen Städtchen gab es keinen Fluß, nicht einmal einen Teich, nur Sümpfe ringsherum, und man hörte wohl unter der grünen Oberfläche das Wasser glucksen, aber man sah es niemals. Nissen Piczenik bildete sich ein, daß es einen geheimen Zusammenhang zwischen dem verborgenen Gewässer der Sümpfe und den gewaltigen Wassern der großen Meere gebe – und daß auch tief unten, in den Sümpfen, Korallen vorhanden sein könnten. Er wußte, daß er, wenn er diese Ansicht jemals geäußert hätte, zum Gespött des Städtchens geworden wäre. Er schwieg daher und erwähnte seine Ansichten nicht. Er träumte manchmal davon, daß das große Meer – er wußte nicht, welches, er hatte niemals eine Landkarte gesehen, und alle Meere der Welt waren für ihn einfach: das große Meer – eines Tages Rußland überschwemmen würde – und zwar just jene Hälfte, auf der er lebte. Dann wäre also die See, zu der er niemals zu gelangen hoffte, zu ihm gekommen, die gewaltige unbekannte See mit dem unmeßbaren Leviathan auf ihrem Grunde und mit all ihren süßen und herben und salzigen Geheimnissen.

Der Weg von dem Städtchen Progrody zum kleinen Bahnhof, in dem nur dreimal in der Woche die Züge ankamen, führte zwischen den Sümpfen vorbei. Und immer, auch wenn Nissen Piczenik keine Korallensendungen zu erwarten hatte, und selbst an den Tagen, an denen keine Züge kamen, ging er zum Bahnhof, das heißt, zu den Sümpfen. Am Rande des Sumpfes stand er eine Stunde und länger und hörte das Quaken der Frösche andächtig, als könnten sie ihm vom Leben auf dem Grunde der Sümpfe berichten, und glaubte manchmal in der Tat, allerhand Berichte empfangen zu haben. Im Winter, wenn die Sümpfe gefroren waren, wagte er sogar, seinen Fuß auf sie zu setzen, und das bereitete ihm ein sonderbares Vergnügen. Am faulen Geruch des Sumpfes erkannte er ahnungsvoll den gewaltig herben Duft des großen Meeres, und das leise kümmerliche Glucksen der unterirdischen Gewässer verwandelte sich in seinen hellhörigen Ohren in ein Rauschen der riesigen grünblauen Wogen. Im Städtchen Progrody aber wußte kein Mensch, was sich alles in der Seele des Korallenhändlers abspielte. Alle Juden hielten ihn für ihresgleichen. Der handelte mit Stoffen und jener mit Petroleum; einer verkaufte Gebetmäntel, der andere Wachskerzen und Seife, der dritte Kopftücher für Bäuerinnen und Taschenmesser; einer lehrte die Kinder beten, der andere rechnen, der dritte handelte mit Kwas und Kukuruz und gesottenen Saubohnen. Und ihnen allen schien es, Nissen Piczenik sei ihresgleichen – nur handele er eben mit Korallen.

Indessen war er – wie man sieht – ein ganz Besonderer.

2

Er hatte arme und reiche Kunden, ständige und zufällige. Zu seinen reichen Kunden zählte er zwei Bauern aus der Umgebung, von denen der eine, nämlich Timon Semjonowitsch, Hopfen angepflanzt hatte und jedes Jahr, wenn die Kommissionäre aus Nürnberg, Saaz und Judenburg kamen, eine Menge glücklicher Abschlüsse machte. Der andere Bauer hieß Nikita Iwanowitsch. Der hatte nicht weniger als acht Töchter gezeugt, von denen eine nach der anderen heiratete und von denen jede Korallen brauchte. Die verheirateten Töchter – bis jetzt waren es vier – bekamen, kaum zwei Monate nach der Vermählung, Kinder – und es waren wieder Töchter – und auch diese brauchten Korallen; als Säuglinge schon, um den bösen Blick abzuwenden. Die Mitglieder dieser zwei Familien waren die vornehmsten Gäste im Hause Nissen Piczeniks. Für die Töchter beider Bauern, ihre Enkel und Schwiegersöhne hatte der Händler den guten Schnaps bereit, den er in seinem Kasten aufbewahrte, einen selbstgebrannten Schnaps, gewürzt mit Ameisen, trockenen Schwämmen, Petersilie und Tausendgüldenkraut. Die anderen gewöhnlichen Kunden begnügten sich mit einem gewöhnlichen gekauften Wodka. Denn es gab in jener Gegend keinen richtigen Kauf ohne Trunk. Käufer und Verkäufer tranken, damit das Geschäft beiden Gewinn und Segen bringe. Auch Tabak lag in Haufen in der Wohnung des Korallenhändlers, vor dem Fenster, von feuchten Löschblättern überdeckt, damit er frisch bleibe. Denn die Kunden kamen zu Nissen Piczenik nicht, wie Menschen in einen Laden kommen, einfach, um die Ware zu kaufen, zu bezahlen und wieder wegzugehn. Die meisten Kunden hatten einen Weg von vielen Werst zurückgelegt, und sie waren nicht nur Kunden, sondern auch Gäste Nissen Piczeniks. Er gab ihnen zu trinken, zu rauchen und manchmal auch zu essen. Die Frau des Händlers kochte Kascha mit Zwiebeln, Borschtsch mit Sahne, sie briet Äpfel am Rost, Kartoffeln und im Herbst Kastanien. So waren die Kunden nicht nur Kunden, sondern auch Gäste im Hause Piczeniks. Manchmal mischten sich die Bäuerinnen, während sie nach passenden Korallen suchten, in den Gesang der Fädlerinnen; alle sangen sie zusammen, und sogar Nissen Piczenik begann, vor sich hin zu summen; und seine Frau rührte im Takt den Löffel am Herd. Kamen dann die Bauern vom Markt oder aus der Schenke, um ihre Frauen abzuholen und deren Einkäufe zu bezahlen, so mußte der Korallenhändler auch mit ihnen Schnaps oder Tee trinken und eine Zigarette rauchen. Und jeder alte Kunde küßte sich mit dem Händler wie mit einem Bruder.

Denn wenn wir einmal getrunken haben, sind alle guten und redlichen Männer unsere Brüder, und alle lieben Frauen unsere Schwestern – und es gibt keinen Unterschied zwischen Bauer und Händler, Jud’ und Christ; und wehe dem, der das Gegenteil behaupten wollte!

3

Jedes neue Jahr wurde Nissen Piczenik unzufriedener mit seinem friedlichen Leben, ohne daß es jemand in dem Städtchen Progrody gemerkt hätte. Wie alle Juden, ging auch der Korallenhändler zweimal jeden Tag, morgens und abends, ins Bethaus, feierte die Feiertage, fastete an den Fasttagen, legte Gebetriemen und Gebetmantel an, schaukelte seinen Oberkörper, unterhielt sich mit den Leuten, sprach von Politik, vom russisch-japanischen Krieg, überhaupt von allem, was in den Zeitungen stand und was die Welt bewegte. Aber die Sehnsucht nach dem Meere, der Heimat der Korallen, trug er im Herzen, und aus den Zeitungen, die zweimal in der Woche nach Progrody kamen, ließ er sich, da er sie nicht entziffern konnte, etwaige maritime Nachrichten zuerst vorlesen. Ähnlich wie von den Korallen hatte er vom Meer eine ganz besondere Vorstellung. Zwar wußte er, daß es viele Meere in der Welt gab, das wirkliche, eigentliche Meer aber war jenes, das man durchqueren mußte, um nach Amerika zu gelangen.

Nun ereignete es sich eines Tages, daß der Sohn des Barchenthändlers Alexander Komrower, der vor drei Jahren eingerückt und zur Marine gekommen war, auf einen kurzen Urlaub heimkehrte. Kaum hatte der Korallenhändler von der Rückkehr des jungen Komrower gehört, da erschien er auch schon in dessen Hause und begann, den Matrosen nach allen Geheimnissen der Schiffe, des Wassers und der Winde auszufragen. Während alle Welt in Progrody überzeugt war, daß sich der junge Komrower lediglich infolge seiner Dummheit auf die gefährlichen Ozeane hatte verschleppen lassen, betrachtete der Korallenhändler den Matrosen als einen begnadeten Jungen, dem die Ehre und das Glück zuteil geworden war, gewissermaßen ein Vertrauter der Korallen zu werden, ja, ein Verwandter der Korallen. Und man sah den fünfundvierzigjährigen Nissen Piczenik mit dem zweiundzwanzigjährigen Komrower Arm in Arm über den Marktplatz des Städtchens streichen, stundenlang. – Was will er vom Komrower? – fragten sich die Leute. – Was will er eigentlich von mir? – fragte sich auch der Junge.

Während des ganzen Urlaubs, den der junge Mann in Progrody verbringen durfte, wich der Korallenhändler fast nicht von seiner Seite. Sonderbar erschienen dem Jungen die Fragen des Älteren, wie zum Beispiel diese:

»Kann man mit einem Fernrohr bis auf den Grund des Meeres sehen?«

»Nein« – sagte der Matrose – »mit dem Fernrohr schaut man nur in die Weite, nicht in die Tiefe.«

»Kann man« – fragte Nissen Piczenik weiter – »wenn man Matrose ist, sich auf den Grund des Meeres fallen lassen?«

»Nein« – sagte der junge Komrower – »wenn man ertrinkt, dann sinkt man wohl auf den Grund des Meeres.«

»Der Kapitän kann’s auch nicht?«

»Auch der Kapitän kann es nicht.«

»Hast du schon einen Taucher gesehen?«

»Manchmal« – sagte der Matrose.

»Steigen die Tiere und Pflanzen des Meeres manchmal an die Oberfläche?«

»Nur die Fische und die Walfische, die eigentlich keine Fische sind.«

»Beschreibe mir« – sagte Nissen Piczenik – »wie das Meer aussieht.«

»Es ist voller Wasser« – sagte der Matrose Komrower.

»Und ist es so weit, wie ein großes Land, eine weite Ebene zum Beispiel, auf der kein Haus steht?«

»So weit ist es – und noch weiter!« – sagte der junge Matrose. »Und es ist so, wie Sie sagen: eine weite Ebene, und hie und da sieht man ein Haus, das ist aber sehr selten, und es ist gar kein Haus, sondern ein Schiff.«

»Wo hast du die Taucher gesehen?«

»Es gibt bei uns« – sagte der Junge – »bei der Militärmarine Taucher. Aber sie tauchen nicht, um Perlen oder Austern oder Korallen zu fischen. Es ist eine militärische Übung, zum Beispiel für den Fall, daß ein Kriegsschiff untergeht, und dann müßte man wertvolle Instrumente oder Waffen herausholen.«

»Wieviel Meere gibt es in der Welt?«

»Das kann ich Ihnen nicht sagen« – erwiderte der Matrose – »wir haben es zwar in der Instruktionsstunde gelernt, aber ich habe nicht achtgegeben. Ich kenne nur das Baltische Meer, die Ostsee, das Schwarze Meer und den großen Ozean.«

»Welches Meer ist das tiefste?«

»Weiß ich auch nicht.«

»Wo finden sich die meisten Korallen?«

»Weiß ich auch nicht.«

»Hm, hm« – machte der Korallenhändler Piczenik – »schade, daß du es nicht weißt.«

Am Rande des Städtchens, dort, wo die Häuschen Progrodys immer kümmerlicher wurden, bis sie schließlich ganz aufhörten und die weite bucklige Straße zum Bahnhof begann, stand die Schenke Podgorzews, ein schlecht beleumundetes Haus, in dem Bauern, Taglöhner, Soldaten, leichtfertige Mädchen und nichtswürdige Burschen verkehrten. Eines Tages sah man dort den Korallenhändler Piczenik mit dem Matrosen Komrower eintreten. Man reichte ihnen kräftigen, dunkelroten Met und gesalzene Erbsen. »Trink mein Junge! Trink und iß, mein Junge!« – sagte Nissen Piczenik väterlich zu dem Matrosen. Dieser trank und aß fleißig, denn so jung er auch war, so hatte er doch schon einiges in den Häfen gelernt, und nach dem Met gab man ihm einen schlechten sauren Wein und nach dem Wein einen neunziggrädigen Schnaps. Während er den Met trank, war er so schweigsam, daß der Korallenhändler fürchtete, er würde nie mehr etwas von dem Matrosen über die Wasser hören, sein Wissen sei einfach erschöpft. Nach dem Wein aber begann der kleine Komrower, sich mit dem Wirt Podgorzew zu unterhalten, und als der Neunziggrädige kam, sang er mit lauter Stimme ein Liedchen nach dem anderen, wie ein richtiger Matrose. »Bist du aus unserem lieben Städtchen?« – fragte der Wirt. – »Gewiß, ein Kind eures Städtchens – meines – unseres lieben Städtchens« – sagte der Matrose, ganz so, als wäre er nicht der Sohn des behäbigen Juden Komrower, sondern ein ganzer Bauernjunge. Ein paar Tagediebe und Landstreicher setzten sich an den Tisch neben Nissen Piczenik und den Matrosen, und als der Junge das Publikum sah, fühlte er sich von einer fremdartigen Würde erfüllt, so einer Würde, von der er gedacht hatte, nur Seeoffiziere könnten sie besitzen. Und er munterte die Leute auf: »Fragt, Kinderchen, fragt nur! Auf alles kann ich euch antworten. Seht, diesem lieben Onkel hier, ihr kennt ihn wohl, er ist der beste Korallenhändler im ganzen Gouvernement, ihm habe ich schon vieles erzählt!« Nissen Piczenik nickte. Und da es ihm nicht behaglich in dieser fremdartigen Gesellschaft war, trank er einen Met und noch einen. Allmählich kamen ihm all die verdächtigen Gesichter, die er immer nur durch seine Türluke gesehen hatte, ebenfalls menschlich vor wie sein eigenes. Da aber die Vorsicht und das Mißtrauen tief in seiner Brust eingewurzelt waren, ging er in den Hof hinaus und barg das Säckchen mit dem Silbergeld in der Mütze. Nur einige Münzen behielt er lose in der Tasche. Befriedigt von seinem Einfall und von dem beruhigenden Druck, den das Geldsäckchen unter der Mütze auf seinen Schädel ausübte, kehrte er wieder an den Tisch zurück.

Dennoch gestand er sich, daß er eigentlich selber nicht wußte, warum und wozu er hier in der Schenke mit dem Matrosen und den unheimlichen Gesellen saß. Hatte er doch sein ganzes Leben regelmäßig und unauffällig verbracht, und seine geheimnisvolle Liebe zu den Korallen und ihrer Heimat, dem Ozean, war bis zur Ankunft des Matrosen und eigentlich bis zu dieser Stunde niemandem und niemals offenbar geworden. Und es ereignete sich noch etwas, was Nissen Piczenik aufs tiefste erschreckte. Er, der keineswegs gewohnt war, in Bildern zu denken, erlebte in dieser Vorstellung die Stunde, daß seine geheime Sehnsucht nach den Wassern und allem, was auf und unter ihnen lebte und geschah, auf einmal an die Oberfläche seines eigenen Lebens gelangte, wie zuweilen ein kostbares und seltsames Tier, gewohnt und heimisch auf dem Grunde des Meeres, aus unbekanntem Grunde an die Oberfläche emporschießt. Wahrscheinlich hatten der ungewohnte Met und die durch die Erzählungen des Matrosen befruchtete Phantasie des Korallenhändlers dieses Bild in ihm geweckt. Aber er erschrak und wunderte sich darüber, daß ihm derlei verrückte Einfälle kommen konnten, noch mehr, als über die Tatsache, daß er auf einmal imstande war, an einem Tisch in der Schenke mit wüsten Gesellen zu sitzen.

Diese Verwunderung und dieser Schrecken aber vollzogen sich gleichsam unter der Oberfläche seines Bewußtseins. Inzwischen hörte er sehr wohl mit eifrigem Vergnügen den märchenhaften Erzählungen des Matrosen Komrower zu. »Auf welchem Schiff dienst du?« – fragten ihn die Tischgenossen. Er dachte eine Weile nach – sein Schiff hieß nach einem bekannten Admiral aus dem neunzehnten Jahrhundert, aber der Name schien ihm so gewöhnlich in diesem Augenblick wie sein eigener, Komrower war entschlossen, gewaltig zu imponieren – und er sagte also: »Mein Kreuzer heißt ›Mütterchen Katharina‹. Und wißt ihr, wer das war? Ihr wißt es natürlich nicht – und deshalb werde ich es euch erzählen. Also, Katharina war die schönste und reichste Frau von ganz Rußland, und deshalb heiratete sie der Zar eines Tages im Kreml in Moskau und führte sie sofort im Schlitten – es war ein Frost von 40 Grad – mit einem Sechsgespann direkt nach Zarskoje Selo. Und hinter ihnen fuhr das ganze Gefolge in Schlitten – und es waren so viele, daß die ganze Landstraße drei Tage und drei Nächte verstopft war. Eine Woche nach dieser prächtigen Hochzeit kam der gewalttätige und ungerechte König von Schweden in den Hafen von Petersburg, mit seinen lächerlichen hölzernen Kähnen, auf denen aber viele Soldaten standen – denn zu Lande sind die Schweden sehr tapfer –, und nichts weniger wollte dieser Schwede, als ganz Rußland erobern. Die Zarin Katharina aber bestieg unverzüglich ein Schiff, eben den Kreuzer, auf dem ich diene, und beschoß eigenhändig die blödsinnigen Kähne des schwedischen Königs, daß sie untergingen. Und ihm selbst warf sie einen Rettungsgürtel zu und nahm ihn später gefangen. Sie ließ ihm die Augen herausnehmen, aß sie auf, und dadurch wurde sie noch klüger, als sie vorher gewesen war. Den König ohne Augen aber verschickte sie nach Sibirien.«

»Ei, ei« – sagte da ein Taugenichts und kratzte sich am Hinterkopf – »ich kann dir beim besten Willen nicht alles glauben.«

»Wenn du das noch einmal sagst« – erwiderte der Matrose Komrower – »so hast du die kaiserlich russische Marine beleidigt, und ich muß dich mit meiner Waffe erschlagen. So wisse denn, daß ich diese ganze Geschichte gelernt habe in unserer Instruktionsstunde, und Seine Hochwohlgeboren, unser Kapitän Woroschenko selbst, hat sie uns erzählt.«

Man trank noch Met und mehrere Schnäpse, und der Korallenhändler Nissen Piczenik bezahlte. Auch er hatte einiges getrunken, wenn auch nicht so viel wie die anderen. Aber als er auf die Straße trat, Arm in Arm mit dem jungen Komrower, schien es ihm, daß die Straßenmitte ein Fluß sei, die Wellen gingen auf und nieder, die spärlichen Petroleumlaternen waren Leuchttürme, und er mußte sich hart an den Rand halten, um nicht ins Wasser zu fallen. Der Junge schwankte fürchterlich. Ein Leben lang, fast seit seiner Kindheit, hatte Nissen Piczenik jeden Abend die vorgeschriebenen Abendgebete gesagt, das eine, das bei der Dämmerung zu beten ist, das andere, das den Einbruch der Dunkelheit begrüßt. Heute hatte er zum erstenmal beide versäumt. Vom Himmel glitzerten ihm die Sterne vorwurfsvoll entgegen, er wagte nicht, seinen Blick zu heben. Zu Hause erwartete ihn die Frau und das übliche Nachtmahl, Rettich mit Gurken und Zwiebeln, und ein Schmalzbrot, ein Glas Kwas und heißer Tee. Er schämte sich mehr vor sich selbst als vor den anderen. Es war ihm von Zeit zu Zeit, während er so dahinging, den schweren, torkelnden jungen Mann am Arm, als begegnete er sich selbst, der Korallenhändler Nissen Piczenik dem Korallenhändler Nissen Piczenik – und einer lachte den anderen aus. Immerhin vermied er außerdem noch, andern Menschen zu begegnen. Dieses gelang ihm. Er begleitete den jungen Komrower nach Hause, führte ihn ins Zimmer, wo die alten Komrowers saßen, und sagte: »Seid nicht böse mit ihm, ich war mit ihm in der Schenke, er hat ein wenig getrunken.«

»Ihr, Nissen Piczenik, der Korallenhändler, wart mit ihm in der Schenke?« – fragte der alte Komrower.

»Ja, ich!« – sagte Piczenik. – »Guten Abend!« – Und er ging nach Hause. Noch saßen alle seine schönen Fädlerinnen an den vier Tischen singend und Korallen fischend mit ihren feinen Nadeln in den zarten Händen.

»Gib mir gleich den Tee« – sagte Nissen Piczenik zu seiner Frau – »ich muß arbeiten.«

Und er schlürfte den Tee, und während sich seine heißen Finger in die großen, noch nicht sortierten Korallenhaufen gruben und in ihrer wohltätigen rosigen Kühle wühlten, wandelte sein armes Herz über die weiten und rauschenden Straßen der gewaltigen Ozeane.

Und es brannte und rauschte in seinem Schädel. Er nahm aber vernünftigerweise die Mütze ab, holte das Geldsäckchen heraus und barg es wieder an seiner Brust.

4

Und es näherte sich der Tag, an dem der Matrose Komrower wieder auf seinen Kreuzer einrücken mußte, und zwar nach Odessa – und es war dem Korallenhändler weh und bang ums Herz. In ganz Progrody ist der junge Komrower der einzige Seemann, und Gott weiß, wann er wieder einen Urlaub erhalten wird. Fährt er einmal weg, so hört man weit und breit nichts mehr von den Wassern der Welt, es sei denn, es steht zufällig etwas in den Zeitungen.