Inhalt



Kapitel 1

1
2
3
4

Kapitel 2

1
2

Kapitel 3

1
2
3

Kapitel 4

1
2
3
4
5

Kapitel 5

1
2

Kapitel 6

1
2
3
4

Kapitel 7

1
2
3
4

Kapitel 8

1
2
3

Kapitel 9

1
2

Kapitel 10

Kapitel 11

1
2
3

Kapitel 12

1
2

Kapitel 13

1
2
3
4

Kapitel 14

Kapitel 15

1
2

Kapitel 16

1
2
3

Kapitel 17

1
2
3
4

Epilog

Impressum




© 2017, hansanord Verlag


Alle Rechte für diese Ausgabe vorbehalten
Das gilt vor allem für Vervielfältigung, Übersetzungen, Mikrofilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen - nur nach Absprache und Freigabe durch den Herausgeber.


ISBN: 978-3-940873-99-6


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Robin Krell


Leutwyler



Roman

 

 

Epilog



„Oh doch, Sie sind ein Held, Herr Reusch!“, beharrte der Moderator, und aus dem Studiopublikum drang zustimmendes Gemurmel. „Sie haben mehr als zwölftausend Menschen gerettet.“
„Ich war nur zur richtigen Zeit am falschen Ort“, erklärte Alex mit einem Lächeln. „Ich bin mir sicher, dass jeder an meiner Stelle so gehandelt hätte. Ich hatte als einer der wenigen Zutritt zu dieser Bibliothek.“
„Mehr als dreitausend Personen wurden festgenommen“, sagte der Moderator. „Darunter etwa dreihundertvierzig Wissenschaftler. Hinzu kommen Helfershelfer aus dem Dienstpersonal oder gar der Leitung von Krankenhäuser, Psychiatrien, Gefängnissen und anderen Anstalten. Was haben sie diesen Leuten zu sagen, Herr Reusch?“
Was er ihnen zu sagen hatte? Warum zum Teufel habt ihr Idioten, statt eine interne Feuerwehr einzurichten, Notausgänge einbauen lassen?!
„Es ist mir unverständlich, wie Menschen zu solcher Grausamkeit fähig sein können“, sagte Alex. „Ich hatte großartige Pläne im Leben, und nun ist alles zerstört.“
Der Moderator musterte ihn etwas befremdet. „Ihren Angaben gemäß haben Sie nur wenige Wochen in diesem, wie Sie es nennen, 'Schloss' zugebracht. Im Gegensatz zu anderen Opfern können Sie sicherlich problemlos an ihr altes Leben anknüpfen.“
„Ganz sicher nicht“, entfuhr es Alex. Schließlich hatten ihn die Wissenschaftler direkt aus der U-Haft entführt. 
„Was können Sie uns über den Serienkiller Konrad Rabenau erzählen?“, kam der Moderator zum nächsten Punkt auf seinem imaginären Fragenkatalog. „Einige Zeugen wollen gesehen haben, wie Sie ihn getötet haben. Sie jedoch streiten dies vehement ab … “
Alex seufzte innerlich. Er war es leid, die immer gleichen Fragen beantworten zu müssen. Wenn er zwischen Ruhm und Reichtum wählen könnte, brauchte er nicht allzu lange nachzudenken. 
„Zunächst einmal war er kein Serienkiller, sondern ein Auftragsmörder“, stellte Alex zu seiner eigenen Verwunderung klar.
Der Moderator starrte ihn an. 
„Ich habe ihn im Affekt getötet und würde es wohl nicht wieder tun“, fuhr Alex fort. „Cyrill war kein schlechter Mensch, zumindest im Vergleich gesehen.“
„Sprechen Sie im Ernst, Herr Reusch?“, fragte der Moderator. „Er hat unschuldige Menschen getötet. Über die Jahre vermutlich hunderte!“
„Aber mich hat er nicht getötet“, dachte Alex. Und das war schlussendlich das Entscheidende. „Er ist sogar zu Leutwylers Wohnung gekommen, um mich vor dem Feuer zu retten.“
„Ohne ihn hätte es überhaupt keine Ordnung im Schloss gegeben“, sagte er verärgert. Und das entsprach der Wahrheit: Aus Angst, Cyrill könne ihn für einen Konkurrenten halten, hatte sich fast niemand zu morden getraut. Wem es wie Alex gelungen war, sich mit Cyrill gutzustellen, der war weniger in Gefahr gewesen, Opfer einer Gewalttat zu werden, als der durchschnittliche Bürger eines Rechtsstaats. 
„Er ist ein Mörder“, betonte der Moderator. 
„Wo kämen wir da hin, wenn wir die Menschen in Mörder und Nicht-Mörder einteilen würden?“, fragte Alex, der sich persönlich angegriffen fühlte. „Haben Sie noch nie von der Evolution gehört? Die haben wir nicht gewonnen, weil wir nett zueinander waren.“

„Was bin ich doch für ein Esel!“, schalt sich Alex in Gedanken, als er das Studio verließ. „Wie konnte ich mich nur so verplappern und den Mord an Cyrill gestehen?“
Zuhause angekommen überprüfte er die Alarmanlage gleich dreimal und verriegelte danach alle vier Schlösser der Wohnungstür. Er hatte nicht deshalb eine Wohnung in einem Hochhaus bezogen, weil er sich kein Eigenheim leisten konnte – nun gut, vielleicht spielte der finanzielle Aspekt ein wenig mit rein – sondern weil es verdammt schwer war, im sechsten Stock durchs Fenster einzusteigen. Und wenn Alex' schlimmste Befürchtungen tatsächlich eintreffen sollten, hatte er immer noch ein Arsenal an illegalen Waffen, die er in einem Schrank in seinem Schlafzimmer aufbewahrte, zu seiner Disposition. 
Er hängte den Mantel an der Garderobe auf und betrat das Wohnzimmer. 
Als er das Licht einschaltete, bemerkte er den Eindringling nicht sofort. Ja, er ging sogar an der Gestalt im grauen Kapuzenpulli, die neben der zerschlissenen Couch auf dem Boden hockte, vorbei, um sich aus der Küche ein Bier zu holen. Fast zehn Minuten lang verfolgte er daraufhin ein Pokalspiel zwischen dem FC Bayern und Schalke – wenn er eines im Schloss bemängelt hatte, dann war es die Abwesenheit von Fußball gewesen. 
„Was ist das?“, fragte schließlich eine bekannte Stimme. 
Alex, der gerade nach seinem Bier hatte greifen wollen, erstarrte mitten in der Bewegung. Als er sich wieder halbwegs unter Kontrolle hatte, führte er die Bewegung zu Ende und nahm einen großen Schluck.
„Was ist was?“, fragte er, ohne sich umzusehen. 
„Na, das, was diese Leute da tun. Mit dem Ball.“
Alex war so überrascht, dass er für einen Moment seine Angst vergaß. „Ist das dein Ernst?“, fragte er und drehte sich nun doch zu Frank um. „Du hast noch nie Fußball gesehen?“
„Nö. Sieht langweilig aus.“
„Fußball ist nicht langweilig!“, herrschte Alex ihn an.
„Ich seh' nicht, worin der Sinn dieses Spiels besteht.“
„Das siehst du nicht?“, vergewisserte sich Alex. „Sie versuchen, den Ball ins Tor zu schießen, das ist doch offensichtlich!“
Frank richtete den Blick auf den Bildschirm. „Das wird nie was“, urteilte er. 
„Raus aus meiner Wohnung, dummer Kerl!“
„Nein.“
„Was, zum Teufel, willst du hier, Frank?“
„Ich denke, das ist offensichtlich“, erwiderte Frank und sah aus blauen Augen zu ihm auf. „Ich bin gekommen, um dich zu töten.“
Alex nahm einen noch größeren Schluck von seinem Bier. „Wieso?“, fragte er schließlich. 
„Um Cyrills Tod zu rächen.“ Frank zog sein Messer. 
„Ich muss irgendwie versuchen, an meine Pistolen zu kommen“, fuhr es Alex durch den Kopf. 
„Ich habe mit seinem Tod nichts zu tun, Frank“, beteuerte er. „Das schwöre ich dir!“
„Und weshalb hast du's dann in dieser Talkshow zugegeben?“
Alex starrte ihn an. Es war noch keine zwei Stunden her, dass er das Studio verlassen hatte. „Woher weißt du davon?“
„Twitter“, erwiderte Frank kurz angebunden. 
„Du kennst Twitter, aber weißt nicht, was Fußball ist?“, vergewisserte sich Alex. 
Frank stand auf. „Ich werde dich jetzt töten, Alex“, sagte er. „Und du brauchst dir nicht einzureden, dass es nicht wehtun wird.“
„Frank, warte!“, stieß Alex hervor. 
„Cyrill ist ins Schloss zurückgekehrt, um die Bibliothek anzuzünden. Und du spielst hier den Helden!“
„Es tut mir leid!“, beteuerte Alex. „Es tut mir leid! Ich werde gleich morgen vor den Medien alles richtigstellen!“
„Und nun erfahre ich auch noch, dass du es warst, der ihn ermordet hat!“ 
„Er hat das Schloss zerstört, obwohl er wusste, was es mir bedeutet!“
Frank rammte ihm ohne Vorwarnung das Messer durch den Handrücken. „Ich habe ihn geliebt!“, schrie er. 
„Frank, du hast dich in Cyrill getäuscht!“, brachte Alex hervor, als der Schmerz ein wenig abgeebbt war. „Er kennt keinerlei Moral! Er hat deinen Bruder getötet, nur weil er ihm im Weg war. Es war ihm scheißegal, was du dabei empfindest!“
In Franks Gesicht arbeitete es. 
„Das ist die Wahrheit, Frank!“, sagte Alex. „Du hast keinen Grund, um jemanden wie ihn zu trauern. Oder gar ihn zu rächen“, fügte er hinzu.
„Er mochte mich also wirklich lieber als Frank“, sagte Frank schließlich. 
Alex beschloss, seine Vorgehensweise zu ändern. „Frank, die Dinge laufen hier anders als im Schloss. Mord ist ein Verbrechen. Du wirst für eine sehr lange Zeit in den Knast wandern, wenn du mich tötest.“
„Tu nicht so, als würdest du dich um mich sorgen.“
„Es gibt hier Gesetze, Frank!“ Alex versuchte, den pochenden Schmerz in seiner Hand zu ignorieren.
„Jemanden wie dich zu töten, ist ja wohl kaum ein Verbrechen.“
„Doch, Frank, das ist es!“, fuhr Alex ihn an.
„Du bluffst.“
„Selbstjustiz ist nicht erlaubt“, erklärte Alex. „Und glaub ja nicht, dass es dir als mildernder Umstand angerechnet wird, dass du den Tod eines Serienkillers rächen wolltest.“
Frank musterte ihn einige Herzschläge lang schweigend. „Weißt du was?“, fragte er schließlich. „Das ist mir alles egal! Diese Welt ist scheiße! Sie ist wie das Schloss, nur größer!“
„Das ist sie“, bestätigte Alex. „Jeder hat eine genaue falsche Vorstellung davon, wer du bist, und wer du zu sein hast.“
„Niemand will mir einen anständigen Job geben. Ich hab' gar keine andere Wahl, als zu stehlen.“
„Willkommen in meiner Welt.“
„Ich dachte, es würde alles anders werden, wenn es mir nur gelingt, zu fliehen. Und jetzt … “ Franks Lippen bebten leicht. „Und jetzt ist Cyrill tot, und mein Bruder ist tot, und überhaupt … und überhaupt ist es hier scheiße. Nicht einmal mehr meine Spinne habe ich!“
Es war an der Zeit, den letzten Trumpf auszuspielen. 
„Ganz so schlimm ist es dann doch nicht, Kleiner“, sagte Alex. „Komm mit, ich möchte dir etwas zeigen.“
Frank wischte sich die Nase am Ärmel ab. „Für wie blöd hältst du mich?“, fragte er abweisend.
„Deine Spinne ist hier“, sagte Alex. „Ich habe sogar ein Terrarium für sie gekauft.“
„Das glaub' ich dir nicht.“
Alex zwang sich zu einem Lächeln. „Deshalb will ich sie dir ja auch zeigen.“
„Weißt du, ich hab'n Haufen Filme gesehen, seit ich hier bin“, sagte Frank. „Das ist ein Trick. Höchstwahrscheinlich hast du in irgend'ner Schublade 'ne Knarre versteckt, und nun versuchst du, unter 'nem bescheuerten Vorwand in die Nähe dieser Waffe zu kommen.“
„Mist! Mist! Mist!“, dachte Alex. Laut sagte er: „Cyrill muss die Spinne aus ihrem Terrarium geholt haben, bevor er mein Schloss angezündet hat. Jedenfalls hatte er sie bei sich, als ich ihn erschossen habe.“
Aus Franks Gesicht sprach immer noch Misstrauen. Ihm war jedoch anzusehen, dass er Alex' Behauptungen glauben wollte. 
„Komm“, sagte Alex und erhob sich ganz langsam, um Frank nicht zu provozieren. „Ich zeige sie dir.“ 
Frank biss sich auf die Unterlippe. Es kostete Alex all seine Willenskraft, einfach nichts zu sagen. Wer Frank bedrängte, lief Gefahr, eine Trotzreaktion auszulösen. 
„Also gut“, sagte Frank schließlich. „Aber ich warne dich. Wenn du versuchst … “
„Ja, ja, nun komm endlich“, unterbrach Alex. 
„Nimm die Hände hoch.“
Alex verdrehte die Augen und kam der Aufforderung nach. 
Er öffnete die Schlafzimmertür demonstrativ mit dem Ellenbogen und führte Frank zu einem dreißig mal dreißig Zentimeter messenden Kasten, der auf einem schäbigen Tischchen neben dem Fensterbrett stand. 
Sobald Frank seiner Drusilla ansichtig wurde, schien er Alex vollständig vergessen zu haben. 
„Ich glaub' es nicht!“ Er rannte zum Terrarium und nahm eilig den Deckel ab. „Da ist sie! Cyrill hat sie tatsächlich für mich gerettet!“ 
Frank steckte die Hand ins Terrarium, und die Spinne, die sich sonst immer im hintersten Eck des kleinen Glaskastens versteckte, wackelte mit den Tastbeinen und kletterte dann wie selbstverständlich auf Franks Hand. 
„Danke, dass du sie mitgebracht hast!“ Mit freudestrahlendem Gesicht drehte sich Frank zu Alex um, der in der Zwischenzeit eine Pistole aus dem Schrank genommen hatte. 
„Nichts zu danken“, sagte Alex und schoss Frank zweimal in die Brust.
Frank starrte ihn aus hervorquellenden Augen an und stürzte zu Boden. Die Spinne verzog sich hastig unter die Kommode. 
„Du hättest nicht herkommen sollen“, fasste Alex das Offensichtlich in Worte. 
Frank hustete einen Klumpen Blut hervor. Alex richtete die Pistole auf ihn, um im Notfall ein drittes Mal abdrücken zu können.
„I-ich … “, begann Frank, führte den Satz jedoch nicht zu Ende. Seine Augen wurden glasig, der Kopf sank zur Seite, und dann rührte er sich nicht mehr. 
„Ein schmerzloser Tod“, kommentierte Alex. „Das ist mehr, als du mir zugedacht hattest … au!“
Er blickte an sich herab, als ein scharfer Schmerz in seinen linken Knöchel fuhr. 
„Verdammtes Mistvieh!“ Er schüttelte die Spinne ab, die sich in seinen Fuß verbissen hatte.
Bevor sich das Tier wieder unter die Kommode zurückziehen konnte, hatte Alex es auch schon unter der Sohle seines Pantoffels zermalmt. 
Alex drehte sich um und verließ das Zimmer. Um die Beseitigung der Leiche würde er sich später kümmern. Mit einem erschöpften Seufzer ließ er sich wieder vor den Fernsehsessel sinken. Doch er hatte kein Glück: In derselben Sekunde, in der er sein Bier zur Hand nahm, pfiff der Schiedsrichter zur Halbzeit.
„Ahhh, Mist!“, schimpfte Alex. 

ENDE

 

Kapitel 1


1

Alex schlug die Augen auf, als es an der Tür klopfte, und sah sich um. Er hatte nicht die geringste Ahnung, wo er sich befand, geschweige denn, wie er an diesen Ort gelangt war, doch das wunderte ihn nur kurz, wenn überhaupt. Dort wo er herkam, wurde man ganz schnell von der Evolution aussortiert, wenn man wertvolle Zeit mit überrascht sein vergeudete. Mit der linken Hand tastete er unter dem Kopfkissen nach seiner Pistole, aber sie war nicht an ihrem Platz, bzw. er war es nicht. Während er sich leise erhob, unterzog er die Umgebung einer eingehenderen Musterung für den Fall, dass es sich lohnte, was mitgehen zu lassen. Und so verhielt es sich in der Tat: An den Wänden hingen klassische Gemälde in schweren Rahmen, der Kronleuchter hätte einem Palast zur Ehre gereicht, und der Fuß der Nachttischlampe war wenn schon nicht aus purem Gold, dann doch zumindest vergoldet. 
Erneut klopfte es an der Tür, und Alex griff nach der Nachttischlampe: Egal, aus welchem Material das Ding gefertigt war, als Prügel erfüllte es allemal seinen Zweck. An der Lampe war kein Kabel angebracht, und auch das war nicht verwunderlich, wie ein Blick ins Innere des Lampenschirms zeigte.
„Was für ein Freak“, dachte Alex, denn kein normaler Mensch benutzte heutzutage mehr Kerzen. 
Den Blick auf die Tür geheftet, schlich er durchs Zimmer und wäre dabei fast über das Fell irgendeiner ausgestorbenen Tierart gestolpert, welches den Boden vor dem steinernen Kamin zierte.
„Sir?“, drang eine gedämpfte Stimme durch die schwere hölzerne Tür. „Darf ich eintreten?“
Alex positionierte sich neben dem Türrahmen und hob seine improvisiere Waffe. „Nur zu“, sagte er.
Die Tür schwang auf und ein älterer Herr in einem dunklen Anzug erschien auf der Schwelle, in der Hand ein Tablett mit Kaffeekanne, Brötchen und allerlei Beilagen haltend. Das Männchen starrte einen Augenblick lang schweigend zum Lampenfuß empor, den Alex wenige Zentimeter über seinem Kopf zum Halten gebracht hatte. 
„Sie sind also bereits wach, Sir“, stellte es fest. Sein runzliges Gesicht blieb dabei vollkommen ausdruckslos. 
Alex nickte anerkennend: Allem Anschein nach war auch der Alte an Überraschungen gewöhnt.
„So sieht's aus“, erwiderte er und griff nach einem Croissant. Wenn der Alte willens war, den Umstand zu ignorieren, dass sich ein vollkommen Fremder im Schlafzimmer seines Dienstherrn aufhielt, dann sollte Alex das nur recht sein. 
„Sie erinnern sich freilich, dass um zwölf Ihre Frau wegen der Scheidungspapiere vorbeikommt“, sagte der Butler und stellte das Service auf einem kleinen Tischchen an der Wand ab.
„Klar.“
„Wenn Sie mich fragen, Herr Leutwyler“, fuhr der Butler ungefragt fort und schenkte eine Tasse aus der dampfenden Kanne ein. „Sie sollten die Papiere unterschreiben. Sie können diese Angelegenheit nicht ewig vor sich herschieben.“
Angewidert musste Alex feststellen, dass es sich um Tee handelte und so lehnte er mit einer unwirschen Geste ab, als ihm der Alte das Gefäß reichen wollte. 
„Das können Sie selbst trinken“, sagte er.
Der Alte blinzelte. „Das ist … sehr freundlich von Ihnen, Sir.“ Er nippte vorsichtig am Rand der Tasse, als witterte er in der Großzügigkeit seines Arbeitsgebers eine Falle. „Ich will nicht unhöflich sein, Herr Leutwyler, aber sie sollten die Papiere … “
„Ist ja schon gut“, unterbrach Alex und stopfte sich die Reste des Croissants in den Mund. „Gib mir den Wisch, und ich unterzeichne ihn.“
„Ist das Ihr Ernst?“, entfuhr es dem Alten. 
„Ich nehme an, sie will das Haus, das Auto und die Kinder“, sagte Alex leichthin, denn schließlich ging ihn das alles gar nichts an. 
„Nein. Die Kinder bleiben bei Ihnen.“
Alex sah sich unwillkürlich um, als erwartete er, sie aus irgendwelchen Ecken kriechen zu sehen.
„Ich weiß, wie sehr Sie an Ihrem Ferienhaus in Spanien hängen, Herr Leutwyler, aber … “ Das Männchen zuckte in einer hilflosen Geste die Schultern. „Das Geld, welches Sie in den letzten drei Jahren für Scheidungsanwälte ausgegeben haben, übersteigt den Wert dieses Guts bei weitem.“
„Vermutlich geht es ums Prinzip.“
„Es ist doch nur dieses eine Haus. Sie besitzen eine Villa an der Côte d'Azur, ein Häuschen in Oberstdorf, eine Finca auf Mallorca und eine Inselgruppe in der Karibik. Hinzu kommt das kleine Schloss in Transsylvanien … “
„Ein Schloss in Transsylvanien?“ Alex verdrehte die Augen und schüttete die Marmelade direkt aus dem Glas auf seine Semmel.
„Sie will den Audi und den Porsche, doch der Lamborghini und der Ferrari … “ 
„Weshalb sind Sie auf ihrer Seite?“, unterbrach Alex und biss in sein Brötchen. 
„Die Kinder leiden unter der Situation, Herr Leutwyler. Können Sie nicht um ihretwillen … “
„Wie viele?“, fragte Alex kalt.
Der alte Mann musterte ihn verständnislos.
„Na, die Kinder“, erklärte Alex. „Wie viele sind es?“
„Sir“, erwiderte der Alte vorsichtig. „Geht es Ihnen auch wirklich gut?“
„Beantworten Sie die Frage!“, herrschte Alex ihn an. 
„Drei.“
„Grundgütiger!“ Alex rieb sich die Augen. Was war nur los mit diesem Leutwyler? Sie lebten schließlich im Zeitalter der Aufklärung oder später, da sollte man doch meinen, der Kerl hätte schon mal was von Verhütung gehört.
„Hinzu kommen freilich die beiden Töchter aus Ihrer letzten Ehe … “
„Ich wette, diese Ehe hat mich auch die ein oder andere Insel gekostet“, sagte Alex bitter.
„Im Mittelmeer.“
„Diese Bilder da.“ Alex machte eine vage Geste, die das gesamte Zimmer umfassen sollte. „Die sind hoffentlich was wert?“
„Wie meinen Sie das, Sir?“
„Die sind doch steinalt. Da sind sie sicherlich was wert.“
„Das kommt drauf an.“
Alex merkte, wie ihn allmählich die Geduld verließ. „Beantworten Sie die Frage, verdammt nochmal!“
„Es kommt darauf an, wie viel der Käufer bietet. Der Rembrandt zum Beispiel hat einen Marktwert zwischen zehn und dreißig Millionen.“
Einige Herzschläge lang musterten sie einander schweigend.
„Wer ist Rembrandt?“, fragte Alex schließlich. 

Hinter der fünften Tür fand Alex endlich, was er suchte. Mit einem Seufzer der Erleichterung sperrte er die Badezimmertür hinter sich ab und ließ sich am Rand des Whirlpools nieder. Es war wohl an der Zeit, gründlich über die Situation nachzudenken. Vielleicht war es ein Fehler, den Alten allein zu lassen, denn so hatte auch dieser Gelegenheit zum Nachdenken. Dreißig Millionen waren verdammt viel Geld, selbst wenn es am Ende rausstellen sollte, dass es dann doch nur zehn Millionen waren. Wie allerdings sollte er das verdammte Bild unbemerkt aus dem Haus schaffen? Dieser Leutwyler hatte sicherlich das gesamte Gelände mit Alarmanlagen und Kameras überzogen.
„Oder mit Bogenschützen“, dachte Alex finster. 
Er erhob sich und trat vors Waschbecken. Eine ganze Weile lang hielt er den Kopf unter den Hahn und ließ kaltes Wasser auf seinen Nacken herabrieseln. Die Frage war, ob es überhaupt Sinn machte, das Gemälde zu stehlen, denn in gewissem Sinne war es ja nun sein eigenes Gemälde. Schließlich konnte niemand vorhersagen, wie lange er noch diesen Leutwyler spielen würde, zumindest er konnte das nicht. In der gegenwärtigen Lage war es wohl das Vernünftigste, sich um die verdammte Scheidung zu kümmern. Dann war er wenigstens diese Frau los. Leutwyler würde es ihm danken, und wenn nicht, dann war wenigstens er selbst sich dankbar.
Alex verzog das Gesicht. Die Situation war irgendwie sur-real-istisch, und das gefiel ihm nicht, der dreißig Millionen zum Trotz, denn die waren im Moment nur pot-en-tiell.
„Konzentrier dich auf die Fakten“, sagte er sich, und die Fakten bestanden nun einmal darin, dass er sich in einer halben Stunde mit seiner Frau treffen musste. Er wusste ja nicht einmal, wie sie hieß, und wie er selbst hieß, wusste er auch nicht. 
Er schlüpfte in die Klamotten, die irgendjemand für ihn auf einem marmornen Schemel bereitgelegt hatte und verließ den Raum.
Eine Zeit lang irrte er etwas ziellos auf den Korridoren herum, bis er sich eingestehen musste, dass er sich verlaufen hatte und ihm nichts anderes übrigbleiben würde, als nach dem Weg zu fragen. 
„Hey, du!“, rief er einer Gestalt nach, die gerade um die Ecke biegen wollte. Der Mann wandte sich um und kehrte dann folgsam zurück. Um die Schultern trug er einen blutverschmierten weißen Kittel, in der rechten Hand hielt er ein ebenso blutiges Schlachterbeil. Er war etwas größer als Alex, aber nicht um viel. Entweder handelte es sich um den Koch oder um irgendeinen irren Axtmörder. Der Mann musterte Alex mit einem ungeduldigen Gesichtsausdruck, als hätte er Besseres zu tun, als sich mit seinem Dienstherrn zu unterhalten.
„Ich suche das Empfangszimmer“, sagte Alex. 
„Sollten Sie denn nicht wissen, wo es ist?“ Der mutmaßliche Koch strich sich eine aschblonde Haarsträhne aus dem farblosen Gesicht. Sein Alter war schwer zu schätzen, doch konnte er nicht viel älter als fünfunddreißig sein.
„Weshalb schleifst du eine blutige Axt mit dir herum?“, antwortete Alex mit einer Gegenfrage. 
Die Stille wurde lediglich von einem leisen elektrischen Summen unterbrochen, welches Alex umso mehr nervte, je länger das Schweigen andauerte. 
„Im Ostflügel“, erwiderte der andere, als Alex schon glaubte, es keinen Augenblick länger aushalten zu können. 
„Das Gebäude besteht aus mehreren Teilen?“, vergewisserte sich Alex. „Nein, warte!“ Er hielt den Mann an der Schulter zurück, als dieser sich ohne Verabschiedung entfernen wollte. „Bring mich hin!“
Gute fünf Minuten folgte er dem Angestellten durch eine schier endlose Flucht von Korridoren, einer schlechter beleuchtet als der andere. Es war zwar helllichter Tag – zumindest ging Alex davon aus – aber sie befanden sich anscheinend so tief im Gebäude, dass kein Sonnenlicht durch irgendeine Ritze drang. Scheinbar wahllos führte ihn sein Begleiter mal nach rechts und mal nach links, mal die Treppe hinauf und mal hinab. Alex fühlte sich zunehmend unwohl in der Gegenwart seines Gefährten, doch ohne ihn hätte er sich sicherlich noch unwohler gefühlt. Ganz davon abgesehen schob der lächerlich lange Fußweg das Treffen mit seiner Frau, d.h. Leutwylers Frau, hinaus, und so sah er von Beschwerden ab.
„Was gibt's zum Mittagessen?“, fragte er, nur um irgendetwas zu sagen.
Der Mann warf ihm einen Blick zu. „Woher soll ich das wissen?“ Seine hellen grauen Augen funkelten im elektrischen Licht der künstlichen, entlang der Gänge angebrachten Fackeln.
„Bist du nicht der Koch?“
„Nein.“
Alex dachte kurz nach. „Aber du arbeitest in diesem Haushalt?“, vergewisserte er sich.
„Nein.“
Diesmal überlegte Alex etwas länger. „Aber du kennt den Weg zum Empfangsraum?“
„Ja.“
„Na dann.“ Alex atmete auf. Es wäre auch wirklich zu ärgerlich gewesen, diesen Weg ganz umsonst zurückgelegt zu haben. 
Seine Gedanken kehrten zu Rembrandt zurück, oder wie auch immer der Typ nochmal hieß. Das Haus war ein Scheiß-Labyrinth, da galt es, erst die Lage auszukundschaften, bevor er sich an den Diebstahl machte. In Leutwylers Büro gab es sicherlich Festnetzanschluss, doch das nützte ihm rein gar nichts, denn er kannte keine einzige Nummer auswendig. 
„Wo geht's nach draußen?“, fragte er, während er sich anschickte, eine weitere steinerne Treppe zu erklimmen. 
„Sie werden den Weg nicht finden.“
„Deshalb frage ich ja dich.“ 
Bevor der andere antworten konnte, ertönten Schritte im Gang zu Alex' Linken. In einem Reflex riss Alex seinem Begleiter die Axt aus der Hand und schwang sie über dem Kopf. So kam es, dass er an diesem Morgen fast zum zweiten Mal den Butler erschlagen hätte, der in diesem Moment um die Ecke bog. 
„Da sind Sie ja endlich“, sagte der Butler mit einem Blick auf die Axt. „Frau Leutwyler ist bereits vor zehn Minuten eingetroffen.“
Alex verzog verärgert das Gesicht. War es denn wirklich zu viel verlangt, dass der Kerl auch nur ein einziges Mal den Vornamen dieser Frau aussprach? Er senkte die Axt und sah sich nach dem Mann im blutigen weißen Kittel um, um sie ihm zurückzugeben. Da von ihm jedoch weit und breit jede Spur fehlte, lehnte er sie kurzerhand gegen die Wand. 
„Na, dann wollen wir die Gute nicht länger warten lassen“, sagte er und folgte dem Butler, der sich bereits in Bewegung gesetzt hatte und sich ungeduldig nach ihm umsah. 
Alex musste sich bereits fast am Ziel befunden haben, jedenfalls dauerte es keine zwei Minuten, bis der Butler vor einer mit kunstvollen Schnitzereien versehenen Holztür haltmachte. Die Szenen zeigten irgendein grausiges Ritual, und das Holz war an mehreren Stellen geschwärzt. Mit Sicherheit war das Ding was wert, aber es ging wirklich nicht an, eine verdammte Tür nach draußen zu schmuggeln. Während Alex in Gedanken noch mit der Tür beschäftigt war, hatte der Butler sie bereits geöffnet, und so blieb Alex nichts anderes übrig, als hinter ihm den Raum zu betreten.
Auf einem mit silbernen Fäden bestickten Sofa saß eine schlanke, etwa fünfundvierzigjährige Frau. Das brünette, leicht rötliche Haar trug sie zu einer kunstvollen Hochsteckfrisur zusammengesteckt, ihr Kostüm war aus sichtlich teurem Material. Das Collier um ihren Hals lenkte den Blick nicht auf ihr Dekolletee, sondern davon ab. Alex hatte keinen Zweifel daran, wer für all den Schnickschnack bezahlt hatte. Neben ihr saß ein kleiner Junge, der ihm auf Anhieb unsympathisch war. Sein Sohn vermutlich. 
Bei seinem Eintreten erhob sich die Frau und kam auf ihn zu. „Agathon“, sagte sie ohne den Hauch eines Lächelns. 
„Agathon?“, dachte Alex. Es war unfassbar, welch bescheuerte Namen manche Leute ihrem Nachwuchs gaben. Wenn man sein Kind hasste, dann hätte man es besser erst gar nicht gezeugt.
Leutwylers Frau musterte ihn mit einem unwilligen Blick. „Du weißt, weshalb ich gekommen bin.“
Der Butler drängte sich zwischen ihnen hindurch und eilte zu einem schweren hölzernen Schreibtisch, dessen Füße in geschnitzten Klauen endeten. 
„Herr Leutwyler wird die Papiere sogleich unterschreiben“, versicherte der Alte. Er zog einen Stapel Dokumente aus der Schublade und richtete geschäftig die Seiten her, die es zu unterzeichnen galt. Dem Kerlchen schien noch mehr daran gelegen zu sein, die Frau loszuwerden, als Herrn Leutwyler selbst. 
Alex griff nach dem Füllfederhalter und beugte sich über die Dokumente. Er fragte sich, ob Leutwyler den Wisch wohl jemals persönlich durchgelesen hatte. Vermutlich nicht. Gut möglich, dass Alex dabei war, sein eigenes Todesurteil zu unterzeichnen, bzw. das von Leutwyler. Alex mochte es nicht, über den Tisch gezogen zu werden, aber die Aussicht, diesen Vertrag durchlesen zu müssen, behagte ihm noch viel weniger, und so unterschrieb er die Papiere ungesehen. Ganz gleich wie die Sache ausging, Leutwyler hatte zumindest was fürs Leben gelernt: In der heutigen Zeit brauchte man nicht zu heiraten, um eine Frau ins Bett zu kriegen – und wer es dennoch tat, der wurde hart bestraft.
„Was ist?“, fragte Alex und sah in die Runde.
Seine Frau folgte jeder seiner Bewegungen mit erwartungsvoller Erregung. Den meisten Frauen stand ein Lächeln gut zu Gesicht, doch bei ihr war das nicht der Fall. Der Butler stand so dicht bei Alex, dass dieser kaum den Arm rühren konnte, um die nächste Unterschrift zu setzen. Den Blick seiner trüben Augen hielt er starr auf das Papier gerichtet. Selbst das Kind war herangekommen. Mit seinen großen grauen Augen und der blassen Haut sah der Kleine nicht nur gruslig aus, sondern ihm auch überhaupt nicht ähnlich. 
„Da hat sie ihm also auch noch ein Kuckuckskind untergeschoben“, dachte Alex und unterschrieb das letzte Papier. 
 
Der Rückweg war wesentlich kürzer als der Hinweg. Das war zwar seltsam, aber Alex konzentrierte sich auf den positiven Aspekt: Der Rückweg war kürzer als der Hinweg. 
Mit einem Gefühl der Erleichterung trat er auf den Balkon seines Arbeitszimmers (worin die Arbeit dieses Mannes bestand, insofern er denn eine hatte, war Alex nach wie vor nicht klar) und zündete sich eine von Leutwylers Zigarren an, weil der Kerl keine richtigen Zigaretten hatte. Er war den ganzen Tag noch nicht zum Rauchen gekommen und hatte auch sonst nichts Sinnvolles getan. Es galt, Kontakt mit ein paar Leuten aufzunehmen, die ihm mit Rembrandt helfen konnten. 
Er stützte sich mit den Ellenbogen auf die weiß getünchte Balustrade und sah sich zum ersten Mal genauer um.
„Verdammt!“, entfuhr es ihm. Was er für die Grünanlage vor dem Anwesen gehalten hatte, entpuppte sich bei genauerem Hinsehen als Innenhof von geradezu gigantischen Ausmaßen. 
„Dieses Gebäude kann unmöglich derart groß sein!“, fuhr es ihm durch den Kopf. Und dennoch war dem ganz offensichtlich so. 
Eine Weile lang rauchte er schweigend vor sich hin, während er missmutig den Gärtner beobachtete, der gerade einen Rosenstrauch zurechtschnitt. Die Szene war so idyllisch, dass ihm das Kotzen kam, und so rief er den Mann zu sich, obwohl er eigentlich gar nichts von ihm wollte. 
„Sir?“, fragte der Gärtner und starrte zu Alex' Balkon empor. 
„Du bist also der Gärtner“, stellte Alex fest, da er wie gesagt dem Mann nichts mitzuteilen hatte.
„Nein, Sir.“
Alex schloss die Augen und nahm einen tiefen Zug. „Aber du arbeitest hier?“
„Ich bin der Gehilfe des Gärtners“, erklärte der Mann rasch.
„So ist das.“
„Doch ich träume davon, eines Tages selbst Gärtner zu werden.“
Alex seufzte innerlich. „Man sollte sich seine Ziele nicht zu hoch stecken, mein Freund.“
Der Mann ließ den Kopf hängen. „Ich weiß ja, dass ich für diesen Beruf nicht die richtige Qualifikation habe“, sagte er. „Aber ich dachte, wenn ich mich anstrenge … “
„Hast du irgendeine Form von Ausbildung?“, unterbrach Alex, der zu sehr mit seinen eigenen Problemen beschäftigt war, um sich die Sorgen anderer Leute anzuhören.
„Ich habe ein BWL-Studium absolviert.“
„Und … “ Alex suchte nach den richtigen Worten. „Und, was zum Teufel, machst du dann hier?“
„Ich … ich weiß es nicht.“
Die verdammte Zigarre war schon wieder ausgegangen, und so drückte Alex sie verärgert auf der Balustrade aus und schnippte die Überreste nach unten.
„Hast du Kippen?“, fragte er. 
„Sir?“
„Ach, vergiss es.“ Alex wandte sich ab und wollte ins Zimmer zurückkehren. Da musste er feststellen, dass die Balkontür geschlossen war. Vergeblich rüttelte er an der Klinke. Während er sich mit dem Gärtnergehilfen unterhalten hatte, musste sich jemand unbemerkt in sein Arbeitszimmer geschlichen und ihn ausgesperrt haben. Bei diesem jemand handelte es sich allem Anschein nach um den kleinen Jungen, der auf der anderen Seite der Glastür stand und ihn anglotzte.
„Hey, Gnom“, sagte Alex, da er den Namen des Jungen nicht kannte. „Mach die gottverdammte Tür auf!“
Der Kleine machte indes nicht den Eindruck, als wollte er der Bitte nachkommen. Ganz im Gegenteil trat er sogar einen Schritt zurück. 
Alex fluchte ungehalten und kehrte zur Balustrade zurück.
„Hey, du, Gärtner!“, rief er. 
„Ich bin lediglich der Gehilfe des Gärtners, Sir.“
„Hast du ein Seil?“
„Sir?“, fragte der Gärtnerhilfe verwirrt. 
„Hast du nun eins oder nicht?“, blaffte Alex ihn an. 
Die ganze Nummer begann, ihn ganz fürchterlich zu stressen, und wäre da nicht Rembrandt gewesen, hätte er gewiss schon längst das Weite gesucht. 
„Ich könnte im Schuppen nachsehen“, überlegte der Mann, klang jedoch nicht allzu zuversichtlich. 
Mit einem weiteren Fluch zog Alex sein Hemd aus und wickelte es um die Faust. Der Junge, der ihn die ganze Zeit über wachsam beobachtet hatte, entfernte sich weiter von der Tür – und er tat gut daran. Ohne Vorwarnung holte Alex aus und schlug dicht über dem Griff gegen die Scheibe. Mit einem Schrei rannte Leutwylers Sohn aus dem Zimmer, als Alex die Hand durch das entstandene Loch steckte und den Türhebel nach oben drückte. 
Alex schüttelte die Glassplitter aus dem Hemd und warf es dann achtlos auf den Schreibtisch. Erst jetzt fiel ihm auf, dass der Raum mit einer Minibar ausgestattet war, und das hob seine Laune beträchtlich. Nach kurzer Überlegung entschied er sich für ein Gläschen Whiskey. Das Zeug war zweifellos schweineteuer, doch Alex schüttete es runter, ohne auch nur ein einziges Mal daran gerochen zu haben. Mit einem abermals vollgeschenkten Glas kehrte er an den Schreibtisch zurück, machte dann jedoch nochmal kehrt und nahm auch die Flasche mit. Halbwegs zufrieden ließ er sich auf dem Bürosessel nieder und legte die Füße auf die Tischplatte. 
Eher aus Mangel an alternativen Beschäftigungsmöglichkeiten denn aus wirklichem Interesse ging er den Inhalt der beiden obersten Schreibtischschubladen durch. Die dritte, so zeigte sich, war verschlossen. Er verzichtete indes darauf, Gewalt anzuwenden, weil er wie gesagt nicht wirklich wissen wollte, was da drin war. 
Er seufzte und schenkte sich ein drittes Glas Whiskey ein. 
„Woran denken Sie, Herr Leutwyler?“, fragte ein Stubenmädchen, dass sich ihm weniger unbemerkt als unbeachtet genähert hatte.  
„Rembrandt“, brummte Alex und leerte das Glas. 
Die junge Frau warf ihm einen bewundernden Blick zu, bevor sie sich mit einem Kehrwisch in der Hand auf dem Boden niederließ. 
„Du bist wohl das Stubenmädchen“, mutmaßte er.
Sie hielt mitten in der Bewegung inne. „Was bringt Sie auf diese Idee?“, fragte sie mit einem Hauch von Schärfe in der Stimme. 
„Weil du die Glasscherben zusammenkehrst“, erwiderte Alex. Er machte Anstalten, sich ein weiteres Glas einzuschenken, entschied sich dann jedoch dagegen.
Die junge Dame starrte auf den Kehrwisch, als hätte sie ihn gerade eben erst bemerkt. „Ach ja“, sagte sie und fuhr in ihrer Tätigkeit fort. Alex entging nicht, dass ihre Hände fast unmerklich zitterten.
„Was für eine Freakshow“, dachte er. Allem Anschein nach war er selbst die einzige normale Person im Haus. 
Er betrachtete die junge Frau etwas genauer, in der Hoffnung, dass sie vielleicht hübsch war, doch leider war das nicht der Fall. Alex konnte darüber nur den Kopf schütteln: Dieser Leutwyler machte aber auch gar nichts richtig. Der Typ konnte direkt froh sein, dass Alex für eine Weile seine Angelegenheiten übernommen hatte, selbst wenn ihn das den Rembrandt kosten würde. 
„Wie heißt du?“, fragte er, obwohl er das wohl rein theoretisch wissen sollte.
Auch auf diese scheinbar simple Frage fiel ihr die Antwort sichtlich schwer. „A-anna“, brachte sie schließlich hervor. 
„Hör zu, Anna“, sagte er. „Weshalb nimmst du dir nicht den Rest des Tages frei? Dieses Haus hat so viele Zimmer, wenn eines davon unordentlich ist, geh' ich einfach in ein anderes.“
„Aber wo soll ich denn hin?!“, rief sie.
Alex kam zu dem Schluss, dass eine Unterhaltung mit dieser Person noch weniger Sinn machte als mit all den anderen, die er bislang getroffen hatte.
„Man sieht sich“, sagte er und schlenderte zur Tür.
Er war bereits an der Türschwelle angekommen, als er sein Verhalten bereute. „Entschuldige … “, begann er.
Sie saß völlig regungslos zwischen den Scherben. Beim Klang seiner Stimme drehte sie den Kopf.
„Du hast nicht zufällig Zigaretten?“
„Zigaretten?“, wiederholte sie. „Ist das tatsächlich Ihre einzige Sorge?“
„Nicht meine einzige“, erwiderte er. „Im Moment aber die dringendste.“
Er tastete seine Taschen nach Kleingeld ab, fand jedoch keines. 
„Willst du nicht für mich zum Zigarettenautomaten laufen?“
„Wie bitte?“
„Leider habe ich kein Geld bei mir“, fuhr er fort. „Du wirst also für mich zahlen müssen. Ich werd's auf dein Gehalt draufschlagen, Ehrenwort.“
„Wovon sprechen Sie da? Im gesamten Gebäude gibt es keinen einzigen Zigarettenautomaten.“
„Dann wirst du das Gebäude wohl verlassen müssen“, sagte Alex langsam und deutlich. Die Konversation begann ihn allmählich ernsthaft zu nerven. 
Das Stubenmädchen starrte ihn an, als sei er nicht mehr ganz bei Sinnen. 
„Also gut.“ Alex atmete tief durch.
Allem Anschein nach würde ihm nichts anderes übrigbleiben, als sich die Zigaretten selbst zu holen. Das konnte freilich ewig dauern, weil er zuerst den Ausgang aus diesem Labyrinth suchen musste. Er setzte dazu an, Anna nach dem Weg zu fragen, besann sich dann jedoch eines Besseren und verließ wortlos den Raum. 
Da sich der Innenhof zu seiner Linken befand, wandte er sich nach rechts. 
Er war noch nicht weit gekommen, als ihn der Butler einholte. Während Alex in diesem Gemäuer nie so recht wusste, wo er sich gerade befand, schien der Butler dafür umso besser über Alex' Aufenthaltsort Bescheid zu wissen. Ob das gut oder schlecht war, wusste Alex nicht so recht. Wahrscheinlich aber eher schlecht, da es auf das Vorhandensein von Überwachungskameras auf allen Gängen hindeutete. Unwillkürlich sah er sich um. 
„Das Mittagessen ist angerichtet, Sir“, sagte der Butler, und das war definitiv eine gute Nachricht. 

Die Mahlzeit bestand, wie sich herausstellte, aus fast rohem Fleisch, zerkochten Kartoffeln und Nudeln, die zu einem gigantischen Ball zusammengeklebt waren. Der Pudding war so dünnflüssig wie die Suppe, was wohl daran lag, dass sich das Pulver zu augapfelgroßen Konglomeraten zusammengeschlossen hatte, die in der geschmacklosen Brühe trieben. Was die Suppe betraf, so schmeckte sie so, wie sie aussah. Entweder verstand der Koch nicht das Geringste von der Essenszubereitung, oder er hasste seinen Dienstherrn, oder aber beides. Alex zerdrückte eine Kartoffel mit der Gabel und versuchte, sich vorzustellen, es sei Kartoffelbrei. 
Neben dem kleinen Jungen nahm noch ein etwa vierzehnjähriges dunkelhaariges Mädchen an der Mahlzeit teil. Außer den weißen Rüschen an den kurzen Ärmeln war ihr Kleidchen vollkommen schwarz. Im Gegensatz zu ihrem Bruder sah sie schon mehr nach seinem Kind aus, aber sicher sein konnte man freilich nie. Er erinnerte sich, dass der Butler gar von einem dritten Sprössling gesprochen hatte, und auch ein viertes Gedeck deutete auf dessen Existenz hin. Der Platz blieb indes bis zum Ende leer, und niemand sprach seine Abwesenheit an. Alex nahm an, dass es damit schon irgendwie seine Richtigkeit hatte, und widmete seine Aufmerksamkeit wieder dem Teller, denn die Nahrungsaufnahme forderte ihm tatsächlich einen Großteil seiner Konzentration ab. 
„Mama war heute Vormittag da, Stuttgart“, sagte der kleine Junge und musterte seine Schwester vorwurfsvoll. „Sie hat nach dir gefragt.“
„Ich war beschäftigt“, erwiderte das Mädchen kurz angebunden.
Es kostete Alex einige Sekunden, um zu begreifen, dass „Stuttgart“ offenbar der Vorname des Mädchens war. Vermutlich war die Kleine dort gezeugt worden oder so. Er schnitt ein Stück aus dem Spaghettiball und tunkte es in die Soße. Blieb nur zu hoffen, dass es sich bei der bräunlichen Flüssigkeit um ein Fertigprodukt handelte, sonst ging er ein echtes Gesundheitsrisiko ein. 
„Wie ich hörte, hast du die Scheidungspapiere unterschrieben“, wandte sich Stuttgart mit einem Mal an ihren Vater. Aus ihren dunklen Augen sprach unverhohlener Vorwurf. 
„Herrgott nochmal!“ Alex spießte einige grüne Blätter der Garnitur auf die Gabel, weil sie allem Anschein nach unbehandelt waren. „Was ist denn schon dabei? Eurem Verhalten nach könnte man meinen, ich hätte einen Vertrag mit dem Teufel abgeschlossen!“
„So ist es auch!“, schrie Stuttgart unvermittelt. Sie knallte ihr Besteck auf den Teller und stand mit einem Ruck auf. 
Alex dachte nicht daran, sie zurückzuhalten, als sie aus dem Zimmer stürmte, und vermutlich hätte sie ohnehin nicht auf ihn gehört.
„Aber ich hätte sie nach Zigaretten fragen können“, schoss es ihm durch den Kopf, als die Tür ins Schloss flog. „Sie ist der Typ von Teenager, der einfach nur deshalb raucht, um seine Eltern zu ärgern.“
Die Stille, die sich nun über den Raum senkte, war geradezu tödlich. Sich allein mit diesem Jungen in einem Raum aufzuhalten, war definitiv unangenehm. Irgendetwas an der Art des Kleinen zog ihn runter, und Alex bedauerte bereits, Stuttgart nicht zurückgehalten zu haben. So war er sogar um den Dienstboten froh, der zu ihm trat, um seinen Teller abzuräumen. 
„Der Koch lässt fragen, ob alles zu Ihrer Zufriedenheit war“, fragte der Mann.
Alex warf ihm einen finsteren Blick zu. „Alles Bestens“, erwiderte er kalt. 
Der Diener warf einen Blick auf die kaum angerührten Speisen. „Ich kann ihm also ausrichten … “
„ … dass alles zu meiner vollsten Zufriedenheit war, ja“, unterbrach Alex und erhob sich. 
Ursprünglich hatte er vorgehabt, in sein Schlafzimmer zurückzukehren, um die Verankerung des Rembrandt im Rahmen zu untersuchen, aber kaum, dass er den Speisesaal verlassen hatte, erinnerte ihn ein heftiges Magenknurren daran, dass er noch immer hungrig war. Dass er zuvor drei Gläser Whiskey auf nüchternen Magen getrunken hatte, verbesserte seine körperliche Verfassung auch nicht unbedingt. Wo ein Speisesaal war, da konnte die Küche nicht allzu weit entfernt sein, jedenfalls in einem normalen Haushalt. Mit etwas Glück hatte jemand vom Küchenpersonal Mitleid mit ihm und überließ ihm etwas rohes Gemüse oder andere Nahrungsmittel, die noch nicht mit dem Koch in Berührung gekommen waren. Alex war da nicht sehr anspruchsvoll, schließlich hatte er über fünf Jahre lang seine Mahlzeiten im Knast eingenommen. 
Nach etwa zweihundert Metern stieg ihm ein unangenehmer Geruch in die Nase. Alex beschleunigte seine Schritte: Offenbar war er dem Ziel nahe. Er stieg eine schlecht beleuchtete Treppe hinab und danach eine noch schlechter beleuchtete. Gerade, als er die Hand nach der Klinke ausstrecken wollte, wurde die Tür vor ihm aufgestoßen und eine hochgewachsene, schlanke Gestalt trat heraus. Der Axtmörder. Sein Kittel war zwar nicht sauber, aber wenigstens handelte es sich bei den Flecken diesmal nicht um Blut. In der linken Hand hielt er ein kleines, rechteckiges Päckchen. Alex' Herzschlag beschleunigte sich, als er begriff, worum es sich bei dem Gegenstand handelte. 
„Krieg' ich eine?“, platzte es aus ihm heraus.
„Die Schachtel ist fast leer“, entgegnete der Axtmörder, „und im gesamten Gebäude gibt es keinen einzigen Zigarettenautomaten.“
Alex entwendete ihm kurzerhand die Zigarettenschachtel. Er hatte es mit Freundlichkeit probiert, doch es hatte nicht funktioniert. Tatsächlich waren nur noch fünf Zigaretten in der Schachtel. Alex nahm sich eine davon, die Schachtel ließ er in seiner Hosentasche verschwinden.
„Hast du Feuer?“, fragte er.
Der andere musterte ihn ohne zu blinzeln. „Wirst du mir die Schachtel zurückgeben?“, fragte er zurück.
Alex trat kurzerhand auf ihn zu und zog ihm das Feuerzeug aus der Kitteltasche. 
„Nein“, entgegnete er und zündete sich die Zigarette an. „Im gesamten Gebäude gibt es keinen einzigen Zigarettenautomaten, und anscheinend ist es ein Problem, sich welche von draußen zu beschaffen.“
Auf dem bleichen Gesicht des Axtmörders zeigte sich keinerlei Regung. „Alle Achtung“, sagte er. „Du schlägst dich weit besser als der letzte.“
Alex schloss die Augenlider und nahm einen tiefen Zug.
„Was ist das?“, entfuhr es ihm. Er riss die Augen auf und starrte auf die Zigarette. „Rauchst du etwa Lights?“ Gott sei Dank hatte er dem Kerl die gesamte Packung abgenommen, schließlich musste er die doppelte Menge an Zigaretten rauchen, um unter solchen Umständen auf ein normales Nikotinlevel zu kommen. 
„Das ist nicht meine Entscheidung.“