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Udo Schnelle

Die ersten 100 Jahre
des Christentums
30–130 n.Chr.

Die Entstehungsgeschichte einer Weltreligion

2., durchgesehene Auflage

Vandenhoeck & Ruprecht

Prof. Dr. theol. Udo Schnelle, o. Professor für Neues Testament an der theologischen Fakultät in Halle. Veröffentlichungen: Gerechtigkeit und Christusgegenwart. Vorpaulinische und paulinische Tauftheologie, 21986; Einführung in die neutestamentliche Exegese, 82014; Antidoketische Christologie im Johannesevangelium, 1987; Wandlungen im paulinischen Denken, 1989; Neutestamentliche Anthropologie, 1991; Neuer Wettstein II (mit G. Strecker); Neuer Wettstein I/2, I/l.l, I/1.2, 1996.2001.2008.2013; Einleitung in das Neue Testament, 82013; Das Evangelium nach Johannes, 42009; Paulus. Leben und Denken, 22014; Theologie des Neuen Testaments, 22014; Die Johannesbriefe, 2010; Aufsätze.

Online-Angebote oder elektronische Ausgaben sind erhältlich unter www.utb-shop.de

Mit 12 Abbildungen

Umschlagabbildung: Altkirchliches Christogramm; Kunstsammlung der Theologischen Fakultät Halle; Foto: Udo Schnelle

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2016, 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen/

Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A.

www.v-r.de

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Umschlaggestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart

UTB-Band-Nr. 4411

ISBN 978-3-8463-4606-8 (UTB)

Vorwort

Dieses Buch will in die komplexe Geschichte des frühen Christentums einführen und wendet sich gleichermaßen an Theologen/Theologinnen und interessierte Laien. Drei Aspekte sind in den letzten zehn Jahren der Arbeit an diesem Buch in den Vordergrund getreten: 1) Das frühe Christentum war von Anfang an eine vielgestaltige, plurale Bewegung. 2) Ereignis- und Ideengeschichte bildeten mit dem Beginn des frühen Christentums eine Einheit; Ereignisse riefen theologische Deutungsleistungen hervor und Ideen machten Geschichte. 3) Erstaunlich sind die hohe Literaturproduktion der neuen Bewegung und die damit verbundenen denkerischen und kulturellen Leistungen. Man schuf Literatur und bewegte sich in Literatur, so dass das frühe Christentum auch als ein Bildungsphänomen begriffen werden muss.

Halle, im Dezember 2014

Udo Schnelle





Vorwort zur 2. Auflage

Die erste Auflage war innerhalb sehr kurzer Zeit vergriffen; ein Zeichen für die gute Aufnahme dieses Buches. Für die 2. Auflage wurde der Text auf Fehler durchgesehen.

Halle, im Dezember 2015

Udo Schnelle

Inhalt

1. Vom Schreiben einer Ursprungsgeschichte

1.1 Geschichte als Gegenwarts- und Vergangenheitsdeutung

Interesse und Erkenntnis

Fakten und Fiktion

Das Vorgegebene

1.2 Geschichte und Methode

Quellen

Chronologischer Ansatz

Kulturelle Kontexte und Handlungsträger

Ideen- und Sozialgeschichte

Mikrogeschichte

Makrogeschichte

2. Begriff und Abgrenzung der Epoche

2.1 Urchristentum oder frühes Christentum?

2.2 Der zeitliche Rahmen

3. Voraussetzungen und Kontexte

3.1 Der Hellenismus als Weltkultur

Karte: Der Feldzug Alexanders

Griechisch als Weltsprache

Judentum und Hellenismus

3.2 Die griechisch-römische Kultur

Griechische Religion

Römische Religion

Mysterienreligionen

3.2.1 Philosophische Hauptströmungen

Kyniker

Stoa

Epikur

Skeptizismus

Mittelplatonismus

Tafel 1: Philosophische Schulen/Strömungen

3.3 Das Judentum

Der Begriff ‚Judentum‘

Die Diaspora

Die politische Situation des Judentums um die Zeitenwende

Makkabäeraufstand und Gruppenbildung

Messianische Gestalten und Bewegungen

Der jüdische Krieg

3.3.1 Die jüdische Religion

Apokalyptik

Weisheit

Tafel 2: Chronologie der jüdischen Literatur

3.4 Die politische und wirtschaftliche Situation im Imperium Romanum des 1./2. Jh. n.Chr.

Karte: Das römische Reich in ntl. Zeit

3.4.1 Grundzüge der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der frühen Kaiserzeit

Die Gesellschaftsstruktur

Die antike Wirtschaft

Das frühe Christentum in seinen Kontexten

Tafel 3: Chronologie Weltgeschichte/Palästina

4. Die neue Bewegung der Christusgläubigen

4.1 Die Osterereignisse

Das Begräbnis Jesu

Erfahrungen des Auferstandenen

Das leere Grab

4.2 Die Entstehung der Christologie

Jesu vorösterlicher Anspruch

Das Wirken des Geistes

Relecture der Schrift

4.3 Der neue Diskursgründer und das neue Denken

Jüdische Basissätze

Griechische Vorstellungen

Neues Denken

5. Die Jerusalemer Gemeinde

5.1 Die Anfänge

Die ersten Ereignisse

Erste Strukturen

Religiöse Erfahrungen

5.2 Gruppen und Personen

Der Zwölferkreis

Die Apostel

Das lukanische Konzept

Das paulinische Konzept

Weitere Apostelkonzeptionen

Petrus

Jakobus

Die Familie Jesu

Die Zebedaiden

Barnabas

5.3 Orte: Der Tempel

5.4 Konflikte

Die Sadduzäer als Gegner der neuen Bewegung

Paulus als Verfolger

5.5 Theologische Institutionen und Diskurse

Taufe

Herrenmahl

Neue Sozialformen?

Hebräer und Hellenisten

Stephanus und die Folgen

5.6 Texte: Die Passionsgeschichte

5.7 Die theologische Entwicklung der frühen Jerusalemer Gemeinde

Christologische Hoheitstitel

Weisheit und Präexistenz

6. Frühe Gemeinden und frühe Mission außerhalb Jerusalems

6.1 Kontexte: Mobilität und religiös-philosophische Vielfalt im Römischen Reich

Äußere Faktoren

Innere Faktoren

6.2 Personen

Philippus

Petrus

Barnabas

Paulus

Apollos

Prisca und Aquila

6.3 Gruppen: Die Jesus-Bewegung

Strukturen

Leben und Ethik

In den Konflikten der Zeit

Jesus als Wundertäter

Die Vielfalt der Jesus-Bewegung

6.4 Landschaften/Orte

Galiläa

Judäa

Samaria

Damaskus

Antiochia

Rom

Alexandria

6.5 Konkurrenten und Konflikte

Die Täuferbewegung

Die Verfolgung unter Agrippa I

Das Claudius-Edikt

Lokale Konflikte

6.6 Die Herausbildung einer eigenen Kultpraxis und Theologie/erste Institutionalisierungen

Neue Normen im jüdischen Kontext

Neue Normen im hellenistischen Kontext

Wertegeneralisierung

6.7 Texte

Frühe Traditionen

Vorformen der Evangelien

Die Logienquelle

6.8 Die 1. Missionsreise und die beschneidungsfreie Völkermission

6.9 Die drei großen Strömungen des Anfangs

Die Jerusalemer Gemeinde

Die Jesus-Bewegung

Antiochia und Paulus

Pluralität von Anfang an

Exkurs: Gab es eine frühe vierte Entwicklungslinie?

7. Der Apostelkonvent

7.1 Der Ausgangskonflikt

7.2 Das Sachproblem

7.3 Der Verlauf

7.4 Das Ergebnis

7.5 Die Interpretationen des Ergebnisses

7.6 Der antiochenische Zwischenfall

Tafel 4: Chronologie des frühen Christentums bis 50 n. Chr.

8. Die eigenständige paulinische Mission

8.1 Perspektive, Verlauf und Konflikte

Die 2. Missionsreise

Die 3. Missionsreise

Missionsstrategien

8.2 Personen

Paulus und seine Mitarbeiter

Die Paulusschule

8.3 Strukturen

Hausgemeinden

Ekklesia

Gaben, Aufgaben und Ämter

Soziale Schichtung

Sklaven und Herren

Männer und Frauen

Griechen und Juden

8.4 Außen-Diskurse

Der Diskurs mit dem Judentum

Der Diskurs mit dem Imperium Romanum

8.5 Innen-Diskurse

Pneumatischer Enthusiasmus

‚Starke‘ und ‚Schwache‘

Das Apostelamt

Die Mission gegen Paulus und die galatische Krise

Die Kollekte und die Jerusalemer Gemeinde

8.6 Theologie in Briefform: Die Paulusbriefe

8.7 Paulus und die Herausbildung des frühen Christentums als eigenständige Bewegung

Bedingungen für die Herausbildung einer neuen Bewegung

Die Systemqualität paulinischer Theologie

9. Die Krise des frühen Christentums um das Jahr 70

9.1 Der Tod von Petrus, Paulus, Jakobus und erste Verfolgungen

9.2 Die Zerstörung des Tempels, der Untergang der Jerusalemer Gemeinde und der fiscus Judaicus

9.3 Der Aufstieg der Flavier

9.4 Evangelienschreibung und Pseudepigraphie als innovative Krisenbewältigung

Evangelienschreibung

Pseudepigraphie

Tafel 5: Chronologie des frühen Christentums bis 70 n.Chr.

10. Die Etablierung des frühen Christentums

10.1 Eine neue Gattung für eine neue Zeit: Die Evangelien

10.2 Die Synoptiker und die Apostelgeschichte als Meistererzählungen

10.2.1 Markus: Der Gottessohn für alle

10.2.2 Matthäus: Das Heil Israels für alle Völker

10.2.3 Lukas: Gottes Treue in der Geschichte

10.3 Das bleibende Erbe des Paulus

10.3.1 Die Apostelgeschichte als erste Paulusbiographie

10.3.2 Die Deuteropaulinen und die Sammlung der Paulusbriefe

Die Deuteropaulinen

Die Sammlung der Paulusbriefe und die Anfänge der christlichen Überlieferungskultur

10.4 Das johanneische Christentum als vierte große Strömung

10.4.1 Die Konflikte der Anfangszeit

10.4.2 Der 1Johannesbrief und der Doketismus

10.4.3 Das Johannesevangelium als erste Einführung in das Christentum

10.5 Das Judenchristentum als bleibende Kraft

10.5.1 Das Judenchristentum vor 70

10.5.2 Das Judenchristentum nach 70

Matthäusevangelium

Jakobusbrief

Hebräerbrief?

Johannesoffenbarung

Didache

Judenchristentum im Spiegel der Gegnerpolemik

Weitere Zeugnisse

10.6 Außenwahrnehmungen

11. Gefährdungen

11.1 Das Ausbleiben der Parusie

Paulus

Synoptische Evangelien

Präsentische Eschatologie

11.2 Arm und Reich

Lukas

Pastoralbriefe

Jakobusbrief

Johannesoffenbarung

11.3 Kontroversen/Falschlehren/Gegner

Konflikte in den nachpaulinischen Gemeinden

Zweite Buße und Sündenvergebung

Gegner in der Johannesoffenbarung

Orthodoxie und Häresie

11.4 Strukturen und Ämter

Paulus und Lukas

Die Pastoralbriefe

11.5 Auseinandersetzungen mit dem Judentum nach 70

12. Christenverfolgungen und Kaiserkult

12.1 Der Kaiserkult als politische Religion

12.2 Die Verfolgung unter Nero

12.3 Verfolgungen unter Domitian?

1Petrusbrief

Johannesoffenbarung

12.4 Plinius und Trajan über das Christentum

13. Das frühe Christentum als eigenständige Bewegung

13.1 Die neue Erzählung und die neue Sprache der Christen

Die Sprache der Christologie

Die Sprache des Kreuzes

Die Sprache des Glaubens

Die Sprache der geschwisterlichen Gemeinschaft

Die Sprache der Eschatologie

Neue Schriften

Kanonsbildung

13.2 Neue Gottes-Modelle

Die Attraktivität des frühchristlichen Gottesbildes

13.3 Dienen als Erfolgsmodell

Die Anfänge und Paulus

Die Evangelien

Die johanneischen Schriften

Heil und Heilung

Die spätere Entwicklung

Die alte Welt und das neue Verhalten der Christen

13.4 Das frühe Christentum als Stadt- und Bildungsreligion

Das frühe Christentum als Stadtreligion

Das frühe Christentum als Bildungsreligion

13.5 Die theologischen Hauptströmungen und Vernetzungen gegen Ende des 1. Jh.

13.5.1 Die fünf Hauptströmungen

Paulus

Die Synoptiker

Petrus

Johannes

Jakobus und das Judenchristentum

13.5.2 Vernetzungen

Paulus und Markus

Paulus und Lukas

Paulus und Matthäus

Paulus und Johannes

Die Synoptiker

Johannes und die Synoptiker

Paulus und Petrus

Paulus und Jakobus

Paulus und der Hebräerbrief

Die Johannesoffenbarung zwischen Johannes, Paulus und Jakobus

13.6 Die Verbreitung des frühen Christentums

14. Der Übergang zur Alten Kirche

14.1 Machtansprüche und feste Strukturen

1Klemensbrief

Ignatius von Antiochien

14.2 Die Herausbildung einer anderen Botschaft: Die frühe Gnosis

Quellen und Definition

Die Anfänge der Gnosis

Grundannahmen gnostischen Denkens

Die Entstehung des gnostischen Denkens

Tafel 6: Chronologie des frühen Christentums bis 130 n.Chr.

15. Fünfzehn Gründe für den Erfolg des frühen Christentums

Literaturverzeichnis

Autorenregister

Personen- und Sachregister (in Auswahl)

Stellenregister (in Auswahl)

1. Vom Schreiben einer Ursprungsgeschichte

Jesus von Nazareth ist eine Gestalt der Geschichte und die Bewegung der Christen ein Zeugnis der Wirkungsgeschichte dieser Person. Wenn auf einer solchen Basis mit 2000 Jahren Abstand eine Geschichte des frühen Christentums geschrieben wird, zeigen sich unausweichlich die Grundprobleme historischen Fragens und Erkennens. Wie entsteht Geschichte? Was passiert, wenn in der Gegenwart ein Dokument der Vergangenheit mit einem Zukunftsanspruch interpretiert wird? Wie verhalten sich historische Nachrichten und ihre Einordnung in den gegenwärtigen Verstehenszusammenhang des Historikers/Exegeten zueinander?

1.1 Geschichte als Gegenwerts- und Vergangenheitsdeutung

Johann Gustav Droysen, Historik, hg. v. Peter Leyh, Stuttgart/Bad Cannstatt 1977 (= Nachdruck 1857/1882). – Jörn Rüsen, Historische Vernunft, Göttingen 1983. – Ders., Rekonstruktion der Vergangenheit, Göttingen 1986. – Ders., Lebendige Geschichte, Göttingen 1989. – Christoph Conrad/Martina Kessel (Hg.), Geschichte schreiben in der Postmoderne. Beiträge zur aktuellen Diskussion, Stuttgart 1994. – Hans-Jürgen Goertz, Umgang mit Geschichte, Reinbek 1995. – Chris Lorenz, Konstruktion der Vergangenheit. Eine Einführung in die Geschichtstheorie, Köln 1997. – Hans-Jürgen Goertz, Unsichere Geschichte, Stuttgart 2001.

Interesse und Erkenntnis

Vergangenheit gibt es immer nur im Modus der Gegenwart des Interpreten

Das klassische Ideal des Historismus, nur zu „zeigen, wie es eigentlich gewesen“1 ist, erwies sich in mehrfacher Hinsicht als ideologisches Postulat. Die Gegenwart verliert mit ihrem Übergang in die Vergangenheit unwiderruflich ihren Realitätscharakter. Schon deshalb ist es nicht möglich, das Vergangene ungebrochen gegenwärtig zu machen. Der Zeitabstand bedeutet Abständigkeit in jeder Hinsicht, er verwehrt historisches Erkennen im Sinne einer umfassenden Wiederherstellung dessen, was geschehen ist. Vielmehr kann man nur seine eigene Auffassung von der Vergangenheit in der Gegenwart kundtun. Vergangenheit begegnet uns ausschließlich im Modus der Gegenwart, hier wiederum in interpretierter und selektierter Form. Relevant aus der Vergangenheit ist nur das, was nicht mehr Vergangenheit ist, sondern in die gegenwärtige Weltgestaltung und Weltdeutung einfließt2. Die Sozialisation des Historikers/Exegeten, seine Traditionen, sein geographischer Lebensort, seine politischen und religiösen Werteinstellungen prägen notwendig das, was er in der Gegenwart über die Vergangenheit sagt3. Geschichtsschreibung ist deshalb nie ein pures Abbild des Gewesenen, weil sie selbst immer eine Geschichte hat, nämlich die Geschichte des Schreibenden. Das Subjekt steht nicht über der Geschichte, sondern ist ganz und gar in sie verwickelt. Deshalb ist ‚Objektivität‘ als Gegenbegriff zu ‚Subjektivität‘ völlig ungeeignet, um historisches Verstehen zu beschreiben4. Vielmehr sollte von ‚Angemessenheit‘ oder ‚Plausibilität‘ historischer Argumente gesprochen werden5. Nicht das wirklich vollzogene Geschehen ist uns zugänglich, sondern nur die je nach Standort der Interpreten verschiedenen Deutungen vergangener Ereignisse liegen vor uns. Erst durch unsere Zuschreibung werden die Dinge zu dem, was sie für uns sind. Geschichte wird nicht rekonstruiert, sie wird unausweichlich und notwendigerweise konstruiert. Es gilt: „es wird Geschichte, aber es ist nicht Geschichte“6. Geschichtsschreibung geht somit über ein bloßes Vergangenheitsverhältnis weit hinaus; sie ist eine Form von Sinndeutung und Sinnstiftung, ohne die individuelles und kollektives Leben gar nicht möglich wären.

Fakten und Fiktion

Fakten und Fiktion fließen stets ineinander

Geschichte erweist sich somit immer als ein selektives System, mit dem die Interpretierenden nicht einfach Vergangenes, sondern vor allem ihre eigene Welt ordnen und deuten7. Sprachliche Konstruktion von Geschichte vollzieht sich deshalb stets auch als ein sinnstiftender Vorgang, der sowohl dem Vergangenen als auch dem Gegenwärtigen Sinn verleihen soll. Historische Interpretation heißt, einen kohärenten Sinnzusammenhang zu schaffen; mit der Herstellung historischer Erzählzusammenhänge erlangen die Fakten den Status, der ihre Bedeutsamkeit für uns ausmacht. Dabei müssen historische Nachrichten in der Gegenwart erschlossen und zur Sprache gebracht werden, so dass sich in der Darstellung/Erzählung von Geschichte notwendigerweise ‚Fakten‘ und ‚Fiktion‘8, Vorgegebenes und schriftstellerisch-fiktive Arbeit miteinander verbinden. Indem historische Nachrichten kombiniert, historische Leerstellen ausgefüllt werden müssen, fließen Nachrichten aus der Vergangenheit und ihre Interpretation in der Gegenwart zu etwas Neuem zusammen9. Durch die Interpretation wird dem Geschehen eine neue Struktur eingezogen, die es zuvor nicht hatte. Fakten muss eine Bedeutung beigemessen werden und die Struktur dieses Interpretationsprozesses konstituiert das Verständnis der Fakten. Erst das fiktionale Element eröffnet einen Zugang zur Vergangenheit, ermöglicht die unumgängliche Neuschreibung der vorausgesetzten Ereignisse.

Das Vorgegebene

Konstruktion bezieht sich immer auf Vorgegebenes

Zugleich sind Aussagen immer eingebunden in vorgegebene allgemeine Wirklichkeits- und Zeitvorstellungen, ohne die Konstruktion und Kommunikation nicht möglich sind. Es gibt zweifellos eine Realität, die vor, neben und nach, vor allem aber unabhängig von unserer Wahrnehmung und Beschreibung existiert. Jeder Mensch ist zudem genetisch vor-konstruiert und ständig sozial-kulturell ko-konstruiert. Reflexion und Konstruktion sind immer nachfolgende Akte, die sich auf etwas Vorgegebenes beziehen, so dass jede Form von Selbstgewissheit nicht in sich selbst ruht, sondern jeweils den Bezug auf etwas Vorausliegendes benötigt, das es begründet und ermöglicht. Schon die Tatsache, dass die Frage nach Sinn möglich ist und Sinn gewonnen werden kann, verweist auf eine „unvordenkliche Wirklichkeit“10, die allem Sein vorausgeht und ihm den Wirklichkeitsstatus verleiht. Grundsätzlich gilt: Geschichte entsteht erst, nachdem das ihr zugrunde liegende Geschehen erfolgt ist und in den Status gegenwartsrelevanter Vergangenheit erhoben wurde, so dass notwendigerweise Geschichte nicht denselben Realitätsanspruch erheben kann wie die ihr zugrunde liegenden Ereignisse. Nicht die Welt und das Leben sind eine Konstruktion, wohl aber unsere Anschauungen über sie; für uns ist beides aber faktisch nicht auseinanderzuhalten.

1.2 Geschichte und Methode

Gerade das unausweichliche fiktional-kreative Element jeder Geschichtsschreibung erfordert eine umfassend Einbeziehung aller relevanten Quellen, eine Berücksichtigung der zentralen kulturellen Voraussetzungen und Kontexte und eine Kombination verschiedener Fragestellungen, um so das natürliche subjektive Element vor subjektivistischen Engführungen zu bewahren11.

Quellen

Quellenvielfalt

Die Hauptquelle sind natürlich alle Schriften des Neuen Testaments; insbesondere die Paulusbriefe, die Apostelgeschichte und die Evangelien. Zudem sind das griechische Alte Testament (Septuaginta/LXX) und die gesamte jüdische Literatur von ca. 200 v.Chr.-100 n.Chr. zu berücksichtigen, sofern sie für das frühe Christentum von Bedeutung sind (s.u. 3.3.1). Hinzu kommen die Schriften des jüdischen Historikers Flavius Josephus (ca. 37/38 n.Chr. – ca. 100 n.Chr.), dessen Hauptwerke ‚Bellum Judaicum‘ (= ‚Der jüdische Krieg‘; geschr. ~ 78/79 n.Chr.) und ‚Antiquitates Judaicae‘ (= Jüdische Altertümer‘; ~ 94 n.Chr.) für das Verständnis des antiken Judentums von größter Bedeutung sind. Aus dem griechisch-römischen Bereich sind vor allem die römischen Historiker Tacitus (ca. 60–120 n.Chr./Hauptwerke: Historiae = ‚Historien‘; ~ 105 n.Chr.; Annales = ‚Annalen‘; ~ 115 n.Chr.), Sueton (ca. 70–140/150 n.Chr./Hauptwerk: De vita Caesarum = Kaiser-Viten; ~ 120 n.Chr.) und Dio Cassius (ca. 160–235 n.Chr./Hauptwerk: = images/Historia romana = ‚Römische Geschichte‘, ~ 230 n.Chr.) zu nennen12. Sie hatten Zugang zu zahlreichen (heute verlorenen) Quellen und überliefern auch wertvolle Informationen über das Verhältnis des römischen Staates zum Judentum und zum entstehenden frühen Christentum. Zu beachten sind ferner einzelne außerbiblische Zeugnisse zu Jesus und dem frühen Christentum, die zeigen, wie man diese Person/Bewegung wahrgenommen hat. Eine einzigartige Quelle für die Wahrnehmung der Christen durch die Römer finden wir im Briefwechsel zwischen dem Statthalter Plinius und dem Kaiser Trajan (um 110 n.Chr.), der über die Rechtsfragen hinaus Einblick in das Denken der imperialen Führungsschicht gewährt (s.u. 12.4). Zu berücksichtigen sind auch die großen philosophischen Strömungen um die Zeitenwende herum (s.u. 3.2.1), denn im Gegensatz zu heute bestimmten philosophisch-religiöse Gedanken weite Kreise der Bevölkerung. Schließlich sind auch Inschriften, Münzen und architektonische Zeugnisse (z.B. der Titusbogen in Rom) zu berücksichtigen, wenn sie auch für das frühe Christentum aussagekräftig sind.

Chronologischer Ansatz

Grundsätzlich sollte bei jeder historischen Darstellung ein chronologischer Aufbau der erste Zugriff sein. Die mittel- und unmittelbaren Voraussetzungen müssen dabei ebenso zur Sprache kommen wie die zentralen Entwicklungslinien und wirkmächtigen Einzelereignisse. Mit der Chronologie verbinden sich die Orte des Geschehens und die dort agierenden Personen. Geographisch/lokalgeschichtliche sowie kulturell-religiöse Aspekte ergänzen sich, denn es ist in der Regel kein Zufall, dass sich relevante Entwicklungen nur oder vor allem an bestimmten Orten vollziehen.

Kulturelle Kontexte und Handlungsträger

Das frühe Christentum kann weder isoliert betrachtet noch monokausal erklärt werden, sondern seine Einbettung in die vielfältige Welt des Hellenismus ist zum Ausgangspunkt der Darstellung zu machen. Auch das Judentum als erster Bezugspunkt des frühen Christentums ist ein Teil des Hellenismus, so dass ein bewusst weiter methodischer Horizont gewählt werden muss, bei dem sich Religions- und Gesellschaftsgeschichte unter Einbeziehung von Politik, Wirtschaft und Kultur ergänzen (s.u. 3). Ebenso schließen sich individuelle und kollektive Handlungsträger bei geschichtlichen Entwicklungen nicht aus. So ist Paulus zweifellos die wirkmächtigste individuelle Gestalt innerhalb des frühen Christentums, zugleich sind aber die vielen unbekannten Gemeinden und namenlosen Missionare der Anfangszeit für die Herausbildung der neuen reichsweiten Bewegung der ‚Christianer‘ (vgl. Apg 11,26) von allergrößter Bedeutung. Ebenso kann historischen Prozessen eine plausible, folgerichtige Intentionalität innewohnen, zugleich vermögen aber auch zufällige Nebeneffekte Entwicklungen anzustoßen oder zu unterstützen.

Die Perspektive der Anderen

Das Ineinander von Einzelakteuren und Gesamtentwicklungen muss dabei um den Aspekt der Andersdenkenden (‚Gegner‘) in bestimmten Gemeinden bzw. an bestimmten Orten ergänzt werden. Sie spielten in der Geschichte des frühen Christentums eine bedeutende, zugleich aber nur schwer fassbare Rolle, denn sie lassen sich nur indirekt aus der Perspektive der später erhaltenen Literatur erschließen (s.u. 11.3). Für das Verständnis der Gesamtentwicklung des frühen Christentums sind sie dennoch unerlässlich. Theologisch aufschlussreiche und historisch notwendige Kontroversen werden nur verständlich, wenn die Positionen der jeweils Andersdenkenden in die Darstellung miteingebracht werden13.

Ideen- und Sozialgeschichte

Ideen- und sozialgeschichtliche Fragestellungen ergänzen sich

Eine rein materialistische Grundlegung der Geschichte, wonach allein die genetische Ausstattung und die soziale Realität das Denken und Handeln der Menschen bestimmt, ist ebenfalls eine Verkürzung wie das idealistische Konzept der historischen Persönlichkeit oder wirkungsmächtigen Idee/Ideologie, die den Gang der Geschichte bestimmen. Die Welt der Ideen ist ebenso ein prägendes Element der Geschichte wie die realen Verhältnisse. Deshalb sollten Ideen- und Sozialgeschichte nicht als Gegensätze begriffen werden, sondern Ideen/theologische Konzepte und ihre konkreten sozialen und literarischen Umsetzungen gehen bei einer positiven Entwicklung in der Regel ineinander. Bei den frühen Christen ist dieser Zusammenhang unübersehbar, denn der Glaube an Jesus Christus wurde in einer neuen Sozialform, der christlichen Hausgemeinde gelebt, in der Fundamentalunterscheidungen der antiken Welt aufgehoben waren (vgl. Gal 3,26–28). Das frühe Christentum war zudem gerade auf der ideengeschichtlichen Ebene eine höchst kreative Erscheinung (s.u. 13), denn es entwickelte zukunftsweisende Gottes- und Weltdeutungen, eine einzigartige Sprache des Glaubens, eigene Literaturformen und neue Lebensformen, die offenbar als attraktiv empfunden wurden, selber Geschichte machten, den Erfolg der neuen Bewegung maßgeblich begründeten und insofern in die Darstellung dieser Geschichte hineingehören.

Mikrogeschichte

Die Geschichte des frühen Christentums ist eine Form von Mikrogeschichte, die sich zunächst fast ausschließlich in ihrer eigenen Literatur widerspiegelte, in der Anfangszeit nur kleine Anhängergruppen hatte (Hausgemeinden mit ca. 30–40 Personen) und erst sehr zögerlich von außen wahrgenommen wurde. Deshalb liegen aus der Anfangszeit nur jene Zeugnisse vor, die von einer späteren Zeit im Prozess der Kanonbildung als sachgemäß angesehen wurden. Zudem gingen Schriften der Anfangszeit einfach verloren, so nach 1Kor 5,9 ein Paulusbrief und nach Lk 1,1–4 frühe (Vor-)Formen der Evangelienliteratur. Zugleich muss aber festgehalten werden, dass die Anzahl und die Qualität der erhaltenen Zeugnisse in dreifacher Weise auch religionsgeschichtlich einzigartig sind: 1) Im Vergleich mit der Ursprungsphase anderer Weltreligionen (z.B. Judentum und Islam) sind die Anzahl, das Alter und die unterschiedlichen Autoren der Schriften aus der Anfangszeit bemerkenswert. Nach einer Phase der mündlichen Überlieferung und erster Verschriftlichungen (s.u. 6.7) liegt schon 20 Jahre nach dem Tod Jesu um 50 n.Chr. mit dem 1Thesssalonicherbrief das erste eigenständige schriftliche Zeugnis der neuen Bewegung vor. Mit der Logienquelle folgt die erste Lebensund Verkündigungsgeschichte Jesu Christi um 50–60 n.Chr.14 .2) Es gibt mehr als 5000 ntl. Handschriften15, d.h. die Textproduktion und -überlieferung des frühen Christentums ist innerhalb der Antike einzigartig und bildet eine zuverlässige Grundlage für historisches Fragen. 3) Von allen wichtigen Strömungen innerhalb des frühen Christentums wurden Texte überliefert, so dass man nicht von einer Geschichte der Sieger sprechen kann.

Makrogeschichte

Schließlich zeigt die Geschichte des frühen Christentums sehr deutlich, dass jede Mikrogeschichte Teil einer Makrogeschichte ist, und das sogar in mehrfacher Hinsicht: 1) In seiner frühen Entstehungsphase ist die Bewegung der Christusgläubigen ein Teil der jüdischen Gruppengeschichte (s.u. 5). 2) Das bindet sie zugleich in das spannungsreiche Verhältnis zwischen den Juden und den Römern und somit in eine Parallelgeschichte ein. 3) Mit der erfolgreichen paulinischen Mission in Kleinasien und Griechenland bleibt das sich formierende Christentum Teil der jüdischen (Diaspora-) Geschichte und wird anfangs von den Römern auch so wahrgenommen (Claudius-Edikt; Paulus vor Gallio), zugleich entwickelt die neue Bewegung aber auch eine Eigendynamik in der genuin römischen Geschichte (Brand Roms unter Nero). 4) Der Untergang Jerusalems 70 n.Chr. hat zwar auch für das frühe Christentum eine große Bedeutung (s.u. 9), tangiert es aber weit weniger als das Judentum. 5) Je größer das frühe Christentum wurde, desto mehr nahm es an der genuin römischen Geschichte teil und wurde zugleich in eine lang anhaltende Konfrontation mit den Römern hineingezogen. Die Sonderregelungen für das Judentum als in der Regel geduldeter Religion16 galten nun nicht mehr und vor allem der Kaiserkult machte Konflikte unausweichlich (s.u. 12).

Was generell gilt, trifft auch für die Geschichtsschreibung zu: Der Mensch ist ein deutendes Wesen; er ist auf Selbst- und Weltdeutung angewiesen, um seine Geschichte, sein Erleben, sich selbst und die anderen verstehen zu können. Dieser Deutungsprozess muss bewusst gestaltet und reflektiert werden, wobei die historischen Quellen ebenso im Blick zu behalten sind wie ihre Auslegungsgeschichte und die heutigen Konstruktionsbedingungen von Geschichte. Ein weiter Blick, Multiperspektivität und ein eigener Standort schließen sich dabei nicht aus, sondern ergänzen sich. Genese und Geltung eines historischen Phänomens müssen unterschieden, können aber nie wirklich getrennt werden.

1Leopold von Ranke, Geschichten der romanischen und germanischen Völker von 1494–1514, Leipzig 2 1874, in: L. v. Ranke’s Sämtliche Werke. Zweite Gesamtausgabe Bd. 33/34, Leipzig 1877, VII: „Man hat der Historie das Amt, die Vergangenheit zu richten, die Mitwelt zum Nutzen zukünftiger Jahre zu belehren, beigemessen; so hoher Aemter unterwindet sich gegenwärtiger Versuch nicht: er will blos zeigen, wie es eigentlich gewesen.“

2Vgl. Johann Gustav Droysen, Historik, 422: „Das Gegebene für die historische Forschung sind nicht die Vergangenheiten, denn diese sind vergangen, sondern das von ihnen in dem Jetzt und Hier noch Unvergangene, mögen es Erinnerungen von dem, was war und geschah, oder Überreste des Gewesenen und Geschehenen sein.“

3Vgl. Jürgen Straub, Über das Bilden von Vergangenheit, in: Jörn Rüsen (Hg.), Geschichtsbewusstsein, Köln/Weimar 2001, 45–113.

4Vgl. dazu Hans-Jürgen Goertz, Umgang mit Geschichte, 130–146.

5Vgl. dazu Jürgen Kocka, Angemessenheitskriterien historischer Argumente, in: Wolfgang J. Mommsen/Jörn Rüsen (Hg.), Objektivität und Parteilichkeit, München 1977, 469–475.

6Johann Gustav Droysen, Historik, 69. Über geschichtliche Sachverhalte urteilt Droysen, ebd., zutreffend: „Sie sind nur historisch, weil wir sie historisch auffassen, nicht an sich und objektiv, sondern in unserer Betrachtung und durch sie. Wir müssen sie sozusagen transponieren.“

7Vgl. Ernst Cassirer, Versuch über den Menschen, Hamburg 1996 (= 1944), 291: „Geschichtswissenschaft ist nicht Erkenntnis äußerer Fakten oder Ereignisse; sie ist eine Form der Selbsterkenntnis.“

8‚Fiktion‘ bezeichnet nicht einfach im umgangssprachlichen Sinn die Negation der Wirklichkeit, sondern ist in einem funktional-kommunikativen Sinn gemeint und kommt damit der ursprünglichen Bedeutung von ‚fictio‘ nahe: Bildung, Gestaltung. Vgl. Wolfgang Iser, Der Akt des Lesens, München 31990, 88.

9Cicero, Orator 2,54 (der Historiker Antipater wird lobend herausgestellt, „die anderen erwiesen sich als Leute, die Geschichte nicht wirkungsvoll gestalten, sondern nur erzählen konnten“); Lk 1,1–4; Plutarch, Alexander 1,1 (images = „denn ich schreibe nicht Geschichte, sondern zeichne Lebensbilder“) zeigen deutlich, dass auch antike Autoren ein klares Bewusstsein von diesen Zusammenhängen hatten (vgl. ferner Thucydides, Historiae I 22,1; Lukian, Historia 51; Quintilian, Institutio Oratoria VIII 3,70).

10Vgl. Jörn Rüsen, Faktizität und Fiktionalität der Geschichte – Was ist Wirklichkeit im historischen Denken?, in: Konstruktion von Wirklichkeit, hg. v. Jens Schröter/Antje Eddelbüttel, Berlin 2004, (19–32) 31.

11Zur Welt der Geschichtswissenschaften vgl. Stefan Jordan, Theorien und Methoden der Geschichtswissenschaft, Paderborn 2009; zu den Methoden, Ansätzen und Fragestellungen vgl. Michael Maurer (Hg.), Aufriss der Historischen Wissenschaften I–VI, Stuttgart 2001–2005.

12Vgl. dazu Dieter Flach, Römische Geschichtsschreibung, Darmstadt 42013.

13Hilfreich zur Erfassung dieser Positionen ist die Diskursanalyse; sie ist eine Methode/Fragestellung, um die Formierung und Etablierung von Diskursen in der Geschichte zu erfassen und die damit verbundenen sprachlichen Äußerungen/Anschauungen/Argumente/Intentionen/Interessen/Machtansprüche zu erfassen und aufzuzeigen. Vgl. dazu: Reiner Keller, Diskursforschung, Wiesbaden 22004; Achim Landwehr, Historische Diskursanalyse, Frankfurt 2008.

14Zur Begründung der Datierungen vgl. Udo Schnelle, Einleitung in das Neue Testament, 65.250f.

15Vgl. dazu Kurt Aland/Barbara Aland, Der Text des Neuen Testaments, Stuttgart 21989; David C. Parker, New Testament Manuscripts and their Texts, Cambridge 2008.

16Der häufig verwendete Begriff der ‚religio licita‘ für das Judentum ist irreführend, weil es nie ‚offiziell‘ von römischer Seite anerkannt wurde; vgl. Dietrich-Alex Koch, Geschichte des Urchristentums, 548–550. Die Römer akzeptierten lediglich in der Regel ‚alte‘ Kulte und Religionen und statteten zeitweise, sowie von Kaiser zu Kaiser unterschiedlich, das Judentum mit Sonderrechten aus.

2. Begriff und Abgrenzung der Epoche

2.1 Urchristentum oder frühes Christentum?

Henning Paulsen, Zur Wissenschaft vom Urchristentum und der Alten Kirche – ein methodischer Versuch, ZNW 68 (1977), 200–230. – Stefan Alkier, Urchristentum. Zur Geschichte und Theologie einer exegetischen Disziplin, BHTh 82, Tübingen 1993. – Jürgen Becker, Das Urchristentum als gegliederte Epoche, 9–17. – Gerd Lüdemann, Das Urchristentum, 128–133. – Dietrich-Alex Koch, Geschichte des Urchristentums, 22–27.153–156.

Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts hat sich der Begriff des ‚Urchristentums‘ als terminus technicus für die früheste historische Epoche der Entstehung des Christentums durchgesetzt. Er vereint in sich mehrere Bedeutungen, die unterschiedlicher Ordnung sind und getrennt hinterfragt werden müssen. Zeitlich-deskriptiv ist zunächst der Moment des Anfangs gemeint, Urchristentum meint das anfängliche Christentum. Mit dem Präfix ‚Ur-‘ wird aber auch vielfach eine Wertung verbunden, die Beginn und Wesen des Christentums gleichsetzt: Urchristentum meint dann das ursprüngliche Christentum, den Urzustand. ‚Urchristentum‘ und ‚Urgemeinde‘ setzen bei diesem Verständnis die Vorstellung eines reinen, unverfälschten Ursprungs voraus, demgegenüber die spätere Entwicklung als Verfallsgeschichte angesehen werden muss1. Anfang und Wesen des Christentums werden in eins gesetzt, wobei zumeist die Einheit als Kennzeichen des Anfangs und Gegensätze/Konflikte als Zeichen des späteren Zerfalls des Ursprungs angesehen werden. Dabei handelt es sich jedoch jeweils um Werturteile bzw. Geschichtsbilder, die sich an den Texten gerade nicht verifizieren lassen.

Deshalb wurden neutralere Begriffe vorgeschlagen, um die Anfangsgeschichte des Christentums zu erfassen. Begriffe wie ‚apostolische – nachapostolische Zeit‘ oder ‚primitive Christianity‘ haben sich nicht durchgesetzt, weil sie ebenso viele normative Wertungen enthalten wie ‚Urchristentum‘. Demgegenüber wird in der aktuellen deutsch- und englischsprachigen Forschung häufig der Begriff ‚frühes Christentum‘ bzw. ‚Early Christianity‘ verwendet2, weil er am ehesten eine rein phänomenologische Erfassung und neutrale Bezeichnung der Anfangsgeschehnisse ermöglicht. ‚Früh‘ meint zuallererst eine zeitliche Bestimmung; es geht um die Anfangszeit einer Bewegung, die seit ca. 2000 Jahren existiert. Ein normatives Element schwingt ebenfalls mit, denn dem Anfang wurde zu allen Zeiten des Christentums eine besondere Bedeutung beigemessen. Wie aber dieser Anfang genau zu beschreiben ist, als Einheitsbewegung oder als in sich vielfältig strukturiertes und möglicherweise auch zerstrittenes Gebilde, wird durch den Begriff gerade nicht präjudiziert! Deshalb wird im folgenden frühes Christentum‘ als möglichst neutraler terminus technicus verwendet.

2.2 Der zeitliche Rahmen

Ab wann kann man von einem ‚frühen Christentum‘ sprechen? Zunächst einmal ist unbestreitbar: Der Begriff ‚Christentum‘ ist eine Deutungskategorie, die sich aus der Wirkungsgeschichte der Bewegung ergibt, am Anfang aber von deren Mitgliedern nicht verwendet wurde. Apg 11,26c („in Antiochia wurden die Jünger erstmals Christianer genannt“) und die Paulusbriefe zeigen allerdings, dass zwischen 50 und 60 n.Chr. die neue Bewegung ein Bewusstsein von ihrer Andersartigkeit und Eigenständigkeit entwickelte (s.u. 8.7). Deshalb wird für die unmittelbaren Anfänge der Bewegung von Christusgläubigen gesprochen (s.u. 4), d.h. von Menschen, die an Jesus von Nazareth als Messias glaubten, Christusanhänger waren. Erst die paulinische Mission schafft die Voraussetzungen und das Bewusstsein einer eigenständigen Größe (s.u. 8.7), die sich dann in den synoptischen Evangelien ihre Gründungserzählungen schafft (s.u. 9.4). Ab diesem Zeitpunkt ist die Bezeichnung frühes Christentum‘ eine historische Kategorie, für die Zeit davor wird sie vermieden oder in einem umgangssprachlichen Sinn gebraucht.

Der Anfang im Jahr 30

Wie lässt sich die Epoche der Entstehung des frühen Christentums zeitlich strukturieren? Zunächst einmal ist deutlich: Die neue Bewegung der Christusgläubigen beginnt dort, wo das irdische Leben des Jesus von Nazareth endete (im Jahr 30)3. Dafür gibt es zwei Gründe: a) Jesus von Nazareth verkündigte das Kommen des Reiches Gottes4 und verstand sich nicht als Begründer einer neuen, dauerhaften Bewegung. b) Die Erscheinungen des Auferstandenen (s.u. 4) leiteten etwas Neues ein, denn nun wurde Jesus Christus als göttliches Wesen und als der Begründer eines neuen (zunächst innerjüdischen) Diskurses verehrt5.

Eine neue Ausrichtung um das Jahr 50

Der nächste Einschnitt kann mit dem Jahr 50 gemacht werden6. Der Apostelkonvent 48 n.Chr. (s.u. 7) und die sich anschließende zweite (48–51/52 n.Chr.) und dritte Missionsreise (52–55 n.Chr.) mit dem Übergang nach Europa markieren eine neue theologische und geographische Ausrichtung innerhalb des entstehenden frühen Christentums. Die unabhängige beschneidungsfreie paulinische Mission wendet sich programmatisch Menschen aus dem griechisch-römischen Kulturkreis zu, universalisiert die Bewegung und verlegt ihren Schwerpunkt nach Kleinasien/Griechenland.

Das Jahr 70 als tiefer Einschnitt

Um 130 endet das frühe Christentum

Den dritten, tiefen Einschnitt bildet zweifellos das Jahr 70 n.Chr. (s.u. 9). Zwischen 60 und 70 endet mit dem Tod von Petrus, Paulus und Jakobus die Gründerepoche (s.u. 9.1). Mit dem Untergang des Tempels und der Jerusalemer Gemeinde verliert das frühe Christentum sein bisheriges Zentrum und muss sich neu ausrichten. Auch das Entstehen neuer literarischer Formen zeugt von einer Umbruchsituation. Die neue literarische Gattung ‚Evangelium‘ und die pseudepigraphischen Apostelbriefe (Deuteropaulinen, Apostelbriefe unter den Namen von Petrus, Jakobus und Judas) bringen deutlich das Bewusstsein einer neuen Epoche zum Ausdruck: die Jesustraditionen müssen gesichert werden und das persönliche Wirken der Anfangsapostel ist zum Ende gekommen; beides gilt es literarisch zu bewältigen. Das Jahr 70 leitet die letzte Epoche des frühen Christentums ein, deren Ende schwer zu bestimmen ist. Allerdings kann für die Zeit um 130 n.Chr. eine deutliche Verschiebung auf mehreren Ebenen festgestellt werden: a) Neue Fragestellungen: Die frühen Apologeten setzen sich gegen Verfolgungen und Verleumdungen der Christen erstmals mit Apologetik nach außen zur Wehr7, indem sie Verteidigungsschriften an die römischen Kaiser richten. Um 125/126 n.Chr. richtet Quadratus eine Schrift an Kaiser Hadrian8, um gegen die unbewiesenen Vorwürfe gegen die Christen zu protestieren. Um 127 n.Chr. wendet sich der Athener Philosoph Aristides ebenfalls an Hadrian, indem er die Lehre der Christen darstellt und um Verständnis wirbt9. Gemeinsam ist den frühen Apologien eine neue Perspektive und ein neues Selbstverständnis: Die Christen sehen sich als bedeutende Gruppe innerhalb der Gesellschaft dauerhaft in die Geschichte gestellt und selbstverständlich auch als loyale Bürger des Römischen Reiches, die ihre natürlichen Schutzrechte einfordern10. Dabei grenzt man sich beim Gottesglauben öffentlich von Juden und Griechen ab, was erstmals in den Kerygma Petri (um 125 n.Chr.) belegt ist: „Denn das, was Griechen und Juden betrifft, ist alt, wir aber sind die Christen, die ihn auf eine dritte Weise verehren.“11 b) Neue Gattungen: Es entstehen neue literarische Gattungen, die es zuvor im frühen Christentum nicht gab: Die Apologien. Dabei handelt es sich um ermahnende und vor allem argumentierende Werke, die an den Kaiser und/oder Senat gerichtet waren und der literarischen Form der Petition nahe stehen. Auffallend ist, dass die Verfasser der frühen Apologien faktisch als Philosophen auftreten, um so die Aufmerksamkeit der Kaiser zu erregen. c) Neue Großbewegungen: Die Gnosis entwickelte sich zunächst gegen Ende des 1. Jh. n.Chr. (s.u. 14.2), um dann ab dem ersten Drittel des 2. Jh. zu einer eigenständigen Großbewegung innerhalb des Christentums aufzusteigen. Um 180 n.Chr. hat sie solch eine Verbreitung und Macht erlangt, dass Irenäus die Existenz der Kirche gefährdet sieht und sein fundamentales Werk ‚Adversus haereses‘ (‚Gegen die Falschlehren‘) abfasst. d) Schließlich legt auch der Bar-Kochba-Aufstand (132–135 n.Chr.) eine Zäsur um 130 nahe, denn damit kam die ohnehin schon stark eingeschränkte nationalstaatliche Existenz des Judentums zu einem Ende (s.u. 3.3). Diese starke und nachhaltige Schwächung des Judentums führte zu einer Stärkung der Eigenständigkeit und des Selbstbewusstseins des entstehenden Christentums, die bereits im ‚Dialog‘ zwischen Justin und dem jüdischen Philosophen Tryphon (ca. 155 n.Chr.) ablesbar ist.

Historische Prozesse in der Antike lassen sich in der Regel nicht auf das Jahr genau bestimmen, sondern es handelt sich um Entwicklungen, in denen das Alte noch dominiert und zugleich das Neue langsam hervortritt. Insofern zeigen die hier vorgenommenen Strukturierungen, Eingrenzungen und Jahreszahlen lediglich die Grundbewegungen innerhalb des frühen Christentums an12.

1Vgl. Stefan Alkier, Urchristentum, 261ff.

2Eine Variante bietet Stefan Alkier, Urchristentum, 265: „Ich schlage vor, den Begriff Urchristentum durch den bereits geläufigen Begriff Frühchristentum zu ersetzen“; Gerd Lüdemann, Das Urchristentum, 129, will den Begriff ‚Urchristentum‘ beibehalten, allerdings ohne idealisierende Konnotationen; ähnlich Dietrich-Alex Koch, Geschichte des Urchristentums, 24, der eine zeitliche Unbestimmtheit/Offenheit gegen den Begriff ‚frühes Christentum‘ anführt.

3Jesus von Nazareth wurde wahrscheinlich am Freitag, dem 14. Nisan (= 7. April) des Jahres 30 in Jerusalem als Aufrührer von den Römern gekreuzigt; vgl. dazu August Strobel, Der Termin des Todes Jesu, ZNW 51 (1960), 69–101; Rainer Riesner, Die Frühzeit des Apostels Paulus, 31–52. Skeptisch gegenüber dieser relativ genauen Datierung ist Helen K. Bond, Dating the Death of Jesus: Memory and the Religious Imagination, NTS 59 (2013), 461–475, die einen Zeitraum von 29 bis 34 n.Chr. favorisiert.

4Zur Verkündigung Jesu vgl. Udo Schnelle, Theologie des Neuen Testaments, 47–144.

5Nach wie vor treffend Hans Conzelmann, Geschichte des Urchristentums, 1: „Leben und Lehre Jesu sind die Voraussetzung der Kirchengeschichte.“ Völlig anders Martin Hengel/Anna Maria Schwemer, Jesus und das Judentum, 3–20, die ihre Geschichte des frühen Christentums mit dem Auftreten Johannes des Täufers und dem Wirken Jesu beginnen. Als zweite Epoche gelten die Jahre 30–70 n.Chr.; die dritte Epoche umfasst die Zeit von 70–138 n.Chr. (Tod Hadrians).

6Vgl. auch Gottfried Schramm, Fünf Wegscheiden, 151.

7Apologetik gibt es natürlich auch im Neuen Testament, vor allem in der Apostelgeschichte: Die Führer der Juden und das Volk sind die Verfolger Jesu bzw. der Christen schlechthin (Mk 15,16–20 entfällt bei Lukas, vgl. ferner Apg 13,50; 17,5–7.13; 21,17ff), während sich bei Übergriffen der Juden die römischen Behörden vor die Christen stellen und sie schützen (Apg 19,23–40; 23,29; 25,25; 26,31).

8Datierungen und Texte (vor allem Euseb, Kirchengeschichte) bei Michael Fiedrowicz, Christen und Heiden, 24f.

9Vgl. a.a.O., 25–28.

10Weitere frühe Apologeten: Justin (um 155 n.Chr.); Athenagoras (um 177 n.Chr.); zur Geschichte der Apologetik vgl. Hans Conzelmann, Heiden – Juden – Christen, 258–322.

11Kerygma Petri 2d; Übersetzung nach Michael Fiedrowicz, Christen und Heiden, 20.

12Während in fast allen Entwürfen das Jahr 30 als Beginn des Urchristentums/frühen Christentums gilt, wird der Übergang zur Alten Kirche sehr unterschiedlich bestimmt: Henning Paulsen, Zur Wissenschaft vom Urchristentum und der Alten Kirche, 210, schlägt 150–180 n.Chr. vor; Gerd Lüdemann, Ketzer, 11, votiert für das Ende des 2. Jh.; Jürgen Becker, Das Urchristentum als gegliederte Epoche, 12, nimmt 120/130 n.Chr. an; Dietrich-Alex Koch, Geschichte des Urchristentums, 153–156, plädiert für 150 n.Chr., weil erst hier die durch Apologetik und Gnosis einsetzenden neuen Entwicklungen voll wirksam werden. Gegen eine solche Spätdatierung der Gnosis spricht vor allem Justin, der sehr wahrscheinlich in seiner (verloren gegangenen) Schrift Syntagma bereits um 145 n.Chr. umfassend gnostische Systeme attackierte. Dafür wird man eine gewisse Entstehungs- und Ausbreitungszeit der Gnosis annehmen dürfen und deshalb ihre Entstehung früher ansetzen müssen, z.B. im ersten Drittel des 2. Jh. (s.u. 14.2).

3. Voraussetzungen und Kontexte

Das frühe Christentum ist gleichermaßen in die Geschichte des Judentums und der griechisch-römischen Welt eingebunden. Es entstand als eine Bewegung innerhalb des Judentums und entwickelte sich zu einer neuen griechischsprachigen Universalreligion im Römischen Reich. Voraussetzung für diese Entwicklung war der Hellenismus, der ab dem 4. Jh. v.Chr. eine neue Weltkultur schuf, in deren Raum auch das Neue Testament entstand.

3.1 Der Hellenismus als Weltkultur

Johann Gustav Droysen, Geschichte des Hellenismus I–III, Darmstadt 1998 (=1836–1843). – Martin Hengel, Judentum und Hellenismus, WUNT 10, Tübingen 21969. – Carl Schneider, Die Welt des Hellenismus, München 1975. – Reinhold Bichler, „Hellenismus“. Geschichte und Probleme eines Epochenbegriffs, Darmstadt 1983. – Hans Dieter Betz, Art. Hellenismus, TRE 15, Berlin 1986, 19–35. – Hans-Joachim Gehrke, Geschichte des Hellenismus, München 21995. – Hellmut Flashar (Hg.), Die Hellenistische Philosophie, Die Philosophie der Antike 4,1.2, Basel 1994. – Heinz Heinen, Geschichte des Hellenismus, München 2003. – Hatto H. Schmitt/Ernst Vogt (Hg.), Lexikon des Hellenismus, Wiesbaden 2005. – Burkhard Meissner, Hellenismus, Darmstadt 2007.

Hellenismus als Universalkultur

Der Ausdruck ‚Hellenismus‘ zur Bezeichnung einer geschichtlichen Epoche wurde von dem Historiker Johann Gustav Droysen (1808–1884) geprägt1. Der Hellenismus (images = die griechische Sprache und Sitte) bezeichnet die mit dem Auftreten Alexanders des Großen (356–323 v.Chr.) einsetzende Ausbreitung der griechischen Sprache, Sitten, Verwaltungsstrukturen, Kunst, Architektur, Literatur, Philosophie und Religion im Nahen und Mittleren Osten; von Mazedonien bis nach Vorderindien, von der Nordküste des Schwarzen Meeres und den Ufern der Donau bis nach Nubien und in die Sahara hinein. Die kulturelle Expansion des Hellenismus gründete sich vor allem auf das als attraktiv empfundene griechische Städtewesen2, das mit seinen zahlreichen Neugründungen, einer imponierenden Architektur, seinen militärischen und wirtschaftlichen Potentialen, aber auch mit seinen offenen Lebensformen den kurzfristigen militärischen Erfolgen Alexanders eine lang anhaltende Wirkung beschied.

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Der Feldzug Alexanders 334–323 v.Chr.

Der Hellenismus ging mit dem Aufstieg des Imperium Romanum nicht zu Ende3, sondern sein Einfluss erhielt sich in der gesamten römischen Welt, und er wurde auch weiterhin für den Gang der Geschichte von Bedeutung, denn sowohl Byzanz als auch die Renaissance des Mittelalters sind ohne den Hellenismus nicht zu denken. Das Hauptkennzeichen des Hellenismus ist die beschleunigte Verschmelzung und Durchdringung verschiedener Kulturen, wobei vor allem nationale Kulturen durch das griechische Leben und Denken transformiert wurden, zugleich sich aber das griechische und später das römische Denken für orientalische Einflüsse öffnete4. Die neue Globalkultur löste die bestehenden National- bzw. Regionalkulturen nicht auf, transformierte sie aber zugleich. So entstand ein relativ einheitlicher Kulturraum, der bewusst Eigenheiten und Differenzen zuließ, ohne daran zu zerbrechen.

Griechisch als Weltsprache

Als ein hervorragendes Kennzeichen dieses Prozesses muss die Verbreitung der griechischen Sprache angesehen werden. Die griechische Sprache war z. Zt. des Neuen Testaments die Weltsprache. Vornehmlich Inschriftenfunde zeigen, dass sich im Palästina des 1. Jh. n.Chr. zwei linguae francae überlappten5. Neben Aramäisch war das Koine-Griechisch weit verbreitet, bis in die einfachsten Volksschichten hinab wurde Griechisch gesprochen6. Eine vergleichbare Sprachsituation findet sich in Syrien, auch hier dominierten Aramäisch und Griechisch7. Kleinasien unterlag nach dem Alexander-Zug griechischem Einfluss, so dass Griechisch vollständig das sprachliche Gesicht Kleinasiens im 1. Jh. n.Chr.8 bestimmte. Daneben hielten sich lediglich lokale Dialekte (vgl. z.B. Apg 2,5–11; 14,11). Die sprachliche Situation in Griechenland war eindeutig, demgegenüber lässt sich die Lage in Italien und Rom nur schwer beurteilen.

Griechisch als allgemeine (= images) Sprache