Inhaltsverzeichnis


Hans-Dietrich Genscher

Vorwort

Einführung

Immerzu online
Norbert Blüm zum Tod von Hans-Dietrich Genscher
„Dasein ist alles“
Ein Psychogramm Genschers
„Ich habe oft gesagt...“
Genscher über Sternstunden und Pleiten seiner Ministerjahre
Genschman ganz oben
Rudolf Augstein würdigt Genscher

Blasser Innenminister 1969-74

„Wir sind wir alle“
SPIEGEL-Gespräch mit Genscher über seine Rolle im Kabinett Willy Brandts
Progressiver Vortänzer
Genscher als Innenminister
Guillaume: Wer war der Schurke?
Die umstrittene Rolle Genschers beim Rücktritt Willy Brandts

Der Aufstieg - Außenminister unter Helmut Schmidt (1974-82)

Dreht auf
Immer selbstbewusster hält Genscher die Sozialdemokraten von der Außenpolitik fern
„Ich muss doch die Sozis bändigen“
Genschers Taktiererei in der SPD/FDP-Koalition
„Ja, eine komplizierte Beziehung“
Genschers Nachruf auf Schmidt 2015

Der Absturz - Genscher und die Wende 1982

„Auf dieser Regierung liegt kein Segen“
Wie Genscher 1982 Helmut Kohl zum Kanzler machte
„Ich habe nichts im Schilde geführt“
SPIEGEL-Gespräch mit Genscher über den Koalitionsbruch der FDP
„Genschers verhängnisvolle Einschätzungen“
Ex-FDP-Generalsekretär Günter Verheugen schildert die Rolle Genschers bei der Wende

"Genschman" - Außenminister unter Helmut Kohl (1982-92)

„Wir dürfen Nachbarn keine Rätsel aufgeben“
SPIEGEL-Gespräch mit Genscher über seine Außenpolitik und den neuen Kreml-Chef Michail Gorbatschow
Keine Silbe
Das gestörte Verhältnis zwischen Kohl und Genscher
Vergleichsweise wenig
Die Reisewut des Außenministers
„Eine Kooperation auf neuem Niveau“
Wie Genscher diplomatische Fehltritte Kohls korrigiert
„Brennend nach Aktion“
Hat Genscher 1991 unabsichtlich den Balkankrieg angeheizt?

Sternstunden - Genscher und die Einheit 1989/90

„Mit Fackeln in der Scheune“
Genscher und die Prager Botschaftsflüchtlinge 1989
Allein gegen alle
Das diplomatische Ringen um die Einheit
„Geheimnis des Genscherismus“
SPIEGEL-Gespräch mit Genscher über die Einheit und die Europäische Währungsunion
Ein Mann, der sich überlebt
Ein Porträt Genschers 1990

Nach dem Rücktritt

Die Kunst der Unsterblichkeit
Der Kult um Genscher
„Es kam, wie es kommen musste“
SPIEGEL-Gespräch mit Genscher über den Niedergang der FDP 2013
Geheimsache Chodorkowski
Genschers letzte Mission

Anhang

Impressum
Hans-Dietrich Genscher • Einleitung

Diplomat der Einheit

Fast jeder Deutsche kennt Hans-Dietrich Genscher: aus dem Fernsehen, dem Radio, den Live-Veranstaltungen. Er war länger Minister als jeder andere, leitete das Innenressort schon während der Kanzlerschaft Willy Brandts und übernahm das Auswärtige Amt in den Zeiten von Helmut Schmidt und Helmut Kohl. Am hellsten leuchtete sein Stern während der überaus harten Verhandlungen mit den Großmächten um die deutsche Wiedervereinigung 1989/90, die Genscher zum Diplomat der Einheit werden ließen. Zwei Jahre später trat er überraschend zurück.
Tausendfach hat Genscher im Laufe seiner Karriere Fragen von Journalisten oder Bürgern beantwortet; die großen Ohren und der gelbe Pullover wurden sein Markenzeichen. Und doch erscheint der misstrauische Hallenser rätselhaft, der so unterhaltsam zu erzählen wusste und dabei so wenig preisgab. Was genau trieb den Liberalen an, dessen Anhänger seine Cleverness rühmten und dem seine Gegner nachsagten, Prinzipienlosigkeit sei sein einziges Prinzip? War er wirklich der Entdecker des Umweltschutzes, wie er selber behauptete? Welche Rolle spielte er beim Rücktritt Brandts 1974? Wie schaffte er es, sich gegen Schmidt zu behaupten? Warum stürzte er 1982 Schmidt und machte Kohl zum Kanzler? Was ließ ihn so früh erkennen, dass mit Michail Gorbatschow im Kreml alles anders werde? Und vor allem: Wie gelang es ihm, die deutsche Einheit durchzusetzen? 
Dieses E-Book enthält SPIEGEL-Gespräche mit Genscher sowie Porträts und Analysen des langjährigen FDP-Vorsitzenden und seiner Politik. Die Texte sind im SPIEGEL erschienen und sollen jenen helfen, die wissen wollen, wer Genscher wirklich gewesen ist. 
Klaus Wiegrefe
Einführung
SPIEGEL 15/2016

Immerzu online

Zum Tod des ehemaligen Außenministers Hans-Dietrich Genscher (1927 bis 2016) Von Norbert Blüm
Hans-Dietrich Genscher war immerzu online, schon lange bevor es das Internet gab. Er war immer auf dem neuesten Stand, er ließ sich die dpa-Meldungen sogar in Kabinettssitzungen liefern. Genscher fühlte sich nicht wohl, wenn er nicht wusste, was in der letzten Stunde passiert war. Vielleicht war er deshalb oft seiner Zeit voraus, er hatte einen Riecher für das, was kommt.
Die alten Bonner Zeiten. Damals verknüpften sich mit seinem Namen die Stichwörter „Strippenzieher“ und „Genscherismus“. Das eine war halb bewundernd, das andere halb abwertend gemeint, zwei Halbwahrheiten, die zusammen keine Wahrheit ergeben.
Das Strippenziehen war bei Genscher mehr als taktische Finesse. Es war Ausdruck seines Politikverständnisses, in dem der Mensch wichtiger ist als die Ideologie. Mit seinen „Strippen“ schuf er ein Netzwerk von Vertrauten und Vertrauen. Als die Wiedervereinigung ins Haus stand, war Eduard Schewardnadse Außenminister der Sowjetunion, und Roland Dumas war es in Frankreich – Genscher kannte beide gut. Markus Meckel, den letzten Außenminister der DDR, schleppte er in sein Haus in Wachtberg-Pech, bevor dieser am Tisch der Zwei-plus-Vier-Verhandlungen zur Wiedervereinigung Platz nahm. Die Verhandlungen mit den ehemaligen Alliierten und der DDR kamen auch durch Genschers vertrauensbildende Vorarbeit schnell voran. Wenig später wäre es zu spät gewesen, weil Michail Gorbatschow nicht mehr die Macht gehabt hätte. Mit der Wiedervereinigung wurde ein Lebenstraum von Genscher wahr.
Der „Genscherismus“ entsprach der systematischen Umsetzung seines Politikkonzepts. Genscher hatte ein festes Ziel; in den Mitteln, es zu erreichen, war er flexibel. Er war ein großer Diplomat. Er konnte sich auch wunderbar herauswinden, oft antwortete er auf Journalistenfragen: „Lassen Sie mich zunächst Folgendes feststellen ...“ Dann sagte er, was er sagen wollte, auf die gestellte Frage kam er nie wieder oder viel später zurück.
Freiheit und Friede waren seine unverrückbaren Fixpunkte. Das Gegenteil von beidem hatte Genscher selbst erlebt, Unterdrückung in der braunen und anschließend in der roten Variante und den Krieg als Flakhelfer und Soldat am eigenen Leib. Er war ein Liberaler aus existenzieller Erfahrung.
Hans-Dietrich Genscher war nicht das geborene Glückskind, als das er oft im Nachhinein erscheint. Krankheiten haben ihn sein Leben lang begleitet. Der Vater war früh gestorben. Mit der Mutter musste er als 25-Jähriger fliehen. Politisch war Genscher nicht immer der Liebling der Massen. Bei zwei Koalitionswechseln war er treibende Kraft: 1969 machte er mit anderen der Großen Koalition den Garaus, und 1982 beendete er als FDP-Vorsitzender die sozialliberale Koalition. Das eine wie das andere Mal führte das zu öffentlicher Entrüstung und zu spektakulären Abspaltungen in der FDP. Genschers öffentliches Ansehen rutschte in den Keller. Er überstand giftige Angriffe mit der Beharrlichkeit, für die er bekannt war, und wurde zu einem der populärsten Politiker, den die Bonner Republik kannte. Erst Kratzer machen das politische Gesicht schön.
Ich sah ihn das letzte Mal an seinem Geburtstag vor einem Jahr. Da war er schon schwer krank. Wir verabschiedeten uns wie immer mit „Bis bald“. Er ist mir in den letzten Wochen oft durch den Kopf gegeistert. Ich wollte ihn anrufen und habe es immer wieder verschoben. Das war ein Fehler. Ich hätte gern noch mal mit ihm gesprochen, und sei es nur, um zu sagen: Lieber Hans-Dietrich, ich bewundere dich, weil du ein Menschenfreund geblieben bist. Ich glaube, du hattest die Menschen gern. 
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Einführung
SPIEGEL 45/1970

„Dasein ist alles“

SPIEGEL-Reporter Hermann Schreiber über Hans-Dietrich Genscher
Es gibt die Macher, und es gibt die Merker. Hans-Dietrich Genscher steht, wie immer, in der Mitte. Er ist ein Könner. Er ist sowohl potent als auch potentiell. Das heißt, was er kann, ist kaum wichtiger, als was er könnte.
Schon seine Bilderbuch-Karriere beweist es. Er war ein potentieller Abgeordneter, kaum daß er im Lohndienst die Geschäftsführung der FDP-Fraktion übernommen hatte; er war potentieller Minister, kaum daß er als Abgeordneter Zutritt zum Parlament erlangt hatte; er galt nicht wenigen Freidemokraten als potentieller Parteichef, kaum daß er Walter Scheels Stellvertreter geworden war.
Und heute? Er kann, hat er letzte Woche im Gespräch mit Rudolf Augstein und Günter Gaus (SPIEGEL 44/ 1970) gesagt, er kann sich „keine Situation vorstellen“, in der an der Absicht der Freien Demokraten, die Koalition mit den Sozialdemokraten vier Jahre lang durchzustehen, „etwas geändert werden müßte“. Er stellt Palmström in den Dienst der moralischen Aufrüstung seiner von Zweifeln an der sozialliberalen Koalition heimgesuchten Partei. Das muß er tun, will er die Truppe erst einmal beisammen und bei der Fahne halten.
Hans-Dietrich Genscher kann, vielleicht besser als andere, die freidemokratische Flagge auch in dieser Koalition mit den Sozialdemokraten zeigen: Er kann bleiben und bremsen (wo immer SPD-Reformen die klassische Klientel bourgeoiser FDP-Wähler vollends verärgern könnten, zum Beispiel in der Eigentumspolitik und in Sachen Mitbestimmung); er kann bleiben und beschleunigen (wo immer traditionelle FDP-Wähler bevorzugt bedient werden können, zum Beispiel bei der Beamtenbesoldung).
Hans-Dietrich Genscher könnte aber auch anders – wenn die Situation einmal dasein sollte, die er sich jetzt nicht vorstellen darf; wenn die FDP in Hessen unter die Fünfprozent-Grenze geknüppelt, in Bayern am Boden zerstört, schließlich sogar in Schleswig-Holstein existenzgefährdend dezimiert werden sollte; wenn im Gefolge solcher Katastrophen Partei und Fraktion auch in Bonn zu zerbröckeln drohen sollten. Dann könnte Hans-Dietrich Genscher, er und kein anderer, der Mann der letzten Stunde sein, der die übriggebliebenen Freidemokraten einigermaßen geschlossen aus der Koalition mit den Sozialdemokraten wieder herausführt.
Sein Entwurf war sie nicht. Er hat das FDP-Votum für Bundespräsident Heinemann zwar durchaus als Bereinigung des alten Abhängigkeitsverhältnisses seiner Partei zur CDU verstanden, als Rückkehr zur Handlungsfreiheit, aber darum noch lange nicht als Vorentscheidung für eine Koalition mit der SPD. Er hat vor der Wahl 1969 als einer der letzten FDP-Präsiden gegen die Festlegung auf eine Koalition mit der SPD argumentiert.
Genscher war weiland der offizielle Kontaktmann zur CDU. Er hatte mit dem Mainzer Ministerpräsidenten und damaligen Kiesinger-Intimus Helmut Kohl verabredet, daß „in der Wahlnacht nichts passiert, bevor wir nicht miteinander geredet haben“. Die Verabredung wurde auch eingehalten, freilich ohne noch ändern zu können, daß zwischen SPD und FDP derweil etwas „passierte“. Den Eindruck, daß Genscher dies lieber verhindert hätte, daß er zumindest nicht glücklich darüber war, hatte damals nicht nur Kohl.
Eines jedenfalls will Genscher ganz gewiß nicht: daß eine linksliberal umfunktionierte FDP, der Polarisierung der Wählerschaft folgend, zum Huckepack-Bündel, zum Trittbrettfahrer, zum Schrägstrich-Kompagnon der SPD wird. Denn, von allen warmen Worten für eine eigenständige liberale Kraft einmal abgesehen: Eine „linke“ FDP, darüber soll sich niemand täuschen, wäre nicht mehr Genschers Partei.
Das hat weniger mit den „Grundpositionen“ zu tun, von denen er gern und viel redet – Privateigentum, Marktwirtschaft, West-Bindung, Ost-Ausgleich – und die sich immer noch ganz gut auch in der SPD vertreten lassen.
Es hat mehr zu tun mit Lebensgefühl, mit Ambiente, auch mit Herkunft. Es geht an das, was Genscher in solchen Zusammenhängen das „Eingemachte“ nennt und wovon er möglichst überhaupt nicht redet. Aber wer ihn näher kennt, der weiß: Wenn Genscher die Wahl hätte, mit Roten auf Urlaub zu fahren oder mit Schwarzen, dann fiele ihm die Entscheidung nicht schwer: Er ginge (außer vielleicht mit Helmut Schmidt) mit den Christdemokraten.
Hans-Dietrich Genscher ist von Herkunft ein richtiger deutscher Mensch. Er entstammt einem, nach eigener Definition, deutschnationalen, in der Scholle wurzelnden Elternhaus. Beide Eltern waren in der preußischen Provinz Sachsen, wo er zu Reideburg bei Halle an der Saale am 21. März 1927 geboren wurde, auf relativ kleinen Bauernhöfen aufgewachsen. Der Vater hatte gleichwohl Jura studieren können und war Syndikus eines landwirtschaftlichen Verbandes geworden. Der Sohn studierte, nach einem durch Arbeitsdienst und Militär bedingten Ergänzungsabitur, ebenfalls die Rechte; er hatte nie einen anderen Berufswunsch (außer Lokomotivführer) als Rechtsanwalt, genauer: Strafverteidiger.
Daß es Unrecht gibt, war ihm zum erstenmal faßbar geworden, als er beim Spielen auf dem großelterlichen Hof eine Jüdin mit dem gelben Stern in einer bewachten Kolonne die Straße fegen sah. Er ist, rückblickend, nicht abgeneigt, darin so etwas wie ein Schlüsselerlebnis zu erkennen – einen Keim nicht nur seines juristischen, sondern auch seines politischen Engagements. Jedenfalls wirkte das Erlebnis weiter, Gefühle der Gegnerschaft weckend, die sich fast bruchlos vom braunen auf das rote Regime übertrugen.
Noch bevor er im März 1946 das Ergänzungsabitur bestand, ging Genscher in eine politische Partei. „Ich habe von Anfang an nur über CDU oder LDP nachgedacht. Die CDU redete von christlichem Sozialismus. Den wollte ich nicht.“ Also ging er in die Liberal-Demokratische Partei. „Die waren am aggressivsten gegen die KP und deren absolute Unterwürfigkeit unter die Russen.“
Und weil er sich aus Abscheu vor solcher Unterwürfigkeit und aus verletztem Rechtsempfinden an so manchen Widersetzlichkeiten junger LDP-Leute gegen die Übergriffe der sozialistischen Staatsmacht beteiligte, kam Genscher drüben halbwegs unangefochten nur bis zum Referendar. Er fiel auf – zum Beispiel weil er der gefürchteten Hilde Benjamin patzige Antworten auf deren tadelnde Frage nach seiner LDP-Zugehörigkeit gab. Und auf die Dauer wurde das Risiko für Leib und Leben zu groß. Im August 1952 rettete sich der Referendar Genscher in den Westen.
Auch hier, wo der strebsame Mann schon knapp zwei Jahre nach seiner Flucht den Assessor bauen und sich im Oktober 1954 in einer honorigen Sozietät zu Bremen als Rechtsanwalt etablieren konnte, auch hier brauchte er nicht lange über seine Parteizugehörigkeit nachzusinnen. „Die Entscheidung war praktisch schon gefallen mit dem Eintritt in die LDP.“ Er ging zur Schwesterpartei, er wurde Jungdemokrat, er kam in den Landesvorstand der bremischen FDP.
Der Parteifreund, der ihn damals am meisten beeindruckte, war kein geringerer als der Feuerkopf Thomas Dehler – wohl weniger des Feuers als vielmehr des Umstandes wegen, daß Dehler genau jene Anliegen zu artikulieren und in Aktion umzusetzen verstand, die Genscher sozusagen als politisches Startkapital aus der Zone mitgebracht hatte: das Engagement gegen den Mißbrauch jeglicher Staatsgewalt und das Engagement für die nationale Einheit der Deutschen.
Es wäre also gewiß unfair zu sagen, daß Hans-Dietrich Genscher ein Mann ohne Überzeugungen sei, ein Politiker ohne Standort. Das ist er nicht. Er ist – in des Wortes jungfräulichem, von keinem Zoglmann geschändeten Sinne – ein Nationalliberaler.
Nur sind es mitnichten diese nationalliberalen Überzeugungen, die Genscher in Aktion versetzen, die ihn als Politiker motivieren. Sie sind allenfalls sein Potential. Seine politische Potenz hingegen hat damit überhaupt nichts zu tun.
Die kann er, im Gegenteil, nur dort voll entfalten, wo es ihm gelingt, als „Mann der Mitte“ zu firmieren und als solcher in Anspruch genommen zu werden – als ein Mann ohne eindeutige Überzeugungen also, dessen bloßes Nähertreten bewirkt, daß die Wogen der ideologischen Auseinandersetzung sich vor ihm teilen. Wenn Genscher eine eindeutige Aussage zu machen wünscht, dann gibt er das eigens an, dann sagt er: „Eindeutig ja“, oder „Eindeutig nein“. Die Tatsache aber, daß er der Polarisierung – gerade in seiner eigenen Partei – so lange entronnen Ist, verdankt er einem kalkulierteni Mangel an Eindeutigkeit.
Das ist es, was seine Wirksamkeit – und seine Karriere – in der FDP vor allem anderen ausgemacht hat: daß alle, auch die miteinander zerfallenen Gruppierungen innerhalb der Partei, ihn alsbald für sich reklamiert und ihn so in den Stand gesetzt haben, im toten Winkel der innerparteilichen Auseinandersetzungen das Management der Macht zu betreiben.
Das ist es, was ihn, in allen seinen Parteifunktionen, unentbehrlich gemacht hat: seine Fähigkeit, Zusammenhalt zu repräsentieren, auch wo es gar keinen gibt. Sein großer Coup ist das Mittelding. Als Equilibrist hat er in dieser Partei des Züngleins an der Waage nicht seinesgleichen. Und als Manager der Macht ist er in der FDP stets ein Profi unter Amateuren gewesen.
So hat er, um eine treffliche Formulierung von Claus Heinrich Meyer aus dem „Monat“ zu zitieren, „den Aufstieg von der Seele des Geschäfts (worunter ein unentbehrliches Faktotum verstanden wird) zum Teilhaber geschafft, zu einem Teilhaber, der aber wunderbarerweise weiterhin die Seele des Geschäfts ist“.
Was also motiviert ihn, what makes Genscher nun? Nicht Überzeugungstreue, sondern dieser Drang zur Mitte: ein untrüglicher Instinkt für Mehrheiten und ein inbrünstiges Streben nach Teilnahme. Daraus, und nicht aus irgendeiner Ideologie, ergeben sich seine wahren „Grundpositionen“. Es sind ihrer zwei. Eine heißt: Die Lösung ist das Durchsetzbare. Und die andere: Dasein ist alles.
Dasein ist alles – von diesem seinem ältesten politischen Hausmittel nimmt auch der Arrivierte, nimmt auch der Innenminister Genscher noch mehrmals täglich eine Überdosis. Kein Fluß in deutschen Landen kann über die Ufer treten, ohne daß sich der Bundesinnenminister in Gummistiefeln davon netzen läßt. „Wenn's irgendwo kracht und brennt“, so ein beleidigter Kommentar aus dem Innenministerium des Freistaates Bayern, „kommt der Genscher und schaut sorgenvoll in die Flammen.“
Wie ein rächender Engel schwebt er unter Rotorengedröhn hernieder – und posiert dann pausbäckig und bekümmert wie eine harmlose Putte doch bloß für Law and Order und den Wählern ein Wohlgefallen.
An jenem Sonntag zum Beispiel, als palästinensische Piraten einen Panam-Jumbo nach Nahost umdirigierten, war der Innenminister Genscher gerade in Bremen und eigentlich auch nicht zuständig (die Luftsicherheit ist Georg Lebers Revier). Dennoch trat er, als ihn die telephonische Meldung erreichte, das entführte Flugzeug habe Kurs auf Süddeutschland, unverzüglich die Heimreise an.
Aus seinem Dienst-Mercedes 280 SE alarmierte er zunächst per Autotelephon die Sicherheitsorgane des Münchener Flughafens – für alle Fälle. Dann setzte er „Forelle eins“ in Gang, ein eigens für ihn installiertes Funksprechgerät, mit dessen Hilfe er sich aus dem Auto und auf über 200 Kanälen in den Funkverkehr von Polizei, Feuerwehr und Bundesgrenzschutz einschalten kann.
Solchermaßen dirigierte er nun seinerseits ein Flugzeug um. Der nächsterreichbare Grenzschutz-Hubschrauber wurde in den Luftraum über dem Minister-Mercedes gelotst, erreichte diesen in der Nähe von Münster, landete, Genscher stieg um und ließ sich nach Bonn in das (noch von seinem Vorgänger Ernst Benda im Gefolge des Dutschke-Attentats eingerichtete) „Lagezentrum“ fliegen.
An der Lage konnte er dort freilich nicht das mindeste ändern. Der Jumbo explodierte in Kairo. Dem Minister Genscher blieb bloß der Stolz auf die „neue Bestzeit Bremen-Bonn: eine Stunde vierzig Minuten“.
Am Sonntag darauf flog er nach einer morgendlichen Ministerbesprechung beim Bundeskanzler (Thema: Flugzeugentführungen) zuerst zur Schlußkundgebung des Katholikentages in Trier, die Bundesregierung vertreten, und dann zur Deutschen Meisterschaft der Spring- und Dressurreiter in Euskirchen, Ehrenpreise verleihen. Auf der Anreise besichtigte er, während einer unverhofften Zwischenlandung, die im Frankfurter Flughafen Gepäck kontrollierenden Bundesgrenzschützer. Und das trug Früchte: Der Minister entdeckte – und behob – den Übelstand, daß die warmen Mahlzeiten für die Grenzer aus einer Kaserne in Alsfeld über die Autobahn angefahren wurden.
Genschers Terminkalender liest sich wie eine Mischung aus Fahrplan, Taschenbuch des öffentlichen Lebens und Science-fiction; manchmal auch ein bißchen wie Vereinskalender.
Sein Tageslauf aber hat allemal Ähnlichkeit mit einem Autorennen. Der FDP-Fahrer Genscher – ein Champion zwar, aber keineswegs der Favorit – jagt unablässig um den Kurs, neuen Bestzeiten entgegen, während sein Stab mit Stoppuhr und Schraubenschlüssel in der Boxe lauert, ihm von Runde zu Runde die Zeit signalisiert und dafür sorgt, daß er nicht zu spät zum Tanken und zum Reifenwechsel hereinkommt.
Der Minister steht jeden Morgen um sechs auf, egal wann er am Abend zuvor ins Bett gekommen ist; morgens ist er immer munter. Bis um sieben Uhr, also vor dem Frühstück, nimmt er daheim, in seinem ziemlich düsteren Arbeitszimmerchen, solche Akten durch, für die man Ruhe und einen ausgeruhten Kopf braucht. Es ist auch schon vorgekommen, daß er um diese Zeit diktieren wollte.
Die dienstägliche Abteilungsleiterbesprechung im Innenministerium ist unter Genscher von zehn Uhr auf halb neun vorverlegt worden. Davor, nämlich um halb acht, trifft sich, ebenfalls dienstags, die „Arbeitsgruppe Innenpolitische Grundsatzfragen“, eine Art ministerielle Denkfabrik. Wenn Genscher beispielsweise um neun einen Kabinettstermin im Palais Schaumburg hat, fährt er oft gar nicht erst ins Ministerium, sondern versammelt seine Referenten zur Ressortbesprechung um halb acht in den sogenannten Hallstein-Zimmern des Kanzler-Palais.
Auftanken läßt er sich, wenn es sein muß, auch im Flug, wie eine B 52. Der aktuelle Informationsstand wird ihm zwischen den einzelnen Terminen zugereicht. Vorlagen und Sprechzettel müssen knapp gefaßt sein, denn der Minister sieht diese Texte (aber auch manche Rede-Entwürfe seiner Referenten) meistens erst ganz kurz vor dem jeweiligen Auftritt – und extemporiert dann doch.
Hans-Dietrich Genscher ist immer und überall erreichbar. Das ist für ihn nicht nur eine zwingende Voraussetzung seiner Arbeitsweise – das ist eine Order, fast ein Glaubenssatz. Mancher seiner Mitarbeiter im Ministerium hat da umlernen müssen: Der Chef will nicht abgeschirmt, er will gestört werden. Auf Genschers Terminplan muß neben jeder Ortsangabe die Telephonnummer stehen, unter der er dort zu erreichen ist. Während er eine Rede hält, steht immer jemand bereit, etwa ankommende Telephonate zu speichern. Selbst sein privater Mercedes 200 hat Telephon.
Pro Arbeitsstunde telephoniert Genscher, wenn er nicht gerade eine Sitzung zu absolvieren hat, bis zu einem dutzendmal. In seiner Beziehung zum Telephon vermischt sich die unschuldige Lust des Knaben am Spiel mit der hoffnungslosen Abhängigkeit des Süchtigen von der Droge.
Im Adressenteil eines dpa-Kalenders, wenn nicht im Kopf, hat Genscher die Telephonnummern sämtlicher ihm wichtigen Bonner Korrespondenten; und er benutzt sie. Niemand in seinem Haus weiß, mit wem er alles spricht.
Hans-Dietrich Genscher ist, mindestens zu Teilen seines Wesens, ein verhinderter Marshall McLuhan der bundesdeutschen Politik. Sein Verhältnis zu den Medien der modernen Massenkommunikation hat etwas von der heidnischen Heiligung des Selbstzwecks – the medium is the message. Auch wem jeglicher Glaube an das, was da gesagt wird, fehlt, wird die Botschaft wohl hören. Dafür sorgt Genscher – optisch, akustisch, in Farbe und auch schwarz auf weiß. Seine Public Relations sind sozusagen eine Mixed-Media-Show, bei der er selber Regie führt. Überall Genscher, und Genscher über alles.
So ist er zu einem der meistzitierten Minister des Kabinetts Brandt geworden. So ist aufgekommen, was Genscher anstelle eines Images hat: das Klischee vom starken Mann, der als Innenminister wie ein reziproker Laokoon mit einem Natternknäuel von Zuständigkeiten ringt – um sie alle an sich zu ziehen.
Das aber muß Klischee bleiben, zumindest solange die von Genscher erstrebte Verfassungsreform sich nicht verwirklichen, der von ihm beklagte „Postkutschenföderalismus“ sich nicht modernisieren läßt. Unterdessen führt Genschers Umtrieb mit Sicherheit bloß zu Diskrepanzen – zwischen Aufwand und Ergebnis zum Beispiel, aber auch zwischen den Regierenden.
Es gibt Kabinettskoliegen, die den Innenminister für einen „typischen Ankündigungsminister“ halten. Selbst der Verkehrsminister Leber, der doch mit Genscher und Helmut Schmidt zusammen den rechten Flügel des Kabinetts stark macht, hat in seinem Haus eine Akte anlegen lassen über – letztlich fruchtlose – Kompetenzstreitigkeiten mit dem „guten Genscher“, der zwar „an allen Blüten“ nasche, ohne jedoch Honig zu machen.
Auch die Rationalisierungen, die Genscher selber zur Deutung seiner nimmersatten Aktivität anbietet, hinterlassen Zweifel. Es gehe ihm darum, sagt er, die effektive Funktionsfähigkeit der Demokratie und vor allem natürlich die Regierungsbeteiligung der FDP jedermann sichtbar zu machen: „Das ist mein Tribut an diese kleine Partei.“ Bloß kann man bislang beim besten Willen nicht den Eindruck haben, daß diese ganze Geschäftigkeit der FDP auch nur eine einzige Stimme eingetragen hat.
Überhaupt reichen rationale Deutungen schwerlich hin, den Aktionshunger und die Unrast zu erklären, die den Innenminister Genscher innerhalb eines Tages an weit voneinander entfernten Orten der Bundesrepublik erscheinen und agieren lassen.
Diese unheimliche Omnipräsenz hat in Wahrheit etwas Zwanghaftes. Sie erinnert an eine ununterbrochene Flucht nach vorn. Wäre Hans-Dietrich Genscher als Redner wie als Gesprächspartner nicht die Ruhe und die Bedachtsamkeit und die Selbstkontrolle in Person, man könnte ihn für einen überschweren Dr. Kimble halten – für einen Gejagten, der sich nur unterwegs einigermaßen sicher fühlt.
Es ist nicht leicht, in der Person Genschers den Grund für solches Zwangsverhalten zu entdecken. So zugänglich der Politiker ist, so undurchdringlich ist der Mensch. Sein wahres Wesen ist wie mit weißer Deckfarbe zugestrichen. Er strahlt eine gleichmäßige Freundlichkeit aus, er ist aufmerksam und zuweilen auch witzig – aber er gewährt nicht gern Einblick. Daß er ein Privatleben hat, würde er am liebsten bestreiten.
Gegenüber diesem Privatleben versagt, bezeichnenderweise, auch Genschers ganze Public-Relations-Routine. Da verliert er plötzlich die Maßstäbe.
Einerseits zum Beispiel hat er es fertiggebracht, bei einem Fernsehauftritt anläßlich der letzten Fußballweltmeisterschaft nicht nur im Schatten von „Chef“ Herberger, sondern obendrein mit seiner neunjährigen Tochter Martina auf den Knien vor der Kamera zu erscheinen und die liebe Kleine während der ganzen Sendung dort so fest sitzen zu lassen, als wäre sie mit Tesa-Film angeklebt.
Andererseits hat er, der Geschiedene, allen Ernstes den von vornherein zum Scheitern verurteilten Versuch gemacht, die Tatsache seiner Wiederverehelichung (kurz vor der Regierungsbildung 1969) zu verschweigen, jedenfalls von den Gazetten fernzuhalten – angeblich, weil seine erste Frau, die in einer kleinen Stadt lebt, dann dem Gerede der Leute ausgesetzt sein würde; in Wahrheit wohl eher deswegen, weil der Bürger Genscher es genierlich fand, seine zweite Frau als seine ehemalige Sekretärin identifiziert zu sehen.
Selbst seine persönliche Sphäre zu beschreiben ist schwer, denn er hat eigentlich keine. Er raucht nicht, trinkt wenig und ißt zuviel. Auf Garderobe legt er keinen Wert. Hobbys kennt er nicht. Der Reihen-Atrium-Bungalow, den er auf dem Godesberger Heiderhof vor geraumer Zelt preiswert erworben hat, birgt eine Einrichtung, die man mit einigem Wohlwollen gutbürgerlich nennen kann, Bierkeller inbegriffen. Zahlreiche Städtebilder an den Wänden weisen den Hausherrn als einen Hallenser aus; andere Individualitäten werden nicht preisgegeben. Eine Ferienwohnung hätte sich Genscher ums Haar in Braunlage angeschafft: weil der Harz ihn so an seine Kindheit erinnert.
Hans-Dietrich Genscher hat nicht nur kein Image – er gehört zu den wenigen Politikern in Bonn, die keine „Rolle“ spielen wollen. Er macht sich nichts daraus, in einem Lokal, wo er als der Herr Minister hofiert wird, zum Entsetzen des persönlich erschienenen Küchenchefs ein halbes Pfund Pfeffer auf den eigens für ihn abgeschmeckten Salat zu schütten. Er stilisiert sich nicht, er wüßte gar nicht, nach wem.
Hingegen weiß er genau, daß er keinerlei charismatische Kraft hat, und es klingt ganz glaubwürdig, wenn er sagt, das mache ihm nichts aus. Wer ihn einen ewigen Zweiten nennt, tut ihm keinen Tort an. Um seines Selbstbewußtseins willen müßte er nicht Parteichef werden. „Ich habe es“, sagt Genscher, wiederum glaubwürdig, „weiter gebracht, als ich je gedacht hätte.“
Das ist alles nur dann zu verstehen, wenn man weiß, daß Hans-Dietrich Genscher ein Genesener ist. Er hat eine schwere TB überstanden. Sie kündigte sich 1946, bald nach dem Abitur, mit einer nassen Rippenfellentzündung an. Im Dezember 1954, als just niedergelassener Anwalt, hatte er einen Blutsturz, ein Jahr darauf einen Rückfall. Mit 30 Jahren wurde er operiert. Drei Jahre seines Lebens hat er in Krankenhäusern zugebracht, viereinhalb Jahre lang hat er einen Pneu getragen, und alle die Jahre hat er sich fragen müssen, ob er jemals wieder über seine volle Arbeitskraft verfügen werde. Eine solche Krankheit überstanden zu haben, verändert natürlich den Lebensrhythmus. Es macht „lebenstoller“, um mit Thomas Mann zu reden. Aber es macht wohl auch besorgter, sorgebedürftiger.
Da fügt es sich denn, daß Genscher nie ohne jene sonderliche Fürsorge hat auskommen müssen, wie sie den Müttern, und nur den Müttern, eigen ist. Hans-Dietrich Genscher ist das einzige Kind seiner Eltern. Sein Vater ist, 39 Jahre alt, an einer Kieferhöhlenvereiterung gestorben, als er selber erst neun Jahre alt war. Von seiner Mutter aber hat er sich nie getrennt – nicht als Student, nicht im Urlaub, nicht als Anwalt, nicht als Politiker.
Nur einmal, zu Zeiten seiner ersten Ehe, der die Tochter Martina entstammt, war die Wohngemeinschaft mit der Mutter zeitweilig unterbrochen. Heute aber führt Mutter Genscher, eine willensstarke, Tag und Nacht um das Ergehen des Sohnes sich sorgende Frau, auf dem Heiderhof wieder das Regiment. Und es fehlt nicht an Indizien dafür, daß der Schutz gewährende Herrschaftsbereich der „Omi“ nicht nur für die Enkelin Martina, sondern auch für deren Vater intakt geblieben ist.
Unter der Deckfarbe, mit der Hans-Dietrich Genschers wahres Wesen übermalt ist, verbirgt sich nämlich auch dies: seine intensive Beziehung zur Geborgenheit, sein heimliches Bedürfnis nach Harmonie – und die Angst davor, sein seelisches Gleichgewicht, dieses Inbild der Eintracht, gestört zu sehen. Er braucht solches Gleichgewicht, braucht auch das Gefühl der Geborgenheit. Gerät es ins Wanken, dann treibt ihn sein Instinkt zur Flucht aus der Unstimmigkeit. Denn nur in der Harmonie ist er wirklich stark.
Dies hier zu erwähnen bedeutet keinen Einbruch in die Intimsphäre, denn es gilt genauso auch für den Politiker Genscher – man muß nur Harmonie durch Konsensus, Geborgenheit durch Mehrheit und Gleichgewicht durch Parallelogramm der Kräfte ersetzen.
Auch das Befinden und die Handlungsfähigkeit des Politikers Genscher werden bestimmt von Mehrheiten – von freundlichen wie von feindlichen. Er ahnt früher und ihn kümmert mehr als andere, welche Mehrheiten in der Partei, in der Koalition, im Bundestag derzeit möglich sind. Wenn er die Lage analysiert, so analysiert er zunächst einmal den Gegner.
Kommt in der Partei oder im Kabinett ein Konsensus zustande, so kann man sich kaum einen gescheiter argumentierenden, präziser formulierenden Anwalt dieser Übereinstimmung wünschen als Genscher. Verweigert sich aber die Mehrheit oder geht eine Mehrheitsbildung ihm contre cœur, dann muß Genscher meist dringend ans Telephon oder, beispielsweise, zur Eröffnung der Schach-Olympiade.
Pragmatisch handeln heißt in Genschers Definition, „auch einen halben Schritt tun, wenn man den ganzen nicht tun kann“. Die Lösung ist für ihn immer nur das Durchsetzbare.
Als am Abend vor der Wahl des Bundespräsidenten, 1969 in Berlin, die freidemokratischen Wahlmänner im „Europäischen Hof“ zur Einschwörung auf Heinemann zusammenkamen, da sprach Genscher zwar für die Wahl des SPD-Kandidaten. Aber als die erste Probeabstimmung dann nicht die erforderliche Geschlossenheit der Wahlmänner auswies, nahm er die Hände vors Gesicht und sagte: „Es ist aus.“ Er hätte sich wohl nicht, wie Scheel und Weyer, einfach geweigert, das fatale Ergebnis zu akzeptieren. Für ihn ist eine versagende Mehrheit das Rien ne va plus.
Er widerruft sich sogar selber, wenn eine Mehrheit, auf die er sich stützen zu können glaubte, ihm plötzlich abhanden kommt. Als die Freien Demokraten 1969 ihre Wahlplattform zimmerten, war er unter den drei Autoren Genscher, Bahner, Dahrendorf mit Abstand der progressivste Formulierer. Aber als es dann in den Nachwehen der Heinemann-Wahl aus Protest gegen den neuen Linkskurs der FDP zu ein paar Parteiaustritten in Niedersachsen und zu allerhand Unruhe unter den Stammwählern kam, strich Genscher seine ganze Progressivität wieder aus der Plattform heraus. Die These, beide deutsche Staaten sollten in die Uno aufgenommen werden, versuchte er auch dann noch herauszustreichen, als das Präsidium beschlossen hatte, sie drin zu lassen.
Denn was sollen ihm seine Überzeugungen, was soll ihm sein Potential, wenn seine Potenz, wenn die Mehrheit ihn im Stich läßt?
Er könnte der Mann der letzten Stunde sein, der eines Tages die übriggebliebenen Freidemokraten aus der sozialliberalen Koalition wieder herausführt. Aber es liegt nicht bei ihm, ob er kann.
Einführung
SPIEGEL 36/1995

„Ich habe oft gesagt . . .“

Hans-Dietrich Genscher über Sternstunden und Pleiten seiner Minister-Jahre
SPIEGEL: Herr Genscher, Sie haben nun Ihre lange erwarteten Memoiren vorgelegt. Mögen Sie soviel Auflage erzielen wie das neue Buch von Günter Grass. Nur: Der Genscher, den wir kennen, der witzige Erzähler und Anekdotenlieferant, verschwindet hier gänzlich hinter dem Staatsmann. Warum?
Genscher: Das Buch nenne ich „Erinnerungen“. Möglicherweise erinnern sich viele meiner Gesprächspartner an diese schönen Anekdoten stärker als ich selbst. Aber vielleicht gibt es ja noch mal eine Gelegenheit, auch dieses Füllhorn zu öffnen.
SPIEGEL: Wie schön, das gibt Hoffnung auf ein eigenes Anekdotenbuch. Doch nun zu Ihren Memoiren: „Im Rückblick“, schreiben Sie, „zählt nur der Erfolg“ . . .
Genscher: . . . habe ich das wirklich geschrieben?
SPIEGEL: Gewiß, und die Frage ist, was denn nun in Ihrem Lebenswerk am meisten zählt.
Genscher: Ich bin sehr froh darüber, daß ich als Angehöriger der Luftwaffenhelfer-Generation dazu beitragen konnte, unser Land und unser Volk wieder zusammenfinden zu lassen, und das als freiheitliche Demokratie und in einem europäischen Rahmen.
SPIEGEL: Hätten Sie je gedacht, daß Sie Abgeordneter in einem frei gewählten gesamtdeutschen Parlament sein würden?
Genscher: Ich habe oft gesagt, wenn ich gefragt wurde, ob ich mit der deutschen Vereinigung rechne: Wenn mir der liebe Gott eine normale Lebenserwartung beschert, bin ich sicher, das zu erleben.
SPIEGEL: Da waren Sie aber anderen Leuten voraus.
Genscher: Warum?
SPIEGEL: Die meisten hatten die Vereinigung irgendwann schon erwartet, so schnell aber nicht.
Genscher: Mein Großvater, eine Autorität für mich, sagte am 1. Januar 1946: Das dauert 50 Jahre. Mir schien das damals sehr lange. Aber ich war mir bald sicher, daß die Entwicklung in der Welt völlig neue Kraftströme auslösen wird und daß auf Dauer Deutschland und Europa nicht geteilt gehalten werden können.
SPIEGEL: Die Einheit also als Erfüllung eines Lebenstraums. Was aber war Ihr bewegendstes politisches Erlebnis?
Genscher: Das war Prag, als ich vom Balkon unserer Botschaft meinen geflüchteten Landsleuten aus der DDR zurufen konnte: Der Weg ist frei.
SPIEGEL: Und was empfinden Sie in 23 Jahren Regierungszugehörigkeit als Ihre größte Pleite?
Genscher: Natürlich gab es Mißerfolge, aber eine große Schlacht haben wir nie verloren. Am meisten aufgewühlt, am tiefsten getroffen hat mich München, der Anschlag auf die israelischen Sportler bei den Olympischen Spielen 1972 und der schreckliche Ausgang dieses Anschlags.
SPIEGEL: Sie bieten mit den 1088 Seiten Ihrer Erinnerungen dem Leser ein weites Feld. Mit Enthüllungen wird er indes nicht gerade verwöhnt.
Genscher: Ich wollte ja auch kein Enthüllungsbuch schreiben.
SPIEGEL: Das liest man aber gern.
Genscher: Ist mir schon klar. Nur: Soviel gab es auch nicht zu enthüllen.
SPIEGEL: Herr Genscher, Sie haben drei Kanzlern gedient . . .
Genscher: . . . ich habe mit drei Kanzlern zusammengearbeitet, wenn ich mir diese kleine Verbesserung erlauben darf.
SPIEGEL: Mit wem war es am schönsten?
Genscher: Mit jedem auf seine Art.
SPIEGEL: An Willy Brandt rühmen Sie die „menschliche und moralische Autorität“.
Genscher: Ja, und auch die Art, wie er die Zusammenarbeit im Kabinett sich entwickeln ließ. Das war ideal.
SPIEGEL: Bei Helmut Schmidt ging es dagegen „straffer“ und „disziplinierter“ zu?
Genscher: Das galt vor allem für den sozialdemokratischen Part des Kabinetts. Wir hatten uns da nicht zu beklagen.
SPIEGEL: Aber es gelang Ihnen nicht, zu Schmidt ein gutes Verhältnis zu gewinnen?
Genscher: Ich hatte das Gefühl, daß er, wie ich, sich oft darum bemüht hat. Es schien mir aber, er tat sich schwer, übrigens nicht nur mit mir, sondern auch mit anderen.
SPIEGEL: Und bei Helmut Kohl, schreiben Sie, sei „vieles anders“ gewesen. Was denn?
Genscher: Zunächst mal war das menschliche Verhältnis anders. Wir duzten uns, kannten uns aus ZDF-Gründungstagen, sind Freunde. Plötzlich waren wir nun Bundeskanzler und Vizekanzler plus Außenminister.
SPIEGEL: Über Franz Josef Strauß schreiben Sie trotz aller politischen Gegensätze mit großem Wohlwollen. Imponierte er Ihnen mehr als der Kanzler?
Genscher: Nein, aber Franz Josef Strauß war weit weg. Ich habe ja mit ihm nie im Kabinett zu tun gehabt.
SPIEGEL: Das war der nützliche Idiot für die FDP.
Genscher: Dieser Ausdruck ist unangemessen, aber hilfreich für uns war Franz Josef Strauß schon.
SPIEGEL: Mit dem Ende der Zwei-plus-Vier-Verhandlungen über die Vereinigung war Ihr „Lebenstraum erfüllt“, wie Sie sich ausdrücken. Und dann sagen Sie: „Die innere Vereinigung wird die nächste große Herausforderung sein.“ Woran ist sie gescheitert?
Genscher: Gescheitert ist sie nicht. Aber sie ist auch nicht vollendet. Viele Westdeutsche dachten offenbar, was da passiert, betrifft nur den Osten, bei uns ändert sich nichts. Ich aber war stets der Meinung, nichts wird mehr so sein, wie es war, nicht im Osten, aber auch nicht im Westen. Und wir werden erhebliche Leistungen zu erbringen haben.
SPIEGEL: Ihre Forderung für die neuen Länder hieß: Niedrigsteuergebiet. Und die Einheit war nach Ihrer Ansicht auch nicht zu schaffen ohne Steuererhöhung. Das wollte keiner einsehen?
Genscher: Das war schwer durchsetzbar. Es hat ja Stimmen auch in der Wirtschaft gegeben, die meine Meinung teilten. Andere im Westen hatten Wettbewerbssorgen. Besonders stark war der Widerstand aus der CSU im Blick auf die bayerischen Randgebiete.
SPIEGEL: Sie haben damals sogar an Rücktritt gedacht.
Genscher: Darüber habe ich nur mit meiner Frau gesprochen.
SPIEGEL: Sie klagen auch über die Selbstgerechtigkeit des Westens. Im Fall des Bürgerrechtlers und gleichzeitigen Stasi-Mitarbeiters Ibrahim Böhme sahen Sie eine Art beispielhafte Tragik des „politischen Lebens in der DDR“.
Genscher: Ich sage ja ähnliches über den ehemaligen DDR-Ministerpräsidenten Lothar de Maiziere – zwei ganz unterschiedliche Beispiele, die erhellen können, daß man nicht mit leichter Hand den Stab brechen darf. Das ist vom Westen her schwer in allen menschlichen Dimensionen, schon gar nicht nach den Maßstäben absoluter Gerechtigkeit, zu beurteilen.
SPIEGEL: Ihnen paßt die ganze Richtung der Vergangenheitsbewältigung nicht?
Genscher: Ich will eigentlich nur sagen: Laßt letztlich denen den Vortritt bei der Beurteilung, die mit den Betroffenen zusammen diese Zeit erlebt haben.
SPIEGEL: Also Bärbel Bohley soll über Manfred Stolpe urteilen?
Genscher: Nicht nur Bärbel Bohley. Sie ist ja auch nicht das ganze Spektrum, sondern zum Beispiel auch viele, die den Mann Stolpe in der Kirche erlebt haben – oder, wie ich, ihn von seinen Besuchen im Westen kannten.
SPIEGEL: Kann unser Rechtssystem einfach dem Osten übergestülpt werden, beispielsweise in Prozessen gegen Politbüromitglieder?
Genscher: Über diese Frage ist schon im Jahr 1990 gesprochen worden: Macht man eine Amnestie? Ich war dafür sehr offen. Das hätte ja nichts weggenommen von der Möglichkeit, das Verhalten der Beteiligten geschichtlich und moralisch zu beurteilen.
SPIEGEL: Jetzt ist es zu spät?
Genscher: Ich glaube, ja. Allerdings bin ich der Meinung, Gerichte haben über Recht und Unrecht zu entscheiden. Aber die Meinung, man brauche die Prozesse vor allem, um die Vergangenheit aufzuarbeiten, teile ich nicht. Das ist eine Sache der Historiker. Strafverfahren können ihre Begründung nur in der Rechtsordnung finden.
SPIEGEL: Zu dem konspirativen Umfeld der deutsch-deutschen Entwicklung, den Stasi-Verstrickungen, haben Sie wenig Erhellendes geschrieben. Ist denn einmal versucht worden, Sie als ehemaligen DDR-Bürger, Verwandte oder Freunde aufs Glatteis zu führen?
Genscher: Nein. Nur ein Klassenkamerad wurde in dieser Richtung angesprochen. Er hat aber abgelehnt. Das hat er mir nach der Wende erzählt.
SPIEGEL: Es gibt eine interessante Episode aus dem Jahr 1949, mehrere Jahre vor Ihrem Weggang in den Westen, ein Treffen mit der berüchtigten späteren DDR-Justizministerin Hilde Benjamin. Sie erklärte Ihnen, Sie paßten nicht in den DDR-Staat. Dann werden Sie doch Referendar im Staatsdienst. Wie reimt sich das zusammen?
Genscher: Wie meine Kommilitonen, die mit mir das Referendarexamen bestanden hatten, wurde auch ich noch einmal zu einem Gespräch in die Universität in Leipzig eingeladen. Dort fragte Frau Benjamin: „Was wollen Sie denn werden?“ Meine Antwort: „Rechtsanwalt.“ „Das ist eine gute Entscheidung“, sagt sie, „denn in unserem Staat ist für Leute wie Sie kein Platz.“
Daß sie meine Berufswahl, Rechtsanwalt zu werden, für gut befand, freute mich, denn um Rechtsanwalt zu werden, mußte ich in den Referendardienst. Dagegen hatte sie offensichtlich nichts einzuwenden. Aber sie wollte mir gleich signalisieren: keine Chance in unserem Staatsdienst – aber das wollte ich auch nicht.
SPIEGEL: Zu den schwierigsten Phasen in Ihrem politischen Leben gehört die Wende 1982, das Ende der sozial-liberalen Koalition. „Die SPD wendet sich ab“, schreiben Sie in Ihrem Buch. Mußte nicht seit Ihrem Wendebrief 1981 der Eindruck entstehen, dies sei ein gezielt inszenierter Ausstieg?
Genscher: Nein, die SPD hat sich damals von der vereinbarten Regierungspolitik abgewendet. Keiner von uns hat das so hart beurteilt wie der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt vor seiner Fraktion. Ich will gar nicht davon reden, was vorher der SPD-Parteitag in München beschlossen hat . . .
SPIEGEL: . . . einen „Horrorkatalog“ aus Ihrer damaligen Sicht.
Genscher: Ich bin sogar in der Beurteilung sehr zurückhaltend gewesen, weil ich die Lage nicht verschärfen wollte. Und die SPD wendete sich zudem ab vom Nato-Doppelbeschluß, was für mich wirklich zentral war. Helmut Schmidt sah diese Frage genauso.
SPIEGEL: Eine „strukturelle Wende in der Wirtschafts- und Finanzpolitik“ hat die FDP damals eingefordert, also Reduzierung öffentlicher Ausgaben, Senkung von Steuern und Abgaben – Forderungen, die bis heute akut sind.
Genscher: Sicher, wir haben auch heute mit Strukturproblemen zu ringen. Aber die neue Regierung aus FDP, CDU und CSU hat doch eine Reihe struktureller Entscheidungen getroffen, die zur Stabilität geführt haben.
SPIEGEL: Sie haben es als verletzend empfunden, als Ihnen nach dem Wechsel zur Union „Verrat“, auch aus den eigenen Reihen, vorgeworfen wurde. Finden Sie denn auch aus heutiger Sicht, die „Art und Weise“ des Wechsels gelungen?
Genscher: Es gab keine andere Möglichkeit.
SPIEGEL: „Offen und ehrlich“ hätten Sie Ihre Absicht erklären müssen, meint Schmidt.
Genscher: Ich meine, diese Offenheit in der Sache war da, auch in einem Gespräch, das wir in Hamburg im Sommer 1982 geführt haben. Bei den Haushaltsberatungen für 1983 wäre es ganz deutlich geworden.
SPIEGEL: Über die Gründe für Ihren Rücktritt als Außenminister, zehn Jahre später, gibt es immer noch Spekulationen. Eine heißt: Er wollte Bundespräsident werden. Ist das ganz falsch?
Genscher: Ja, das ist falsch. Natürlich habe ich mir die Frage vorgelegt und bin zu dem Ergebnis gekommen: nein. Da ich aber ahnte, was kommen würde, habe ich einen „Welt am Sonntag“-Artikel benutzt, um zu sagen, „nie und unter keinen Umständen“.
SPIEGEL: