Buchcover

Kjersti Scheen

Ein einziger Tag

Aus dem Norwegischen
von Maike Dörries

Saga

Erschlug die Augen auf.

Über ihm flimmerte es hell. Im ersten Moment wusste er nicht, wo er war, aber dann fiel es ihm wieder ein. Er fuhr sich vorsichtig mit dem Finger über den Mund. Die Oberlippe war leicht geschwollen und im Mundwinkel klebte Schorf.

Jede Bewegung tat weh. Er lag unbequem und hatte völlig steife Knochen; sah um sich. Er war zwischen ein paar Haselsträuchern gelandet. Unter ihm eine Schicht aus verdorrtem Vorjahreslaub und alten Nussschalen, über ihm riesige Baumkronen, deren Äste sich mit unbewegten Blättern vor dem hellen Himmel ausbreiteten. Außer einer Möwe, die weit oben ihre Kreise zog und spitze Schreie ausstieß, die klangen, als ob Eisen über Eisen quietschte, bewegte sich nichts. Er befühlte erneut seinen Mund und fuhr mit den Fingern durchs Haar, bis er das Loch am Hinterkopf fand. Die Stelle war extrem empfindlich. Eine Gehirnerschütterung hatte er wohl nicht, obwohl er heute Nacht, als er sich hier verkrochen hatte, fast sicher gewesen war. Ein flaues Gefühl in der Magengegend, angeschlagen und benommen, hatte er mit geschlossenen Augen dagelegen und gedacht, in den großen Schlaf hinüberzugleiten und nie wieder daraus zu erwachen.

Der Gedanke war nicht einmal unangenehm gewesen.

Er hatte ihn nicht zum ersten Mal gedacht, aber es war das erste Mal, dass er sich wohl dabei gefühlt hatte. Endlich Schluss, hatte er gedacht. Endlich frei.

Danach hatte er einen Filmriss gehabt. Aber ganz offensichtlich hatte er nur einfach tief geschlafen. Ihm war nicht mehr schwindelig, höchstens noch ein bisschen übel. Und unendlich müde war er. Er spürte jeden Knochen im Leib, als er sich auf die Seite wälzte und die Jacke, mit der er sich zugedeckt hatte, auf den Boden rutschte.

Über ihm schrie die Möwe. Wie aus dem Nichts kam Wind auf und fuhr raschelnd durch die Blätter der hohen Baumkronen. Er hob den Arm und sah auf seine Uhr: Halb fünf, fast Morgen. Ihm fiel wieder ein, dass heute Johannis war. Sie hatten gestern Abend ein Lagerfeuer gemacht. Seine Kleider stanken immer noch nach Rauch. Im nächsten Moment entdeckte er die Brandlöcher in seinem Jackenärmel. Er stemmte sich vorsichtig auf den Ellbogen hoch und fragte sich gerade, wo die anderen wohl abgeblieben waren, als er die Mädchen entdeckte. Sie lagen nur wenige Meter von ihm entfernt, dicht nebeneinander, und schienen tief und fest zu schlafen. Die Jungen waren nirgends zu sehen, wahrscheinlich hatten sie auf dem Boot übernachtet.

Inzwischen zogen dort oben immer mehr Möwen ihre Kreise, die Schreie wurden immer schriller. Der Himmel war milchig und leuchtete wie von innen heraus. Die Sonne war schon vor einiger Zeit aufgegangen, aber die Bucht lag noch im Schatten.

Die Äste schwankten und bogen sich in dem stärker werdenden Wind und erst jetzt hörte er unterhalb des Dickichts den Wellenschlag. Wenn sie sich beeilen würden ins Boot zu kommen und so schnell wie möglich ablegten, hätten sie eine Chance, es bei gutem Wind bis nach Hause zu schaffen. Er war wahrlich kein Fachmann, was Segeln anging, aber selbst er wusste, dass es etwas gab, das sich Seebrise nannte. Eine Seebrise kam morgens auf, flaute danach für ein paar Stunden ab, um am späteren Nachmittag noch einmal aufzufrischen.

Aber er dachte überhaupt nicht daran, die anderen zu wecken.

Sie hatten ihn in der letzten Nacht fast erschlagen. Er war fest davon überzeugt gewesen, dass sie es tun würden. Er legte den Arm über die Augen, als die Übelkeit erneut in ihm aufwallte.

1

»Ey, du Idiot, ich fall gleich raus!«

Bille klammerte sich an der Reling fest. Fredrik ließ sein T-Shirt los und lachte. Er setzte sich und griff wieder nach der Ruderpinne, was völlig überflüssig war, weil sie ohne Wind auch keine Fahrt draufhatten. Das Segelboot trieb langsam aber sicher seitwärts ab, so langsam, dass man es kaum merkte, wenn man nicht ständig den Streifen Land am Horizont im Auge behielt.

Vibeke und Susanne saßen auf dem Vordeck. Vibeke hatte sich an den Mast gelehnt und sah aus, als ob sie schliefe.

Susanne stützte das Kinn auf die angezogenen Knie und starrte vor sich hin. Das flachsblonde Haar hatte sich wie eine Gardine vor ihre Wangen gelegt. Ihre Nase war gerötet und pellte sich.

Nils fummelte an einer Packung Kekse herum, die schon einmal die Runde gemacht hatte. Keiner von ihnen hatte sonderlich Appetit, obwohl sie kurz vorm Verhungern waren. Das Paket lag offensichtlich schon seit einer ganzen Weile im Boot, wahrscheinlich ein Überbleibsel aus dem letzten Jahr, die Kekse waren jedenfalls völlig aufgeweicht und schmeckten muffig.

Martin hatte die Hände zwischen die Knie geschoben und starrte über das ölige Wasser. Es war genauso gekommen, wie er vermutet hatte: Der Wind war rasch wieder abgeflaut und nun war es mindestens genauso windstill wie gestern Abend, wenn nicht noch stiller. Inzwischen war nämlich leichter Dunst aufgezogen und hatte sich vor die Sonne geschoben, die wie ein silbrig weißes Zehnkronenstück glänzte. Es war unerträglich schwül.

Er warf einen Blick auf die Uhr: Zwölf. Sie waren nun schon fast achtzehn Stunden unterwegs.

Susanne schien seine Gedanken gelesen zu haben.

»Meine Mutter bringt mich um! Ich musste sie ewig lange bearbeiten, damit ich überhaupt mitdurfte, und das auch nur unter der Bedingung vor Mitternacht zu Hause zu sein, Johannisnacht hin oder her. Und jetzt ist schon der nächste Tag! Die glaubt doch garantiert, dass wir gekentert und allesamt abgesoffen sind!«

»Kentern, bei diesem Wetter ...«, sagte Bille und sah sich um.

»Das Wetter ist meiner Mutter doch scheißegal«, fuhr Susanne ihn an. Ihr Gesicht war gerötet und ihre Augen verquollen. Martin fragte sich, ob sie vielleicht geweint hatte. Aber wahrscheinlich war das nur ihr Sonnenbrand, er konnte sich Susanne heulend überhaupt nicht vorstellen. Zum Heulen brachte sie höchstens andere. Er legte den Kopf in den Nacken und sah nach oben. In seinem Schädel pochte es dumpf, vielleicht hatte er ja doch eine Gehirnerschütterung. Das Licht stach in seinen Augen. Die Segel hingen schlaff am Mast, nicht der kleinste Windhauch bewegte das Segeltuch. Vor Håøya lagen zwei Motorkreuzer, die heute Morgen, als Fredrik die Anker gelichtet hatte, noch nicht dort gewesen waren.


Am Anfang hatten sie wenigstens noch etwas Wind gehabt, aber der hatte sich bald gelegt. Das Festland – Hurum, wie Martin vermutete – war im Laufe der letzten Stunde kein Stück näher gerückt. Anstatt darauf zuzutreiben, trieben sie immer weiter nach Norden ab. Wenn sie diese Richtung lange genug beibehielten, würden sie irgendwann ganz von allein die Stadt erreichen, die weit weg am Fuß der Berge lag.

In zehn Stunden vielleicht.

Das war ihm völlig egal. Sein Schädel dröhnte und es war ihm egal.

Bille hing schon wieder über der Reling und fuchtelte mit dem Bootshaken im Wasser herum, was zwar wild spritzte, aber natürlich nichts nutzte. »Warum hast du keine Ruder dabei?«, fragte er ächzend.

»Weil das Teil einen Motor hat, du Hirni«, entgegnete Fredrik.

»Für den Fall, dass der streikt!«

»Solche großen Boote kann man nicht rudern«, sagte Nils.

»Das müsstest selbst du kapieren.« Er sah zu den schlaffen Segeln hoch.

»Und was ist mit dem Motor?«, fragte Bille und stützte sich auf den Bootshaken.

»Das hast du in der letzten Stunde schon viermal gefragt«, sagte Fredrik, und Martin sah, dass es ihm unsäglich peinlich war, nicht sagen zu können, warum der Motor streikte. Fredrik hatte gestern Ewigkeiten daran herumgefummelt, während die Mädchen rumgemotzt und sich über die Flaute beschwert hatten, und darüber, dass sie es so nie pünktlich nach Hause schaffen würden. Zu Anfang hatte Martin noch geglaubt, das mit dem streikenden Motor wäre ein Scherz. Er hatte gedacht, dass Fredrik und die anderen sich das nur ausgedacht hätten, um die Mädchen dazu zu bringen, auf der Insel zu übernachten.

Aber die Motorpanne schien echt zu sein.

Immerhin waren sie kurz vorm Verhungern, jedenfalls kam es ihm so vor. Außer Kartoffelchips und Erdnüssen hatten sie nichts dabeigehabt, weil ursprünglich nur geplant gewesen war, ein paar Stunden durch die Gegend zu schippern und sich die Johannisfeuer auf den umliegenden Inseln in der Nähe der Stadt anzugucken. Bis Fredrik plötzlich auf die Idee gekommen war, weiter raus zu fahren: nach Håøya. Wo doch der Wind schon mal so günstig war ...

Als sie gestern Abend gestartet waren, hatten sie nämlich guten Wind gehabt. Wind und Sonne. Martin hatte auf dem schwimmenden Anlegesteg gesessen und Fredrik und Nils dabei zugeschaut, wie sie das Boot startklar machten, während sie noch auf die beiden Mädchen und Bille warteten. Sie hatten sogar ordentlich Wind gehabt, der Steg war auf und ab geschwankt, alles war in Bewegung gewesen, eine unruhige Welt aus Lichtern und Geräuschen: das Glitzern auf dem Wasser, das Knarren der Boote, die auf und ab geschaukelt und hin und her gezerrt wurden, die knirschenden Fender der dicht nebeneinander vertäuten Boote. Der Mastenwald wogte, ihm war allein vom Hinsehen schon ganz schwindelig geworden, und bei dem Gedanken mit dem Boot rauszufahren war ihm gar nicht wohl gewesen. Er hasste schnelles Segeln, worauf es bei diesem Wind garantiert hinauslaufen würde. Das schräge Deck, das krängende Boot, der schwingende Baum, die Angst zu versagen, wenn Fredrik kommandierte.

Martin wäre niemals auf die Idee gekommen mitzufahren, wenn sie ihn nicht überrumpelt hätten. Indem sie Susanne bei ihm hatten anrufen lassen.

Seine Eltern, Hanne und er hatten gerade beim Abendessen gesessen, als das Telefon klingelte. Hanne hatte abgenommen. »Für dich«, hatte sie gesagt, als sie wieder in die Küche kam. »Ein Mädchen.«

Alle drei hatten sie ihn angestarrt. Martin bekam nie Anrufe von Mädchen.

Er war knallrot geworden und hatte beim Rausgehen irgendetwas Unverständliches vor sich hin gemurmelt. Und es war noch schlimmer geworden, als ihm klar wurde, dass Susanne am Apparat war. Er bekam kaum mit, was sie sagte, weil sein Herz so laut pochte und der Pulsschlag in seinen Ohren rauschte.

»... wird bestimmt genial! Es ist doch Johannis. Und Fredrik hat so ein geiles Boot.«

»Ja«, hatte er gesagt ohne zu wissen, worauf er eigentlich antwortete.

»Er hat gesagt ... Warte mal kurz!« Susanne hatte den Hörer beiseite gelegt und er hörte Gemurmel im Hintergrund. Dann war sie wieder am Apparat gewesen und hatte gesagt, dass Martin Chips oder so was in der Art mitbringen und gegen fünf Uhr auf dem Bootsanleger beim Frognerstranda Kro sein sollte.

Er hätte merken müssen, dass das eine Falle war.

Auch wenn es Susanne war, die angerufen hatte.

Aber vielleicht hatte sie gar nichts davon gewusst.

Vielleicht war es gar nicht geplant gewesen und hatte sich ganz zufällig so entwickelt.

Vielleicht. Aber aus welchem Grund hätten sie ihn sonst mitnehmen sollen?

Weil Fredrik mein Vetter ist, dachte Martin. Fredrik ist mein Vetter und der Schlimmste von allen.

Aber das wussten weder seine Mutter noch sein Vater.

Das konnte er ihnen doch nicht ohne weiteres erzählen.

»Das ist aber wirklich nett von Fredrik«, hatte seine Mutter gesagt und ihn im gleichen Atemzug ermahnt einen Pullover mitzunehmen, weil es draußen auf dem Wasser nach Sonnenuntergang ziemlich abkühlen könne, selbst wenn es sonst schon sehr warm war.

Er hätte es wissen müssen. Er hätte zu Hause bleiben sollen. Aber da war immer wieder dieses Fünkchen Hoffnung in seinem tiefsten Innern. Die Hoffnung, dass es irgendwann einmal besser werden würde. Das hoffte er nun schon seit Jahren. Wenn ich nur erst älter bin. Wenn wir nur erst in die Fünfte oder Sechste kommen. Wenn nur erst die Grundschule rum ist und wir in die Mittelstufe kommen ... So hatte er gedacht. Aber nichts wurde besser, nichts änderte sich. Sie hackten weiter auf ihm herum und machten sich lustig über ihn, sie schubsten ihn und stellten ihm ein Bein, nahmen ihm den Rucksack weg, um den Inhalt aus dem Fenster zu kippen. Er war und blieb derjenige, den sie aus Gründen, die er nicht nachvollziehen konnte, verachteten und hassten.

Denn das taten sie doch, oder?

Warum sonst sollten sie sich ihm gegenüber so benehmen?

Er hatte viel Zeit darauf verwendet, herauszufinden, was die anderen derart reizte ihn so zu behandeln. Aber er war der Lösung keinen Schritt näher gekommen.

Er hatte ihnen nie etwas getan.

Er trug noch nicht einmal eine Brille. In den Büchern wurden immer die Brillenträger und diejenigen, die einen komischen Dialekt sprachen, gemobbt. Oder die Dicken. Wenn überhaupt, war er zu dünn. Aber deswegen hatte ihn noch nie jemand aufgezogen. Es war ein bisschen so, als ob sie sich einfach daran gewöhnt hätten, mit Martin umspringen zu können, wie sie wollten.

Wenn er sie sagte, meinte er zuallererst Fredrik und mit ihm seine Anhängerschaft. Fredrik schaffte es immer wieder, Leute um sich zu scharen und dazu zu bringen, nach seiner Pfeife zu tanzen. Er war groß und kräftig gebaut, ein echter Sportfreak, außerdem waren seine Eltern ziemlich wohlhabend. Fredrik spielte Tennis und Fredrik segelte, er hatte sogar schon Pokale bei Regatten gewonnen. Es gab also genügend Gründe, Fredrik zu bewundern.

Dass er, nebenbei gesagt, ein echter Scheißkerl war, damit fanden die meisten sich ab. Bille fand sich damit ab, Nils fand sich damit ab, die Mädchen, alle fanden sie sich damit ab, von Fredrik schikaniert zu werden. Er kaufte sich sozusagen frei mit seinem Segelboot und Megafeten in dem großen Haus am Hang, mit Cola und Bier und Snacks und Videofilmen.

»Fredrik kann einem wirklich Leid tun«, sagte Martins Mutter häufig. »Seine Eltern haben so wenig Zeit für ihn. Aber es hilft ja nichts, Cathrine darauf anzusprechen.«

Cathrine war die Schwester von Martins Mutter. Sie besaß eine Boutique in einer Seitenstraße vom Frognerveien. So einen kleinen Laden mit teuren Designerklamotten.

Onkel Johan war Offizier bei der Luftwaffe. Sie waren bestimmt hundertmal umgezogen, bevor sie sich endgültig in Åsen niederließen. Martin kannte seinen Onkel kaum, weil er nur selten zu Hause war. Und wenn er dann einmal da war, saß er mit einem Becher Kaffee und einem seiner dünnen, starken Zigarillos im Wohnzimmer und wollte seine Ruhe haben.

»Macht, dass ihr rauskommt, Jungs«, sagte er jedes Mal.

»Ich brauche meine Ruhe!«

Früher, als Martin noch kleiner war, fand er es klasse einen Onkel zu haben, der so spannend vom Fliegen erzählen konnte. An Fredriks neuntem Geburtstag durften die Geburtstagsgäste statt Donald Duck und dem Dschungelbuch einen Werbefilm über den F16-Bomber anschauen. Sie hatten auf den Fingern gepfiffen und vor Begeisterung geschrien.


»Hat denn wirklich keiner mehr was Essbares dabei?«

Vibeke war aufgestanden, jetzt zog sie den Kopf ein und verschwand unter Deck. Die anderen hörten ein paar Schranktüren knallen.

»Gib’s auf, da is nix!«, rief Fredrik ihr nach. »Ein bisschen später im Jahr hättest du vielleicht ’ne Chance gehabt. Aber bis jetzt sind wir noch nicht richtig mit dem Boot unterwegs gewesen.«

»Ha!«, tönte Vibekes triumphierender Ruf nach oben. Gleich darauf tauchte sie mit einer Konserve in der Hand auf. »Ananas!«

Sie tauchte wieder in die Kajüte ab, die anderen hörten sie Schubladen aufziehen und mit Besteck klappern. Dann kam sie mit der offenen Dose und einer Gabel zurück.

Als die Dose bei Martin ankam, stach er die Gabel hinein und fischte einen Ananasring heraus. Der klebrige Saft tropfte ihm aufs T-Shirt, das noch von der letzten Nacht schmuddelig war. Er wischte sich mit der Hand übers Kinn. Die Ananas schmeckte lauwarm und sehr süß. Er schluckte. »Vielleicht ist es ja der Ölfilter. Oder die Lenzpumpe.«

Fredrik dachte an den Motor. Er gab sich jedenfalls Mühe so zu tun, als ob er ahnte, wo der Fehler steckte.

Sie sahen einen Motorkreuzer auf sich zurasen. »Warum lassen wir uns nicht einfach abschleppen?«, fragte Nils. Eine Sekunde später war er auf den Beinen und fuchtelte wild mit den Armen. Der Mann hinter dem Steuer des Motorkreuzers winkte. »Idiot!«, schrie Nils. »Glaubt der vielleicht, dass wir hier zum Vergnügen auf dem Wasser rumtreiben und ihm zuwinken? Hast du was zum Krachmachen?«

»Die Hupe«, sagte Fredrik und zeigte zur Backbordwand. Nils streckte den Arm aus und drückte auf die Hupe, worauf ein lautes Heulen ertönte. Der Mann auf dem Motorkreuzer antwortete mit einem wütenden Hupen, beschleunigte und verschwand in nördlicher Richtung.

»So ein Trottel!«, schimpfte Susanne. »Der muss doch gesehen haben, dass wir Hilfe brauchen. Es treibt doch niemand aus Spaß an der Freude auf dem Meer herum! Hast du keine Leuchtraketen?«

Fredrik zuckte mit den Schultern. »Die sind bei dem Licht nicht zu erkennen. Und außerdem sind wir nicht direkt in Lebensgefahr!«

Martin würgte den Ananassaft hinunter. Jetzt war ihm noch schlechter als vorher. Konnte man bei so glatter und unbewegter See seekrank werden?

Wahrscheinlich lag es daran, dass er Hunger hatte.

Und übermüdet war.

Und genervt, weil er immer gleich so angespannt und panisch wurde.

Hatten sie etwa vergessen, was heute Nacht passiert war?

Wie lange würde es dauern, bis es wieder von vorne losging?

Ihm fiel auf, dass er die Zähne zusammenbiss und hektisch atmete, obwohl es im Moment ganz ruhig war. Er war ein Schisshase. Scheißegal.

»Der kommt schon zurecht«, sagte sein Vater, womit er Martin meinte.

Der kommt schon zurecht.

Aber er kam nicht zurecht.

Er schaffte es nicht! Er konnte nicht mehr. Auf einem Segelboot, anderthalb Kilometer östlich von Hurum und drei Kilometer nördlich von Håøya, wurde Martin klar, dass er am Ende seiner Kräfte war. Es musste endlich Schluss damit sein. Egal wie.

Nils hatte einen Tampen entdeckt und spielte damit herum. »Guckt mal, ein Kreuzknoten«, sagte er und hielt den Knoten hoch, damit die anderen ihn sehen konnten.

»Das ist kein Kreuzknoten«, sagte Fredrik.

»Und was soll das sonst sein?«

»Keine Ahnung, ein Altweiberknoten vielleicht.«

Fredrik lehnte sich zu Nils rüber und nahm ihm den Tampen aus der Hand. Er zog daran und wickelte mehr Tau von der Taurolle unter der Bank ab. Dann saß er konzentriert über den Knoten gebeugt und lachte leise vor sich hin. Die Mädchen beobachteten ihn jetzt beide und Bille hatte sogar die Ananasdose aus der Hand gestellt.

»Da«, sagte Fredrik und warf Martin das Tauende zu.

»Eine Schlinge. Jetzt kannst du dich aufhängen!«