Cover

Daniela Winterfeld

Der geheime Name

Roman

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über Daniela Winterfeld

Daniela Winterfeld, geboren 1978, studierte Literaturwissenschaften, Psychologie und Geschichte. Heute ist sie in einer Literaturagentur tätig und lebt mit ihrer Familie in Berlin.

Über dieses Buch

Rumpelstilzchen wollte das Kind der Königin. Er bekam es nicht. Jahrhunderte später schließt ein anderes Wesen seiner Art einen neuen Pakt – und wird ebenfalls betrogen. Seitdem sucht es unablässig nach dem Mädchen …

Impressum

eBook-Ausgabe 2013

Knaur eBook

© 2013 Knaur Taschenbuch

Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt

Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Redaktion: Alexandra Baisch

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung: plainpicture/Pictorium; Sami Evilä

ISBN 978-3-426-41625-9

Hinweise des Verlags

Wenn Ihnen dieses eBook gefallen hat, empfehlen wir Ihnen gerne weiteren spannenden Lesestoff aus dem Programm von Knaur eBook und neobooks.

Auf www.knaur-ebook.de finden Sie alle eBooks aus dem Programm der Verlagsgruppe Droemer Knaur.

Mit dem Knaur eBook Newsletter werden Sie regelmäßig über aktuelle Neuerscheinungen informiert.

Auf der Online-Plattform www.neobooks.com publizieren bisher unentdeckte Autoren ihre Werke als eBooks. Als Leser können Sie diese Titel überwiegend kostenlos herunterladen, lesen, rezensieren und zur Bewertung bei Droemer Knaur empfehlen.

Weitere Informationen rund um das Thema eBook erhalten Sie über unsere Facebook- und Twitter-Seiten:

http://www.facebook.com/knaurebook

http://twitter.com/knaurebook

http://www.facebook.com/neobooks

http://twitter.com/neobooks_com

Für meine Töchter –

nichts bedeutet mir mehr als ihr

 

Und für all jene Kinder auf der Welt,

deren Leben

in Gold

aufgewogen wird

Prolog

In dichten Schwaden lauerte der Nebel über dem Moor. Seine feinen Tröpfchen waren auf das Wollgras niedergesunken, glitzerten auf den Torfmoosen und verwandelten die schmalen Stege zwischen den Torfstichen in glitschige Pfade. Fast so, als wollte der Nebel eine Falle stellen, verbarg er die dunklen Tümpel, tarnte die schwankenden Gräser unter seinem Schleier und ließ nur die Birken und Kiefern daraus hervorlugen, deren Wurzeln sich an den Rand der Wege klammerten. Fast erweckte es den Eindruck, als würde das Moor hinter den ersten Torfstichen enden. So eng standen die Bäume dort beisammen, als würde es in einen urigen, verwachsenen Wald übergehen. Doch auch zwischen diesen Bäumen krochen die Dunstschwaden so verräterisch über den Grund, als versuchten sie, das Plätschern zu verbergen, das wie ein Herzschlag durch die Torfadern gurgelte. Es entsprang in der Mitte des Moores, dort, wo der Grundlose See unter einem Nebelmeer schlummerte und seinen Wellenschlag in einem steten Rhythmus gegen das schwankende Ufer schlug.

Etwas Lebendiges schien das Moor zu sein, etwas, das atmete und die Zähne bleckte, während es hungrig auf Nahrung wartete.

Nicht umsonst hatten die Menschen sich jahrtausendelang vor den Mooren und ihrem Nebel gefürchtet. Unter den weißen Schleiern lauerten Gefahren, Geheimnisse, Dinge, die sich jeder Vernunft entzogen. Nicht umsonst waren die Moore die letzten Gebiete, welche die Menschen für sich erobert hatten – weil sie unberührbare Zonen waren, die den Tod verhießen, wenn man sich in ihnen verirrte.

Auch in diesem Moor verbarg sich ein Geheimnis, vielleicht das letzte, das sich noch vor den Blicken der Menschen verstecken konnte. Es war ein Männlein, gerade so groß wie ein achtjähriges Kind, das am Rande des Wanderweges unter den Birken wartete, genau dort, wo einer der glitschigen Pfade abzweigte, der in den undurchdringlichen Teil des Moores führte. Unruhig sprang es von einem Bein auf das andere, erfüllt von einer zähen Kraft, die nur schwer zu bändigen war. Viele Jahrtausende war es alt, und doch hatte die Zeit nicht das winzigste Gebrechen an ihm hinterlassen. Unzählige Menschen hatte es gesehen, im Leben wie im Sterben, obwohl es seit eh und je nur in diesem Wald umherging, der das Moor umhüllte.

Dieses Männlein machte aus seinem Dasein ein so sorgfältig gehütetes Geheimnis, dass es seinen wahren Namen nicht einmal in Gedanken benutzte, aus Angst, es könnte ihn versehentlich aussprechen und einem Menschen verraten. Seinen Tod würde es bedeuten, gäbe es seinen Namen preis – so wie die meisten anderen seiner Art auf diese Weise den Tod gefunden hatten.

Mit weit aufgerissenen Augen blickte das Männlein über den Wanderweg, der durch das Moor führte. Wie weiße Bälle stachen seine Augäpfel hervor, viel größer als die Augen eines Menschen und beinahe so, als wollten sie aus den Höhlen herausfallen – bis sich seine großen Lider darüber schlossen und sie zu schmalen Schlitzen verengten. Fast sah es aus, als könnte sein Blick so noch weiter in die Ferne dringen, während er vom Wanderweg abschweifte und über die weiße, neblige Ebene glitt, unter der sich der Grundlose See verbarg. Schließlich fand er den Punkt am anderen Ufer, an dem der Wanderweg das Moor verließ und ins Dorf führte.

»Nun soll sie kommen, das Menschenweibchen!« Die Stimme des Geheimen knurrte, rauh geschliffen von den Selbstgesprächen, mit denen er sich Gesellschaft leistete. »Allein ist er nun schon so lange. So soll sie ihm endlich geben, was sie ihm versprach. Ihre Gegenleistung soll sie erbringen, die sie ihm für seinen Gefallen schuldet.« Sein spitzer Bart wippte im Takt seiner Worte, zitterte in der Spannung, die ihn erfüllte. »Und wehe ihr, sie wagt es, ihn zu betrügen. Wehe, sie ist ein so hinterhältiges Menschenwesen, das versucht, ihm sein Eigentum zu verwehren.« Seine Augenlider sprangen wieder auf und ließen seine Augäpfel hervorstechen, als er seine letzten Worte über den nebligen See hinweg rief: »So wird seine Rache ihr Leben in den Abgrund stürzen!«

Er lauschte, wie die Worte von der Oberfläche des Wassers widerhallten und schließlich vom Nebel verschluckt wurden. Gleich darauf wandte er seinen Blick zurück auf den Wanderweg und kniff die Augen zusammen. Täuschte er sich, oder hatte er gerade die Erschütterung menschlicher Schritte vernommen? Tatsächlich: Ein leichtes Beben vibrierte durch den Torfgrund unter seinen Füßen. Doch sie schien nicht aus ihrem Heimatdorf zu kommen, sondern von der anderen Seite. Durch den Wald, durch den der Weg viel zu lang war, als dass sich ein menschlicher Moorbesucher freiwillig von dieser Seite nähern würde.

Der Geheime drehte sich ihr entgegen, stieß seine spitze Nase in die Luft, als könnte er wittern, welche List sie mit sich führte. »Verlogenes, betrügerisches Menschenpack!«, zischte er. »Keine Ehre und keine Ehrlichkeit besitzen sie. Gierig sind sie: Alles wollen sie haben, und alles nehmen sie sich. Alles zähmen sie und unterwerfen es ihrem Nutzen. Hinterhältige Huren und Heuchler.« Er spuckte vor sich aus. »Nicht einmal sein Moor respektieren sie noch. Nicht einmal der Nebel lehrt sie noch das Fürchten. Breite befestigte Wanderwege bauen sich die Menschen, damit ihre hübschen Füße trocken bleiben.« Spöttisch ließ er seinen Kopf hin und her wackeln.

Wie als Antwort wurde das Beben des Wanderweges deutlicher, bis es sich dem Rhythmus menschlicher Schritte anglich.

Der Geheime zwang seine lose Zunge zu schweigen. Er grub die Füße tiefer in den Grund und kniff die Augen erneut zu schmalen Schlitzen zusammen, als versuchte er, den dichten Nebel mit seinem Blick zu durchdringen.

Das Beben hielt inne, zögerte, setzte sich schließlich so langsam fort, dass er ihr zurufen wollte, sie möge sich doch beeilen, nachdem sie seine Geduld so viele Wochen auf die Folter gespannt hatte!

Wieder kniff er die Augen zusammen, um ihre Gestalt hinter den grauen Schleiern ausfindig zu machen. Tatsächlich schob sich ein menschlicher Schatten durch den Nebel auf ihn zu. Die Konturen eines Menschenweibchens schälten sich langsam daraus hervor. Ihre langen, hellen Haare hingen über dem Mantel, mit dem sie sich zu schützen versuchte. Zu seiner Freude hielt sie etwas in den Armen.

Der Geheime sprang von einem Bein auf das andere. »So komm sie zu ihm, komm sie doch!« Er schielte auf das Salztor, das er auf dem Wanderweg für sie ausgelegt hatte. Noch konnte sie ihn nicht sehen. Erst musste sie darüber treten, um unter seinen Tarnkreis zu gelangen. »Er wartet auf sie, so komm sie doch!«

Das Weibchen streckte ihr Gesicht seiner Stimme entgegen. Es war nass von Tränen, ihre Augen rotgeweint.

Ihre Angst gefiel ihm. Sie trieb ein Prickeln durch seinen Körper, das ihn lebendig machte.

»Was für ein schönes Gesicht sie besitzt«, schnurrte er. »Wenn im Antlitz ihrer Tochter auch nur ein kleines bisschen von ihr zu finden ist …«

Das Weibchen zuckte zusammen. Ihr Blick huschte in seine Richtung, durchbohrte die Luft vor ihm und starrte angestrengt in die Leere um ihn herum.

»Nur wenige Schritte noch, dann ist sie bei ihm.« Der Geheime lockte sie, trat selbst noch näher an das Tor heran.

Auf einmal ertönte ein Laut aus dem Bündel auf ihren Armen, ein leises Quäken.

Das Weibchen erzitterte.

Der Geheime legte seinen Kopf zur Seite, ließ ihn auf seiner Schulter ruhen und versuchte, zwischen den Decken etwas zu erkennen.

Obwohl das Gesichtchen des Kindes gut verborgen blieb, zog ein warmes Gefühl durch seine Brust. Bald war das Kind sein!

Das Weibchen stand direkt vor seinem Tor. Ganz langsam ging sie den letzten Schritt – und erstarrte.

Endlich konnte sie ihn sehen. Er erkannte es an ihrem Entsetzen.

Der Geheime war es gewohnt, von Menschen für hässlich befunden zu werden – doch unter ihrem Blick verwandelte sich das warme Gefühl in ein eisiges Klirren. »Was starrt sie denn so? Viel zu lange hat sie ihn warten lassen! Nun gib sie ihm endlich, was ihm gehört!« Er streckte seine Arme nach dem Kind aus, wollte sein Gesicht über das Bündel beugen.

Das Weibchen wich vor ihm zurück, trat wieder über das Salztor und suchte ihn mit einer panischen Drehung.

»Törichtes Weibchen!«, fluchte der Geheime. »Sie muss hierbleiben, bei ihm. Es sind seine Regeln, die sie zu befolgen hat!«

Das Weibchen hielt den Atem an, abermals strömten Tränen über ihr Gesicht, ein unterdrücktes Wimmern entwich ihrer Kehle.

Der Geheime sprang hin und her. »Nun komm sie wieder zu ihm! Weiß sie denn nicht, dass er sie töten wird, wenn sie ihm nicht gehorcht?!«

Die Menschenfrau kam wieder näher, trat über sein Salztor und wischte die Tränen aus ihren Augen. »Du kannst mir mein Kind nicht nehmen!« Ein wütender Ausdruck tauchte auf ihrem Gesicht auf. »Ich gebe dir alles, was du willst, wenn du mir nur mein Kind lässt.«

Der Geheime umrundete das Weibchen, schob sich zwischen sie und das Salztor und trieb sie weiter in seine Welt. »Wirklich alles will sie ihm geben?« Ein gieriges Lächeln glitt über sein Gesicht, verschlang die Formen ihres Körpers, bis sie zitternd vor ihm zurückwich.

»O nein, sie lügt schon wieder. Nicht alles möchte sie ihm geben.« Der Geheime kicherte. »So sind sie immer, die Menschen. Erst versprechen sie ihm ihr Teuerstes, und dann wollen sie es nicht hergeben. Was möchte das Weibchen ihm denn bieten? Will sie ihm das Gold zurückgeben, das er ihr schenkte? Will sie ihm eines ihrer Häuser vermachen? Was soll denn der Geheime mit solcherlei Gut? Es ist wertlos in seiner Welt!« Er schnaubte verächtlich. »Gib sie ihm das Lebendige, ihr Liebstes – so wie ihr Wort es versprochen hat.« Wieder streckte er seine Arme aus.

Sie zog das Kind vor ihm zurück.

Der Geheime fauchte sie an: »Will sie ihn reizen? Will sie von ihm getötet werden? Er kann ihr den Wunsch gerne erfüllen. Nun gib sie ihm das Kind!«

Das Weibchen hielt den Atem an. Trotzig streckte sie ihr Kinn vor. »Und was, wenn ich deinen Namen weiß?«

Er erschrak. Seine Arme zuckten vor ihr zurück. Seinen Namen! Konnte sie seinen Namen wissen? Hatte er ihn unbedacht ausgesprochen? Hatte ein Wanderer ihn aufgeschnappt und ihr verraten? Sie würde ihn töten, wenn sie seinen Namen nannte.

Das Weibchen kniff die Augen zusammen, fast so, als könnte sie seinen Blick imitieren. »Dein Name ist Rumpelstilzchen!«

Der Geheime lachte laut auf, die Erleichterung ließ ihn auf und ab hüpfen. »So ein einfältiges, törichtes Weibchen! Hat sie doch geglaubt, ihn mit einem Menschenmärchen besiegen zu können!« Er verstummte, verengte seine Augen zu Schlitzen und knurrte sie an: »Sie hat ihre Chance vertan. Nun gib sie ihm ihr Kind! Es ist sein!« Er stieß seine spitze Nase in ihre Richtung, sprang auf sie zu und griff nach dem Kind.

Sie schrie auf, aber es war ein Leichtes, ihr das Bündel aus den Armen zu reißen. Er sprang ein ganzes Stück vor ihr zurück und drückte das Kleine fest an sich. Es war winzig und zart, und doch schwerer, als er es von etwas so Kleinem erwartet hätte.

Das Menschenweib rannte auf ihn zu, wollte ihm das Kind wieder wegnehmen. Aber er war flinker, wich ihr aus und verpasste ihr einen so kräftigen Stoß, dass sie zu Boden fiel.

»Gib mir mein Kind zurück!«, kreischte das Weibchen so laut, dass es in seinen Ohren schrillte.

Der Geheime hatte genug von ihr. »Ein tolldreistes Weibchen ist sie! Nun geh sie endlich, bevor er sie tötet! Er braucht sie nicht mehr, vergiss sie das nicht! Nur seine Gnade lässt ihr das Leben!« Er packte sie am Arm, zerrte daran und ließ sie die Kälte spüren, mit der er sie töten könnte.

Auf einmal beeilte sie sich, folgte seinem Ziehen und stand auf. Der Geheime stieß sie über das Tor auf den Wanderweg. Sie taumelte nach hinten, sah sich um und suchte nach ihm. Doch für ihren Blick war er unter dem Tarnzauber verborgen.

Hastig wischte der Geheime mit den Füßen über das Salz, verteilte es über den Boden und trat es in den feuchten Untergrund, damit es sich auflöste.

»Wo bist du? Gib mir sofort mein Kind!« Das Weibchen lief über die Stelle, an der eben noch das Salz gelegen hatte.

Aber das Tor hatte seine Wirkung verloren. Sie blieb stehen, drehte sich um sich selbst. Ihr Blick irrte vom See über den Wanderweg, streifte den Geheimen, ohne ihn zu sehen.

Der Geheime unterdrückte jeden Laut, hoffte, dass auch das Baby still bleiben würde, während er über den schwingenden Boden davonschlich. Schließlich erreichte er den Pfad, der zwischen den Torfstichen in den abgelegenen Teil des Moores führte, und blieb stehen. Zum ersten Mal warf er einen Blick auf das Gesicht der Kleinen. Mit großen, schwarzen Augen sah sie ihn an. Auch ihre Haare waren schwarz, und ihre Haut schimmerte in einem dunklen Karamellton.

Der Geheime suchte im Antlitz des Kindes nach den Zügen des Weibchens – doch offenbar kam es ganz nach seinem Vater.

Hatte es einen so dunklen Vater?

Warum nicht?, versuchte der Geheime sich zu beruhigen. Die Menschen hatten sich über die ganze Welt verteilt und durchmischt, also konnte dieses Weibchen sich auch in ein dunkles Männchen verliebt haben.

Das Weibchen war hinter ihm auf dem Wanderweg zusammengesunken und schluchzte.

Der Geheime ging weiter. Er achtete nicht länger darauf, seine Schritte vor ihren Ohren zu verbergen, und eilte auf dem Pfad immer tiefer ins Moor hinein. Seine Füße waren geübt, fanden mühelos Halt auf den glitschigen Baumstämmen, mit denen er den schlammigen Grund befestigt hatte. Er ließ das Weibchen weit hinter sich und kam in den Wald, der unter seinem Tarnkreis so ursprünglich geblieben war wie vor Tausenden von Jahren. Immer schneller huschte er über die Wege, die seine Füße in das Laub gegraben hatten, und erreichte schließlich den ältesten Teil des Waldes, in dem seine Hütte versteckt war.

Das Kindchen blickte ihn noch immer aus großen, neugierigen Augen an, als er durch die Tür trat und mit einer Hand das Öllämpchen heller drehte. »So ein angenehmes Kindchen ist sie«, säuselte der Geheime ihr zu. »Sie weint ja gar nicht, das gefällt ihm. Ja, so eine kleine Süße!« Ein warmes Kribbeln strömte durch seinen Bauch, während er die Kleine auf seinen Armen wiegte. »Gegen Gold hat ihre Mutter sie eingetauscht. Ja, so eine schlechte Mutter. So eine braucht sie gar nicht mehr. Sie wird schon sehen, er wird gut für sie sorgen.« Er stupste seine spitze Nase an ihre Wange und rieb sie kitzelnd hin und her.

Ein glucksendes Lachen hüpfte aus dem Mund der Kleinen.

Dem Geheimen traten Tränen in die Augen. »Ja, so eine goldige, kleine Prinzessin. Ist sie seine kleine Prinzessin?« Wieder rieb er die Nase an ihrer Wange.

Wieder lachte die Kleine und öffnete ihren zahnlosen Mund.

Dem Geheimen wurde ganz warm ums Herz. So war es doch gleich, ob sie blonde oder schwarze Haare hatte, ein ganz wunderbares Weibchen würde sie werden. »Jetzt wird er sie erst einmal frisch wickeln und dann etwas Ziegenmilch für sie wärmen. Hat sie Hunger? Hat sie eine nasse Windel?«

Er bettete die Kleine auf das Lager, das er für sie errichtet hatte: eine schaukelnde Wiege, ausgestattet mit Strohsäcken und weichen Fellen. Ganz vorsichtig öffnete er das Bündel und zog die Menschenkleidung von ihren Beinchen.

Kratziges Plastik banden die Menschen ihren Babys um das Gesäß, auf dass ihre Exkremente ja nicht durch den Stoff sickerten.

Der Geheime schüttelte den Kopf. Hastig befreite er die Kleine von ihrer Menschenwindel – und erstarrte.

Es war keine Kleine! Es war keine Prinzessin! Es würde niemals sein Weibchen werden! Es war ein Junge!

Der Geheime schrie und sprang zurück. Rasende Wut packte ihn und ließ ihn durch die Hütte toben. »So hat sie ihn betrogen! Hinterhältiges, heuchlerisches Menschenweib! Das wird sie ihm büßen!«

Das Kind fing an zu schreien, zu kreischen. Sein Gesichtchen verzog sich zu einem faltigen Antlitz.

Der Geheime raufte sich die dicken, struppigen Haare, bedeckte die Ohren mit den Händen. So laut er konnte, brüllte er seine Wut durch die Wände der Hütte in den Wald hinaus. Auf dass sie ihn hörte und ihn fürchtete für den Rest ihres Lebens: »Er wird sich ihre Tochter schon noch holen – und wenn es das Letzte ist, was er tut! Das schwört er der garstigen Menschenhure! Bei dem Geheimnis seines Namens!«

1. Kapitel

Der Duft der Kräuter lag so schwer in der Luft, dass jeder Atemzug danach schmeckte. Rosmarin, Thymian, Lavendel. Vor allem der Lavendelduft überwog an diesem Nachmittag, an dem die Erntemaschinen über das Feld hinter dem Haus fuhren und die lilafarbenen Reihen enthaupteten. Fast kam es Fina vor, als fegte der Duft in einem letzten Aufschrei über das Land, bevor er sich für den Rest des Jahres verabschieden würde.

Fina lenkte die Schimmelstute auf den Weg, der zwischen den Weinstöcken den Weinberg hinaufführte, und schloss die Augen. Ein letztes Mal atmete sie das satte Lila in ihre Lungen, während sie die Lavendelfelder so weit wie möglich hinter sich ließ.

Sie schmeckte den Abschied in dem Duft, ahnte den Wechsel der Jahreszeiten, der sich an diesem Nachmittag in dem Aufschrei des zerschnittenen Lavendels zum ersten Mal ankündigte. Der Anblick des Lilas ging Fina nicht aus dem Kopf, und sie wusste schon jetzt, dass die Farbe für immer mit diesem Geruch verbunden sein würde – ganz egal, wo sie im nächsten Jahr leben, ganz egal, ob sie die Provence jemals wiedersehen würde.

Nichts schien Erinnerungen so unverwechselbar abzuspeichern wie Gerüche.

Fina fühlte das weiche Fell des Pferdes an ihren nackten Beinen und legte sich nach vorne auf den Hals der Stute. Bald schon würde sie fort sein. Sie hatte noch nicht mit ihrer Mutter darüber gesprochen, wohin sie gehen würden. Aber sie waren bereits seit fünf Monaten hier, und Fina hatte selten mehr als einen Jahreszeitenwechsel an ein und demselben Ort verbracht. Warum also sollte sie jetzt auch noch das Ende des Sommers in der Provence erleben?

Flucht! Das Wort, das ihr Leben beherrschte, spukte durch Finas Gedanken. Ihre Mutter und sie waren auf der Flucht. Schon seit sie denken konnte. Dennoch hatte sie sich nie daran gewöhnen können.

Und jetzt wollte sie sich nicht mehr daran gewöhnen. Ihr Leben musste sich ändern! Sie war erwachsen. Sie durfte ihre eigenen Entscheidungen treffen – und ganz sicher wollte sie nicht für den Rest ihres Lebens vor ihrem Vater fliehen.

Fina seufzte. Wann hatte es in ihrem Leben schon eine Rolle gespielt, was sie sich wünschte? Ihr Vater war ein Stalker, besessen von der Idee, seine Frau und seine Tochter zu sich zu holen. Fina war ihm zwar nie begegnet, aber sie wusste um die Angst ihrer Mutter. Um jeden Preis wollte ihr Vater sie besitzen, an jedem Ort der Welt hatte er sie bislang aufgespürt – und falls er tatsächlich irgendwann vor ihrer Tür stünde, gäbe es keine Chance mehr zu entkommen. Denn eher würde er sie und ihre Mutter töten, als sie wieder gehen zu lassen.

Mit einem weiteren Seufzer trieb Fina die Stute zum Galopp. Sie duckte sich über die weiße, flatternde Mähne und genoss die warme Luft, die ihr entgegenschlug, als sie den Weinberg hinaufpreschte. Wer konnte schon sagen, wie oft sie noch hier entlangreiten würde? Womöglich war sie morgen bereits ganz woanders.

Oben angekommen, parierte sie das Pferd wieder zum Schritt. Die Stute atmete heftig, und ihr Fell klebte feucht an Finas Beinen. Die kleine Camarguestute war nicht mehr die Jüngste.

Fina beschloss, ihr ein bisschen Ruhe zu gönnen. Während sie das Pferd im Schritt weiterlenkte, sah sie über die Weinstöcke hinweg ins Tal. Die trockenen Grasflächen leuchteten ockerfarben, die Feldwege zogen rötliche Linien durch die Landschaft, und das Licht der Morgensonne wurde im Grün der Rosmarinsträucher reflektiert. Der Himmel schimmerte in einem tiefen Blau, nur unterbrochen von zwei riesigen Wolken, die aussahen wie Ufos. Nahezu regungslos hingen die Wolkenufos über dem Tal, als wollten sie jeden Moment zur Landung ansetzen. Lenticularis – die Vorboten des Mistrals, der bald von den Alpen herüberwehen würde.

Noch war die Luft heiß und sandig, gesättigt vom Duft der Kräuter. Doch jederzeit konnte der kühle Nordföhn einsetzen, um den Sommer hinwegzufegen.

Die Sonne war inzwischen so hoch gewandert, dass sich ihr Licht hinter der größeren Ufowolke verfing. Ein langer, mandelförmiger Schatten streifte das Gut des Weinbauern und verdunkelte das kleine Bruchsteinhaus, in dem Fina mit ihrer Mutter wohnte.

Fina ließ die Stute anhalten und zog ihren Rucksack nach vorne auf den Bauch. Das Pferd trat auf der Stelle, während sie ihre Kamera herausholte. Sie schraubte einen Polarisationsfilter auf das Weitwinkelobjektiv, mit dem sie die Farben noch intensiver einfangen konnte.

Ein Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht, als sie durch den Sucher blickte. Sie hatte lange auf diesen Himmel gewartet, auf dieses bedrohliche Bild, das kaum perfekter sein könnte als an diesem Morgen. Sie nahm die beiden Ufos ins Visier, den Traktor, das Lavendelfeld und das kleine Ferienhaus, über dem der dunkle Schatten schwebte.

Ihre Mutter hatte das Haus vor einem halben Jahr gekauft. So machte sie es jedes Mal, wenn sie weiterfliehen mussten: Sie kaufte ein möbliertes Ferienhaus, irgendwo auf der anderen Seite der Welt. Dort lebten sie, bis ihr Vater ihre Spur ausfindig machte, und wenn sie weitergeflohen waren, verkaufte sie das Haus wieder.

Fina machte ein Foto nach dem anderen, zoomte näher heran und weiter weg, verschob den Bildausschnitt und stellte Belichtungszeiten und Blenden unterschiedlich ein.

Schließlich tauchte eine andere Reiterin in ihrem Bild auf. Es war die Tochter der Nachbarn, die sich von der Invasion der Außerirdischen nicht weiter beeindrucken ließ. Fina musste grinsen. Sie ließ die Wolken so sehr verschwimmen, dass sie tatsächlich wie unbekannte Flugobjekte aussahen.

Vielleicht sollte sie Celine das Bild schenken – als Entschädigung für ihr schlechtes Benehmen. In den fünf Monaten, die sie jetzt hier waren, hatte Fina nur einmal mit ihr geredet. Sie waren ungefähr gleich alt, und Celine wollte nach dem Sommer in Paris studieren. Etwa eine halbe Stunde lang waren sie nebeneinander hergeritten, und die Nachbarstochter hatte davon geredet, wie dringend sie von zu Hause wegwollte, um endlich etwas von der Welt zu sehen. Fina hatte ihrem Monolog gelauscht und sich gedacht, dass sie genug hatte von der Welt und dass es ihr reichen würde, irgendwo ein Zuhause zu finden. Doch sie hatte Celine nichts davon anvertraut. Sie war eine Fremde. Finas verkorkstes Leben ging sie nichts an.

Die Stute wurde unruhig. Sie machte ein paar Schritte zum Wegesrand und senkte ihren Kopf, um zu fressen. Fina konnte es ihr nicht verübeln. Dennoch fasste sie die Zügel kürzer und trieb das Pferd zurück auf den Weg. Sie schob ihre Kamera in den Rucksack und setzte ihn wieder auf den Rücken.

Obwohl es über dreißig Grad waren und der Schweiß nur so über ihre Haut rann, musste sie plötzlich an den Weihnachtsmann denken. Als sie klein war, hatte sie ihn jedes Jahr darum gebeten, ihr endlich ein richtiges Zuhause zu schenken. Aber der Weihnachtsmann hatte ihren größten Wunsch niemals erhört. Bis sie begriffen hatte, dass es ihn gar nicht gab und ihre Mutter die einzige Instanz war, die Wünsche erfüllen konnte – oder eben nicht.

Fina seufzte ein drittes Mal. Seit sie ihre Abiturprüfung bestanden hatte, war sie unruhig. Sie wollte studieren: Fotografie, ganz egal, an welchem Ort. Hauptsache, sie wurde an irgendeiner Uni zugelassen und konnte für ein paar Jahre dort bleiben.

Ein paar Jahre … Ein großer Wunsch, wenn man fliehen musste. Fina wusste nicht, ob das überhaupt möglich wäre, aber sie musste endlich mit ihrer Mutter darüber reden.

Ihr Blick fiel wieder auf Celine. Für einen Moment wünschte sie sich, sie käme in ihre Richtung. Seit ihrem ersten Gespräch war Fina ihr Tag für Tag ausgewichen. Celine hatte die Ablehnung schnell gespürt, und immer, wenn sie einander doch einmal über den Weg liefen, erkannte Fina den verletzten Stolz in ihrem Gesichtsausdruck.

Falls die Nachbarstochter ihr jetzt entgegenkäme, würde sie sich bei ihr entschuldigen. Sie würde ihr das Ufo-Bild zeigen und ihr vielleicht sogar erklären, warum sie sich so bescheuert verhalten hatte.

Celine ritt an dem Lavendelfeld vorbei, vorbei an dem Traktor, der ihm Reihe für Reihe seine lila Farbe nahm – und schlug schließlich den Weg ein, der in die entgegengesetzte Richtung führte.

Für einen Moment war Fina versucht, ihr zuzurufen. Doch stattdessen sprach sie nur mit sich selbst. »Je suis désolée. Ich hab’s wohl nicht besser verdient.«

Dabei hätten sie Freundinnen werden können.

Fina hatte nie viele Freunde besessen. Sie war nie in eine richtige Schule gegangen, und wenn überhaupt, dann hatte es nur Nachbarskinder gegeben, mit denen sie sich anfreunden konnte. Doch es endete jedes Mal auf die gleiche Weise: Man schrieb sich noch ein paar Briefe, und irgendwann kam keine Antwort mehr.

Je länger eine Brieffreundschaft gedauert hatte, desto enttäuschter war Fina hinterher gewesen – und je älter sie geworden war, desto deutlicher hatte sie begriffen, dass es immer so weitergehen würde. Also hatte sie aufgehört, sich für andere zu interessieren. Stattdessen versuchte sie mit aller Kraft, sich an nichts zu hängen. Nicht einmal das Pferd nannte sie bei seinem Namen.

Tränen traten in ihre Augen, lösten sich und mischten sich mit dem Schweiß auf ihrem Gesicht. Fina wischte sie wütend beiseite. Ihr Blick fiel auf das Postauto, das von weitem auf das Weingut zufuhr. Sie bog in den Pfad ein, der wieder ins Tal führte, trieb die Stute zum Galopp und raste den Weinberg hinab, an dem Lavendelfeld und dem Traktor vorbei, bis sie die Straße erreichte. Der Postbote kam heute früh. Oder sie hatte sich zu viel Zeit gelassen und nicht darauf geachtet, wie spät es war.

Fina keuchte, als sie ihr Pferd neben der Straße anhielt. Das Postauto hatte bereits am Weingut gehalten und fuhr auf sie zu. Der Postbote lächelte ihr entgegen, hielt neben ihr an und ließ die Fensterscheibe herunter. »Ça va?«

Fina sprang vom Pferd, fasste es am Zügel und stützte sich in den Fensterrahmen. »Ça va.« Die Worte legten den kleinen Sprachschalter um, der schon seit Ewigkeiten in ihrem Kopf saß. Wie ein kleiner Babelfisch übersetzte er alles, was sie hörte oder sagen wollte: auf Französisch, Englisch, Spanisch oder Portugiesisch, je nachdem, welche Sprache den Schalter aktiviert hatte.

Der Mann zwinkerte ihr zu. »Du hast dich doch nicht wegen mir so gehetzt?« Er beugte sich zu dem Kasten auf seinem Beifahrersitz, suchte zwei große Umschläge heraus und reichte sie ihr. »Warum wartest du nicht einfach, bis die Post in deinem Briefkasten liegt?«

Fina stieß ein atemloses Lachen aus. Sie nahm die Briefe und studierte die Absender. Einer kam von einem College in New York, der andere von einer Fotografenschule aus Berlin. Es waren Bewerbungsunterlagen und Infobroschüren, nicht gerade das, was ihre Mutter im Postkasten finden sollte. »Sagen wir, ich habe ein kleines Geheimnis.«

Der Postbote nickte. Gutmütige Lachfältchen erschienen um seine Augen. »Ein Geheimnis? Etwas so Gefährliches?«

Fina lachte erneut. Sie mochte den Postboten. Er sagte meistens etwas, worüber sie lachen musste. »Ein wahnsinnig gefährliches Geheimnis.« Sie ließ ihre Stimme so tief wie möglich klingen.

Plötzlich verschwanden seine Lachfältchen, wichen einem finsteren Ernst. »Dann bewahre dein Geheimnis, solange es ausreicht, darüber zu schweigen.« Der Postbote winkte sie mit dem Zeigefinger heran, wartete, bis sie sich zu ihm beugte, und sprach leise weiter: »Aber wenn du beginnen musst zu lügen, dann löse es auf. Denn wer einmal lügt, muss weiterlügen. Und wer immer lügt, wird schnell zum Verräter.« Er schüttelte den Kopf, verzog sein Gesicht zu einer hoffnungslosen Grimasse. »Und wenn du erst die verrätst, die du liebst – dann verlierst du alles, was dir wichtig ist.«

Fina wich vor ihm zurück. Etwas an seinen Worten vertrieb die Hitze des Sommers und blies einen eisigen Windhauch über ihre Haut. Plötzlich kam es ihr vor, als würde er das Ende ihrer Geschichte bereits kennen.

Der Postbote brach in lautes Lachen aus. Seine Fältchen kehrten zurück, während er sein Gesicht aus dem Fenster streckte. »Hhm. Abkühlung.« Er deutete auf die entfernte Silhouette der Alpen. »Der Mistral.«

Finas Blick folgte seinem, streifte die riesigen Wolken, und erst jetzt bemerkte sie, woher der eisige Wind stammte. Urplötzlich hatte der Mistral eingesetzt, winzige Sandkörnchen hagelten auf ihre Haut und stachen wie tausend kleine Stecknadeln.

»Ich muss weiter.« Er hob die Hand zum Abschied. »Au revoir!«

»Au revoir.« Fina trat von dem Auto zurück. Mit gekräuselter Stirn sah sie ihm nach. Der kühle Wind fegte um ihren Körper, ließ die blonden Haare in ihr Gesicht flattern und trocknete ihren Schweiß.

Wenn du erst die verrätst, die du liebst – dann verlierst du alles, was dir wichtig ist.

Dieser Satz bedeutete etwas, hatte etwas mit ihrem Leben zu tun.

Sie hatte niemanden verraten, und so bald wie möglich würde sie ihr kleines Geheimnis auflösen.

Der Postbote hielt am Haus ihrer Mutter, warf etwas in den Briefkasten neben der Oleanderhecke und fuhr weiter. Düster lugte das kleine Bruchsteinhaus über der Hecke hervor. Der Schatten des Wolkenufos lag noch immer darüber und raubte ihm das Sonnenlicht.

Ein furchtbares Nagen zog durch Finas Magengegend, wie ein hungriges Tier kletterte es aus einem Abgrund, dessen schwarze Tiefen sie noch nie gesehen hatte. Sie dachte an ihren Vater, dem sie nie begegnet war. Alles, was sie über ihn wusste, hatte ihre Mutter ihr erzählt. Fina hatte sich immer darauf verlassen, dass Susanne die Wahrheit sagte. Aber wenn sie genau darüber nachdachte, dann gab es Hinweise darauf, dass etwas nicht stimmte. Es gab einen Teil der Geschichte, den ihre Mutter geheim hielt. Wann immer Fina zu viele Fragen stellte, wich Susanne ihr aus.

Nicht Fina war diejenige, die ein gefährliches Geheimnis hütete.

Auf einmal wurde ihr klar, dass sie Susannes Geheimnis immer ignoriert hatte. Es war ein furchtbarer Gedanke, von der eigenen Mutter hintergangen zu werden – so schrecklich, dass sie lieber so getan hatte, als wäre alles in Ordnung. Aber was, wenn der Postbote recht hatte?

Die plötzliche Kälte brachte Fina zum Zittern. Sie kniff die Augen zusammen und starrte auf die Oleanderhecke.

Verschwieg ihre Mutter ihr nur etwas, oder hatte sie bereits angefangen, sie anzulügen? Log sie nur manchmal oder immer? Und war sie nur eine Lügnerin, oder hatte sie bereits begonnen, ihre Liebsten zu verraten?

Das Pferd schnaubte, und Finas Aufmerksamkeit kehrte zurück in die Gegenwart. Die Stute trat auf der Stelle und warf ihren Kopf hin und her. Ihre weiße Mähne flatterte im Wind.

Fina klopfte ihr beruhigend den Hals. Ihr Blick streifte die beiden Wolkenufos, die noch immer regungslos über dem Tal standen. Sand knirschte zwischen ihren Zähnen, setzte sich in ihre Ohren und verklebte ihre Nase. Sie kraulte der Stute die Mähne und fühlte den Sand zwischen ihren Fingern. »Keine Angst. Das ist nur der Mistral.«

* * *

Ganz leise schlich Fina sich ins Haus. Eigentlich wollte sie nicht schleichen, zumindest hatte sie es nicht geplant. Es passierte von ganz allein.

Irgendetwas in ihrem Leben war faul. An irgendeiner Stelle lauerte eine große Lüge. Vielleicht musste sie nur leise und aufmerksam sein, um die Wahrheit herauszufinden.

Fina zog die Schuhe aus, blieb in der Eingangsdiele stehen und horchte.

Schließlich hörte sie ein Lachen aus dem Büro. Ganz so, als würde ihre Mutter telefonieren.

Vom Büro aus regelte sie ihre Geschäfte, kaufte Häuser, die sie teuer vermieten konnte, oder verkaufte sie, wenn sie dafür mehr bekam. Dabei ließ sie die Arbeit vor Ort von ihren Angestellten erledigen, während sie aus der Ferne die Entscheidungen traf und den Gewinn kassierte.

Fina hatte sich niemals besonders für die Immobilienfirma ihrer Mutter interessiert. Etwas daran gefiel ihr nicht. Das Verhältnis aus Arbeit und Gewinn erschien ihr unpassend. Ihre Mutter arbeitete wenig und verdiente Unmengen an Geld. Mehr als genug, um einen Privatlehrer zu bezahlen, dauerhaft mit einem Mietwagen zu fahren und Langstreckenflüge zu buchen, die nur wenige Stunden später abhoben. Sie waren auf der Flucht, und dennoch führten sie ein Luxusleben – während anderswo Menschen unter unwürdigen Bedingungen lebten.

Vielleicht war das der größte Widerspruch von allen. Dass ihre Mutter immer über arme Menschen sprach, dass sie Fina an die schlimmsten Orte der Welt geführt hatte, um ihr das Elend des Lebens zu zeigen: Straßenkinder in Bombay, Menschen, die in Guatemala auf Müllhalden lebten. Fast so, als müsste sie ihr beweisen, wie gut sie es trotz ihrer Flucht hatten.

Etwas stimmte hier nicht, und Fina musste endlich den Kopf aus dem Sand ziehen. Auch wenn es furchtbar war, betrogen zu werden – wenn sie wie eine Erwachsene behandelt werden wollte, musste sie wenigstens den Mut aufbringen, auch die unangenehmen Fragen zu stellen.

Ganz leise ging sie der Telefonstimme ihrer Mutter entgegen. Ihr Puls raste, während sie sich bis zur Bürotür pirschte.

Wieder lachte ihre Mutter, ein warmer, herzlicher Klang, der Fina einen Schauer über den Rücken jagte. Es war kein gewöhnliches Lachen, keines, das zu einem geschäftlichen Telefonat passte. Es war ein zärtliches, intimes Lachen, das Fina noch nie von ihrer Mutter gehört hatte.

»Dann treffen wir uns also morgen.« Auch ihre Stimme säuselte. »Ja, du hast recht. Eine viel zu lange Zeit.«

Finas Herz hämmerte so laut, dass es die Worte fast übertönte.

Eine Weile schwieg ihre Mutter, während offensichtlich der andere sprach.

Oder hatte sie aufgelegt?

Fina wollte gerade zurückweichen, als ihre Mutter weitersprach. »Ja, das Abizeugnis haben sie uns geschickt. Abgesehen von der 2+ in Mathe hat sie nur Einsen. Bei den Sprachen sogar jeweils eine 1+.«

Fina hielt den Atem an. Ihre Mutter sprach über sie, über ihr Abitur!

»Ja, ich weiß, das war abzusehen. Sie hat ja ihr Leben lang nur gelernt und gelernt und gelernt. Aber stell dir vor, sie ist in acht Fächern geprüft worden und hat mit keiner Wimper gezuckt. Solche Nerven möchte ich haben.« Wieder klang das Lachen ihrer Mutter durch die Bürotür. »Ich bin ja schon halb wahnsinnig geworden, weil wir für die Externenprüfung nach Bayern mussten. Ich dachte die ganze Zeit: ›O mein Gott. Gleich klopft er ans Fenster.‹«

Fina wurde schwindelig. Mit wem zum Teufel telefonierte sie? Wen ging es etwas an, wie gut ihr Abitur war oder wie viel sie dafür gelernt hatte? Wer kannte die Geschichte mit ihrem Vater?

»Jetzt ist sie draußen und reitet das Pferd des Weinbauern. Davon hab ich dir doch erzählt, oder? … Ja, ich weiß. Ich mache mir auch Sorgen. Was, wenn er da draußen plötzlich vor ihr steht? Aber ich kann sie ja nicht im Haus einsperren. Und wenn sie auf einem Pferd sitzt, kann sie wenigstens schneller fliehen.«

Fina schloss die Augen, das Blut rauschte in ihren Ohren. Wer war der Fremde am Telefon? Warum machte er sich auch Sorgen um sie?

»Ich weiß. Wir müssen uns jetzt Gedanken um die Zukunft machen. Ich denke, sie wird ein Fernstudium anfangen. Etwas anderes kommt eigentlich nicht in Frage.« Ihre Mutter machte eine Pause, während offenbar der andere etwas sagte. »Nein, über das Fach haben wir noch nicht geredet. Sie ist sehr schweigsam, was ihre Zukunftswünsche angeht. Ich denke, sie sollte etwas aus ihren Sprachkenntnissen machen. Aber es ist nicht leicht, mit ihr darüber zu reden.«

Fina kniff die Lippen zusammen, um nicht laut dazwischenzurufen. Von wegen. Es war nicht leicht, mit ihrer Mutter darüber zu reden – ein Fernstudium? Waren eine einsame Kindheit und Jugend nicht schon genug? Sollte sie jetzt auch noch ihr halbes Erwachsenenleben allein mit ihrer Mutter verbringen, am Ende womöglich sogar ihr ganzes?

»Aber wir sehen uns ja morgen.« Die Stimme ihrer Mutter wurde wieder so zärtlich, dass Fina erneut ein eisiger Schauer über den Rücken lief. »Du nimmst dir bestimmt einen Mietwagen am Flughafen, oder? … Ja, aber erst, wenn sie schläft. Am besten wir treffen uns bei Gustav, der hat in der Feriensaison lange geöffnet. Und wenn sie spät ins Bett geht, treffen wir uns im Hotel. … Ja, ich rufe dich an, wenn sie eingeschlafen ist.«

Fina wich vor der Tür zurück. Gleich würde ihre Mutter auflegen, gleich würde sie herauskommen.

So leise sie konnte, huschte Fina zurück in die Diele. Ihre Gedanken drehten sich in einem seltsamen Schwindel. Ihre Mutter hatte ein Geheimnis, jetzt stand es fest! Einen Freund, von dem Fina nichts wusste und den sie vor ihr versteckte. Aber warum?

Langsame Schritte drangen aus dem Büro zu ihr, kurz bevor ihre Mutter herauskam. Fina putzte hastig ihre Schuhe an der Fußmatte ab und legte ihre Hand an die Türklinke, als wäre sie gerade erst von draußen gekommen.

Ein verräterisch glückliches Lächeln leuchtete auf dem Gesicht ihrer Mutter. Es wich einem leichten Schrecken, als sie Fina entdeckte. »Ach! Fina! Du bist schon zurück?« Sie blickte kurz zur Bürotür, fast als wollte sie abschätzen, ob ihre Tochter wohl etwas gehört hatte.

Fina hörte auf, sich die Füße abzuputzen, und richtete sich auf. »Ja. Ich bin schon zurück.« Für einen Moment fürchtete sie, dass ihr sämtliches Misstrauen und alles, was sie gehört hatte, ins Gesicht geschrieben stand.

Doch falls ihre Mutter es sah, überspielte sie es mit einem hastigen Lächeln. »Das ist schön. Ich habe einen Bärenhunger. Sollen wir zusammen was zum Mittag kochen? Ich hab frischen Fisch, Gemüse und Kräuter vom Markt mitgebracht.«

Fina zuckte die Schultern. Sie wollte ihre Mutter jetzt nicht sehen, sie musste nachdenken, musste versuchen, das alles zu verstehen. Außerdem trocknete ihr Schweiß allmählich zu einer klebrigen Schicht, gemischt mit Sand und Pferdehaaren, die anfing, auf ihrer Haut zu jucken. »Ich wollte erst mal unter die Dusche. Vielleicht danach.«

Ihre Mutter lächelte, und eine Spur von ihrem glücklichen Blick kehrte zurück. »Das ist prima. Dann kann ich dir auch Bilder von dem Ferienhaus zeigen, das ich in Neuseeland gekauft habe.«

Neuseeland? Fina horchte auf. So stellte ihre Mutter sich das also vor: Sie zogen weiterhin von einem Land ins andere, und nebenbei machte sie irgendein Fernstudium. »Ich muss …« Fina räusperte sich. »Ich muss mit dir reden, Ma.«

Das glückliche Strahlen ihrer Mutter zerfiel, wandelte sich in eine unbestimmte Furcht.

Fina fiel es schwer weiterzureden. Aber der Postbote hatte recht. Geheimnisse waren nichts Gutes. Und ihr Geheimnis war im Grunde nur Feigheit. »Ich möchte nicht mehr fliehen. Von mir aus jetzt noch einmal nach Neuseeland. Aber dann will ich mich für eine Hochschule bewerben. Ich möchte Fotografie studieren. Vielleicht Dokumentarfotografie.«

Ein erleichtertes Lächeln erschien auf dem Gesicht ihrer Mutter: »Ach Schatz. Das ist doch kein Problem. Wir finden ein passendes Fernstudium für dich, und dann …«

»Nein!«, rief Fina dazwischen. »Ich möchte richtig studieren, so wie alle anderen auch. Ich möchte an einem Ort bleiben, möchte endlich andere Menschen kennenlernen und Freunde finden.«

Die Stirn ihrer Mutter kräuselte sich. »Fina. Du weißt, dass das nicht geht.«

»Doch!« Tränen drängten sich in ihre Augen, ihre Nasenflügel weiteten sich, während sie dagegen ankämpfte. »Ich bin fast neunzehn! Ich bin erwachsen. Ich kann tun, was ich will!«

»Aber Fina. Das ändert doch nichts. Er ist trotzdem noch hinter uns her. Und wenn er uns findet, dann bringt er mich um und nimmt dich mit.«

Fina schnaubte. Sie wischte die Tränen ab und starrte ihre Mutter an. »Und was macht dich da so sicher? Woher weißt du eigentlich, dass er immer noch hinter uns her ist? Und wieso weißt du immer im Voraus, wenn er uns gefunden hat? Ist er etwa so blöd und ruft dich vorher an: ›Hallo Susanne. Ich habe euch gefunden. Morgen komme ich und hole euch!‹«

Ihre Mutter nickte langsam. Ihre Stimme klang leise. »Ja. So in etwa.«

Fina lachte auf. »So was Bescheuertes! Wieso sollte er das tun? Nach fast neunzehn Jahren müsste er doch wissen, dass wir dann weg sind. Wenn er uns ernsthaft holen will – warum taucht er dann nicht einfach vor unserer Tür auf?«

Ihre Mutter trat auf sie zu. »Ach Süße. Ich weiß es nicht. Das frage ich mich doch auch immer.«

Fina wich vor ihr zurück. »Nenn mich nicht Süße! Ich bin kein Baby mehr. Und deine ganze, komische Story – weißt du, wonach die klingt? Nach einer ganz beschissenen Lüge! Das Märchen kannst du vielleicht einem Kind erzählen. Aber ich bin kein Kind mehr!«

Das Gesicht ihrer Mutter schien verzweifelt, Tränen sammelten sich in ihren Augen. »Fina …«

»Nein!« Fina hob die Hand. »Ich gehe duschen!« Sie wandte sich ab, rannte die Treppe hoch ins Obergeschoss. Sie musste endlich allein sein, musste endlich verstehen, was hier vorging.

Doch erst, als das warme Wasser auf ihren Körper herabprasselte und den klebrigen Schweiß von ihrer Haut wusch, konnte sie ihre Gedanken ein wenig ordnen.

Was bedeutete das alles? Ihre Mutter hatte mit jemandem telefoniert. Aber mit wem? Jemand, der Fina kannte?

Sie überlegte, welche Verwandten in Frage kamen. Eigentlich gab es nur noch ihre Großeltern in der Familie. Aber mit denen hatte ihre Mutter sich schon zerstritten, bevor Fina geboren wurde.

Vielleicht ein Angestellter ihrer Mutter? Oder ein alter Freund von früher?

Fina kannte niemanden von früher, und ihre Mutter hatte auch niemanden erwähnt. Dennoch hatte das Telefonat den Anschein erweckt, als würde sie den Fremden schon lange kennen, als wäre sie schon lange mit ihm zusammen. Wer auch immer der Fremde am Telefon war: Ihre Mutter liebte ihn. Sie waren ein Paar und trafen sich heimlich, wenn Fina schlief.

Warum eigentlich heimlich? Warum durfte sie nichts von ihm wissen? Damit sie keine Hoffnung schöpfte? Damit sie nicht glaubte, dass sie bald einen Stiefvater bekam und vielleicht auch ein sesshaftes Leben? Oder fürchtete ihre Mutter, dass sie eifersüchtig wäre?

Fina wurde nicht schlau daraus. Und überhaupt: Wie lange ging das eigentlich schon so?

»Wenn sie schläft …« Fina musste schlucken. Plötzlich dachte sie an eine Nacht vor sieben oder acht Jahren. Ja, sie musste elf gewesen sein, damals in Kanada. Mitten in der Nacht war sie von einem Alptraum aufgewacht. Aber als sie zu ihrer Mutter gehen wollte, war deren Bett leer. Stattdessen hatte sie Stimmen und Lachen von der Terrasse gehört und war lieber schnell wieder ins Bett geschlichen. Plötzlich erinnerte sie sich an das fremde Männerlachen, das so intim geklungen hatte wie das ihrer Mutter vorhin im Büro.

Oder noch früher, als sie ganz klein war – immer wieder waren Babysitter bei ihr gewesen, während ihre Mutter ausgegangen war. Fina hatte damals noch nicht darüber nachgedacht, ob ihre Mutter allein ausging oder ob es womöglich einen Begleiter gegeben hatte.

War es immer derselbe, oder hatte sie wechselnde Freunde?

Fina dachte an das glückliche Strahlen ihrer Mutter. So, als wäre sie frisch verliebt. Aber wenn sie ihren Freund noch nicht lange kannte, warum interessierte er sich dann für Fina?

Sie schauderte. Wie konnte so etwas sein?

Das Wasser wurde kühler. Offensichtlich hatte sie den Boiler leer geduscht.

Fina streckte noch einmal ihr Gesicht unter den erfrischenden Strahl und drehte das Wasser anschließend aus.

»Verflucht. Was bedeutet das alles?« Sie flüsterte vor sich hin, während sie nach einem Handtuch angelte und ihren Körper abrubbelte.

Als sie gerade anfing, ihre Haare auszuwringen, wusste sie, was sie tun musste: Wer auch immer der Fremde war – er kam morgen ins Dorf. Sobald sie schlief, würde ihre Mutter ihn bei Gustav treffen.

Bitte, das konnte Susanne haben. Fina würde morgen Abend sehr müde sein.

2. Kapitel

Den ganzen Tag lang wich Fina ihrer Mutter aus. Sie ging wieder nach draußen, mistete bei dem Pferd den Stall aus und fotografierte mit ihrem Makroobjektiv schillernde Mistfliegen, die ihre Rüssel in einen Pferdeapfel tauchten. Sie schob die Stalllampen zurecht, um eine dicke Spinne auszuleuchten, die gerade eine Fliege fraß – und schließlich grub der Hund einen verwesenden Knochen aus dem Misthaufen aus, in dem es von Maden nur so wimmelte. Fina ging mit der Kamera so nah heran, dass sie nur die Hundezunge im Bild hatte, wie sie die glitschigen Maden aufschleckte.

Als sie am Abend ins Haus zurückkehrte, strömte ihr süßlicher Milchreisduft entgegen. Fina hielt inne. Es war ihr Lieblingsgeruch, das Allheilmittel ihrer Kindheit. Nur ein Löffel von dem weichen Brei, und sie war stets so ruhig geworden wie ein gestilltes Baby.

Doch heute war es anders. Fina konnte noch nicht sagen, was es war, der Geruch weckte irgendein Gefühl, das sie nicht zu fassen bekam.

Sie zog die Schuhe aus und trat in die Küche. Ihre Mutter saß vor dem Laptop am Küchentisch. Buntes Licht reflektierte auf ihrem Gesicht, beleuchtete das vorsichtige Lächeln, mit dem sie zu Fina aufsah. »Ich hab uns Milchreis gekocht. Und hier sind Bilder von dem Haus in Neuseeland. Willst du sie sehen?«

Fina starrte ihre Mutter an, deren Lächeln ihr auf einmal wie eine Maske erschien. Eine Maske, hinter der sie ihre Lügen versteckte. Und der Milchreisduft sollte ein Trick sein, das war es. Ihre Mutter wollte ihren Zorn bezähmen, wollte ihr Vertrauen zurückgewinnen.

Susanne sprang auf, füllte Milchreis in eine Schale und reichte sie ihr.

Fina blickte auf die weichen, weißen Körner. Wie ein Haufen glitschiger Maden wanden sie sich umeinander.

Ihre Mutter setzte sich wieder und deutete auf den Computerbildschirm. »Hier. Schau! Das ist das Haus. Ich hab es von einem neuseeländischen Farmer gekauft. Früher haben seine Arbeiter darin gewohnt. Jetzt ist es hübsch renoviert.«

Fina trat hinter ihre Mutter, betrachtete die bunten Fotos von blühenden Blumen vor einer rotgestrichenen Veranda. Ihre Mutter zappte von einem Bild zum anderen, zeigte ihr neues Zuhause aus allen Perspektiven.

Auch diese Bilder waren eine Maske. »Hübsches Haus. Noch bessere Fotos.« Fina verlieh ihrer Stimme einen kalten Klang.

»Wie meinst du das?« Ihre Mutter hielt beim Durchklicken inne. Eine riesige Wohnküche leuchtete auf dem Monitor.

Fina zuckte die Schultern. »Ich meine, dass die Küche nie im Leben so groß ist. Der Weitwinkel will dich täuschen.«

Ihre Mutter beugte sich vor. »Ein Weitwinkel? Im Ernst? Es ist aber nicht gebogen, nicht verzerrt.«

Fina starrte auf die Maden in ihrer Schale. Sie hatte keinen Hunger. »Es ist ein gutes Objektiv. Aber trotzdem ein Weitwinkel.«

Ihre Mutter lachte auf. »Der Farmer hat erzählt, sein Sohn hätte die Fotos gemacht. Dann scheint er wohl ein guter Fotograf zu sein. Er müsste zwei, drei Jahre älter sein als du. Vielleicht versteht ihr euch ja?«