Friedrich Christian Delius

Die Frau, für die ich den Computer erfand

Roman

 

«Was ihr nicht rechnet, glaubt ihr sei nicht wahr»

(Mephisto in Goethes Faust Zweiter Teil)

 

An einem heißen Julitag 1994 entdeckte ich auf der Terrasse des Gasthauses «Burg Hauneck», auf einer abgelegenen Höhe des hessischen Berglands, den alten Herrn, den ich seit Jahren zu sprechen suchte. Obwohl wir verabredet waren, glaubte ich im ersten Moment an eine Erscheinung: so weiß leuchtete sein Haar im Spätnachmittagslicht. Ich trat näher, schaltete das Aufnahmegerät ein, begrüßte ihn und fand später folgende Sätze auf sieben Tonbändern gespeichert:

(Zwischen Oberstoppel und Unterstoppel)

 

 

 

Ja, der bin ich. Aber sprechen Sie meinen Namen nicht so ehrfürchtig aus, junger Mann! Ich bin hier in Zivil, und Sie hoffentlich auch … Setzen Sie sich! Nein, neben mich, damit Sie was von der Landschaft haben. Außerdem hör ich besser auf dem linken Ohr. Ich hab Ihnen ja gesagt, Sie werden mich auf Anhieb finden, so viele Doppelgänger hab ich nicht, jedenfalls nicht auf der Höhe zwischen Oberstoppel und Unterstoppel … Ganz meinerseits. Ich freue mich, Sie wiederzusehen. Bitte, nehmen Sie Ihr Gerät aus der Tasche, legen Sie es auf den Tisch, ich hab keine Angst vor diesen Maschinchen … Dafür sind wir ja noch gut, wir Alten, dass wir die Mikrofone füttern, die unersättlichen Raubtiere … Sie haben auch so ein winziges. Früher, die großen fand ich viel schnittiger, da kam man sich gleich irgendwie bedeutend vor … Sie haben Ihr Zimmer bezogen? Alles in Ordnung? … Ja, es ist einfach, aber solide, ich mag diese einfachen Landgasthöfe. Das Schwimmbad im Keller hätten sie sich sparen können meinetwegen, Schwimmen auf dem Stoppelsberg, das passt irgendwie nicht, oder? … Haben Sie die Hitze gut überstanden? … Ich hab uns den Ecktisch reservieren lassen, mein Stammplatz, bin oft hier oben. Ist doch schön, der weite Blick in die Rhön hinein, auf die spitzen Berge, direkt auf das Hessische Kegelspiel … Sehr gut, ich sehe, Sie haben keine Frage im Gesicht, was das nun wieder sein soll, das Hessische Kegelspiel. Schon die Hessen aus Frankfurt oder Wiesbaden, keine Ahnung haben sie von den Schönheiten der Vorderrhön, von diesen Basaltkuppeln, den eleganten Basaltkuppeln, erloschne Vulkane, einer neben dem andern. Fast so anmutig wie die Hügel in der Toskana, finden Sie nicht? … Ich weiß, das hab ich nicht vergessen … Trotzdem, ich gratuliere, der Test mit dem Kegelspiel ist bestanden. Heimatkunde, das ist immer ein Pluspunkt bei mir. Auch das glaubt mir keiner … Aber nicht dass Sie denken, ich hätte Sie nur deswegen hierher auf den Stoppelsberg eingeladen, weil Sie die Gegend kennen … Das werd ich Ihnen noch verraten, später, weshalb Sie heute neben mir sitzen und kein anderer … Verschnaufen Sie erst mal, wir haben den ganzen Abend und die ganze Nacht, wenn Sie durchhalten. Haben Sie schon gemerkt, ich hab uns extra eine Vollmondnacht ausgesucht … Weil ich da sowieso nicht schlafen kann. Wie geht es Ihnen damit? … Nach dem heißen Tag serviert man uns eine laue Sommernacht, falls die Vorhersage stimmt. Mal sehn, ob wir Glück haben mit dem Mond und den Wolken, es sieht ja ganz gut aus 

(Der Festakt)

 

 

 

Aber ich warne Sie, heute bin ich bester Laune … Vorgestern erst hab ich abgesagt in Braunschweig und meine Tochter hingeschickt. Ja, vorgestern erst, aus Gesundheitsgründen, so kurzfristig kann man nur mit Gesundheitsgründen absagen bei solchen Festivitäten … Ich geb es zu, als wir uns vor drei Wochen verabredet haben, da hatte ich die Absage schon im Hinterkopf. Ich wollte den Vollmond nicht verstreichen lassen. Ich wollte den Termin mit Ihnen und nicht mit Braunschweig. Aber bilden Sie sich bloß nichts darauf ein! Das ist mein Vergnügen und nicht Ihr Verdienst! Und jetzt sitz ich hier in der freien Natur und nicht im getäfelten Saal in der ersten Reihe, und hier schwirren keine Fotografen rum, die mich zum Grinsen nötigen. Und jetzt, in diesen Minuten, kurz nach sechs, fängt der Festakt an. Es ist wie Schuleschwänzen, nur viel schöner. Weil sie mich nicht mehr bestrafen können. Im Gegenteil, sie können sowieso nur das Beste über mich erzählen, Oberbürgermeister, Minister, Präsidenten, Professoren … Es ist der vierzehnte Ehrendoktor, ich hab extra noch mal nachgezählt … Ja, für mich auch, und die Karte bitte, Kathi … Und jetzt gleich, nach der Musik, Mozart passt immer, ein Flügel passt immer noch in die Ecke, spricht der Oberbürgermeister. Wissen Sie, das Händeschütteln, die Blitzlichter, das Lächeln, die Konversation über das Wetter und den neusten Streich von Bill Gates, und dann Mozart, das ginge ja noch, wenn nicht die Reden wären, die immer gleichen Reden, die immer gleichen Sätze. Glauben Sie mir, ich kenne die Oberbürgermeistersätze, ich kenne sie alle auswendig, die Ministersätze, die Professorensätze. Das ganze Arsenal der Lobreden, die auf mich abgefeuert werden und die mir gleichgültig geworden sind und gegen die ich mich nicht mehr wehren will und nicht mehr wehren kann – außer mit einer Absage aus Gesundheitsgründen zwei Tage vorher. Und das Schlimmste, nein, das Komischste ist eigentlich, dass ich meine eigenen Reden nicht mehr hören kann oder nicht mehr hören will. Ich kann nichts Neues mehr sagen, in dem Rahmen nicht, wo alles so künstlich und feierlich und weihevoll ist, bei einem Festakt kann ich nichts Neues mehr sagen, obwohl ich noch einiges zu sagen habe oder zu sagen hätte, was ich noch nie gesagt habe … Nein, aber darum hab ich Ihrer Drängelei nachgegeben, deshalb hab ich Sie erhört, sozusagen, Ihre Anfrage wegen eines ausführlichen Interviews, eines langen Gesprächs. Erhört, das klingt anzüglich, oder? … Sei’s drum, redigieren Sie das weg, meinetwegen. Streichen Sie, was Sie wollen … Hauptsache, Sie kapieren, dass ich endlich mal, wie soll ich sagen, anders reden will. Keine Frackrede, keine Krawattenrede, sondern eher im Arbeitskittel, verstehen Sie? Ich will wenigstens den Versuch machen … Nein! Bloß nicht schreiben! Nie wieder! Einmal Memoiren, das ist Strafarbeit genug. Was das an Kraft kostet, sag ich Ihnen, nie wieder. Da nimmt man Rücksicht, da lässt man so viel weg, da mogelt man sich durch, da stellt man sich, ob man will oder nicht, aufs Podest, wo man vielleicht objektiv hingehört, aber das ist einem trotzdem peinlich, und dann untertreibt man wieder, was auch falsch ist, es ist eine höllische Arbeit. Nein, ich traue den Autobiografien nicht, nicht mal meiner eigenen. Da nehm ich mir doch lieber vor, eine ganze Nacht vor einem Recorder zu sitzen, sieben, acht, zehn, zwölf Stunden reden und sich ausfragen lassen. Was ist das schon gegen wochenlanges, monatelanges, jahrelanges Schreiben und Verwerfen und Verbessern und Verschlechtern, nie wieder freiwillig so eine Tortur. Einen ganzen Abend und eine ganze Nacht, das ist doch menschlich, finden Sie nicht? Menschlicher als die eigenen Erinnerungen geradezubiegen und auf Zeilen zu quetschen. Lieber Schwung holen und in einem großen Bogen festhalten, was ich vielleicht noch zu sagen oder zu ergänzen habe. Ich werd versuchen, mich nicht allzu oft zu wiederholen, das ist versprochen. Aber den großen Bogen, den inneren Bogen, die Gefühle … Genau: laut denken, ohne Rücksicht, ohne allzu viel Rücksicht. Das bin ich mir und meinem Alter noch schuldig. Und vor allen Dingen einer Frau bin ich das schuldig. Der Frau, die keiner kennt. Der Frau, für die ich den Computer erfunden habe … Nein, dazu später, haben Sie Geduld … Dafür brauch ich Sie, hab ich beschlossen, ganz einfach. Ich brauch Ihr Mikrofon auf dem Tisch und nicht die Braunschweiger Mikrofone auf einem blumengeschmückten Rednerpult. Vor Oberbürgermeistern, Ministern und Professoren könnte ich von der Frau gar nicht reden, von einer heimlichen Liebschaft sowieso nicht … So ist es, wir machen uns unsern eigenen Festakt hier auf fünfhundert Meter Höhe, auf der Terrasse. Wir feiern mein Schuleschwänzen, Prost! … Ich hoffe auf Ihre gefällige Kooperation … Aber seien Sie vorsichtig, ich hab Sie gewarnt, ich bin bester Laune 

(Nichts gegen Feinschmecker)

 

 

 

Suchen Sie sich erst mal was zu essen, die Karte ist kurz, die Küche einfach und herzhaft, wie man so sagt. Ich werde Jägerschnitzel bestellen mit Kroketten. Das nehme ich hier immer. So groß ist die Auswahl nicht, so doll ist die Küche nicht, aber das Jägerschnitzel, immer zuverlässig mittelmäßig … Ich weiß auch nicht, warum das Jägerschnitzel so einen schlechten Ruf hat bei den Feinschmeckern. Da ist bestimmt dieser Kochpapst aus Hamburg schuld, der gegen das Jägerschnitzel zu Felde zieht seit Jahrzehnten und nur die französische Küche gelten lässt und die italienische. Das Jägerschnitzel wird systematisch verkannt und verleumdet, und Sie kennen mich ja ein bisschen, Sie haben meine Memoiren gelesen, das haben Sie jedenfalls behauptet. Dann verstehen Sie, dass einer, der selber verkannt und verleumdet wurde ungefähr dreißig Jahre lang, verkannt als Erfinder und verleumdet als Spinner, dass einer wie ich für das verkannte und verleumdete Jägerschnitzel eine bestimmte, sagen wir, verwandtschaftliche Vorliebe hegt … Scherz beiseite, aber eins steht fest: Wenn ich mit Geschäftspartnern essen gehe und was erreichen will, darf ich auf keinen Fall Jägerschnitzel bestellen oder gar Eisbein, dann bin ich schon unten durch, dann hab ich verloren. Einmal Eisbein bestellt am Tisch mit feinen Leuten, das können Sie nie wieder gutmachen, das ist die einzige Sünde, die Ihnen nie vergeben und vergessen wird bis ans Lebensende. Sie können wegen Korruption verurteilt werden, Sie können Ihrem schärfsten Konkurrenten die Frau ausspannen, Sie können IBM in die Hacken treten, alles wird verziehen, nur das Eisbein nicht … Alle wollen sie Feinschmecker sein, die Museumsleute erst recht, mit denen ich in letzter Zeit oft zu tun habe. Und darum genieß ich es, hier ganz einfach Jägerschnitzel mit der mittelmäßigsten aller Pilzsoßen zu essen … Wissen Sie, eigentlich habe ich nichts gegen Feinschmecker, ich glaube nur, nein, ich bin fest davon überzeugt, wenn ich Feinschmecker gewesen wäre, dann hätte ich nicht den Computer erfunden. Dann wär ich nicht Erfinder geworden … Wenn Sie gewohnt sind, jeden Pfennig in Ihre Maschinen zu stecken, wenn Sie jahrelang nur von den Ersparnissen Ihrer Familie und Ihrer Freunde leben und, ich übertreibe mal, ich übertreibe gern, wenn ich gute Laune habe, wenn Sie monatelang von Erbsbrei leben, den meine Mutter übrigens wunderbar zubereitet hat, in der Nazizeit konnte man sowieso nicht wählerisch sein mit dem Essen … Und wenn Sie die ganzen fünfziger, sechziger Jahre hindurch, als es mehr zu futtern gab, Tag und Nacht an nichts anderes denken als an Ihre Rechner, die immer schneller und immer perfekter funktionieren müssen, und an das rasant wachsende Personal, für das Sie Verantwortung tragen, von fünf Mann auf zwölfhundert in zwölf Jahren, und an die viel zu dünne Kapitaldecke … Jetzt hab ich den Faden verloren … Ja, dann sind Sie nicht gerade der geeignetste Kandidat für diese Sorte Dekadenz … Was machen Sie denn für ein Gesicht, sind Sie etwa von der Gewerkschaft, von der Gewerkschaft der Feinschmecker? … Ich muss mich für meine Wortwahl nicht entschuldigen in meinem Alter, ich meine die Dekadenz der immer feineren Feinschmeckerei … Ich könnte Ihnen auch mit den alten Römern kommen, aber ich will nicht zu sehr abschweifen … Obwohl, ich hab mir vorgenommen, heute Abend nicht nach Konzept zu sprechen, nicht chronologisch, nicht Einleitung, Hauptteil, Schluss, so geordnet ist das Leben nicht, sondern so, wie mir die Gedanken zufallen, zufällig zufallen … Lassen wir die alten Römer, bis hierher sind sie sowieso nicht vorgedrungen, bis in diese Wälder nicht, hundert Kilometer hinter dem Limes. Hier jedenfalls, im Gasthof «Burg Hauneck», kann ich essen, was ich will – und mir ist es völlig egal, ob Sie, wenn Sie über mich schreiben, irgendwelche abfälligen Bemerkungen über meine Essgewohnheiten machen oder nicht. Sehen Sie, das ist das Schöne, wenn man einmal achtzig geworden ist, dann kann einem das alles herzlich wurscht sein 

(Jägerschnitzel-Test)

 

 

 

Jetzt sollten wir aber bestellen … Sie bleiben beim Jägerschnitzel? … Gut so, sehr gute Wahl. Ich nehme Wildgulasch, ja, mit Salzkartoffeln und Salat, ja, und ein Bier … Schauen Sie nicht so, es ist alles in Ordnung! Ich bin auch in Ordnung, keine Sorge. Sie denken, ich seh es Ihnen an, und wenn Sie noch so höflich über die Nasenspitze schielen, Sie denken, der Alte ist vielleicht wirr im Kopf. Nein, genau das Gegenteil ist der Fall. Sehen Sie, Sie sind ja nicht der erste Journalist, mit dem ich rede … Ja, ich weiß, Sie sind kein Journalist, Sie sind was Besseres oder wollen was Besseres sein mit Ihren Büchern. Das ist mir völlig egal, da halte ich mich raus, davon versteh ich nichts. Also, Sie sind jedenfalls nicht der erste fachfremde, wahrscheinlich mathematisch völlig ungebildete, ingenieurtechnisch völlig unbegabte Mensch, mit dem ich über meine Computer und über mein Leben rede … Da brauch ich Ihnen gar nicht Ihre Mathematikaufgaben vom Abitur vorzulegen, das rieche ich gegen den Wind, dass Sie eine mathematische Niete sind … Und immer, wenn ich mit Leuten wie Ihnen zusammensitze, hier auf dem Stoppelsberg oder in der Kantine des Deutschen Museums, schwärme ich von einem mittelmäßigen Jägerschnitzel oder einem kreuzbraven Kotelett. Wenn ich die Mitleidsplatte auflege vom verkannten und verleumdeten Jägerschnitzel und vom verkannten und verlachten Erfinder, dann dauert es nicht lange, bis mein Gegenüber so weit ist, das Jägerschnitzel oder das Kotelett zu bestellen, obwohl er vielleicht lieber die Rhönforelle gehabt hätte. Sie auch, geben Sie es zu, Sie sind auch so ein Rhönforellen-Kandidat … Das Experiment funktioniert immer, ist doch klar, die Leute wollen sich bei mir einschmeicheln, indem sie meiner Empfehlung folgen. Sie meinen es gut, weil sie nicht wollen, dass ich verkannt war und da und dort immer noch bin, genau wie das Jägerschnitzel. Sie wollen mich endlich aus meiner Verkanntheit erlösen und fangen schon mal mit dem verkannten Jägerschnitzel an. So simpel ist der Mensch gestrickt. Sie lassen sich manipulieren, weil sie was von mir wollen, ein paar schöne Geschichten, ein paar neue Anekdoten, ein paar Schnurren aus der Pionierzeit. Auch Sie lassen sich manipulieren, obwohl Sie eigentlich ein ganz Kritischer sind oder sein wollen, der sich nicht gern reinlegen lässt. Und schon sind Sie reingefallen. Ja, warum mach ich diesen Test? Um zu zeigen, dass aus Ihnen kein Erfinder geworden wäre! Wer sich anpasst, wer sich von irgendwelchen Erwartungen seiner Chefs lenken lässt, wer den Mittelweg geht, den völlig stumpfsinnigen goldenen Mittelweg, der kann, vielleicht, vielleicht ein guter Beamter werden, ein Schnarchsack im Patentamt, oder ein tüchtiger Handwerker meinetwegen, aber kein Erfinder. Deshalb war mein Leitspruch schon immer: Mensch, werde hart! … Schauen Sie nicht so erschrocken, prost! Ich weiß, der Spruch passt nicht mehr in unsere Zeit, wo man alles immer bequemer haben will und immer weicher liegen will, aber genau deshalb komm ich Ihnen ja damit. Und wenn ich Ihnen sage, dass ich den Spruch von einem Oberleutnant habe, aus der Nazizeit, aus unserm Wehrsportlager, dann erschrecken Sie noch mehr. Aber es ist mir egal, ob Sie darüber erschrecken und die Stirn runzeln oder ob der Zeitgeist unserer goldenen neunziger Jahre damit einverstanden ist oder nicht. Mir hat der Spruch, das können Sie mir glauben, immer geholfen, nüchtern und zielklar zu bleiben. Und Sie wollen ja von mir ein paar interessante Sachen hören und nicht, was der Zeitgeist diktiert. Vielleicht verschwindet der Spruch mit mir von der Bildfläche, den nehm ich gern mit ins Grab, und den anderen sowieso, meinen zweiten Wahlspruch: Im Grunde bist du stets allein. Ein Spruch, der spätestens auf dem Friedhof seine volle Wahrheit entfaltet, sehr tröstlich, nicht wahr? Sage mir deine Sprüche, und ich sage dir, wer du bist. Nur damit Sie sich kein falsches Bild von mir basteln, ich bin kein netter Opa zum Anfassen … Also, der Jägerschnitzel-Test … Ich mach das, damit Sie noch mehr Respekt vor mir kriegen. Ich meine nicht nur diesen Respekt, den beispielsweise die Laien vor den Mathematikern haben wegen der verzwickten Formeln oder die Technik-Idioten vor dem Fernsehtechnikergesellen, wenn der Kasten wieder läuft. Ich meine einen ganz praktischen Respekt vor der Härte des Erfindens, weil … Im Nachhinein verklärt sich immer alles, da wird einem alles zur Story umgebogen. Besonders dann, wenn man mit euch journalistischen Geschichtenerzählern plaudert. Die Morgenröte der Computerei mit Laubsäge und Erbsbrei, die Wohnzimmer-Story, die heroische Rettung der A4 im Chaos der letzten Kriegstage. Als hätte immer alles nach Anekdote geschmeckt. Wie waren Ihre Gefühle, bitteschön, als Sie unter dem Beschuss der Tiefflieger den ersten Computer der Welt durch Schlamm und Bombentrichter nach Süden bugsiert haben? Bei solchen Fragen, auf diesem Niveau kann doch nur Geschwätz rauskommen, respektloses Geplapper. Wenn ich konsequent wäre, müsste ich antworten: Es war hart, es war schwer, es war bitter, es war enttäuschend, danke, auf Wiedersehen … Wenn ich sentimental wäre und mich an einem Rednerpult festhalten könnte, würde ich vielleicht sagen, es war mit Blut und Tränen erkauft. Aber Sie haben Glück, ich bin nicht sentimental … Und konsequent auch nicht. Gerade deshalb, entschuldigen Sie die Abschweifung, brauch ich den Jägerschnitzel-Test. Damit Sie von der Zunft der Schmarotzer, nehmen Sie das bitte sportlich und als Zeichen meiner guten Laune, dass ich so offen bin, damit Sie kapieren, wie viel Charakter und Eigensinn man braucht, was sag ich, Eigensinn hoch zehn. Als Erfinder muss man ein Naturell haben wie ein großer Künstler, ein Leonardo, ein Michelangelo, ein Goethe. In Wirklichkeit hat es der Künstler meistens noch leichter als wir, der muss auch darben, aber der wird nicht von morgens bis abends nach der Verwertbarkeit gefragt. Dem wird vielleicht einmal in der Woche und nicht in jeder Minute die berühmte Pistole auf die Brust gesetzt von ahnungslosen Bankiers oder vom eigenen Finanzchef … Kurz gesagt, dafür will ich Respekt, in einem ganz existenziellen Sinn, wenn Sie verstehen, was ich meine. Der Jägerschnitzel-Test, der hilft mir, das hoff ich doch, dass Sie mich ernst nehmen und nicht nur den schrulligen Alten in mir sehen, den Anekdoten-Opa. Ich will, dass Sie mir besser zuhören, auch wenn ich nur unbeholfen und ungeschickt daherrede. Und dass Sie mir mehr zutrauen, als ich mit meinen schlichten Worten ausdrücke. Bin nun mal kein Wortmensch, für mich war ein Wort immer eine Folge von Bits … Lassen wir das. Aber Sie sollen heute Abend nicht vergessen, dass ich einiges mehr in meinem Speicher habe, als ich Ihnen hier auf Ihr Band spreche 

(Ein weltberühmter Unbekannter)

 

 

 

Ja, ich komm gern hierhin, ich kenn den Wirt und seine Familie seit Urzeiten, Rudi an der Theke, Magda in der Küche, und Kathi haben Sie ja schon kennengelernt, die Serviererin, die Schwiegertochter. Ich komm gern hierhin, wo die Gäste mich nicht erkennen, die braven Wanderer sowieso nicht, die Rentnerhorden … Gucken Sie nicht so kritisch, ich darf das! Ich darf mir ein paar Portionen Spott leisten, wie sich andere Leute Schlagsahne leisten. Wenn ich diese jungen Leute sehe, so rüstig, so seniorenstolz, mit Geld gepolstert und trotzdem untätig, nichts als Reisen und Wandern im Kopf. Das kann mir keiner verkaufen, dass Wandern und Reisen was großartig Aktives sein soll. Passive Leute hab ich nie gemocht, und nur weil einer läppische sechzig oder siebzig wird, ist das doch kein Grund, auf diese rüstige Art faul zu werden … Damit Sie gleich sehen, was ich für ein reaktionärer Kerl bin: Ich plädiere für den Beginn des Rentenalters mit fünfundsiebzig, in einigen Branchen mit siebzig, Maurer und Dachdecker meinetwegen mit fünfundsechzig. Haben Sie das drauf? … Nein, lauter sag ich das nicht, ich will ja nicht gelyncht werden, jedenfalls nicht heute … Schon dies Wort, Rentner! Ich sag manchmal Rentiere, weil sie still und brav ihr Gras in sich hineinmümmeln in Form von Torten und Rotwein und keine echten Interessen haben. Jedenfalls nicht an den Wissenschaften, an geistigen Großtaten, keine Interessen außer weiterzuleben mit dem Fitnessprogramm ihrer Hüpfgruppen und einfach nur weiterleben wie ein Rentier in Lappland. Die meisten kennen nicht mal die wichtigsten Erfindungen ihrer Zeit, Computer kennen sie nur als Monster … Ja, kann schon sein, dass sich das ändern wird, dass die Alten auch noch mal in die Tasten greifen. Aber ich wunder mich immer wieder, mit wie viel Nichtwissen man alt werden kann, alt und einigermaßen mit Geld versorgt und noch stolz auf das Nichtwissen … Und jetzt, wo wir wieder vereinigt sind, im fünften Jahr der Vereinigung, muss natürlich besonders fleißig gereist und gewandert werden, Mecklenburg, Brandenburg, Thüringen warten und haben noch Zimmer frei, und das Jägerschnitzel kostet zwei, drei Mark weniger. Heute muss man in Dresden gewesen sein, in Potsdam, aber von der wichtigsten Maschine unserer Zeit muss man nichts wissen, immer noch nicht … Kurz und gut, keiner von den tüchtigen Wanderern würde auf den Höhen der Vorderrhön den Erfinder des Computers vermuten, und deswegen geht’s mir gut hier, wo ich ein bisschen palavern darf über Gott und die Welt und … Nein, auch die Leute aus den Dörfern, Steinbach, Buchenau, Eiterfeld oder Ditlofrod, die hier mal ein Bier trinken oder sich ein Essen leisten, die kennen mich nicht, obwohl ich seit Jahrzehnten in dieser Gegend wohne und den Leuten Arbeitsplätze verschafft habe oder, um genau zu sein, ihren Eltern vor dreißig, vierzig Jahren. Man kennt mich nicht, obwohl ich weltberühmt bin. Ein weltberühmter Unbekannter, ein wunderbarer Zustand, glauben Sie mir. Sie sind hier oben der Einzige außer den Wirtsleuten … Rudi kennt mich, seit er laufen kann, aber dem hab ich eingeschärft, er soll mich behandeln wie jeden anderen alten Herrn … Klar, schon in den frühen Fünfzigern bin ich hier raufgestiefelt, seit wir in Neukirchen wohnten, wenn ich mal Ruhe haben wollte und nachdenken … Was ich sagen will, genau das gefällt mir, dass hier keiner von mir Notiz nimmt, während gleichzeitig in Braunschweig Lobgesänge erschallen und in Berlin oder München die Professoren streiten, ob ich nun Deutschlands größter Erfinder des Jahrhunderts bin. Ich oder der Braun mit seiner Röhre oder der von Braun mit den Raketen oder dieser Mensch, dieser Fischer mit den Dübeln oder doch Otto Hahn, aber der war ja im eigentlichen Sinn kein Erfinder … Ja, das Gulasch für mich. Danke. Wissen Sie, so etwas gefällt mir, während die Experten sich mit ihren Gutachten die Schädel spalten meinetwegen, wie sie mich nun werten und taxieren auf ihren albernen Ranglisten, und während der Braunschweiger Oberbürgermeister durch seine Rede stolpert und den Schluss nicht findet, hier mit Ihnen in aller Ruhe in die Rhön hinein zu schauen und über das Hessische Kegelspiel zu meditieren und das Bierglas zu heben … Stimmt, der müsste allmählich fertig sein, dann wird nun der Staatssekretär XY sein Grußwort aufsagen, ein Großsprecher muss den nächsten überbieten, prost! 

(Codewort Ada)

 

 

 

Jetzt lassen Sie sich’s erst mal schmecken, trotz allem. Vielleicht ist das hier das einzige Jägerschnitzel, an das Sie Ihr ganzes Leben denken werden. Vielleicht sitzen Sie, wenn Sie so alt sind wie ich, mit Ihren Enkeln oder Urenkeln auf dieser Terrasse und verzehren zur Erinnerung an mich wieder ein Schnitzel, und Sie erzählen den lieben Kleinen, dass Sie noch den Erfinder des Computers gekannt haben und wie der Sie reingelegt hat mit seinem albernen Jägerschnitzel-Test. Sehen Sie, so gerät alles zur Anekdote, man muss nur warten können. Lassen Sie sich’s schmecken, junger Mann … Mein Wildgulasch ist auch nicht besonders interessant, da schaut man noch weniger durch als beim Schnitzel. Beim Wildgulasch weiß man nie genau, was drinsteckt, Hirsch oder Reh oder Wildschwein, irgendwie gemischt, vielleicht auch Hase, das kommt neuerdings alles aus Polen … Verzeihen Sie, ich erzähle Ihnen lauter Unsinn über das Wildgulasch und überlege die ganze Zeit, wie ich Sie am besten darauf vorbereite, dass ich Ihnen eine, nun ja, soll ich das wirklich sagen, eine Liebesgeschichte zu Gehör bringe heute Abend. Und wie ich am besten anfange, und wie ich die auftische … Meine schönste Liebesgeschichte, meine Affäre, eine lebenslange Affäre … Ich hab keine Übung darin, verstehen Sie, ich hab die Geschichte noch nie erzählt … Vor drei Wochen, als wir den heutigen Termin ins Auge gefasst haben, da, wie soll ich das sagen, da hab ich den Beschluss gefasst, da haben die zwei Seelen in meiner Brust einstimmig den Beschluss gefasst, an diesem Samstag, an diesem Juliabend, in dieser Vollmondnacht werd ich das Schweigen brechen. Obwohl ich Sie ja praktisch gar nicht kenne. Aber das ist vielleicht ein Vorteil. Das machen die Katholischen doch auch, dass sie am liebsten zu einem fremden Priester beichten gehen, oder? … Aber vorhin, als ich mich hier auf den Berg chauffieren ließ, da hat mich der Mut verlassen. Und jetzt denk ich schon wieder anders: Wer weiß denn, denk ich, wie viele Gelegenheiten ich noch haben werde, mit ein paar Heimlichkeiten herauszurücken. Auch wenn man sich fit fühlt in meinem Alter und immer noch fit für Wildgulasch und fit für ein Bier und fit für einen kleinen Spaziergang nach dem Essen hinauf zur Burgruine – der Schlag kommt immer unerwartet. Wissen Sie, ich will nicht erst auf dem Totenbett die große Beichte ablegen, das kriegt so was Feierliches, so was Tragisches. Das hätte was von Reue, eine Lebensbeichte, ein letztes Geständnis vor der Höllenfahrt. Dabei ist es doch was Fröhliches! Es gibt nichts zu bereuen! Und meine Geschichte mit Ada der Welt erst dann mitzuteilen, wenn ich fast nicht mehr sprechen kann, wenn ich gelähmt bin, wenn ich flachliege, umstellt von lauter Menschen mit Trauergesichtern, das wäre unwürdig, das wäre unmännlich, das passt da nicht hin. Im Übrigen widerspräche es meiner ganzen Einstellung zum Leben: Mensch, werde wesentlich! Und wie wesentlich diese Geschichte ist, werden Sie hören … Also, ich werde im Lauf des Abends darauf hinsteuern, versprochen, das Codewort heißt Ada. Und wenn ich mal nicht weiterweiß und wenn Sie gerade keine gescheite Frage auf Ihrem Block haben, dann nennen Sie einfach das Codewort Ada, dann spielen Sie mir das zu, und ich werde … Denken Sie bloß nicht, dass ich dauernd abschweife, ich bin eigentlich immer noch beim Jägerschnitzel. Ich wollte was zum Manipulieren sagen. Zweimal in den letzten zehn, fünfzehn Jahren, seit ich diesen Test mache, hatte ich es mit Damen zu tun. Leider schicken einem die Redaktionen immer Herren, weil sie meinen, das passt besser, Männer und Technik und so. Zweimal jedenfalls hatte ich Damen zum Interview, eine kam vom Radio, eine von einer Wirtschaftszeitschrift, glaub ich – und beide haben auf ihrer eigenen Menüwahl bestanden, die sind nicht reingefallen auf mein Jägerschnitzel. Als ich ihnen gratuliert und gesagt habe, sie hätten eine wichtige Voraussetzung, wenn nicht die wichtigste Voraussetzung zum Erfinderdasein, nämlich Eigensinn, da haben sie das für ein billiges Kompliment gehalten. Die haben mich gar nicht verstanden, die haben nur gedacht, der Alte will ihnen auf die Pelle rücken … Das ist übrigens eine völlig vernachlässigte Frage, warum wird der Eigensinn der Frauen, ich spreche jetzt mal ganz allgemein, so wenig genutzt für die Technik, für Innovationen? Was für Potentiale da brachliegen! In jeder zweiten Rede können Sie mich rufen hören: Wo bleiben die Erfinderinnen? Das steht auch in dem Braunschweiger Manuskript, das meine Tochter nachher vorlesen wird, wenn die Herren endlich durch sind mit ihren acht oder neun Grußworten und Lobreden. Sie sehen, ich hab eine hohe Meinung von den Frauen. Das verdanke ich Ada, Ada Lovelace … Sie ist die Ausnahme … Jetzt ist es raus … Jetzt ist der Name genannt, jetzt kann ich nicht mehr zurück 

(Faust zum Frühstück)

 

 

 

Na ja, das ist einfach so. Sie haben bei mir einen Stein im Brett. Sie glauben gar nicht, wie mich das überrascht hat damals. Das hab ich nie vergessen, unser Gespräch bei dieser Tagung an der Nordsee, wie lang ist das her? … Nicht zu fassen, ich dachte fünf Jahre oder sieben höchstens … Beim Frühstück über das Faustische reden, das kommt ja auch nicht alle Tage vor. Das hat mir schon mal gefallen, dass da einer, so ein junger Kerl, diese Stelle in meinen Memoiren nicht überlesen hat. Und wissen Sie noch, was Sie dann zu mir gesagt haben? … Nein, nein, ich hab das besser in Erinnerung, wörtlich: Faust ist doch ziemlich humorlos, aber Sie sind es nicht, haben Sie gesagt. Zuerst hab ich nicht gewusst, ob Sie mir schmeicheln oder mich auf den Arm nehmen. Schließlich, muss ich zugeben, fand ich den Gedanken doch ganz nützlich. War schade, dass wir das abbrechen mussten, ich hatte keine Zeit mehr für den Spaziergang zum Leuchtturm, aber auf der Rückfahrt ist mir das lange im Kopf geblieben … Seit neun Jahren haben wir es nicht geschafft, das nachzuholen, mal sehn, wie weit wir heute damit kommen. Ich hab mich jedenfalls vorbereitet und die alte Schwarte aus dem Regal geholt. Ich hab meine Hausaufgaben gemacht und den Faust noch mal gelesen und den Faust Zwei zur Hälfte. Wer tut so was schon freiwillig, ich meine, wenn er nicht vom Fach ist … Ja, eins hab ich dabei gelernt, und das sag ich Ihnen gleich: dass Ada nicht mein Gretchen ist, sondern meine Helena, wenn schon … Das sag ich Ihnen gleich zu Anfang, damit Sie bei Ada nicht auf falsche Gedanken kommen, so ein schäbiger Hund wie der Faust bin ich dann doch nicht … Nein, später … Kurz und gut, Sie sind der Einzige, nehmen Sie das ruhig als Kompliment, junger Mann, der meine Gedanken zum Faust verstanden, nein, der sie bemerkt hat. Ob Sie mich verstanden haben, ist eine ganz andere Frage, da hab ich eher meine Zweifel, das werden wir vielleicht herausfinden heute Abend. Alle andern haben darüber hinweggelesen in meinen Erinnerungen, obwohl ich im Vorwort, deutlicher geht es ja nicht, die Leute mit der Nase drauf gestoßen habe. Kein Mensch hat mich je auf die Faust-Frage angesprochen in all den Jahren, in fünfzig, in mehr als fünfzig Jahren nicht. Alle lachen nur über den Faust, Schulkram, abgedroschen … Und deshalb, Sie verstehen schon, muss ich Sie ins Vertrauen ziehen, wen denn sonst? Ich sag es mal so: Wer den Faust in mir versteht oder ihn wenigstens bemerkt, der versteht auch die Ada in mir … Nein, nachher … Ich möchte heut gar nicht viel über den Computer-Erfinder sagen, sondern über die Leidenschaft des Computer-Erfinders, über seine Gefühle, den Antrieb. Nicht über die Mathematik, sondern über faustische Energie, über die Lust am Erfinden. Es hört sich immer so aufgeplustert, so pathetisch an, wenn man vom Faustischen spricht, von der faustischen Seele, und ich will gar nicht aufgeplustert daherreden … Sie verstehen wenigstens, was ich meine, das hoff ich jedenfalls. Bei meinen Freunden und Bekannten mach ich mich lächerlich, wenn ich mit dem Faust anfange … Die wollen einfach nichts davon hören, dass der alte Goethe etwas verstanden hat – von mir, ich sag es mal so frei heraus … Manche von denen schauen mich schon so an, mit dem Doktorblick: Senil? Debil? Fragil? Als müssten sie prüfen, ob ich wirklich noch der gute alte Formelfummler bin, der liebe und nette Erfindergreis. Ich gebe zu, ich mach es den Freunden nicht leicht, ich mute ihnen schon meine Kunst zu. Dass ich male auf meine alten Tage, nicht etwa pinsele wie ein Rentner sich seine Freizeit auspinselt, sondern ernsthaft male und ringe mit meiner Kunst, das ist eigentlich eine Frechheit von mir. Und wenn ich denen dann auch noch mit Dr. Faust komme, mit faustischer Leidenschaft für den Fortschritt, dann seh ich, wie sie innerlich abwinken … Ja, Sie hören richtig, bei mir ist das Wort Fortschritt noch nicht aus der Mode Wer immer strebend sich bemüht, das ist doch kein Schülerkram, da steckt der ganze Ernst des Daseins drin, oder auch der Witz des Daseins, wie Sie wollen. Na ja, und lächerlich mach ich mich erst recht vor den jungen Computer-Narren, ich sag nicht gern Computer-Freaks, da sehen Sie, wie altmodisch ich bin, und vor den Effizienz-Enkeln, wie ich sie nenne, vor den Betriebsblind-Wirten, den Informatik-Idioten – ich darf das sagen als Nestor der Informatiker, ich hab da ein kleines Arsenal von Schimpfwörtern für jede Gelegenheit. Auch dieser Orden muss provoziert werden, und außer mir traut sich ja keiner. Als wenn es unter den Informatikern weniger Idioten und Scheuklappenträger gäbe als anderswo. Diese Generation, die kennt das Stück schon gar nicht mehr, die haben das nicht mal in der Schule gelesen … Es ist eine Schande, wie wir mit unserm Know-how umgehen. Auch Goethe ist für mich Know-how und Wachstumsmotor und Multiprozessor für Geist und Seele und Innovation. Zugegeben, Geist und Seele sind auch nicht gerade in Mode. Hin und wieder bei Vorträgen oder beim Dankeschön zum soundsovielten Doktorhut sag ich was in diese Richtung. Aber wenn die mich, den Alten, vom uralten Goethe reden hören, dann bin ich sowieso schon von gestern. Und wenn ich nur den Namen Faust ausspreche oder Mephistoteles, schalten die gleich ab, es ist eine Schande … Ich seh das förmlich an ihren kurzhaarigen Köpfen, wie sie den Impulsgeber umschalten … Und wer was vom Faust versteht, die Fachleute von der Literatur, wie heißen die noch mal … Germanisten, ja, Germanisten, die sind sich zu fein, mit einem Dilettanten wie mir über ihren Gott Goethe zu reden. Ich kenn ja solche Leute eigentlich nicht, nur einmal hab ich einen getroffen auf einem Empfang in Heidelberg, ich dürfte also nicht verallgemeinern. Ich hab nur gemerkt, der wollte gar nicht sehen, der wollte gar nicht verstehen, dass es auch heute die Faust-Problematik gibt. Sogar in Heidelberg! Ich sage nur: Biochemie! Die Stammzellen und was da alles auf uns zukommt. Auch heute gibt es Erfinder und Entdecker, die das Faust-Drama in ihrer Brust austragen und den kalten Hauch einer Mephisto-Gestalt neben ihrem Schreibtisch spüren … Ich hab Ihnen doch gesagt, Sie sollen mir ins Wort fallen, wenn ich sentimental werde, und natürlich sind das Sentimentalitäten, woher hab ich das mit dem kalten Hauch? Bestimmt ein Zitat, also passen Sie auf, passen Sie besser auf mich auf! … Nein, verstehen Sie mich bitte richtig, ich hoffe doch auf Sie, auf Ihr Faust-Verständnis, weil Sie weder zu den Computer-Narren noch zu den Goethe-Narren gehören, wenn ich das richtig sehe. Genau deshalb hab ich Sie auf den Stoppelsberg bestellt … Nicht ganz so hoch wie der Brocken, aber auch hier ließe sich eine hübsche Walpurgisnacht zaubern, was meinen Sie? Ich bringe meine Dame mit, und welche Hexen brauchen Sie? 

(Der Grundstein vons Janze)

 

 

 

Dann das Vergnügen, Sie haben recht … Nein, da denke ich nicht an Faust, sondern an einen jungen Mönch, der seine Mitmenschen von der Qual des stumpfsinnigen Rechnens befreien will. Der sich hinsetzt, besessen von seiner Sache, und die Architektur eines Rechners entwirft, ein paar Rechtecke und Quadrate auf ein Blatt Papier kritzelt, ich vereinfache ein bisschen, es war nicht nur eine, es waren tausend Skizzen, was weiß ich, die hab ich nicht gezählt. Und der seinen Freunden sagt: Wir bauen drei Speicherblöcke mit vierundsechzig Wörtern zu je zweiundzwanzig Bits, verbinden die mit einem Wählwerk zur Speicherung der binären Gleitkommazahlen. Das Wählwerk packen wir neben die arithmetische Einheit, ein binäres Gleitkommarechenwerk für die Grundrechenarten, dazu die Eingabeeinheit und die Ausgabeeinheit, selbstverständlich im Dezimalsystem mit den Mantissen und Exponenten, und dahinter postieren wir die Einheit zur Übersetzung der Dezimalzahlen in binäre und umgekehrt. Dann hier die Programmsteuerung, die erfolgt mittels Lochstreifenleser, durch den die Filme mit den gestanzten Befehlen laufen, alles gesteuert vom Leitwerk mit Impulsgeber für den Takt von einem Hertz. Dafür brauchen wir etwa dreißigtausend Einzelteile, Bleche, Federn, Stifte, Schrauben, und jetzt ran an die Arbeit, jetzt heißt es beten und arbeiten … Ich seh schon, da gucken Sie nervös, da halten Sie die Luft an. Dabei sprech ich nur von der oberflächlichsten Skizze der simpelsten aller Maschinen, der A 1, der Grundstein vons Janze. Und ich hab Sie verschont mit den Fragen der halblogarithmischen Zahlendarstellung und den Grundlagen der Logik und allem, was uns der Herrgott der Formeln geschenkt hat … Ich seh schon, wenn ich rede, wie mir der Schnabel, der Fachschnabel gewachsen ist, dann kommen wir nicht weit heute Abend. Aber ich weise Sie in aller Form darauf hin, ich habe meine Hausaufgaben gemacht und mich durch den Faust, ich will nicht sagen gequält, aber doch gekämpft – und Sie, möcht ich wetten, Sie greifen zur Vorbereitung nicht mal zum Lexikon und prägen sich ein paar Grundbegriffe der Logarithmenrechnung ein … Sehen Sie, mein Pech ist, dass ich nie jemanden treffe, mit dem ich über beides reden kann, über das Gleitkomma und über Mephisto. Ehrlich gesagt, ich hab gar keine Lust mehr auf Gespräche über das Schema der A1 oder über die Logik. Wirklich, auf die Logik kann ich mittlerweile verzichten, ich bin nicht mehr so scharf darauf, jede Sprache in Zahlen zu übersetzen. Wissen Sie, ich bin der größte Freund der Logik, aber jede Logik ist natürlich eine Verarmung. Wenn Sie etwa an die Negation denken, die können Sie logisch nur mit einem Wort ausdrücken: nicht. In der gewöhnlichen Sprache, da haben Sie verschiedene Wörter und Akzente für eine Negation: nicht, kein, nein, nie, nirgendwo, un-, ohne – und so weiter. Deshalb red ich, je älter ich werde, umso lieber in der Alltagssprache. Ein Leben lang, jedenfalls während der Arbeitszeit, im Ja-Nein-Schema zu Hause, da hat es lange gebraucht, bis ich Gödel akzeptiert habe, Sie wissen, es gibt nicht nur Ja und Nein, es gibt auch nicht entscheidbar, unentschieden. Auf meine alten Tage ist das eine sehr angenehme Freizeitbeschäftigung, von der Logik zurück zur Sprache zu stolpern. Am Ende zählen nicht die Zahlen und die Logik … Was zählt schon am Ende … Ich glaube, es bleiben nicht die Festplatten, die verrosten und versiffen irgendwann, wahrscheinlich bleiben eher die Wörter und die Bilder … Am Anfang war das Wort oder Im Anfang ist das Wort und so weiter, das halte ich für Käse, wenn ich an die Ursuppe denke, aber … Hat nicht mal ein kluger Mensch gesagt, am Ende ist das Wort? Oder das Bild? … Jedenfalls nicht die Zahl, das steht fest 

(Nie ein Schweiger, nie ein Schwätzer)