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 Ute Horn Als das Leben stehen blieb Meine Erfahrungen an der Schwelle des Todes

ISBN 978-3-7751-7255-4 (E-Book)
ISBN 978-3-7751-5609-7 (lieferbare Buchausgabe)

Datenkonvertierung E-Book:
CPI books GmbH, Leck

2. Auflage 2015
© der deutschen Ausgabe 2015
SCM-Verlag GmbH & Co. KG · Max-Eyth-Straße 41 · 71 088 Holzgerlingen
Internet: www.scmedien.de • E-Mail: info@scm-verlag.de

Soweit nicht anders angegeben, sind die Bibelverse folgender Ausgabe entnommen:
Neues Leben. Die Bibel, © der deutschen Ausgabe 2002 und 2006
SCM R.Brockhaus im SCM-Verlag GmbH & Co. KG, Witten.

Umschlaggestaltung: Kathrin Spiegelberg, Weil im Schönbuch
Titel- und Autorenbild: Sven Lorenz, Essen
Satz: typoscript GmbH, Walddorfhäslach

Dieses Buch widme ich allen Menschen,

die mich bei meiner schweren Erkrankung 2012 begleitet haben.

Inhalt

Inhalt

Gedanken des ältesten Sohnes

Wie eine Vorahnung

1. Mama, wie heißt du?

2. Blaukraut bleibt Blaukraut

3. Eine Hand auf der Schulter

4. Die Nebelwand

5. Doch ein Gehirntumor?

6. Treffpunkt Krankenzimmer

7. Mama, wovor hast du Angst?

8. Du darfst nicht sterben!

9. Von Biskuitrolle bis Brownies

10. Go for Gold, Mama!

11. Das Hemd ist immer zu kurz

12. Wer hat die Macht?

13. Zwei Boten

14. Die Delete-Taste

15. Den Letzten beißen die Hunde

16. Ein bunter Blumenstrauß

17. Der letzte Abend

18. Die Kapelle

19. Augenzeugen

20. Die Raumpflegerin

21. Getackert

22. Der postoperative Blues

23. Verwirrt

24. Baum, Schule, Jäger

25. Von Zypern bis Kiel

26. Bratwurst mit Hindernissen

27. Schauspiel am Himmel

28. Josefs Besucher

29. Abschied nehmen

30. Erneute Kopfschmerzen

31. Mŭgla

32. Unkraut, ich komme

33. Schatztruhe

Nachklang

Dank

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Gedanken des ältesten Sohnes

Als Arzt bin ich es gewohnt, mit Krankheiten umzugehen. Tag für Tag muss ich Patienten Diagnosen mitteilen, was mir mal schwerer und mal leichter fällt. Das Wort Tumor, verbunden mit einer notwendigen Operation, löst bei vielen Patienten Panik und großes Unbehagen aus. Ein solches Gespräch ist eine der schwierigsten Aufgaben des Arztberufes, das großes Mitgefühl erfordert und einen nicht unerheblichen Teil der täglichen Arbeit ausmacht. Nichts ist mehr alltäglich oder Routine, wenn es sich dabei um Personen im eigenen Verwandten- und Freundeskreis handelt. Auf einmal kann ich nicht mehr distanziert sein. Es betrifft mich unmittelbar, wenn ich schwere Krankheiten und Operationen in der engsten Familie hautnah miterlebe.

Eine eigene Dynamik und besondere Brisanz kann sich entwickeln, wenn ich mich als Arzt selbst in der Patientenrolle wiederfinde.

Meine Mutter, die selbst auch Medizinerin ist, wurde aus heiterem Himmel am 10. 6. 2012 plötzlich ins Krankenhaus eingeliefert. Die ganze Familie musste Tage der Ungewissheit und drängende Fragen des Lebens aushalten und bewältigen.

Wie ging meine Mutter mit der Diagnose und der vorgeschlagenen Therapie um? Wie reagierten wir als Familie?

Meine Mutter hat uns sieben Kinder dabei immer wieder einbezogen und uns an ihren Gedanken und Gefühlen teilhaben lassen. Ich bin der erstgeborene Sohn der Familie. Ich habe eine ältere Schwester und nach mir kamen noch fünf Brüder. So unterschiedlich, wie wir Kinder sind, so unterschiedlich waren auch unsere Reaktionen auf die Erkrankung und die Gespräche, die meine Mutter mit jedem Einzelnen führte.

Meine Mutter berichtete während der Zeit von erstaunlichen Erfahrungen, die sie mit anderen Menschen und mit Gott machte. Unsere Besuche bei ihr im Krankenhaus boten trotz aller Ängste und Ungewissheit viele Gelegenheiten für schöne und besondere Momente, die wir als Familie nun teilen. Wir erlebten dabei, dass eine Familie in schwierigen Zeiten intensiver zusammenwachsen kann. Dafür sind wir sehr dankbar.

Als Leser lade ich Sie ein, mit meiner Mutter diese intensive Zeit zu durchleben. Sie ist gleichzeitig Ärztin und Patientin, siebenfache Mutter und Ehefrau, gläubige Christin und ein Mensch wie Sie und ich.

Ich wünsche Ihnen, dass Sie ebenso Mut schöpfen, sich den Krisen in Ihrem Leben oder auch einer eigenen Krankheit zu stellen.

Ihr Andreas Horn

Wie eine Vorahnung

Bildung wurde in meinem Elternhaus immer großgeschrieben. Wenn mein Vater nachmittags von seiner Besuchstour als Landarzt zurückkam, fragte er mich oft als Erstes: »Na, Ute, was hast du heute gelernt?« Überall im Hause gab es Regale mit Büchern, Duden und Enzyklopädien. Und wenn unsere Gäste meinen Vater fragten: »Wie viele von den Büchern haben Sie denn wirklich gelesen?«, antwortete er mit einem Schmunzeln: »Fast alle.«

Als Junge hatte er wegen einer Knieverletzung keinen Sport machen dürfen. So verschwand er in der Welt der Bücher und des Wissens – eine tolle Chance, trotzdem anerkannt zu sein. Und diese Liebe zum Lernen erhielt er sich bis zu seinem Lebensende. Ich kann mich an keine Frage erinnern, die mir mein Vater nicht beantworten konnte. Das heißt nicht, dass er alles wusste, aber er gab nicht auf, bis er endlich die Antwort gefunden hatte. Dazu dienten die vielen Bücher in der Schrankwand. Leider konnte er nicht mehr miterleben, dass man im Internet fast jeden Wissensdurst in Windeseile stillen kann.

»Lernen zu dürfen ist ein Vorrecht«, so die Philosophie meines Vaters, und meistens ergänzte er noch: »Viele Menschen auf dieser Welt würden gerne zur Schule gehen, haben aber keine Chance.«

Mein Vater wurde mein großes Vorbild und so entwickelte ich die gleiche Leidenschaft fürs Lernen, für Wissen und Erkenntnis. Als ich dann selbst Medizin studierte, wollte ich verstehen, wie der Mensch lernt, versteht, behält und warum er so und nicht anders handelt. Ich staunte über unser Gehirn und seine Leistungen.

Eines Tages stellte uns der Professor Krankheiten des Gehirns vor und kam auf die Besonderheiten bei Gehirntumoren zu sprechen. Auch im Gehirn könnten sich gutartige und bösartige Tumoren bilden. Aber die Situation sei hier eine ganz andere als im übrigen Körper. Der Schädelknochen sei starr und ließe keinen Platz für die Ausdehnung einer Geschwulst zu. Somit könnten selbst gutartige Geschwülste oder Blutungen im Kopf lebensbedrohlich werden, wenn sie das Gehirn verdrängen würden.

Nach der Vorlesung war ich niedergeschlagen und dachte: »Was geschieht mit einer Person, wenn ein Tumor oder eine Krankheit das Gehirn verdrängt oder sogar zerstört?« Ich versuchte mich in einen solchen Patienten hineinzuversetzen. Plötzlich leuchteten die Worte meiner Mutter auf. Sie war auch Ärztin und praktizierte mit meinem Vater zusammen. Oft sagte sie: »Ute, die schlimmsten Folgen von Gehirnerkrankungen sind, wenn die Menschen ihre Persönlichkeit verlieren und nicht mehr eigenbestimmt handeln können.« Diese psychischen Auswirkungen von Gehirntumoren hatte der Professor nicht erwähnt, sie beschäftigten mich aber sehr.

Im Laufe des Medizinstudiums hatte ich noch mehr Gelegenheit, mich in die Lage von Patienten mit Schädelhirntraumata und anderen Krankheiten des Gehirns zu versetzen und sie zu betreuen. Es war üblich, sich mit Nachtwachen im Krankenhaus Geld zu verdienen. So arbeitete ich jahrelang ein- bis zweimal in der Woche auf der neurochirurgischen Intensivstation. Dort betreute ich viele am Kopf verletzte Menschen, viele Motorradfahrer, aber auch am Gehirn Operierte. Oft waren sie nicht ansprechbar und lagen im Koma.

Schon damals hoffte ich, dass ich niemals am Gehirn operiert werden müsste. Doch vor zwei Jahren kam es anders …

Ihre Ute Horn im Juni 2014

1.
Mama, wie heißt du?

Sonntag, 10. Juni 2012. Gegen 16 Uhr will ich Tomer, den holländischen Freund meines Sohnes Daniel, verabschieden: »Vielen Dank, dass du hier gewesen bist. Du kannst uns gerne jederzeit wieder besuchen.«

Aber die Worte wollen nicht über meine Lippen kommen. Ich gehe kurz in die Küche und suche die Wasserflasche. Vielleicht habe ich zu wenig getrunken, sodass mein Mund trocken ist und meine Zunge mir nicht gehorchen will. Doch auch nach dem Glas Wasser kann ich nicht mehr sprechen und schnappe plötzlich nach Luft.

Hilfe suchend schaue ich in die Augen unseres Sohnes Daniel, der hinter Tomer steht und alles miterlebt. Er reagiert blitzschnell: »Mama, was ist mit dir? Wir gehen ins Wohnzimmer.« Er nimmt mich an der Hand, führt mich den Flur entlang und hilft mir, mich danach auf die Couch zu setzen.

Plötzlich zuckt die linke Seite meines Gesichtes. Daniel ruft: »Papa, komm ganz schnell, mit Mama passiert gerade etwas Furchtbares. Ich weiß nicht was, aber sie kann nicht mehr sprechen.« Mein Mann Thomas, selbst Arzt, schaut mich entsetzt an und holt seinen Koffer, der für Notfälle immer griffbereit ist. Er legt mir die Blutdruckmanschette an, pumpt bis zum höchsten Wert auf und stellt erschrocken fest: »Ich kann keinen Blutdruck messen.«

»Papa, ruf sofort den Notarzt«, ruft Daniel. Mittlerweile rast auch unser jüngster Sohn Benjamin ins Wohnzimmer. Seine Augen sind weit aufgerissen und panisch schreit er: »Was ist mit Mama?« »Wir wissen es nicht«, antwortet Daniel. Ich kann weiterhin kein Wort von mir geben. Das Zucken und Krampfen meiner linken Körperhälfte nimmt weiter zu, aber ich bekomme es nicht richtig mit. Schockzustand!

Im Nebenzimmer telefoniert mein Mann mit dem Notarzt: »Kommen Sie bitte sofort. Meine Frau hat einen epileptischen Anfall, kann nichts mehr sagen und bekommt kaum Luft.« »Mamas linke Wange hängt ganz schlaff herab und ihr Mund ist schief«, sagt Daniel und fragt mich hastig: »Mama, bitte verzeih mir, aber ich muss dir jetzt diese Fragen stellen: ›Wie heißt du? Wann bist du geboren? Welches Datum haben wir heute?‹ Ich kann nicht antworten. Immer wieder versuche ich es, bekomme aber kein Wort heraus. Dann reicht mir mein Mann ein Blatt Papier und Daniel einen Stift. Es gelingt mir nicht, etwas aufzuschreiben. »Mama hält den Stift falsch herum«, ruft Benni. Daniel nimmt mir den Kuli aus der Hand und gibt ihn mir richtig herum wieder. Mit krakeliger Schrift schreibe ich: »Betet für mich.« Daniel entziffert die Worte und ruft: »Papa, darauf hätten wir doch auch selbst kommen können.« Sie beten. Thomas fleht zu Gott: »Bitte, Vater im Himmel, nimm das weg, was Ute hindert zu sprechen. Erbarm dich über sie.« Und Daniel: »Hilf der Mama, beschütze sie. Mach sie wieder ganz gesund.«

Die Notärztin ist zusammen mit zwei Rettungssanitätern in sieben Minuten vor Ort. Sie misst den Blutdruck und pumpt die Manschette bis zum Anschlag auf. »Der Blutdruck ist über 300 mm Hg. Ist ein hoher Blutdruck bei Ihrer Frau bekannt?« »Nein«, antwortet Thomas, »seitdem ich sie kenne, und das sind schon 38 Jahre, hatte sie immer einen zu niedrigen Blutdruck.« Die Ärztin legt einen Zugang in die Vene und spritzt ein Mittel gegen zu hohen Blutdruck, danach bekomme ich eine Infusion.

Plötzlich kann ich wieder sprechen: »Ich will nicht ins Krankenhaus. Da war ich schon so oft.« »Ehrlich gesagt interessiert das hier jetzt niemanden, was Sie wollen. Sie haben eine hypertensive Krise1 und die muss abgeklärt werden. Wir fahren Sie jetzt auf schnellstem Wege ins Klinikum. Die diensthabenden Ärzte wissen schon Bescheid und warten auf Sie.« Auch unser Sohn Pascal steht auf einmal im Wohnzimmer und sieht mich fassungslos an: »Was ist denn hier los? Wieso sagt mir denn niemand etwas?«

Sein Zwillingsbruder Marcel taucht im Türrahmen auf. »Was geht denn hier ab? Ich wollte nur meine Sportsachen holen, um mit einem Freund ins Fitnessstudio zu gehen. Da sah ich von der Straße aus den Krankenwagen. Ich dachte, dass der Notarzt wieder für unseren Nachbarn angefordert wurde. Wieso denn für Mama? Was ist passiert? Ich kann doch jetzt nicht trainieren!«

»Wir wissen es auch nicht genau. Mama konnte auf einmal nicht mehr sprechen und hat so komisch gezuckt. Ihr Blutdruck scheint verrücktzuspielen«, erklärt Benjamin. Man schnallt mich auf eine Liege und bringt mich in den Krankenwagen. Tomer fragt entsetzt: »Sind wir schuld, dass Frau Horn jetzt einen epileptischen Anfall hat? War es zu viel für sie, mich und meine Freunde ein ganzes Wochenende zu bewirten?«

Daniel wollte eigentlich mit seinen Freunden im Auto zum Studienort zurückfahren. An der holländischen Grenze wollten sie um 18 Uhr in einer Kneipe noch zusammen das Spiel der Fußballeuropameisterschaft, »Spanien gegen Italien«, anschauen. Doch als ich in den Krankenwagen geschoben werde, sagt Daniel zu mir: »Mama, ich komme vorne im Krankenwagen mit. Ich kann jetzt nicht nach Holland mitfahren. Ich muss erst wissen, was mit dir los ist.« Dann ertönt das Martinshorn und es geht per Blaulicht in die vier Kilometer entfernt liegende Klinik.

Thomas rast mit dem eigenen Auto hinterher. In all der Aufregung vergisst er zu fragen, ob unsere drei noch zu Hause wohnenden Kinder auch mitkommen wollen. Es wäre für sie leichter gewesen. Nun sind sie allein. Jeder verkriecht sich in sein Zimmer und versucht, sich abzulenken. Was wird aus Mama?

2.
Blaukraut bleibt Blaukraut

In der Notaufnahme warten schon der diensthabende Neurologe, eine Assistenzärztin und eine Krankenschwester auf mich. Daniel hält meine Hand. »Ein vertrautes Gesicht an meiner Seite. Was tut das gut!« Dann kommt auch Thomas dazu. Er musste noch einen Parkplatz suchen.

Der Neurologe stellt einige Fragen: »Was ist passiert? Können Sie sich an alles erinnern?« »Ja«, erwidere ich. »Ich habe alles miterlebt, hatte keinen Blackout. Aus heiterem Himmel konnte ich nichts mehr sagen, nur schwer atmen und fing an, im Gesicht zu zucken.« »Sprechen Sie mir mal nach: ›Blaukraut bleibt Blaukraut und Brautkleid bleibt Brautkleid.‹« »Blaukraut bleibt Blaukraut und Brautkleid bleibt Brautkleid«, wiederhole ich den Zungenbrecher. Ich muss mich gut konzentrieren, das Sprechen fällt mir schwer und ich bin selbst überrascht, dass ich mich nicht verhaspele. »Das geht ja schon wieder ganz gut«, kommentiert der Arzt. »Wir müssen ein MRT2 vom Kopf machen, um zu sehen, was passiert ist. Es ist schon angemeldet.«

Mir wird etwas mulmig. Ich bekomme in engen Räumen leicht Angst und ganz besonders in der »Röhre«. Daniel schiebt mich bereitwillig in die Röntgenabteilung. Dort muss ich vom Rollstuhl auf die Liege umsteigen und werde mit dem Kopf zuerst ins MRT gefahren. Ich flehe zu Gott, dass meine Raumangst vergeht und ich es aushalten kann, den Notknopf fest in meiner Hand. Die Schwester erklärt, dass ich ihn jederzeit drücken kann. Dann beginnen die klopfenden Geräusche und umkreisen von allen Seiten mein Gehirn. Nach 15 Minuten habe ich die Untersuchung endlich überstanden und atme auf. Thomas rennt mit weit aufgerissenen Augen herein: »Du hast eine sehr große Gehirnblutung von 3 x 3,6 Zentimetern. Sie müssen noch Kontrastmittel spritzen. Du musst noch mal für fünf Minuten in die ›Röhre‹«. Noch bevor ich widersprechen und nachfragen kann, bin ich schon wieder drin. Zum Glück sind es wirklich nur fünf Minuten.

Der Neurologe kommt und schaut mir in die Augen: »Frau Horn, Sie haben eine große Gehirnblutung im rechten Schläfenlappen, wahrscheinlich infolge einer hypertensiven Krise, wodurch ein epileptischer Anfall mit vorübergehendem Sprachverlust aufgetreten ist. Wir bringen Sie jetzt auf die Intensivstation zur Überwachung und um 23 Uhr machen wir noch ein CT3, um einen Gehirntumor auszuschließen.«

Bei dem Stichwort Gehirntumor läuft es mir kalt den Rücken hinunter. Kann das sein? Diese Worte hallen in mir nach: »Gehirntumor ausschließen«, aber irgendetwas in mir wehrt sich dagegen, diese mögliche Diagnose zu akzeptieren. Bitte, doch nicht ich. Tausend Gedanken schießen mir durch den Kopf. Wieso habe ich in letzter Zeit so oft gehört, dass Menschen einen Gehirntumor haben?

Allein in unserer kleinen Kirchengemeinde gab es vier Fälle, dazu unsere Nachbarin und der Gastvater unseres Sohnes in Amerika. Zwei verstarben innerhalb von sechs Monaten. In den 58 Jahren zuvor habe ich nie von Gehirntumoren gehört, obwohl ich in einem Arzthaushalt groß wurde. Liegt es daran, dass man sie heute durch neue Verfahren einfach besser darstellen kann als früher? Oder dass man heute eher über Krankheiten spricht und sie deshalb viel präsenter sind?

Schnell bringt man mich auf die Intensivstation und schließt mich an alle möglichen Geräte an. Mein Herzschlag und Blutdruck werden ständig überwacht, man hängt eine Infusion an. Dann folgt aufgrund des epileptischen Anfalles noch ein EEG4. Mein Mann und Daniel fahren kurz nach Hause, um die nötigste Kleidung und einen Kulturbeutel zusammenzupacken und den daheim gebliebenen Kindern erste Auskünfte zu geben. Als die beiden wiederkommen, reicht mir Daniel das Spiel Topwords, eine Art Scrabble, mit den Worten: »Dafür scheinst du ja jetzt viel Zeit zu haben.« Wir müssen beide lachen. Meine Sprache ist wieder vollständig da und jeder wundert sich, dass ich bei der großen Gehirnblutung nicht mehr Ausfälle habe. Wir informieren noch sehr gute Freunde und bitten sie mitzubeten, dass alles gut ausgehen möge. Immer wieder schauen wir auf die MRT-Bilder, die an der Schautafel hängen. Wir können es einfach nicht fassen.

Im Krankenzimmer rekapituliere ich abends noch einmal das Wochenende. Unser Sohn Daniel studierte zu der Zeit in Leiden im dritten Jahr Medizin und hatte seine komplette Fußballmannschaft für ein Wochenende zu uns eingeladen. So reisten vierzehn Studenten und eine Studentin am Freitagabend bei herrlichstem Sonnenwetter an. Das Haus füllte sich mit Schlafsäcken, Rucksäcken und holländischem Stimmengewirr. Wir waren als Deutsche eindeutig in der Minderzahl. Die Fußballeuropameisterschaft wurde vom 8. Juni bis zum 1. Juli 2012 in Polen und der Ukraine ausgetragen, ein willkommener Anlass, ein »Freundschaftsspiel Deutschland gegen die Niederlande« in Krefeld zu organisieren.

Vorfreude machte sich breit, als sie am nächsten Morgen zusammen auf den Sportplatz zogen, um auf ihre deutschen Gegner zu treffen. Daniel spielte eine Halbzeit bei den Holländern mit und eine bei den Deutschen, die sein Bruder Benjamin mobilisiert hatte. Ein spannendes Spiel! Einige Schaulustige blieben stehen, um die beiden Mannschaften zu bewundern, und fragten sich, wo die vielen orangefarbigen Trikots herkämen und ob darin wirklich Niederländer stecken würden. Unsere Gäste mussten sich leider geschlagen geben, aber sie nahmen es mit Humor. Abends sahen alle zusammen im Fernsehen das Spiel »Niederlande gegen Dänemark«. Mit der Hand auf dem Herzen schmetterten die jungen Leute in unserem Wohnzimmer stehend und aus voller Kehle die Nationalhymne der Niederlande. Alle waren für Holland, doch leider nutzte alles Anfeuern nichts. Dänemark gewann gegen die Niederlande mit 1:0. Der Tag endete beim Public Viewing in der Stadt, bei dem Portugal gegen die Deutschen 0:1 verlor.

Am nächsten Tag kickten die Fußballer im Garten weiter. Nach einem typisch deutschen Essen – es gab Rinder- und Schweinebraten mit Klößen und Rotkohl – ging das schöne Wochenende zu Ende. Es war eine rundherum gelungene Aktion. Alle halfen noch aufzuräumen, bis sich Auto für Auto wieder zur Abreise fertig machte. Ich hatte das Wochenende genossen und konnte mir keinen Reim darauf machen, warum mein Blutdruck so eskaliert war. Obwohl ich selbst Ärztin bin, hatte ich noch nie von einem Blutdruck über 300 mm Hg gehört.

Um 23 Uhr werde ich dann ins CT gefahren. Anspannung liegt in der Luft. Minuten der Ungewissheit folgen. Wird die Zusatzuntersuchung doch noch zeigen, dass ich einen Gehirntumor habe? Dann zunächst mal Entwarnung. Die begutachtenden Ärzte sind sich einig: »Kein Gehirntumor!« Alle atmen auf. Was für eine erleichternde Nachricht. Der Neurologe stellt die Diagnose: »Hypertensive Krise durch zu viel Stress am Wochenende, daraufhin eine Gehirnblutung, was zu einem epileptischen Anfall mit vorübergehendem Sprachverlust führte.«

In mir wehrt sich alles. »Meinen Sie damit, dass ich die Gehirnblutung selbst provoziert habe, weil ich zu viel gearbeitet habe?«, frage ich den Arzt. »Nein, das habe ich so nicht gesagt. Aber Stress kann ein Auslöser für hohen Blutdruck sein.« Bei dieser Diagnose muss ich an die jungen Holländer denken. Wie werden sie damit umgehen, wenn sie die Erklärung des Arztes hören? Werden sie sich selbst schuldig fühlen? Wieder denke ich etwas bockig: Ich war nicht gestresst von dem Wochenende. Ich bitte Daniel, seine niederländischen Freunde anzurufen und ihnen zu versichern, dass zwischen ihrem Besuch und der Gehirnblutung kein Zusammenhang bestünde. Es sei einfach zeitgleich passiert. »Bitte, macht euch keine Vorwürfe«, lasse ich ihnen ausrichten. Daniel sagt mir kurz daraufhin, dass seine Freunde tatsächlich die ganze Fahrt darüber diskutiert hätten, wie sie meine Gehirnblutung hätten verhindern können und ob es auch passiert wäre, wenn sie nicht für das ganze Wochenende mit so vielen gekommen wären. Es war so wichtig für sie, dass ich ihnen dafür keine Schuld gab. Schon jetzt wird uns bewusst, dass ich Glück im Unglück hatte.

»Ute, stell dir einmal vor, wenn das Ereignis an einem Montagmorgen passiert wäre«, meint mein Mann auf einmal. »Der epileptische Anfall vielleicht gerade beim Aufhängen der Wäsche im Keller! Niemand hätte dich gefunden, wenn du auf den Boden gefallen wärst. Selbst, wenn du noch das Telefon erreicht hättest, wärst du nicht in der Lage gewesen dich zu verständigen.« »Das stimmt«, wird mir bewusst. »Und wenn ich mit den Händen fuchtelnd auf die Straße gelaufen wäre, um einen Nachbarn um Hilfe zu bitten, hätte ich ihm nicht mitteilen können, was geschehen ist.« »Und wie gut, dass es an einem Sonntag passiert ist, an dem Papa und ich da waren und sofort Hilfe holen konnten«, ergänzt Daniel. Es fallen uns noch mehr »Wie gut, dass«-Sätze ein. »Wie gut, dass der Notarzt so schnell da war. Wäre die Hilfe nicht so schnell gekommen, hätten noch größere Schäden durch den hohen Blutdruck entstehen können.« Und zuletzt: »Wie gut, dass ich in einem Land lebe, wo man mir helfen kann.« Wie oft schon habe ich Gott gedankt, dass wir in Deutschland so gute Ärzte haben und so viele Möglichkeiten, behandelt zu werden.

Mit diesen Gedanken verabschieden wir uns voneinander. Was für ein nervenaufreibender Tag! Thomas wirft einen letzten Blick auf die Blutdruckaufzeichnung: »Hoffentlich entgleist der Blutdruck nicht wieder heute Nacht. Zum Glück wirst du auf der Intensivstation rund um die Uhr überwacht.«

3.
Eine Hand auf der Schulter

Montagmorgen. Einen Tag nach der Gehirnblutung. Ich liege weiter auf der Intensivstation. Regelmäßig wird der Blutdruck überwacht. Ein Blutdruckanstieg könnte eine erneute Gehirnblutung auslösen. Außerdem werden EEGs geschrieben. Was sagen die Gehirnströme? Bis jetzt gibt es keine Anzeichen dafür, dass ich weitere epileptische Anfälle zu befürchten habe. Der neurologische Oberarzt möchte eine Lumbalpunktion machen. Bei der Vorstellung, dass dabei Gehirnwasser aus dem Rückenmarkskanal entnommen wird, wird es mir mulmig. »Wir müssen wissen, ob Entzündungszeichen oder Krebszellen im Nervenwasser sind«, erklärt der Arzt. Ich willige ein und die Untersuchung wird durchgeführt. Doch die Ärzte finden keine andere Ursache für die Gehirnblutung als die Entgleisung meines Blutdruckes.

Ich bitte die Verantwortlichen unserer Kirchengemeinde, mich auf der Intensivstation zu besuchen. Ich verspreche mir sehr viel davon, wenn sie für mich beten. In der Bibel steht in Jakobus 5,14: »Ist jemand von euch krank? Dann soll er die Ältesten der Gemeinde holen lassen, damit sie für ihn beten und ihn im Namen des Herrn mit Öl salben. Ihr Gebet im Glauben an Gott wird den Kranken heilen und der Herr wird ihn aufrichten« (Luther 84).

Noch am gleichen Abend stellen sich die vier Ältesten unserer Gemeinde um mein Krankenbett, einer zeichnet mit Öl ein Kreuz auf meine Stirn und gemeinsam flehen wir Gott an, dass er mich heilen möge. Nach einer halben Stunde verlassen sie die Intensivstation. »Was ist nur mit mir los?«, wundere ich mich. Ich erkenne mich selbst nicht wieder. Trotz der gravierenden Diagnose habe ich tiefen Frieden. Thomas ist auch verunsichert und fragt mich zum wiederholten Male: »Hast du wirklich keine Angst?« »Nein!«, antworte ich ihm und er schaut mir dabei tief in meine Augen.

Plötzlich bin ich in meinen Gedanken wieder im gestrigen Gottesdienst. Ich hatte das Ereignis schon vergessen, aber jetzt leuchtet es wieder auf. »Thomas, ich muss dir erzählen, was gestern Morgen passiert ist. Ich saß wie üblich in der ersten Reihe. Du warst noch nicht von der Visite im Krankenhaus zurück. Während Matthias auf dem Klavier Loblieder spielte, lud er ein, dass Älteste gerne für Nöte und Krankheiten beten würden. Außerdem ermutigte er uns, auch füreinander in den Reihen zu beten. Du weißt, dass ich das normalerweise gerne mache. Doch gestern schloss ich einfach die Augen, genoss die wunderschöne Musik und den Gesang. Im Gebet sagte ich Gott: ›Ich bin vom Wochenende und den vielen Eindrücken und Gesprächen noch so erfüllt, dass ich heute nicht für andere beten möchte. Berühre mich bitte neu und schenke mir Kraft.‹ Plötzlich legte sich von hinten eine Hand auf meine Schulter und ich spürte eine wohlige Wärme. Ich freute mich, dass sich offensichtlich jemand aufgemacht hatte, für mich zu beten. Komischerweise hörte ich keine Worte, aber ich genoss die Berührung. Nach einigen Minuten drehte ich meinen Kopf nach hinten, um zu sehen, wer für mich gebetet hatte. Aber niemand war da. Merkwürdig, dachte ich. Ich war mir doch so sicher, dass ich die Berührung gespürt hatte. Dann plötzlich ein Gedanke: Ob das wohl die Hand von Jesus gewesen ist? Mir lief es kalt den Rücken herunter. Meinst du, dass mich Jesus vorbereiten wollte?« »Es ist wirklich seltsam, dass du morgens diese Nähe spürst und nachmittags die Gehirnblutung hast. Vielleicht wollte Gott dir sagen:

›Ich bin mit dir. Auch wenn du durch schwere Zeiten gehst, bin ich dir nahe.‹«

Neun Monate später werde ich mich in einer Veranstaltung von ProChrist5 erneut an diese Begebenheit erinnern. Als die christliche Popinterpretin Cae Gauntt ans Mikrofon geht und »Du legst mir die Hand auf die Schulter, schaust mich an und bist einfach hier …«6 singt, schaudert es mich: »Ja, das habe ich erlebt.« Seitdem gehört dieser Song zu meinen Lieblingsliedern.

Zurück auf die Intensivstation. Bei der Visite frage ich den neurologischen Oberarzt, ob ich wohl am Samstagmorgen wie geplant den Vortrag zum Thema »Freundinnen« halten könne. Er möchte noch abwarten und verschiebt die Entscheidung auf den nächsten Tag. Ich bin immer noch optimistisch, dass ich keine einzige meiner Veranstaltungen werde absagen müssen. Wie naiv von mir! Ich werde für ein halbes Jahr nicht mehr vor Publikum stehen.

Am Dienstagmorgen rät er mir dann, die Veranstaltung zu verschieben. Die Absage fällt mir so schwer, dass es mich am Samstagmorgen kaum im Bett hält. Am liebsten würde ich doch noch hinfahren. Irgendwie fühle ich mich schuldig und die Veranstalter tun mir leid.